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Zeitwohlstand – Chancen und Herausforderungen einer Arbeitswelt 4.0 für sozial-ökologische Konsum- und Arbeitsweisen.

Authors:

Abstract

Gesellschaftliche Leitbilder bilden einen Orientierungsrahmen für unser Handeln und gelten als Voraussetzung für gesellschaftliche Transformationsprozesse (vgl. WBGU 2011). Im Diskurs um die Zukunft der Arbeit werden verschiedene gesellschaftliche Leitbilder unterschieden, z. B. das Ganze der Arbeit, Gute Arbeit oder fl exibilisierte Arbeit (vgl. Enquete WWL 2013). Dem stehen im Diskurs um sozial-ökologische Transformationen Leitbilder wie etwa Grünes Wachstum, Grüner Gesellschaftsvertrag, sozial-ökologischer Umbau, Mäßigung und Degrowth gegenüber (vgl. von Jorck 2013). Bisher sind diese beiden Diskurse nur wenig aufeinander bezogen, es bildet sich jedoch – so die Arbeitshypothese – angesichts der anstehenden Veränderungen einer Arbeitswelt 4.0 ein gesellschaftliches Leitbild heraus, welches beide Diskurse miteinander verbindet: Zeitwohlstand. Dieser Beitrag dient dem Zweck, einen Projektentwurf zu umreißen und zur Diskussion zu stellen, der zum Ziel haben soll, die verschiedenen Facetten von Zeitwohlstand sowie deren Suffizienz-Chancen und Rebound-Risiken herauszuarbeiten. Dabei wird zunächst der Diskurs um die Zukunft der Arbeit in den Kontext sozial-ökologischer Transformationen gestellt (Abschnitt 2). Es folgt darauf eine kurze Darstellung des angedachten methodischen Vorgehens des geplanten Forschungsprojekts (Abschnitt 3), bevor abschließend einige erwartete Ergebnisse skizziert werden (Abschnitt 4).
Beiträge aus dem
Netzwerk Zeitforschung
der DGfZP
Deutsche
Gesellschaft für
Zeitpolitik
DGfZP
Zeitpolitisches Magazin
DEZEMBER 2016, JAHRGANG 13, AUSGABE 29
Foto: clemsonunivlibrary / fl ickr.com
Beiträge aus dem
Netzwerk Zeitforschung
der DGfZP
Deutsche
Gesellschaft für
Zeitpolitik
DGfZP
Zeitpolitisches Magazin
DEZEMBER 2016, JAHRGANG 13, AUSGABE 29
In dieser Ausgabe
Beiträge aus dem Netz-
werk Zeitforschung
Einleitung 1
Verlorene Zeitvielfalt 2
Renaissance gewerk-
schaftlicher Zeitpolitik? 5
Zeitpolitik und
politische Bildung 7
Forschungsnetzwerk
»Jung sein – älter werden« 11
Szenarien des
Älterwerdens 18
Soziale Zeit in insti-
tutioneller Bildung 22
Selbstgesteuerte
Arbeitszeit… 25
Verkürzung der
Erwerbs arbeitszeit
und Zeitwohlstand 29
Zeitwohlstand 4.0 34
Chancen und
Herausforderungen
einer Arbeitswelt 4.0 37
Zeitautonomie
und Zeitstrukturen 40
Systemtheoretische
Überlegungen zu Zeit
und Politikberatung 44
Auf dem Weg in eine
temporal differenzierte
Gesellschaft 47
Stau – der unausweich-
liche Zeitkiller 50
Forum
Zeit, sprachlich
und nicht sprachlich 53
Aus der DGfZP
Zum Jahresende 54
Atmende Lebensläufe
nehmen Fahrt auf 55
Notizen zur Jahrestagung 56
Nachruf auf Peter Beier 57
Veranstaltungen 58
Neue Literatur 59
Antrag auf
Mitgliedschaft 61
Impressum 62
Liebe Leserin, lieber Leser,
dieses ZpM hat keinen Thementeil, aber viele Themen. Michael Görtler, Björn Gernig und
Elke Großer stellen darin das Netzwerk Zeitforschung der DGfZP vor, einen offenen Zusam-
menhang junger Zeitforscherinnen und Zeitforscher. Sie haben weitere Netzwerker sowie
andere Zeitforscherinnen und Zeitforscher, die noch keinen Kontakt zur DGfZP hatten, ein-
geladen, in kurzer Form ihre Arbeitsvorhaben und/oder Arbeitsergebnisse in diesem ZpM
vorzustellen. Viele sind der Einladung gefolgt und so können wir Ihnen in diesem Jahr mit
einem bunten Strauß von Themen und Forschungsansätzen frohe Weihnachtstage und viel
gute Zeit im neuen Jahr wünschen.
Elke Großer und Helga Zeiher
Thema
MICHAEL GÖRTLER, BJÖRN GERNIG, ELKE GROSSER
Einleitung in den Thementeil
Wie Menschen mit Zeit umgehen und die daraus resultierenden Konsequenzen für Gesell-
schaft und Umwelt werden schon seit den 1990er Jahren intensiv in unterschiedlichen Dis-
ziplinen, aber auch interdisziplinär untersucht. Zahlreiche Initiativen und Projekte sind
durchgeführt worden, deren Ergebnisse auch in die Arbeit der Deutschen Gesellschaft für
Zeitpolitik ein ießen, um Forderungen nach Zeitpolitik zu begründen.
Eine kleine Gruppe von Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik hat 2011 das
Netzwerk Zeitforschung der DGfZP gegründet, das Zeitforscherinnen und Zeitforschern aus
dem wissenschaftlichen Nachwuchs unterschiedlicher Disziplinen ein offenes Forum bietet
zum Austausch über laufende und gerade abgeschlossene Forschungsarbeiten, die Bezug zu
zeitpolitischen Fragen haben. Treffen der Gruppe fanden bisher im raum-zeitlichen Zusam-
menhang mit Jahrestagungen der DGfZP statt. Das Netzwerk steht allen offen, die sich als
Nachwuchsforscherinnen und Nachwuchsforscher zu zeitbezogenen Themen verstehen und
ihre Arbeit in zeitpolitischem Zusammenhang diskutieren möchten. Für dieses ZpM haben
wir auch einige junge Forscherinnen und Forscher, die bislang keinen Kontakt zum Netzwerk
Zeitforschung hatten, um Beiträge gebeten.
Zeitpolitisch relevante Forschung ist heterogen. Viele verschiedene Disziplinen befassen sich
mit dem Thema Zeit, Zeitforscherinnen und Zeitforscher suchen auf unterschiedlichen Wegen
einen Zugang zu diesem komplexen Gegenstand. Das vorliegende Zeitpolitische Magazin gibt
einen Einblick in die thematische Vielfalt geplanter, laufender oder jüngst abgeschlossener
Forschungsvorhaben mit zeitpolitischem Bezug. Die Beiträge sind im Kontext von Bachelor-
oder Masterarbeiten, Dissertationen oder Projektanträgen entstanden. Um allen möglichen
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
2 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
disziplinären und interdisziplinären Zugängen einen Raum zu
geben, gibt es weder eine Eingrenzung auf einen bestimmten
Fachbereich noch eine übergeordnete Fragestellung. Alle Au-
torinnen und Autoren kommen aus den Bildungs- und Sozi-
alwissenschaften, wobei Pädagogik, Politikwissenschaft und
Soziologie den Schwerpunkt bilden.
Zeitpolitik als solche ist Gegenstand von drei Beiträgen. Nils
Weichert befasst sich in seinem Beitrag mit zeitpolitischen
Modellen, Ansatzpunkten und Implikationen, wie „Diver-
sitäts-Konvention“ und „Zeitpolitischer Kompass“. Mit un-
terschiedlichen Zeitpolitiken von Gewerkschaften setzt sich
Christopher Wimmer auseinander. Michael Görtler stellt
Überlegungen zur Bedeutung von Zeitpolitik für die politische
Bildung und die Demokratie in den Mittelpunkt seiner Arbeit.
Um subjektive Zeitkonstruktionen und die Bedeutung insti-
tutionalisierter Zeitordnungen für Kinder, Jugendliche und
junge Erwachsene geht es im Plan für ein wissenschaftliches
Netzwerk „Jung sein – älter werden: Zeitlichkeit im Wandel“ ,
den eine Gruppe von sieben jungen Wissenschaftlern vor-
stellt, darunter das Projekt von Sebastian Schinkel. Tilman
Wahne untersucht soziale Zeit als Gestaltungsaufgabe insti-
tutioneller Bildung, Betreuung und Erziehung.
Vanita Matta diskutiert selbstgesteuerte Arbeitszeiten und
indiviudelle Überbeschäftigung. Katharina Bohnenberger
tut dies im Hinblick auf verkürzte Arbeitszeiten. Zeitwohl-
stand als zeitpolitisches Konzept in einer digitalisierten Welt
steht im Beitrag von Elke Großer im Mittelpunkt. Gerrit von
York setzt sich mit der Zukunft der Arbeit im Kontext sozial-
ökologischer Transformationen auseinander und sucht auf
die Frage nach Zeitwohlstand in der Arbeitswelt 4.0 eine sozi-
al-ökologische Antwort.
Björn Gernig zeigt mit den Daten der aktuellen Zeitverwen-
dungserhebung wie u. a. Zeitstrukturen, Dauer, Sequenz und
Routine mit neuen Methoden der sozialen Sequenzanalyse
erfasst, analysierbar und zeitpolitisch diskutierbar gemacht
werden können.
Aus systemtheoretischer Perspektive diskutiert Stefan Vor-
derstraße die Bedeutung des Faktors Zeit in Strukturen und
Prozessen der Politikberatung. Sebastian Stagl beschreibt den
Wandel sozialer Zeit aus systemtheoretischer Sicht im Kontext
gesellschaftlicher Differenzierung. Uwe Böhme beschäftigt sich
in seinem Beitrag mit der Analyse von Nachfragestrukturen im
Berufsverkehr, berücksichtigt dabei Erkenntnisse aus der Zeit-
forschung und stellt diese in einen zeitpolitischen Kontext.
N ILS WEICHERT
Verlorene Zeitvielfalt – ein Plädoyer
für ein erweitertes Verständnis von Zeitpolitik
In den vergangenen Jahren hat es realpolitisch zum Thema
„Zeitpolitik“ zahlreiche Initiativen gegeben. Konnte vor fünf
Jahren noch konstatiert werden, dass Deutschland wohl eher
als zeitpolitisches Niemandsland zu bezeichnen wäre (vgl.
Weichert 2011), so sind heute in einigen Teilen der prak-
tischen Politik erste Bemühungen zu einzelnen zeitpolitischen
Themenstellungen zu erkennen. Weiter fortgeschritten sind
die Diskussionen beispielsweise im Bereich der Familienpoli-
tik (vgl. BMFSFJ 2009). Auf parteipolitischer Ebene widmen
sich insbesondere Bündnis 90/Die Grünen diesem Thema.
Hier liegen nach einem Fraktionsbeschluss der Bundestags-
fraktion zahlreiche Vorschläge zu Arbeits-, P ege- und Bil-
dungszeiten vor (vgl.Bündnis 90/Die Grünen 2016). Alles in
allem handelt es sich um Ansätze, die sich ebenfalls eher un-
ter der Überschrift soziale Zeitpolitik verorten lassen und da-
mit vorrangig auf die sogenannte „Work-Life-Balance“ zielen.
Ähnlich – wenngleich weniger weitreichend und programma-
tisch – wird das Thema in der SPD-Bundestagsfraktion dis-
kutiert. Auch hier wurde erfreulicherweise wahrgenommen,
dass sich Arbeits- und Lebensmodelle in einem äußerst weit-
reichen Wandel be nden und man möchte mit neuen Vor-
schlägen darauf reagieren, u. a. im „Projekt Neue Zeiten – Ar-
beits- und Lebensmodelle im Wandel“ (vgl. www.spdfraktion.
de/fraktion/projekt-zukunft/neue-zeiten).
1. Zeitpolitische Modelle und Ansatzpunkte
Aus wissenschaftlicher Perspektive lassen den geneigten Be-
trachter die bisherigen Empfehlungen und Ansätze ein we-
nig ratlos zurück. Wurden nicht in den vergangenen Jahren
mehrdimensionale Modelle entwickelt, die neben der sozi-
alen Zeitpolitik (etwa zu Arbeits- oder P egezeiten) auch öko-
nomische, ökologische und räumliche bzw. lokale Zeitaspekte
beinhalten?! Der Grundannahme folgend, dass die Inkompa-
tibilitäten zwischen ökonomischen, ökologischen oder sozi-
alen Zeitskalen inhärente Folgen für den Einzelnen und die
Gesellschaft haben, gab es ungezählte differenzierte zeitpoli-
tische Konzeptionalisierungsvorschläge. Die Empfehlungen
kreis(t)en um Zeitpolitik als „zeitkritische Wissens politik“
(Böschen/Weis 2007), um „geschlechtergerechte“ (Vinz 2005)
oder „öko-soziale Zeitpolitik“ (Hofmeister/Spitzner 1999),
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 3
„Raumzeitpolitik“ (Henckel/Eberling 2002), „kommunale
Zeitpolitik“ (Henckel/Eberling 1998) oder „lebenslaufbezo-
gene Arbeitszeitpolitik“ (ver.di 2009). Im Gegensatz zu den
realpolitischen Ansätzen ging es hier nicht darum, bekannten
Problemen das Zeitetikett aufzukleben. Nein, damit war ge-
meint, die Probleme zunächst innerhalb der einzelnen Politik-
felder neu zu denken, um im Folgeschritt über das jeweilige
Politikfeld hinaus den transversalen und querschnittsbezo-
genen Charakter herauszuarbeiten. Das beinhaltet neben so-
zialen Zeitperspektiven eben auch ökologische, ökonomische
oder lokale Aspekte.
Dennoch: Auch die theoretischen Impulse verweisen auf zwei
deutliche Schwächen, die in der Folge dazu führten, dass die
real- bzw. parteipolitischen Ansätze vorrangig soziale Zeiten
adressieren. Einerseits wird deutlich: Bisher ist Zeitpolitik als
Politikfeld noch stark fragmentiert. Der vielfach postulierte
Querschnittscharakter ist nur wenig ausgearbeitet. Steht ein-
mal die Vereinbarkeit der öffentlichen und privaten Zeitstruk-
turen im Vordergrund, werden andernorts – und getrennt
davon – eher wirtschaftliche und ökologische Zeit kon ikte
thematisiert oder Zukunfts- und Risikofragen akzentuiert.
Ein dergestalt fragmentarischer Charakter ist keinesfalls
verwunderlich für ein junges Forschungsfeld – und wohl
auch nicht für etablierte. Andererseits – und für die aktuellen
Praxisvorschläge wohl wesentlich entscheidender – fehlt ein
Verständnis und ein kohärentes Modell für die unterschied-
lichen Zeitdimensionen. Mithin: Es mangelt an einer Vorstel-
lung davon, was Zeitvielfalt eigentlich ist und welche Ebenen
aus welchen Gründen adressiert werden sollten. Um diesen
normativen Rahmen abzustecken, ist neben den Konzepten
„Zeitwohlstand“ (Rinderspacher) oder dem „Recht auf eigene
Zeit“ (Mückenberger) ein weiteres zu entfalten, das explizit
die (notwendigen) Diversitätsdimensionen beschreibt. Es
handelt sich um normative Elemente, weil sie an den gesell-
schaftlichen Zeitvorstellungen orientiert sind und Regeln da-
für formulieren, wie diese Zeitvorstellungen in Zeithandeln
und letztlich in Zeitpolitik(-en) übersetzt werden können. Sie
bringen ethische und analytische Gedanken zusammen und
formulieren (zeitliche) Normen, die zum Ausdruck bringen,
was wünschenswert ist (vgl. Renn et al. 2007, 39).
2. Zeitpolitische Implikationen
Eine derartige Beschreibung der einzelnen zeitpolitischen
Dimensionen im Sinne einer Zeitvielfalt erlaubt es, das Feld
sozialer Zeitpolitik zu erweitern und politische Vorschläge
in einen wesentlich breiteren Rahmen zu setzen. Dann ver-
schränken sich ökologische, ökonomische, räumliche oder
soziale Vertaktungen und es enthüllt sich das zeitliche Be-
ziehungs- und Machtge echt. Zeitvielfalt könnte auf diese
Weise eine Schlüsselrolle im Verständnis dessen spielen,
was Zeitpolitik ist und worin das Streben nach Zeitgerech-
tigkeit oder Zeitwohlstand in unserer Gesellschaft beste-
hen könnte. Gerade, weil mit der Thematisierung zeitlicher
Vielfalt sogleich deren dramatischer Verlust augenschein-
lich wird, kann auch offenkundig werden, dass der bisherige
zeitpolitische Konzeptionalisierungsgrad nicht ausreicht, um
beispielsweise die von natürlichen Systemzeiten abhängige
Knappheit ökonomischer oder ökologischer Güter zu re ek-
tieren (vgl. Salzmann 1998). Eine Erweiterung um Diversität
beinhaltet räumliche Aspekte ebenso wie die Leistungsfähig-
keit der Natur oder die intragenerationale Gerechtigkeitspro-
blematik. Der Abbau der Lagerstätten fossiler Brennstoffe,
Boden erosion, Wüstenbildung, schädliche Stoffeinträge, die
Verteilung von gesellschaftlichen Belastungen, Einkommen
und Finanzströme, Arbeitslosigkeit oder Chancengerechtig-
keit – nur um einige Beispiele aufzuführen – können in ihrer
Bedeutung nur dann thematisiert werden, wenn die Beobach-
tung im zeitlich angemessenen Kontext durchgeführt wird.
Zeitvielfalt zu beschreiben verweist also darauf, wie wich-
tig es ist, die Zeitlogiken und Zeitrhythmen von Ökonomie,
Ökologie und Sozialem zusammenzudenken. Nur so lassen
sich langfristig die Probleme zwischen diesen Zeiten behe-
ben und Diversität kann ins Blickfeld rücken. Die Vielfalt von
Zeitformen wäre zu p egen, weil deren Bewahrung aufgrund
gegebener Struktur- und Machtverhältnisse eine besondere
politische Herausforderung darstellt. Eine so verstandene
übergreifende und mehrdimensionale Zeitpolitik richtet sich
ausdrücklich gegen die kolonisierenden Logiken spezieller
Zeitdynamiken wie Beschleunigung, Ökonomisierung oder
Vergleichzeitigung (vgl. Vinz 2005, 71 f.). Stattdessen werden
die Eigen-, System- oder Lagerzeiten beachtet, wobei diese
Beachtung als Qualitätsziel zu begreifen ist, das sogleich ein
politisches Mandat entstehen lässt.
3. ZeitMainstreaming, Diversitäts-Konvention
und Zeitpolitischer Kompass
Um die Zeitlogiken und Zeitrhythmen der verschiedenen
Subsysteme zusammenzudenken, hat Dagmar Vinz bereits
vor mehreren Jahren das ZeitMainstreaming vorgeschlagen.
Hier geht es nicht nur darum, für Zeitkon ikte in einzelnen
Politikfeldern zu sensibilisieren, sondern auch darum, Zeit
als Querschnittsaufgabe in allen Politikbereichen zu veran-
kern und bei allen Entscheidungen zu erkennen sowie zu be-
rücksichtigen. In Anlehnung an das Gender-Mainstreaming
zielt ihr Ansatz darauf ab, bereits im „Prozess der Projekt-
und Politikgestaltung zugrunde liegende Zeitkonzepte zu re-
ektieren, Zeitinteressen und Zeitkon ikte offen zu legen und
die Auswirkungen von Entscheidungen auf Zeitstrukturen
zu bedenken“ (Vinz, 2009). Die Stärke des Ansatzes liegt vor
allem darin, dass er nicht nur auf die Ebene der Sensibilisie-
rung (für Zeitaspekte) zielt und bereits konkrete Instrumente
beschreibt: Zeit-Training, Zeit-Analyse und Zeit-Budgets.
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
4 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
So sollen über Zeitkompetenztrainings vor allem Entschei-
derinnen und Entscheider in die Grundlagen und Ansätze
der Zeitforschung und -politik eingeführt werden. Daneben
werden auf analytischer Ebene vor allem Zeitkon ikte offen-
gelegt und Zeitfolgenabschätzungen durchgeführt, die insbe-
sondere die Auswirkungen von Entscheidungen auf die un-
terschiedlichen Zeiten kenntlich machen und die Kosten und
Nutzen des Wandels von Zeitordnungen untersuchen. Darauf
aufbauend wird in einem letzten Schritt auf der Basis der er-
arbeiteten Schemata und Raster ein Time-Budgeting durch-
geführt, das Aussagen über die Zeiteffekte mit den jeweiligen
Budgets bzw. Haushaltsplanungen verbindet und entspre-
chende Priorisierungen vornimmt (ebd.).
Anders als das Gender-Mainstreaming, das mit dem Amster-
damer Vertrag eine Rechtsgrundlage hat und dem of ziellen
Ziel der Geschlechtergleichstellung verp ichtet ist, fehlt dem
ZeitMainstreaming eine derartige Basis (vgl. Vinz 2009).
Hier wäre – analog zur Biodiversitäts-Konvention, deren Ver-
tragswerk von den meisten Ländern der Welt unterzeichnet
wurde – eine (Zeit-)Diversitäts-Konvention zu erarbeiten,
die Vielfalt auch unter zeitlichen Gesichtspunkten betrach-
tet und fordert. Im Interesse der praktischen Ziele kann es
jedoch nicht bei einer derartigen Proklamation von Zeitviel-
falt bleiben. Vielmehr gilt es, Unklarheiten bei der adäqua-
ten Beschreibung der mit Zeitvielfalt gemeinten Schutzgüter
zu beseitigen und eine hinreichende Grundlage sowohl für
wissenschaftliche Forschungsprogramme als auch für die
Rechtfertigung politischen Interagierens zu bieten (vgl. Gut-
mann/Janich 2001).Von zeitpolitischer Seite aus ist ein er-
ster wichtiger Schritt in diese Richtung die Erarbeitung eines
Kompasses der Zeitvielfalt. Ein solcher Kompass kann in
Anlehnung an bestehende Ansätze der Diversitätsforschung
formuliert werden und eine analytische Erweiterung durch
das Modell der Heterochronie (vgl. Weichert 2011, 198 ff.)
erfahren, das unter Rückgriff auf Foucaults „Heterotopien“
(Foucault 2005) konzeptionalisiert werden kann (vgl. Hof-
meister 2006, 111 f.). Für unterschiedliche Zeitbereiche (sozi-
al, ökonomisch, ökologisch) wären in einer ersten Kompass-
Dimension alle unveränderbaren Zeiten zu identi zieren.
Im Folgeschritt wären in einer zweiten Ebene die (bewusst,
unbewusst oder strategisch) veränderbaren Zeiten in diesen
Feldern herauszuarbeiten. Darauf aufbauend könnten in ei-
ner weiteren Dimension die zentralen Handlungsfelder zur
Förderung von Zeitvielfalt benannt und in einer vierten Ebe-
ne mit konkreten Maßnahmen unterlegt werden. Durch die
Ausarbeitung eines solches Kompasses eröffnen sich so dann
weiterführende Ansätze für eine kritische Auseinanderset-
zung mit der Beschaffenheit zeitlicher Formationen der Ge-
genwartsgesellschaft. In Frage gestellt wird das homogene
spätmoderne Zeitkonstrukt, wobei der Blick auch auf die
marginalisierten, abweichenden, fremden Bereiche innerhalb
der kulturellen Selbstbeschreibung gerichtet und temporale
Diversität fokussiert werden kann. Es gilt also, Vielfalt kennt-
lich zu machen. Da durch die Dynamiken der Spätmoderne
eine temporale Vereinseitigung droht, stehen der Schutz und
die (erneute) Hervorbringung von Vielfalt im Vordergrund.
Darüber hinaus – und ganz im Sinne eines heterochronen
Ansatzes – ist damit gemeint, die „Potentiale alternativer
temporaler Handlungsformen“ (Geißler 2006, 16) fruchtbar
zu machen und eine Kultivierung und Re-Kultivierung unter-
schiedlichster Zeitformen voranzutreiben.
Dr. Nils Weichert ist Politikwissenschaftler und beschäftigt
sich vor allem mit Modellen und Lösungsansätzen für rele-
vante wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Zukunftsfra-
gen. In seiner Forschungs- und Beratungstätigkeit ist das
Thema Zeitvielfalt und eine ganzheitliche Betrachtungsweise
zeitlicher Probleme fortlaufend von großer Bedeutung.
Literatur
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
(BMFSFJ) (Hrsg.) (2009): Memorandum Familie leben. Impulse
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line abrufbar unter https://www.gruene-bundestag.de/the-
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Böschen, Stefan/Weis, Kurt (2007): Die Gegenwart der Zukunft.
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Henckel, Dietrich/Eberling, Matthias (1998): Kommunale Zeitpo-
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Hofmeister, Sabine/Spitzner, Meike (Hrsg.) (1999): Zeitland-
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Hofmeister, Sabine (2006): Alles zu gleicher Zeit am gleichen
Ort? Verdichtung von Raum und Zeit: das Ende der „Verinse-
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Zeit-Vielfalt. Wider das Diktat der Uhr, Stuttgart, S. 97-112.
Renn, Ortwin/Deuschle, Jürgen/Jäger, Alexander/Weimer-Jehle,
Wolfgang (2007): Leitbild Nachhaltigkeit. Eine normativ-funktio-
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Salzmann, Oliver (1998): Revisionäre Zeit- und Geschwindig-
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In: Professur für Betriebswirtschaftslehre Betriebliche Umwelt-
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Umweltökonomie, Nr. 2, Dresden.
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 5
SPD-Bundestagsfraktion: Projekt NeueZeiten – Arbeits- und Le-
bensmodelle im Wandel, online abrufbar unter www.spdfraktion.
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ver.di-Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Hrsg.) (2009): Die
Zeiten ändern sich. Zeiten im Lebensverlauf, Berlin.
Vinz, Dagmar (2005): Zeiten der Nachhaltigkeit. Perspektiven für
eine ökologische und geschlechtergerechte Zeitpolitik, Münster.
Vinz, Dagmar (2009): Zeit Mainstreaming – eine zeitpolitische In-
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Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP) „Diversität von Lebenslagen
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2009 in Berlin, online abrufbar unter www.zeitpolitik.de/pdfs/
vortrag_Vinz.pdf [Stand 10. 10. 2016].
Weichert, Nils (2011): Zeitpolitik. Legitimation und Reichweite
eines neuen Politikfeldes, Baden-Baden.
CHRISTOPHER WIMMER
Renaissance gewerkschaftlicher Zeitpolitik?
Einleitung
Für Gewerkschaften ist Zeitpolitik neben Forderungen nach
Entlohnung ein zentrales Feld der Auseinandersetzung.
Verschiedene Arbeiten beschäftigten sich bereits mit unter-
schiedlichen Formen gewerkschaftlicher Zeitpolitik (Boge-
dan et al. 2015, Steinrücke et al. 2001; Schwitzer et al. 2010).
Anschließend an diese Analysen sollen hier unterschiedliche
Zeitpolitiken der Gewerkschaften in der Bundesrepublik be-
schrieben werden. Der Fokus liegt auf der Gewerkschaft ver.
di, da dort, neben der IG Metall, aktuell Arbeitszeit als zen-
trales Element gewerkschaftlicher Zeitpolitik breit verhan-
delt wird. Für ver.di spricht ebenso die Zunahme des Dienst-
leistungssektors und der damit verbundene ökonomische
Wandel. Auf Grundlage der Betrachtung der Zeitpolitik bei
ver.di werden am Ende zeitpolitische Implikationen für die
Gewerkschaften entwickelt und ein Ausblick gegeben, wie
eine zukünftige Zeitpolitik zu gestalten ist.
Produktionsverhältnisse im Wandel
Ausgangspunkt der Analyse bildet der Fordismus als herr-
schendes Produktionsverhältnis in der BRD nach dem zwei-
ten Weltkrieg mit dem zentralen Normalarbeitsverhältnis
(NAV). Kennzeichen war der Fokus auf industrielle Produk-
tion mit festen und sicheren Arbeitsformen und Hierarchien.
Das NAV (Mückenberger 1985) war tari ich abgesichert,
sozialversicherungsp ichtig, unbefristet und hatte geregel-
te Arbeitszeiten. Betriebe zeichneten sich durch eine große
männliche Kernbelegschaft aus. Gerahmt war dieses Verhält-
nis durch Absicherungen und einen korporatistischen Sozial-
staat. Gerade auch aus geschlechtlicher Perspektive, aber
auch für Menschen mit keiner oder schlechter Ausbildung
sowie Migrant_innen führte das NAV jedoch immer auch zu
Ausschlüssen. Die Gewerkschaften passten sich dieser For-
mation an. Es war für sie relativ leicht, in den männlich ge-
prägten Großbetrieben hohe Organisationsgrade zu erreichen
und konstant neue Mitglieder zu werben.
Seit den 90ern wird nun vermehrt von Flexibilisierung und
Individualisierung gesprochen, um die Veränderungen auf
dem Arbeitsmarkt zu beschreiben. Das Prinzip der Sozial-
partnerschaft wird verringert, Unternehmensziele die sich
am Finanzmarkt orientieren, gewinnen an Legitimität. Der
Anteil des tertiären Sektors steigt an und das NAV ist immer
weiter auf dem Rückzug. Die bunteren Belegschaften führen
zu einer größeren Interessenheterogenität auf welche die Ge-
werkschaften reagieren müssen (Bogedan 2015).
Arbeitszeit und gewerkschaftliche Reaktionen
Mit dieser Diversi zierung der Arbeitsgestaltung verän-
derten sich auch die Arbeitszeitformen. Über 60 % der Be-
schäftigten arbeiten in Vollzeit (35 oder mehr Stunden). Die
durchschnittlich geleistete Wochenarbeitszeit nimmt jedoch
ab. Zwischen 1992 und 2012 sank sie um 6,8 % von 38,1 auf
35,5 Stunden (vgl. DGB 2014). Dies ist allerdings auf den
starken Anstieg der Teilzeitarbeit zurückzuführen. Er liegt
bei 34 % und in diesem Bereich sind überwiegend Frauen be-
schäftigt. Männer arbeiten durchschnittlich 39,8 Stunden pro
Woche; Frauen 30,5. Diese Differenz ist in Deutschland eine
der höchsten in Europa. Hierdurch werden geschlechtsspezi-
sche Pfadabhängigkeit (Nachteile beim Einkommen; Renten
etc.) verstetigt. Vollzeitbeschäftigung ist weiterhin das Leit-
bild, jedoch arbeiten „neben den 24,5 Millionen Menschen in
Vollzeit auch 14,8 Millionen in Teilzeit“ (Bogedan et al.: 20).
Dies beschäftigt auch die Gewerkschaften. Dort wurden An-
fang des Jahrtausends wieder verstärkt Debatten zum Thema
Arbeitszeit geführt. Ver.di startete 2003 die Initiative „Nimm
dir die Zeit“. Der Ansatzpunkt war „ein umfassendes, gesell-
schaftliches, politisches und kulturelles Konzept“ (Sterckel
2004: 80) zu entwickeln. Debatten um Arbeitszeit sollten
geschlechterdemokratisch, gesundheitsschützend, beschäfti-
gungssichernd sowie beteiligungs- und prozessorientiert sein.
Auf Grund der großen Heterogenität der Berufsgruppen und
Interessen in ver.di stand die Initiative bald vor vielfältigen
Problemen und konnte nicht die nötige Tiefenwirkung aus-
strahlen.
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
6 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
Aktueller Stand der Debatten bei ver.di
2014/2015 wurde das Thema Arbeitszeit mit neuer Intensi-
tät sowohl in Politik, Zivilgesellschaft als auch Wissenschaft
diskutiert. Hartmut Seifert sprach gar von einer „Renaissance
der Arbeitszeitpolitik“ (Seifert 2014).
Bei ver.di wurde im Vorlauf auf dem Bundeskongress 2015 in
Leipzig eine Umfrage unter Funktionär_innen durchgeführt,
die sich mit Arbeitszeitverkürzung beschäftigte. Das Ergeb-
nis war, „dass kollektive Arbeitszeitverkürzung in der klas-
sischen Form derzeit nicht als mobilisierungsfähig angesehen
wird“ (Wiedemuth/Skrabs 2015: 40). Für einen Beschluss
auf dem Bundeskongress musste diese Forderung modi ziert
werden. Im Leitantrag A108 wurde somit als neues Leitbild
die „kurze Vollzeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich“
beschlossen. Hiermit ist ein „einheitliches Arbeitszeitgestal-
tungskonzept gemeint, dass auch den Teilzeitbeschäftigten
einen größeren Ein uss auf ihre Zeitgestaltung“ (ver.di 2015:
29) ermöglicht. Grundsätzlich geht es darum, die Arbeitszeit
von Vollzeitbeschäftigten so zu senken, dass die Arbeitszeit
von Teilzeitbeschäftigten steigen kann. „Es handelt sich also
um eine solidarische Arbeitszeitpolitik für Vollzeit- und Teil-
zeitbeschäftigte. Die differenzierten Zeitinteressen beider Be-
schäftigungsgruppen werden berücksichtigt“ (ebd.).
An dieses Modell schließen der Leiter der tarifpolitischen
Grundsatzabteilung Jörg Wiedemuth und seine Kollegin
Sylvia Skrabs an und arbeiteten parallel ein Konzept aus,
das eine Arbeitszeitverkürzung von 14 Arbeitstagen pro Ka-
lenderjahr enthält. Damit könnte „an die verschiedenen Le-
benssituationen und Herausforderungen der Beschäftigten“
(Wiedemuth/Skrabs: 41) angeknüpft werden. Der scheinbare
Widerspruch zwischen kollektiver Regelung und individuellen
Erwerbsläufen könnte aufgehoben werden: Über die kollektiv
geregelten 14 Tage kann individuell über verschiedene Gestal-
tungsoptionen (ganze Tage, Freizeitblöcke etc.) im Jahresver-
lauf verfügt werden. Auf Grund der kurzen Vorbereitungszeit
auf den Kongress wurde der Vorschlag dort nicht behandelt,
soll aber in die zukünftigen Debatten in ver.di ein ießen.
Ein Umdenken der Gewerkschaften scheint also möglich. Zum
einen wurde die Gewerkschaftsbasis von Anfang an in den
Prozess integriert und zum anderen wird veränderten Produk-
tionsverhältnissen mit dem Versuch Rechnung getragen, indi-
viduelle Bedürfnisse von Beschäftigten und kollektive Siche-
rungsmaßnahmen miteinander zu verbinden. Hier aus ergibt
sich die Chance, neue Gruppen anzusprechen und verschie-
dene Interessen zu vereinen. Die aktuelle Arbeitszeitkampa-
gne der IG Metall „Mein Leben – meine Zeit: Arbeit neu den-
ken“ scheint genau dies zu berücksichtigen und verortet ihre
Kampagne bewusst sowohl in den Betrieben als auch in der
Öffentlichkeit und im politischen Feld (IG Metall 2016).
Vorschläge für alternative Zeitpolitik
der Gewerkschaften
Damit zusammenhängend braucht es neue Leitbilder über
Arbeit und Zeit und Diskussionen, wie Bereiche, die nicht un-
mittelbar an Erwerbsarbeit gebunden sind, zu stärken sind.
Frigga Haug (2008) bietet mit der „Vier-in-einem-Perspekti-
ve“ ein aktuelles Angebot hierfür an. Es geht ihr um die gleich-
wertige Anordnung der vier Tätigkeitsbereiche Erwerbsarbeit,
Reproduktion, Kultur und Politik und damit um eine Auf-
wertung bisher unbezahlter Arbeit, mehr Selbstbestimmung
sowie Arbeitszeitverkürzung. Die Kombination von kürzerer
Arbeitszeit und stärkerer Anerkennung reproduktiver Tätig-
keiten berührt Geschlechter- und Produktionsverhältnisse
und steht „der Logik kapitalistischer Modernisierung im Weg
– viel mehr als jede noch so hohe Lohnforderung“ (Auer et al.
1990: 75). So verstanden ist Zeitpolitik von Gewerkschaften
mit vielfältigen Formen exibler Arbeitszeitgestaltung im
Sinne der Beschäftigten „die Grundbedingung für alle mög-
lichen Erweiterungen des Betätigungsspielraums lebendiger
Arbeitskraft“ (Negt 1987: 78). Gewerkschaftliche Arbeitszeit-
forderungen müssen „in den Kontext von erfahrbaren größe-
ren individuellen Zeitwohlstand“ (Sterckel/Wiedemuth 2007:
219) gestellt und individuelle Bedürfnisse und das Recht auf
die eigene Zeit mitgedacht werden.
Wird Zeitpolitik von den Gewerkschaften als solch umfas-
sendes Projekt kommuniziert, kann es hegemonial und wirk-
mächtig werden: Unter dem Dach gewerkschaftlicher Zeitpoli-
tik könnten sich klassische Probleme der Industriegesellschaft,
aber auch von Dienstleistungsberufen zusammenfassen und
verbinden lassen. Wenn diese Vereinigung klappt, rührt al-
ternative und erneuerte Zeitpolitik der Gewerkschaften „an
Grundausstattungen der bestehenden Herrschaftsordnung
(…) Der Kampf um Arbeitszeitverkürzung ist ein politischer
Kampf. (…) Gewerkschaften, die sich auf diesen Kampf ernst-
haft einlassen und ihn erfolgreich führen wollen, werden lang-
fristig gezwungen sein, das politische Spektrum ihrer Kampf-
formen wesentlich zu erweitern“ (ebd.: 19).
Es ist also entscheidend, Diskussionen um Zeit aus der öko-
nomischen Verengung herauszuholen und Zeitpolitik als ka-
pitalismuskritische Gesellschaftspolitik zu verstehen, die das
„Ganze Leben“, also auch Fragen von Freizeit, Familiengestal-
tung oder Geschlechterbeziehungen radikal betrifft und ver-
ändern will. Radikal als das Problem an der Wurzel fassend.
Im Rahmen seines Masterstudiums der Sozialwissenschaften
an der Humboldt Universität Berlin analysierte Christoph
Wimmer in einem einjährigen Projektseminar gewerk-
schaftliche Zeitpolitik.
Literatur
Auer F. et al. (1990): Auf der Suche nach der gewonnenen Zeit.
Mössingen-Thalheim.
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 7
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ser/tarifpolitik/++fi le++55f94da4bdf98d55950000ac/down-
load/ArbZeit_Brosch._ansicht-fi nal_druck1.pdf.
MICHAEL GÖRTLER
Zeitpolitik und politische Bildung
Dieser Beitrag stellt in der gebotenen Kürze Überlegungen zur Bedeutung von Zeitpolitik für die politische Bildung in Theorie
und Praxis vor. Dabei stehen die Demokratie als normativer Kristallisationspunkt des Verstehens, Urteilens und Handelns, die
Zeitlichkeit von Politik und Bildung sowie die gelingende Rückkopplung zwischen Bürgern und Politik im Fokus der Aufmerk-
samkeit. Die zugrundeliegende These ist, dass Zeitpolitik politik- und bildungsrelevant ist und einschlägige Konzepte wie „Zeit-
wohlstand“ (Rinderspacher 2004) oder „Recht auf Eigenzeit“ (Mückenberger 2004) für politische Bildungs- und Lernprozesse
fruchtbar gemacht werden können. Der erste Abschnitt befasst sich mit der Bedeutung von Zeit für die politische Bildung, der
zweite mit der Bedeutung von Zeit für die Demokratie. Darauf aufbauend werden im dritten Abschnitt zeitpolitische Heraus-
forderungen skizziert, die sich daraus ableiten lassen.
1. Politische Bildung und Zeit
Politische Bildung braucht Zeit (vgl. Reheis 2009, Görtler/
Reheis 2012, Görtler 2016): Bildungs- und lerntheoretische
sowie didaktische Ansätze unterstreichen explizit und implizit,
dass politische Bildung als lebenslanger Prozess begriffen wer-
den kann. Darin vollziehen sich Verstehens-, Urteils- und Hand-
lungsprozesse, die in ihrer Zeitlichkeit sichtbar gemacht werden
können, wie die folgenden Ausführungen verdeutlichen.
Nach Oskar Negt begegnet der politisch werdende Mensch in
einem lebenslangen Prozess der politischen Welt, re ektiert
sein Handeln und seine Erfahrungen, stellt Zusammenhänge
her und entfaltet seine Urteilskraft (vgl. Negt 2010). Dabei
ist die Integration der kognitiven, affektiven und aktionalen
Ebene von Bildungs- und Lernprozessen – an die Trias von
Kopf, Herz und Hand nach Johann Heinrich Pestalozzi ange-
lehnt – von großem Gewicht: Auf der kognitiven Ebene geht
es um die Re exion, auf der affektiven Ebene um das Erfahren
und Beurteilen der sozialen und politischen Bedeutung von
Zeit, des eigenen Umgangs mit Zeit in der Lebenswelt und der
Zeitstrukturen in Gesellschaft wie Politik; auf der aktionalen
Ebene geht es schließlich um die Gestaltung der Zeitstruk-
turen in Lebenswelt, Gesellschaft und Politik. Wie wichtig
die Rücksichtnahme auf alle drei Ebenen ist, wird angesichts
der Bedrohung der Demokratie durch Fremdenfeindlichkeit,
Protest und Unzufriedenheit – das Stichwort heißt: besorgte
Bürger – unübersehbar: Eine einseitige Konzentration auf das
Denken verhindert das objektive Urteilen über das politische
Geschehen, so dass Stereotypen und Klischees nicht weiter
hinterfragt werden; eine einseitige Konzentration auf das
Fühlen führt dazu, dass man sich unre ektiert vom Populis-
mus der Meinungsführer mitreißen lässt, aus einer einseitigen
Konzentration auf das Handeln resultiert ein unüberlegter Ak-
tionismus unter Ausblendung der Emotionen – nicht zuletzt
des Mitgefühls gegenüber Ge üchteten oder Ausländern.
Als elementares didaktisches Prinzip der politischen Bildung
gilt die Orientierung am Subjekt – infolge des Beutelsba-
cher Konsensus für die schulische politische Bildung in der
Schüler- und Interessenorientierung, in der außerschulischen
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
8 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
politischen Bildung in der Teilnehmerorientierung ausge-
drückt. Dabei steht die Fähigkeit der Lernenden, ihre eigenen
Interessen zu erkennen und zu vertreten, im Mittelpunkt. In
diesem Kontext spielen das politische Zeitbewusstsein und
die politische Zeitkompetenz eine besondere Rolle. Das poli-
tische Zeitbewusstsein markiert nämlich den Ausgangspunkt
des Denkens, Fühlens und Handelns, wobei die Gedanken
und Gefühle, die bei der Begegnung mit der Welt entstehen,
sinnhaft eingeordnet werden müssen. Die politische Zeit-
kompetenz, die in Anlehnung an bildungs- und sozialwis-
senschaftliche Ansätze sowie Kompetenzmodelle aus der Di-
daktik der politischen Bildung (vgl. GPJE 2004, Detjen et al.
2012) noch genauer bestimmt werden muss, zielt dagegen auf
die Fähigkeit der Lernenden ab, die zeitlichen Strukturen und
den Umgang mit Zeit in Gesellschaft und Politik zu verstehen,
zu beurteilen und daraus Schlüsse für das Handeln zu ziehen.
Für die politische Bildung ist die Verknüpfung von Vergan-
genheits-, Gegenwarts- und Zukunftsorientierung fruchtbar,
weil über das produktive Zusammenspiel dieser Zeitdimen-
sionen in Kombination mit der Erfahrung, Re exion und
dem Umgang mit Zeit die Zeitgeschichte verstehbar, die ge-
genwärtigen Zustände und Verhältnisse veränderbar und die
Zukunft gestaltbar werden. Als Anknüpfungspunkte dienen
hier der Ansatz des historischen Lernens sowie das didak-
tische Prinzip der Zukunftsorientierung. Darüber hinaus rü-
cken auch der Möglichkeitssinn und die Utopiefähigkeit ins
Zentrum der Betrachtung (vgl. Reheis 2009), um Denk- und
Suchbewegungen in Richtung alternativer gesellschaftlicher,
politischer und wirtschaftlicher Strukturen anzustoßen – und
damit die Mündigkeit zu wecken.
Somit spielt die Zeit in politischen Bildungs- und Lernprozes-
sen eine entscheidende Rolle, die sich in den Konzepten des
Zeitwohlstands und des Rechts auf Eigenzeit widerspiegelt:
in der souveränen Verfügung darüber, im bewussten und
kompetenten Umgang damit oder im fundamentalen Rechts
darauf. Folglich muss die politische Bildung dafür sorgen,
dass in Lehr- und Lernprozessen genügend Zeit für die Be-
rücksichtigung der Rationalität und Emotionalität der Subjekt
vorhanden ist, um Zusammenhänge zwischen Lebenswelt und
Gesellschaft herzustellen, denn erfahrungs-, handlungsorien-
tierte und exemplarische Zugänge, aber auch der Lernkorridor
von der Lebenswelt über die gesellschaftliche bis hin zur po-
litischen Ebene brauchen Zeit, damit Lernschleifen durchlau-
fen und erfolgreich abgeschlossen werden können.
2. Demokratie und Zeit
Politische Bildung macht Zeit zum Gegenstand: Mit Blick auf
die Demokratie als normativer Kristallisationspunkt rückt
die gelingende Rückkopplung von Bürgern und Politik in den
Fokus. Demokratien sind auf die Unterstützung ihrer Bürger
angewiesen, diese wiederum auf die Gelegenheit, Demokratie
zu lernen und zu leben (vgl. Negt 2010) – für beide Prozesse
ist wiederum eines unabdingbar: Zeit. Für die politische Bil-
dung stellt sich besonders die Frage, wie viel Zeit unter den
herrschenden Verhältnissen für Partizipation und Delibe-
ration zur Verfügung steht und was das für die Demokratie
bedeutet. Folglich müssen beide Seiten der Demokratie, d. h.
Input und Output, zum Gegenstand der Analyse und Beurtei-
lung gemacht werden, um daraus Schlüsse für das politische
Handeln zu ziehen. Dabei sind aus zeitpolitischer Sicht die
Zeitstrukturen und der Umgang mit Zeit in der Demokratie
diskussionswürdig (vgl. ZPM 2013) und zwar mit Blick auf
die „Eigenzeit“ der Menschen, der Politik oder der mit ihr in-
teragierenden Systeme (vgl. u. a. Riescher 1994, Geißler/Held
1995, Reheis 2009).
Weiter gilt es zu prüfen, ob und an welchen Stellen die Re-
sonanz zwischen Bürgern und Politik gestört oder unterbro-
chen ist (vgl. Görtler/Reheis 2012). Ein fruchtbarer Ansatz
dazu stammt vom Soziologen Hartmut Rosa. Rosa (2012: 7
ff., Herv. i. O.) entwirft in seinem Werk „Weltbeziehungen
im Zeitalter der Beschleunigung“ eine kritische Beschleuni-
gungstheorie als Ausgangspunkt für „eine Soziologie des gu-
ten Lebens“. Rosa argumentiert dort: „Der Begriff der ‚Welt-
beziehung‘ meint dabei die Art und Weise, wie Menschen (…)
sich als in die Welt gestellt erfahren“. Wie diese Erfahrung
im Einzelnen ausfällt, ist nach Rosa eine Frage des Menschen
in seiner Gesamtheit, d. h. seines körperlichen und seelischen
Be ndens. Im Zeitalter der Beschleunigung diagnostiziert
Rosa die Begegnung mit der Welt als von „Entfremdungs-
erfahrungen“ geprägt: Was fehle, sei nicht nur Kommunika-
tion, Anerkennung oder Wertschätzung, sondern Resonanz
zwischen den Menschen, um die Demokratie gemeinsam zu
tragen. Dieser Resonanzansatz (vgl. Rosa 2016) ist anschluss-
fähig für die politische Bildung, weil sich in ihm z. B. Leiblich-
keit des Menschen, die drei Ebenen des Lernens (Lernen mit
Kopf, Herz und Hand) sowie das Mensch-Natur-Verhältnis
verorten lassen. Die Theorie der sozialen Beschleunigung
(vgl. Rosa 2012), die Rosa zugrunde legt, kann ebenfalls für
die politische Bildung fruchtbar gemacht werden, weil sie bei
der Identi kation von Ursachen und Folgen hilft und Fragen
aufwirft, mit denen sich die Lernenden auseinandersetzen
müssen: Etwa bei der Unterscheidung zwischen der objektiv
feststellbaren technischen Beschleunigung, dem sich abzeich-
nenden sozialen Wandel und der subjektiv empfundenen Be-
schleunigung des Lebenstempos.
Aus Sicht einer kritischen politischen Bildung (vgl. Eis et al.
2015) müssen jedoch nicht nur die Zeitstrukturen und der Um-
gang mit Zeit in der Demokratie, sondern auch im Bildungs-
wesen zum Gegenstand gemacht werden (vgl. Dörpinghaus
2008). Damit ist gemeint, drängende und wichtige Zeitfragen
zu thematisieren, aber auch Zeitzwänge und die dafür verant-
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 9
wortliche Zustände sichtbar zu machen, die Bildungs-, Lern-
und Handlungsprozesse beeinträchtigten – und zwar sowohl
in der Schule (vgl. Reheis 2007) als auch in der Hochschule
(vgl. Jacobs/Sanders 2014). Aus diesem Grund ist es aus fach-
didaktischer Sicht notwendig, die Bedeutung von Zeit in der
Lebenswelt hervorzuheben und am Zeitbewusstsein und der
Zeitkompetenz erfahrungs- und handlungsorientiert anzu-
setzen. Dafür bieten sich verschiedene fachwissenschaftliche
Überlegungen an, allen voran zur Zeitordnung und zu Zeiti-
nstitutionen, welche der Gesellschaft und den darin lebenden
Individuen den Takt schlagen. Hier kommen eigene Denk-,
Fühl- und Handlungsmuster in Betracht und der direkte Be-
zug zum Alltag dient als Ausgangspunkt, um vom Besonderen,
d.h. vom einzelnen Fall, auf das Allgemeine, also die dahinter
verborgen liegenden Mechanismen, zu schließen. So können
die Lernenden eine Brücke von der Lebenswelt zur Politik
unter Zuhilfenahme von zeitsoziologischen, kultur- oder ge-
schichtswissenschaftlichen Erklärungsmodellen zu schlagen.
3. Zeitpolitische Herausforderungen
Resümierend lassen sich für die politische Bildung verschie-
dene zeitpolitisch relevante Aspekte benennen: die gelingende
Weltbeziehung der Subjekte, ihre Verstehens-, Erfahrungs-
und Handlungsprozesse, die funktionierende Rückkopplung
von Bürgern und Politik sowie die Zeitstrukturen und der
Umgang mit Zeit in der Demokratie und im Bildungswesen.
Daraus ergeben sich die folgenden Herausforderungen, um
die Lernenden für die Zeitlichkeit von Lebenswelt und Demo-
kratie zu sensibilisieren.
Erstens machen die bisherigen Ausführungen darauf auf-
merksam, dass eine politische Zeitkompetenz über den Um-
gang mit Zeit in der Lebenswelt, z. B. beim Lernen oder Ar-
beiten in der Schule, im Beruf oder der freien Zeit, hinausgeht
und auf die herrschenden Verhältnisse gerichtet ist. In die-
sem Kontext ist es wichtig, dass die Voraussetzungen dafür
geschaffen werden, dass Zeitkompetenz überhaupt realisiert
werden kann. Erst wenn Menschen in der Lage sind (und
einen rechtlichen Anspruch darauf haben), ihre Zeit frei zu
bestimmen, können sie einen kompetenten Umgang mit Zeit
auch verwirklichen. In Bezug auf Zeitzwänge stellt sich dabei
die Frage, welche Hindernisse der Umsetzung der zeitlichen
Bedürfnisse und Interessen im Wege stehen. Außerdem geht
es darum, Zeitprobleme in Lebenswelt und Gesellschaft zu
re ektieren, aufzuschlüsseln und nach Lösungswegen zu
suchen. Schließlich ist es auch wichtig, ein politisches Zeit-
bewusstsein aufzubauen, um für zeitliche Fragen, z. B. die
herrschende Zeitdisziplin der Pausenlosigkeit und Gleichzei-
tigkeit betreffend, sensibel zu werden. Damit sind die Diszi-
plin insgesamt und die Bildungspraktiker im Einzelnen dazu
aufgerufen, im Sinne einer kritischen politischen Bildung die
Strukturen sichtbar zu machen, welche zeitgerechtes Lehren
und Lernen – und damit die Ausbildung von Zeitbewusstsein
und Zeitkompetenz – verhindern.
Zweitens rückt die Demokratie in den Fokus, insbesondere
Zeitkon ikte, die aus den Geschwindigkeiten der Taktgeber
und Taktnehmer in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft resul-
tieren. Die Politik spielt in diesem Kontext eine wesentliche
Rolle: Auf der einen Seite ist sie für Zeitkon ikte verantwort-
lich, die aus den gesetzlichen Regelungen, beispielsweise
die arbeitsmarkt-, bildungs-, familien- und sozialpolitischen
Bestimmungen, entstehen; auf der anderen Seite besitzt die
Politik die alleinige Zuständigkeit, um allgemein verbindliche
Entscheidungen zu treffen und über Umverteilung für mehr
Zeitgerechtigkeit zu sorgen. Hier stellt sich vor allem die Fra-
ge, wie sich Zeitpolitik als neues Politikfeld institutionalisie-
ren lässt (Weichert 2011, Mückenberger 2013). Daneben geht
es um drängende und wichtige Zeitfragen: Weil Zeitfragen
auch immer Machtfragen sind und sich Statusunterschiede
zwischen den Menschen nicht zuletzt über die freie Verfü-
gung über Zeit ausdrücken, ist diese Angelegenheit eine der
politischen Bildung, insofern sie sich als kritisch begreift und
soziale wie ökonomische – besonders: zeitliche – Ungleich-
heiten thematisieren will. Daneben spielen jedoch auch an-
dere Zeitfragen eine Rolle, wie etwa zeitliche Ungleichheiten
zwischen den Geschlechtern und den Generationen sowie
zwischen Hoch- und Niedrigquali zierten sowie Erwerbs-
tätigen und -losen. Abseits der Grenzen geht es aber auch
um die Chancen, die sich aus einer echten Flexibilisierung
der Arbeitszeiten ergibt. Dies betrifft z. B. die Lernzeit in der
Erwerbsbiogra e oder die Zeit für politische Beteiligung (vgl.
Reheis 2004).
Drittens gilt es, zeitpolitische Konzepte aufzugreifen und zum
Gegenstand von politischen Bildungsprozessen zu machen.
Die Konzepte des Zeitwohlstands und Rechts auf Eigenzeit
betreffen den Einzelnen in seiner Lebenswelt und müssen da-
her zum Ausgangspunkt der Beurteilung und des Handelns
gemacht werden, um die herrschenden Strukturen auf demo-
kratischem Weg in Bewegung zu setzen. Ziel dieser Verände-
rung ist die freie und souveräne Verfügung über die eigene
Zeit, um Herr über die eigene Zeit zu werden, zu sein und zu
bleiben und nicht von Zeitzwängen beherrscht zu werden.
Weil der Gesetzgeber dafür die notwendigen Rahmenbedin-
gungen schaffen muss, ist es jedoch erst einmal notwendig,
dass Zeitpolitik in den Köpfen der Entscheidungsträger an-
kommt – die politische Bildung muss im Sinn eine Rück-
kopplung zwischen Bürgern und Politik dafür Sorge tragen,
dass deren zeitpolitische Erwartungen und Forderungen an
die Repräsentanten übermittelt werden. In diesem Kontext
ist es notwendig, die Debatte um den Wohlstandsbegriff für
politische Lehr-Lernprozesse fruchtbar zu machen, d.h. Zeit-
wohlstand über die Verfügung über materielle Güter hinaus
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
10 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
zu verdeutlichen und darauf hinzuweisen, dass neben der ma-
teriellen Seite auch das physische und psychische Wohlbe n-
den von Bedeutung ist. So werden die Lernenden als Wähler
und Konsumenten für Zeitfragen sensibilisiert und werden in
die Lage versetzt, ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen zu
erkennen und zu vertreten.
Dr. Michael Görtler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der
Professur für Erwachsenenbildung und Weiterbildung der
Universität Bamberg sowie Referent für politische Bildung.
Der Beitrag entstand aufbauend zu seiner Dissertation.
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Geißler, Karlheinz A./Held, Martin (Hrsg.) (1995a): Von Rhyth-
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Reheis, Fritz (2007): Bildung contra Turboschule! Ein Plädoyer,
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reuter (Hrsg.): Standortbestimmung Politische Bildung, Tutzinger
Schriften zur Politischen Bildung, Schwalbach/Ts., S. 267–281.
Riescher, Gisela (1994): Zeit und Politik. Zur institutionellen Be-
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Rinderspacher, Jürgen P. (2004): Zeitwohlstand. In: Heitkötter/
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Rosa, Hartmut (2016): Resonanz – Eine Soziologie der Weltbezie-
hung, Frankfurt/M.
Weichert, Nils (2011): Zeitpolitik: Legitimation und Reichweite
eines neues Politikfelds, Baden-Baden.
Zeitpolitisches Magazin (2013): Demokratie braucht Zeit, JG. 10,
A. 22, Berlin.
www.zeitpolitik.de – Die Webseite der DGfZP
Schauen Sie doch mal herein!
Sie fi nden dort unter anderem:
alle Ausgaben des Zeitpolitischen Magazins,
die Termine der nächsten Veranstaltungen,
Zeitpolitische Impulse,
Informationen über die bisherigen Jahrestagungen,
Texte zur Zeitpolitik zum Download…
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 11
SEBASTIAN SCHINKEL, ELISABETH SCHILLING, SINA-MAREEN KÖHLER, FANNY HÖSEL,
ALEXANDRA KÖNIG, REGINA SOREMSKI, MAREN ZSCHACH
„Jung sein – älter werden: Zeitlichkeiten im Wandel“
Skizze eines wissenschaftlichen Netzwerks
1. Einleitung
In seiner Perspektive auf gesellschaftlichen Wandel schreibt
der Soziologe Hartmut Rosa, sozialwissenschaftliche Zeit-
diagnosen sollten „in der Tat Zeit-Diagnosen im Wortsinn
sein“ (Rosa 2005: 38). Denn jede Zeit, hier verstanden als
historische Verortung, hat ihre eigenen Zeitstrukturen und
-logiken mit entsprechend kulturell präformierten Alltags-
gestaltungen, diskursiven Rationalitäten und biogra schen
Normalitätsentwürfen. Die individuelle Sicht auf die jeweilige
Alltagszeit mit ihren Taktungs- und Synchronisierungserfor-
dernissen, die biogra sche Zeit des Lebensverlaufs wie auch
eine zeitgeschichtliche Einordnung des Lebens in den Lauf
der Welt folge dabei stets narrativen Mustern. „Es sind kul-
turelle und individuelle Narrationen, in denen Alltagszeit, bi-
ogra sche Zeit und historische Zeit zueinander in Beziehung
gesetzt und wechselseitig kritisiert und gerechtfertigt werden“
(ebd.: 35). Das hier vorgestellte geplante wissenschaftliche
Netzwerk „Jung sein – älter werden: Zeitlichkeiten im Wan-
del“ fokussiert vor diesem Hintergrund mit qualitativen Me-
thoden aus verschiedenen Perspektiven Zeitkonstruktionen
zu Alltagsorganisation und biogra scher Lebensplanung auf
dem Weg in das Erwachsenenalter.
In den einzelnen Forschungsprojekten werden dafür mit un-
terschiedlich konzipierten Gegenständen und empirischen
Zugriffsweisen die zeitlichen Orientierungen und Selbstprak-
tiken zum Aufwachsen und Erwachsenwerden in verschie-
denen Alters- bzw. Lebensphasen untersucht. „Älter werden“
wird damit nicht mehr vorrangig als Untersuchungsgegen-
stand in Hinblick auf das „späte“ Lebensalter begriffen, son-
dern als ein sozial konstruiertes Format von Zeitlichkeit im
Lebensverlauf, das in der Gegenwartsgesellschaft auch für
Kindheit, Jugend und das junge Erwachsenenalter relevant
gemacht wird. In den einzelnen Projekten werden biogra sche
und kollektive Zeitkonstruktionen sowohl zu Alltagsroutinen
und -organisation (in ihren Segmentierungen, Rhythmen
und Synchronisierungen) als auch in Phasen des Übergangs
und Umbruchs in den Blick genommen. Während Über-
gänge häu g durch institutionalisierte Zeitordnungen vor-
strukturiert sind, verweisen Umbrüche stärker auf akziden-
tielle Widerfahrnisse oder individuelle Entscheidungen des
Neuanfangs im Lebensverlauf. Mit den verschiedenen For-
schungsansätzen werden dabei in unterschiedlichen Akzent-
setzungen zugrundeliegende Orientierungen und lebenswelt-
liche Wissenshintergründe ebenso in den Blick genommen
wie professionelle Unterstützungsmöglichkeiten zur Bewäl-
tigung von Anforderungen zeitlicher (Um-)Strukturierungen
im Lebensverlauf. Insofern es dabei stets (auch) um ein Le-
bensgefühl geht, rücken Fragen zu milieu- und generations-
spezi schen Vorstellungen von Jungsein und Älterwerden,
dem Übergang in das Erwachsenenalter und der Konstruktion
sinnvoller Zeitgestaltung, eigener Gestaltungsmöglichkeiten
und soziokultureller Zwänge in den Fokus – als individuelle
Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zeitordnungen
und einem nicht weniger sozial verfassten Zeiterleben, das
auf diese Zeitordnungen bezogen und (auch im Widerstand)
durch diese strukturiert ist.
2. Wandel sozialer Zeitverhältnisse
Zeit wurde schon zu Beginn der Sozialwissenschaft als ein
soziales Phänomen angesehen, und ihre Funktionen wurden
auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert bereits dezi-
diert in den Fokus entsprechender Analysen gestellt (vgl.
Burzan/Schöneck 2014). Jedoch lässt sich für den gesell-
schaftlichen Strukturwandel der 1970er und 80er Jahre eine
intensivierte Phase kulturtheoretischer und komparativer
Zeit-Analysen ausmachen, in der sich disziplinübergreifend
mit der zeitlichen Eintaktung des Alltagslebens auf die ka-
pitalistische Produktions- und Organisationsweise der Mo-
derne – mit ihrer Historizität und ihrer kulturellen Kontin-
genz – befasst wurde (vgl. Thompson 1967; Rammstedt 1975;
Wendorff 1980; Zerubavel 1981; Tismer 1985; Elias 1988;
Dux 1998). Seit den 1990er Jahren werden durch die Histori-
sierung verstärkt auch die Eigenarten und Folgen des gegen-
wärtigen Wandels gesellschaftlicher Zeitverhältnisse selbst
theoretisiert, prominent etwa unter den Konzepten einer
„Zeit-Raum-Kompression“ aufgrund zunehmender globaler
technischer Vernetzung (Harvey 1990), einer „Entbettung“
aus Gewissheiten der Lebensführung und ihrer Planbarkeit
(Giddens 1991) oder einer „sozialen Beschleunigung“ des
individuellen Alltagslebens, seiner Veränderungen wie auch
des gesellschaftlichen Wandels insgesamt (Rosa 2005). Da-
bei wurde den gesellschaftlichen und individuellen Konse-
quenzen dieses Wandels mit einer anwachsenden Vielfalt an
Optionen und Unsicherheiten für die Alltags- und Lebens-
gestaltung nachgegangen. Veränderte Anforderungsstruk-
turen eines „neuen Kapitalismus“ wurden beschrieben, die
mit einer „Verkürzung der Zeitperspektive“ einhergingen –
individuell, institutionell und politisch (Sennett 2006).
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
12 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
Mit den Schlagworten der Flexibilisierung und Entgrenzung
wurde eine Dynamisierung institutionalisierter Zeitstruk-
turen erfasst, aus denen nicht zuletzt eine Umverteilung der
Strukturierungslast für die Alltags- und Lebensgestaltung zu
Lasten individueller Selbstdisziplinierung resultiert (vgl. Voß
1991; Sennett 1998). In Hinblick auf das subjektive Zeiterle-
ben, die im Alltag gelebten Zeitmuster und soziale Organisa-
tionsabläufe wurde nach den Auswirkungen verdichteter und
zunehmend ungewisser Zeitstrukturen auf Identität und Sozi-
alität gefragt (vgl. Nowotny 1993; Hörning/Ahrens/Gerhard
1997; Garhammer 1999; Mischau/Oechsle 2005; Flaherty
2011; Rosa 2012). Der Beschleunigungsbegriff oder auch das
Schlagwort der Flexibilisierung thematisieren diesbezüglich
ebenso eine Verdichtung individueller Anforderungen und
Möglichkeiten wie auch den Modus einer tiefgreifenden so-
zialen Dynamisierung, woraus das Dilemma einer Verschär-
fung individueller Entscheidungszwänge im Horizont einer
zunehmend weniger vorhersehbaren Zukunft resultiert. Pla-
nungsunsicherheit, potenzielle Desorientierung und eine
Destabilisierung von Identitätsentwürfen können sich in
diesem Zusammenhang besonders in den Lebensphasen des
Aufwachsens auch ungleichheitsverschärfend auswirken (vgl.
Brose/Hildenbrand 1988; Sennett 1998; Rosa 2012; Leccardi
2012, 2013).
3. Schwerpunkte des Netzwerks
Mit dem gemeinsamen Forschungsinteresse an zeitlichen
Strukturierungen und ihrem Wandel im Lebensverlauf bis
in das Erwachsenenalter sowie deren subjektiver Wahrneh-
mung und Bewertung im Prozess des Älterwerdens – inner-
halb eines Wandels institutioneller bzw. gesellschaftlicher
Zeitverhältnisse – verteilen sich die Forschungsprojekte des
Netzwerks ‚Jung sein – älter werden: Zeitlichkeiten im Wan-
del‘ auf drei thematische Schwerpunkte: (1) Soziokulturelle
Mobilität, (2) Umgangsweisen mit institutionellen Struktu-
rierungen in Lebensführung und -planung, (3) Transforma-
torische Selbstthematisierungen und Re exivität. In diesen
drei Schwerpunkten des Netzwerks soll aus unterschiedlichen
Perspektiven untersucht werden, wie die soziale Taktung der
jeweiligen Lebensweise mit ihren spezi schen sozialen Syn-
chronisierungserfordernissen erlebt, realisiert und retro-
spektiv ebenso wie prospektiv zu bearbeiten und zu gestalten
versucht wird. Qualitative Studien mit einer rekonstruktiven
methodischen Ausrichtung, besonders auch mit einem Längs-
schnittdesign, bieten die Möglichkeit, subjektive Zeitkon-
struktionen und gesellschaftliche Zeitverhältnisse in Hinblick
auf verschiedene Zeitpunkte der Versprachlichung – und
somit auch in Hinblick auf zeitliche Verläufe – zu erfassen.
Innerhalb des Netzwerks sind daher in den Schwerpunkten
Projekte situiert, die Zeitperspektiven und -strukturen auch
in Hinblick auf im Längsschnitt erhobene Daten betrachten,
wodurch eine grundlagentheoretische Weiterentwicklung
bisheriger Ansätze zu Verzeitlichungen im Lebensverlauf
möglich wird. Daraus sollen auch neue Erkenntnisse zur an-
gemessenen Erhebung und Analyse subjektiver Zeitkonstruk-
tionen gewonnen werden.
3.1 Soziokulturelle Mobilität
Die Mobilitätsforschung unterscheidet allgemein zwischen
regionaler und sozialer Mobilität. Letztere umfasst soziale
Phänomene, die jeweils individuelle oder kollektive, vertikale
oder horizontale soziale Statuswechsel markieren (vgl. Geißler
2014). Das können sowohl Berufswechsel als auch sozialstruk-
turelle Auf- oder Abstiege sein. Je nach Perspektive sind Men-
schen intra- oder auch intergenerationell mobil, vollziehen
also einen Statuswechsel innerhalb ihres Lebensverlaufs oder
erst in der familialen Generationenfolge. Als Ursache dieser
Mobilität werden vor allem gesellschaftsstrukturelle Wand-
lungsprozesse identi ziert. Solche haben in der Bundesrepu-
blik Deutschland etwa in den 1970er Jahren zu einer breiten
Bildungsexpansion und Aufstiegsmobilität geführt, wie sie in
der ehemaligen DDR bereits in den 1950er Jahren vonstat-
tenging (vgl. Mayer/Solga 1994; Berger 1996; Hradil 1999).
Dieser Trend ist seitdem wieder rückläu g, mit fortbestehen-
den Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland wie
auch den Geschlechtern (vgl. Geißler 2014). Soziale Mobilität
hat eine Indikatorfunktion für soziale Ungleichheit, verweist
aber auch auf gestiegene Quali kationsanforderungen, die
u. a. auf der Expansion von Dienstleistungsberufen beruhen,
von denen Mobilitätsanreize ausgehen. In Verbindung mit re-
gionaler Mobilität ist dabei auch die mit Barrieren versehene
Inwertsetzung von Bildungsabschlüssen bedeutsam, die in
einem anderen Staat erworben wurden. Mobilität stellt sich
vor diesem Hintergrund als Umgang mit gesellschaftlicher
Dynamik und der ihr eigenen Zeitlichkeit dar.
Bildungsaufstiege können in diesem Zusammenhang als Ab-
stimmung auf gesellschaftliche und bildungsstrukturelle Be-
dingungen gedeutet werden und neben der sozialstrukturellen
Positionierung auch soziale Milieuwechsel implizieren. Ähn-
lich wie bei Migrationsprozessen sind damit langwierige, auch
generationenübergreifende Prozesse verbunden. In der Mi-
gration als regionale Mobilität kommen diese Anforderungen
noch vehementer zum Tragen, da potenziell unterschiedliche
kulturelle (Zeit-) Ordnungen zwischen Herkunfts- und Auf-
nahmeland aufeinandertreffen können. Zeitvorstellungen wie
Zukunftsentwürfe können daher im Verlauf soziokultureller
Mobilität noch gravierender an Orientierungs- und Struktu-
rierungsfunktion einbüßen und stattdessen selbst zu Barrie-
ren werden; und diese Herausforderungen sind biogra sch zu
bewältigen, um in diesem Wandel von Zeitordnungen Orien-
tierung zurückzugewinnen.
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 13
Inwiefern lassen sich Differenzkonstruktionen zu Vorstel-
lungen eines „normalen“ Lebensverlaufs in Hinblick auf regi-
onale und soziale Mobilität rekonstruieren? Inwiefern können
Fremdzuschreibungen Veränderungs- oder Beharrungspro-
zesse anstoßen? Welche Diskurse und unter Umständen di-
vergente „Zeit-Sprachen“ (Hall 1983), z. B. von Migrant(inn)
en und Repräsentant(inn)en gesellschaftlicher Institutionen
in Verwaltung, Schule, Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz,
lassen sich identi zieren? Wie bisherige Studien aufgezeigt
haben, kann Mobilität zu Diskrepanzen zwischen soziokul-
turellen Zeitorientierungen und geforderten Zeitpraktiken
führen. Gleichzeitig können auch Diskrepanzen zwischen in-
dividuellen und organisationellen Vorstellungen zur Lebens-
zeit entstehen. Der Umgang mit solchen Diskrepanzen stellt
das Forschungsfeld des ersten Schwerpunkts ‚Soziokulturelle
Mobilität‘ dar.
3.1.1 Bildungsaufstieg und Lebenslauf: Eine gesamt-
biografische Perspektive auf Bildungsaufstiege unter
besonderer Berücksichtigung lebensweltlich und insti-
tutionell vermittelter Lebenslauforientierungen
Regina Soremski geht in ihrem Projekt von einer biogra-
etheoretischen Perspektive auf soziale Mobilität aus, die
den Bildungsaufstieg als biogra schen Prozess und Relati-
on zwischen gesellschaftlichen (Ungleichheits-)Strukturen
und individuellen Erfahrungs- und Deutungsstrukturen im
historischen Kontext versteht. Bildungsaufstiege werden in
der bildungssoziologischen Forschung lediglich in Hinblick
auf ungleichheitsrelevante Mechanismen unter besonderer
Berücksichtigung spezi scher Phasen und Kontexte des Bil-
dungsverlaufs analysiert (vgl. etwa Becker/Solga 2012; Be-
cker/Schulze 2013; Maaz et al. 2014; Spiegler 2015). Im an-
visierten Projekt wird hingegen eine holistische Perspektive
auf den Lebensverlauf eingenommen. Auf der Grundlage nar-
rativ-biogra scher Interviews mit Personen aus nicht-akade-
mischen Elternhäusern, die einen akademischen Abschluss
sowie quali kationsadäquate Berufspositionen erworben
haben, werden hermeneutisch-rekonstruktive Analysen (vgl.
Rosenthal 2011) durchgeführt. Gegenstand der Analyse sol-
len das Zusammenspiel von lebensweltlich und institutionell
vermittelten Lebenslauforientierungen sowie ihr Ein uss auf
Bildungsaufstiegsprozesse sein.
3.1.2 Verwaltete Zeitdiversität: Ausgestaltung
neuer Zeitvorstellungen bei jungen Migrant(inn)en
im Prozess der Integration
Elisabeth Schilling untersucht Veränderungen in subjektiven
Zeitvorstellungen junger Migrant(inn)en in Deutschland.
Der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung von Zukunftsvor-
stellungen bzgl. der eigenen Biogra e, insbesondere auf der
Ausgestaltung von Bildungsoptionen. Zwar existieren diverse
institutionelle Anforderungen der Zeitgestaltung (sowohl im
Sinne der Biogra e als auch in Bezug auf die Alltagszeit), doch
werden diese kaum explizit gemacht. Nichtsdestotrotz bestim-
men sie über Zukunftsaussichten (bspw. über die Fähigkeit,
sich im Bildungssystem zurechtzu nden oder einen Beruf
auszuüben), die Einbindung in Institutionen, Erfolgsprogno-
sen etc. (vgl. Zimbardo/Boyd 2011). Diesbezüglich stellt sich
die Frage, wie Institutionen, die eine professionelle Unterstüt-
zung von Migrant(inn)en leisten sollen, mit einer kulturellen
Diversität von Zeitvorstellungen ihrer Klientel umgehen. Da-
bei stehen diskursive Normativitätsmuster im Zentrum des
Erkenntnisinteresses. Die empirische Erforschung soll sich
auf gruppenorientierte Datenerhebungsverfahren (Experten-
interview, Gruppendiskussion, teilnehmende Beobachtung)
stützen, um kollektiv geteilte Sinnstrukturen zu erfassen und
mit der Diskursanalyse der Einzelinterviews ergänzt werden.
Ferner wird ein Längsschnittdesign in diskursanalytischer
Ausrichtung angestrebt, um die Entwicklungsdynamiken in
Zeitvorstellungen zu erfassen.
3.2 Umgangsweisen mit institutionellen Strukturie-
rungen in Lebensführung und -planung
Zeit als soziales Orientierungsmaß ermöglicht die Synchro-
nisierung und Koordination des gesellschaftlichen Zusam-
menlebens. Vor allem Kalender und Uhrzeit bilden wichtige
Taktgeber sowohl für den Alltag als auch den Lebensverlauf.
Ein daran gemessenes Älterwerden bringt in industrialisier-
ten Gesellschaften das Durchlaufen sozial unterschiedener
Lebens phasen mit sich, die mit spezi schen Erwartungen,
Verp ichtungen, Rechten, Abhängigkeiten und Machtpositi-
onen einhergehen (vgl. Heinz 2001: 151). Die Einrichtungen
des Erziehungs- und Bildungssystems fungieren diesbe-
züglich wie der Erwerbsarbeitsmarkt als institutionalisierte
Zeitordnungen der individuellen Alltagsstrukturierung und
Lebenslaufplanung, die der gesellschaftlichen (Re-)Struktu-
rierung genauso wie einer individuellen Entwicklung dienen.
Aufwachsen und Älterwerden sind in der postindustriellen
Gesellschaft von dem Paradox geprägt, den Lebensverlauf
in Hinsicht auf gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten und
Platzierungschancen durch Bildungsetappen und Zielvorstel-
lungen individuell entwerfen zu sollen, während sich gesell-
schaftliche Rahmenbedingungen wandeln und eine verläss-
liche Planbarkeit des Lebensverlaufs zu unterlaufen drohen
(vgl. Rosa 2012). Nachweisbare Quali zierungswege und
höherwertige Bildungszerti kate haben einerseits an Bedeu-
tung für Erwerbsmöglichkeiten gewonnen, bieten als Investi-
tionen von Lebenszeit andererseits jedoch keine abgesicherte
Zukunft, sondern lediglich Chancensteigerungen unter Kon-
kurrenzbedingungen – unter dem Risiko, dass sich diese Ein-
sätze von gelebter Zeit nur unbefriedigend in Ziele umsetzen
lassen, wenn sich die Rahmenbedingungen wandeln. Gerade
nach der Schulp icht stellt sich daher verschärft die Frage,
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
14 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
welche Ziele unter welchen Zeitregimen und mit welchem
Nutzen vorstellbar und innerhalb dieses Spektrums erreich-
bar und wünschenswert sind.
Unter diesen Unwägbarkeiten einer sich schnell verändernden
Zukunft verlangt jede institutionell geregelte Bildungsetappe
eine auf sie abgestimmte Zeitstrukturierung, in die sich durch
Koordination mit anderen Zeitordnungen des Alltags indivi-
duell eingepasst werden muss. Besonders solche Eintritte in
Zeitregime, die nicht verp ichtend festgelegt sind, erfordern
daher eine Flexibilität des Habitus mit der Bereitschaft, sich
auf damit verbundene Strukturierungs- und Koordinations-
anforderungen einzulassen und einzustellen, die auch die
weiteren Lebensbereiche tangieren. Entsprechende Entschei-
dungen kommen nicht vollkommen spontan, sondern grün-
den sich auf eine biogra sche Vorgeschichte, an der mit be-
sonderem Gewicht das Familienleben und Peer-Beziehungen
beteiligt sind, in denen Selbstverständnisse akzeptabler Le-
benslaufentscheidungen nicht nur kommunikativ bearbeitet
werden, sondern in der Alltagspraxis mit ihren Relevanz- und
Bewertungsmustern gelebt werden. So werden Kindheit und
Jugend auf unterschiedliche Weise und nach verschiedenen
normativen Maßstäben eines „guten Lebens“ ausgestaltet die
auch zeitperspektivisch unterschiedlich orientiert sind.
Die Bedeutung von Zeit in Relation zu institutionalisierten
Ordnungen bildet ein komplexes Themenfeld, welches das
Verhältnis von zeitlich objektivierter Dauer und erlebter Zeit
zu berücksichtigen hat, wobei Zeitspannen auch mit Alters-
normen einhergehen. Die soziologische Lebenslaufforschung,
die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, die erzie-
hungswissenschaftliche Biogra eforschung sowie die sozial-
wissenschaftliche Lebensereignis- und Übergangsforschung
bilden nur einige Perspektiven, unter deren Prämissen sich
mit der seit den 1960er Jahren einsetzenden Destandardisie-
rung und Individualisierung des Lebensverlaufs auseinander-
gesetzt wird (vgl. Faltermaier 2008). Das Nutzen der Zeit, die
konkretisierte Planung, die Alltagsdynamiken sowie Lebens-
verläufe von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen
werden im Schwerpunkt ‚Umgangsweisen mit institutionellen
Strukturierungen in Lebensführung und -planung‘ mit ver-
schiedenen Fragestellungen und Gegenstandsfokussierungen
untersucht.
3.2.1 Szenarien des Älterwerdens. Zeitperspektiven in
Elternschaft und Kindheit
Sebastian Schinkel fokussiert sowohl auf Orientierungen als
auch auf Normalvorstellungen in familialen Zeitperspektiven
zum Aufwachsen von Kindern im Rahmen eines gemeinsamen
Älterwerdens. Mit einer doppelten Blickeinstellung zum Zu-
sammenleben als Familie werden einerseits Deutungsmu-
ster eines generalisierbaren kommunikativen Wissens zum
Älterwerden rekonstruiert; etwa in Hinblick auf ökonomisch
geprägte Zeitperspektiven und ein humankapitaltheoretisch
geprägtes alltagsweltliches Vokabular. Andererseits werden
erfahrungsbasierte Differenzen in den Orientierungen zu
Alltagszeit und biogra scher Zeit untersucht, wobei von ei-
ner hohen Relevanz der sozialen Lage wie auch der Arbeits-
teilung und Generationendifferenz im Familienleben ausge-
gangen wird. Durch leitfadengestützte Elterninterviews zu
Alltagsorganisation und gemeinsamer Familiengeschichte im
Rahmen des Zusammenlebens mit Grundschulkindern sowie
durch leitfadengestützte Kinderinterviews werden zeitliche
Perspektiven und Orientierungen zu Alltagsorganisation und
Lebensverlauf auditiv erhoben und in Anlehnung an die do-
kumentarische Methode rekonstruiert. Dabei sollen relevant
gemachte Erfahrungsräume ebenso wie ein generalisierbares
Wissen exploriert werden.
3.2.2 Selbstprojekte nach der Schule. Zwischen An-
sprüchen und Chancen biografischer Gestaltung
Alexandra König untersucht die Selbstprojekte junger Men-
schen nach Verlassen der Schule, d. h. Orientierungen und
Strategien biogra scher Gestaltung. Erfasst wird dabei nicht
nur die Laufbahngestaltung, sondern auch die damit verbun-
dene (retrospektive und prospektive) Formung von „Selbst“,
als eine für sich und andere erkennbare Person. Untersucht
wird wie diese Selbstprojekte ausgestaltet werden zwischen
eigenen Ansprüchen und gesellschaftlich strukturierten
Chancen. Angelegt ist die Studie als ein quantitativer und
qualitativer Längsschnitt, der subjektive Zeitkonstruktionen
einzufangen und die Veränderungen biogra scher Lebens-
entwürfe zu erfassen erlaubt. Das Sample ist so zusammenge-
setzt, dass eine Kontrastivität zu erwarten ist in Bezug auf (I)
die handlungsleitenden Orientierungen und (II) die struktu-
rierten Chancen (z. B. Hochschulzugangsberechtigung). Aus-
gewählt wurden a) Lehramts- und Ingenieursstudierende, b)
Kunststudierende, c) Auszubildende im Maler-, Lackierer-
und Friseurhandwerk sowie d) Jugendliche, die als Rapper
ihren Weg gehen wollen. Das kontrastive Design ermöglicht
einen Vergleich von subjektiven Zeitkonstruktionen in den
unterschiedlichen Feldern, etwa dem der Kunst oder des
Lehramtsstudiums. Erfasst werden dabei zum einen die je-
weils feldspezi schen Zeitordnungen des Alltags (Taktungen,
Vorgaben etc.), zum anderen die feldspezi schen Lebensent-
würfe, die angeboten werden. Die feldspezi schen Zeitord-
nungen sind grundlegend für das Verständnis individueller
Alltagsstrukturierungen und Lebenslaufplanungen.
3.2.3 Mehr Zeit für schulische Berufsorientierung?
Eine Studie zur biografischen Bedeutung schulischer
Berufsorientierung am Übergang
Sina-Mareen Köhler befasst sich in ihrem Projekt mit der
schulischen Berufsorientierung. Anknüpfend an die Berufs-
wahlforschung geht das Projekt davon aus, dass schulische
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Berufsorientierung eine Auseinandersetzung mit den eigenen
Fähigkeiten anregt und eine darauf bezogene Entwicklung
von realistischen Perspektiven und Aktivitäten fördern soll
(vgl. Rahn/Brüggemann/Hartkopf 2011: 298). Hinsichtlich
der Bedeutung von Zeitlichkeit für den Übergang und die
Berufsorientierung sind somit die Wahrnehmung und Um-
gangsweisen mit Zeit von jungen Erwachsenen relevant. Aus
biogra etheoretischer Perspektive wird der im Rahmen der
schulischen Berufsorientierung geforderte Prozess als Form
der biogra schen Arbeit im Sinne von „Biographizität“ ver-
standen, die nötig ist, um den zukünftigen Werdegang zu ent-
werfen und umzusetzen (vgl. Schulze 2006: 49). Aus der Per-
spektive einer praxeologischen Wissenssoziologie wird dabei
berücksichtigt, dass der Berufsorientierungsprozess durch
den Habitus milieuspezi sch gerahmt ist (vgl. Schittenhelm
2005; Brändle/Grundmann 2013). Mit der dokumentarischen
Methode können die im Längsschnitt erhobenen narrativen
Interviews hinsichtlich der expliziten Bezugnahme auf Zeit in
ihrer Relevanz für die Berufsorientierung aufgezeigt werden.
Darüber hinaus ermöglicht die Rekonstruktion von implizi-
ten handlungsleitenden Wissensbeständen als Habitus auch
einen Zugang zu den, die Re exionen und das Handeln rah-
menden, Orientierungen, die teils unbewusst wirken.
3.3 Transformatorische Selbstthematisierung
und Re exivität
Im Mittelpunkt des dritten Schwerpunkts steht die Beschäfti-
gung mit identitäts- und persönlichkeitsbildenden Prozessen
biogra sch handelnder Subjekte. Bereits im Kindes- und Ju-
gendalter entwickeln sich individuelle Wirklichkeits- und Sinn-
konstruktionen, die sich bis in das Erwachsenenalter hinein vor
dem Hintergrund sich verändernder (zeitlicher) Rahmenbe-
dingungen fortsetzen. Thematisiert werden unter der Annah-
me eines biogra schen Veränderungsstrebens sowohl bereits
vollzogene Wandlungs- und Veränderungsprozesse (Vergan-
genheitsperspektive) als auch Zukunftsvorstellungen, denen in
Identitätsentwürfen und -projekten Ausdruck verliehen wird
(Keupp et al. 2013: 194). Die gemeinsame Blickrichtung in
diesem Schwerpunkt fußt auf der Annahme, dass „Sozialisati-
onserfahrungen in der Kindheit nicht mehr grundlegende und
lebenslang wirksame biogra sche Ressource, sondern biogra-
scher Ausgangspunkt [sind], der immer wieder zu ergänzen,
umzuschreiben und neu zu bewerten ist“ (Heinz 2000: 165).
Die biogra etheoretische Betrachtung fokussiert in diesem
Schwerpunkt auf die – bislang erziehungswissenschaftlich
abstrakt gebliebene – Lebenszeit als eine subjektivitätsentwi-
ckelnde, sich verändernde bzw. werdende und konstituieren-
de Zeit der Individuen. Ziel ist die Nachzeichnung von Hand-
lungs-, Entscheidungs- und Lernpraxen über die Lebenszeit
in der Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
kunft. Jenes Sichtbarwerden menschlichen „In-der-Zeit-Seins“
(Schmidt-Lauff 2014: 24), als Folge re exiver Prozesse der
Bewusstwerdung zeitlicher Strukturen wie auch darin enthal-
tener Rekonstruktionen von Zeit („Verzeitlichung“) (2012: 17),
wird bereits bei Heidegger unter dem Begriff der Zeitlichkeit
gefasst. Im Selbstverständnis der Individuen ist diese Zeitdi-
mensionalität der Trias aus Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft miteinander verbunden, kann rekonstruiert werden
und kommt in subjektiven Bewertungen und Be ndlichkeiten
gegenüber gegenwärtigen Bedeutungen, vergangenen Erfah-
rungen und zukünftigen Erwartungen zum Tragen. Der re e-
xive, biogra e-inhärente Umgang mit (Lebens)zeit wird über
die Blickrichtungen der beiden Forschungsprojekte aus Kind-
heits- und Erwachsenenperspektive relational ausgedeutet.
3.3.1 Biografische Zeiterfahrung und -reflexion in den
Selbstthematisierungen von Kindern und Jugendlichen
Individuelle Zeitperspektiven sollen im Projekt von Maren
Zschach zum einen die bewusste Beschäftigung von Kin-
dern mit dem Phänomen Zeit abbilden, zum anderen geht
es dabei um die Rekonstruktion und Analyse von individu-
ell erfahrener biogra scher Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft im Sinne einer verzeitlichten Selbstthematisierung
(vgl. Wohlrab-Sahr 2006: 93). Der erste Aspekt zielt auf eine
Vorstellung von Zeitlichkeit und ein Zeitbewusstsein, welches
Zeit als „geistiges Konstrukt“ begreift, das sich Kinder an-
eignen (vgl. Schorch/Steinherr 2001: 420). Damit eng ver-
bunden ist zum Zweiten eine Re exion über die individuelle
Bedeutung von Zeit. Folglich sind diese beiden Ebenen des
Nachdenkens über Zeit und ihrer Bedeutung im eigenen Le-
bensverlauf jeweils miteinander verknüpft und können kaum
getrennt voneinander untersucht werden, wie dies z.B. auch
aus den Arbeiten im Anschluss an Zimbardo und Boyd (1999)
hervorgeht (u.a. Buhl/Lindner 2009; Worrell/Mello 2009;
Buhl 2014). Die in diesen Studien herausgearbeiteten Zeit-
perspektivenpro le setzen mit quanti zierenden Verfahren
eine Tradition fort, welche innerhalb der Jugendforschung
mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen bereits viel-
fach mit dem Versuch Anwendung fand, Entwicklungswege
Jugendlicher im Zusammenhang mit einer Positionierung zu
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu analysieren (vgl.
du Bois-Reymond et al. 2001; Aram et al. 2003; Reinders/
Wild 2003; Reinders 2003). Die Hauptfragestellung richtet
sich von diesen Überlegungen ausgehend darauf, zu untersu-
chen, wie eine Selbstsicht Vergangenes kon guriert und um-
deutet, aber auch in einer Gegenwartsposition Zukünftiges
ständig modi ziert und so das Selbst sowohl im Gleichge-
wicht hält als auch ständig fortschreibt und entwickelt. Diese
zeitbezogene Identitätsarbeit bildet den Kern einer Selbst-
bildung des Subjektes und steht im Zentrum des Interesses.
Die Grundlage der Untersuchung bilden offene, biogra sch-
narrative Interviews mit 10- bis 11-jährigen Kindern.
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
16 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
3.3.2 Zeitperspektiven und biografische Entschei-
dungen – eine temporaltheoretische Sicht auf Lernen
und Bildung im Rahmen von Entscheidungsprozessen
über die Lebensspanne
Im Projekt von Fanny Hösel geht es um die Identi kation
und Analyse von Mustern biogra scher Entscheidungen im
Lebenslauf als spezi sche Modi der Biogra egestaltung (vgl.
Heinz 2000: 166). Mit der steigenden Freisetzung der Bio-
gra en aus traditionellen Lebensverhältnissen verlieren diese
als orientierungsstiftende Rahmenbedingungen zunehmend
ihre Wirkmächtigkeit. Die Subjekte sind heute in ihrem (bio-
gra schen) Gestaltungszwang und dem der „Identitätsarbeit“
(Giddens 1991) immer mehr auf sich selbst verwiesen. Gleich-
zeitig entsteht aber gerade über das Phänomen der Kontin-
genz „ein Optionsraum auf offene Möglichkeiten und auf et-
was Neues … als Bildungsraum“ (Schmidt-Lauff 2014: 125;
Pfeiffer 2007). Identität ist dabei nicht als abgeschlossener
Endpunkt zu verstehen, sondern als auf Dauer zu stellender
Prozess. Diese Zeitbezogenheit soll sichtbar machen, wie in
unserer modernen Gesellschaft individuelle Lebenslagen
generell als zunehmend transitorisch angenommen werden,
d.h. dynamisch, emergent als komplementäre Spannungsver-
hältnisse zwischen Kontinuität und Kontingenz (vgl. Pfeiffer
2007). Das sich aus den Analysen ergebende Grundverständ-
nis von Entscheidungen – weniger als singuläre Momente,
mehr als weitreichend re ektierte und damit lernhaltige
Prozessverläufe – lässt Lern- und Bildungsprozesse offenbar
werden, die als spezi sche Form einer „zielgenerierenden
Suchbewegung“ bestimmt werden können (Schäffter 2001:
23). Durch den analytischen Einbezug sowohl vergangener
„Erfahrungen in der Erinnerung als reproduktive Vergegen-
wärtigung von Zurückliegendem sowie [auch dessen] ‚proten-
tionale Übertragung‘ auf Erwartetes“ (Schmidt-Lauff 2012:
36) wird der Bedeutung eines „relationalen Zeitgefüges“ für
eine temporaltheoretische Gegenstandsbestimmung (Schäff-
ter 2012) des Untersuchungsgegenstandes Rechnung getra-
gen. Der Forschungslogik der Grounded Theory (vgl. Glaser/
Strauss 2005) folgend, werden verschriftlichte und veröffent-
lichte Autobiogra en unter biogra etheoretischer Perspekti-
ve hinsichtlich re ektierter, identitätskonstituierender Ent-
scheidungssituationen ausgewertet.
4. Perspektiven des Netzwerks
Die Zusammenarbeit im hier vorgestellten geplanten wis-
senschaftlichen Netzwerk ‚Jung sein – älter werden: Zeit-
lichkeiten im Wandel‘ gründet sich zum einen auf die the-
menbezogene Vernetzung einzelner Forschungsprojekte zu
subjektiven Zeitkonstruktionen und Selbstverhältnissen im
Prozess des Aufwachsens im Kontext eines rasanten gesell-
schaftlichen Wandels. Dabei dienen die unterschiedlichen
empirischen Zugriffsweisen im Netzwerk einer gemeinsamen
und wechselseitigen methodischen und methodologischen
Re exion; darüber hinaus versprechen sie aufgrund kontras-
tierender Blickweisen zu verschiedenen Altersphasen einen
komplementären Erkenntnisgewinn, der gegenstandstheo-
retisch über die Einzelprojekte hinausweist. Zum anderen
sollen jährlich organisierte Workshops und Tagungen diesen
kollaborativen Zusammenhang für erweiterte zeit- und ge-
sellschaftstheoretische wie auch methodische und methodo-
logische Fragestellungen öffnen und einen Austausch über
diesen Rahmen hinaus im Verlauf der einzelnen Forschungs-
prozesse ermöglichen. Im Horizont des Netzwerks entsteht
dadurch die Perspektive auf Generationenportraits zum Zei-
terleben im Aufwachsen und dessen Veränderungen im Kon-
text von gesellschaftlichem Wandel.
Sebastian Schinkel, Elisabeth Schilling, Sina-Mareen Köhler,
Fanny Hösel, Alexandra König, Regina Soremski, Maren
Zschach verstehen ihren Beitrag „Jung sein – älter werden:
Zeitlichkeiten im Wandel“ als „Skizze eines wissenschaft-
lichen Netzwerks“. Diese ist als Ergebnis der Zusammenar-
beit zur Gründung eines interdisziplinären Netzwerks zum
gleichnamigen Titel entstanden. Ein Antrag als DFG geför-
dertes Forschungsprojekt ist gestellt.
Literatur
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Leske + Budrich.
Buhl, Monika (2014): Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. Zeit-
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Buhl, Monika / Lindner, Daniela (2009): Zeitperspektiven im Ju-
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SEBASTIAN SCHINKEL
Szenarien des Älterwerdens
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„Altern“ gilt zwar als relevantes Thema der „alternden“ Gesell-
schaft, doch bleibt die sozialwissenschaftliche Diskussion zu-
meist auf das „späte“ Lebensalter begrenzt (vgl. Meyer 2008,
Bozzarro 2015, Mahr 2016). Nur wenig erforscht wird hinge-
gen, inwiefern Älterwerden auch in anderen Abschnitten der
Lebensspanne bedeutsam, je nach Lebensphase und diskur-
sivem Bezugsrahmen allerdings unterschiedlich kontextuali-
siert ist (vgl. Montepare/Lachman 1989; James 2005).
So wird das Alter von Kindern etwa als Vergleichsmaßstab für
Entwicklung oder „Erreichtes“ durch konkrete Erwachsene
und innerhalb institutioneller Ordnungen mit Anerkennung
oder Sorge bedacht und auch innerhalb der Peer-Welt zu
einem sozialen Orientierungsmaß gemacht, das zählt. Alters-
stufen sind nicht nur durch gesetzliche Regelungen instituti-
onalisiert und strukturieren bspw. Kindheiten entsprechend
vor – besonders markant z. B. das vorgeschriebene Schulein-
trittsalter im Rahmen der Schulp icht (vgl. Kelle/Tervooren
2008) oder die Strafmündigkeit als Zeitmarke endender Kind-
heit. Im Alltag von Kindern kommen auch zahlreiche weitere
formalisierte, informelle und implizite Erwartungen des Al-
tersgemäßen (relational in Hinblick auf Entwicklungsstand,
Kompetenzen und Verhalten) oder der Altersangemessenheit
(z. B. in Hinblick auf Schlafenszeiten, Mediennutzung, Spiel-
zeugangebot etc.) zur Geltung, die sich in den Diskursen zu
Kindern und den Praktiken im Umgang mit Kindern wider-
spiegeln (vgl. Rabe-Kleberg/Zeiher 1984
;
Zeiher 2001).
Vor dem Hintergrund altersbezogener Normalitätsvorstel-
lungen werden Ansprüche und Erwartungen im familialen
Zusammenleben mit Kindern geltend gemacht und ausagiert.
Damit korrespondierend bilden Kinder auch untereinander
alters- und entwicklungsorientierte Vorstellungen und di-
stinktive Verhaltensweisen heraus, die das numerische Alter
oder weniger deutlich markierte Differenzen im Prozess des
Aufwachsens als Orientierungsmaß einbeziehen. Kinder ver-
orten sich in dynamischen Zugehörigkeitsordnungen (z. B.
„die Großen“ vs. „die Kleinen“, „noch ein Baby sein“ vs. ”kein
Baby mehr sein“) mit einem „Stilbewusstsein“ des Alters-
gemäßen in Geschmack und Verhalten als Zugehörigkeits-
ausweis und Abgrenzungsmerkmal (vgl. Breidenstein/Kelle
1998
;
Kelle 2005).
In Bezug auf pädagogische Ordnungen geht es beim Älter-
werden stets auch um ein Verrinnen von Zeit, die hinsichtlich
der Zukunft (unterschiedlich) genutzt werden kann oder auch
„ungenutzt“ verstreicht (vgl. Schorch 1982
;
Zeiher 2009).
Denn die Zeitlichkeit des Daseins – so Günther Schorch
und Eva Steinherr mit Verweis auf Heidegger – zwinge den
Menschen zum Handeln und sei eine unumgängliche Aufga-
be persönlicher Lebensgestaltung, im Sinn einer handlungs-
leitenden „Sorge“ um die Sicherung der Zukunft (Schorch/
Steinherr 2001: 420). Eine solche Zeitperspektive kann vor
dem Hintergrund verschiedener Erfahrungsräume, sozio-
ökonomischer Lebenslagen und subjektiv wahrgenommener
Möglichkeitsräume allerdings unterschiedlich verfasst sein
und je nach Voraussetzungen auch sehr unterschiedlich aus-
agiert werden (vgl. Tismer 1985
;
Plattner 1990, Lareau 2011).
Aus bildungssoziologischer Sicht hat die Bedeutsamkeit von
Zeitinvestitionen in Bildung und einer re exiven Haltung
zu Lebenslaufentscheidungen in Folge des ökonomischen
Strukturwandels seit den 1960er Jahren allgemein zugenom-
men, um zukünftige biogra sche Optionen ausgestalten zu
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 19
können. 1 Individuelle Zeitaufwendungen für Aktivitäten wer-
den mit einer humankapitaltheoretisch geprägten Sichtweise
zu einem mehr oder weniger effektiven Engagement, das der
Erschließung zukünftiger Möglichkeitsräume dient. Durch
die zunehmend allgemeingültige Anforderung re exiver Bil-
dungsinvestitionen werden die Zeitverwendung wie der ge-
samte Lebensweg gewissermaßen zu einer „Versäumnis- und
Vermögensauskunft“. Die Fähigkeit zum vorausschauenden
und re exiven Umgang mit Zeit ist diesbezüglich nicht nur als
inkorporiertes kulturelles Kapital im Sinne Bourdieus (1983)
beschreibbar, sondern lässt sich geradezu als eine Kernkom-
petenz der Lebensführung in der Gegenwart bezeichnen, die
habituell fundiert ist.
Es unterscheiden sich die Reichweiten der individuellen Zeit-
horizonte ebenso wie das Erleben und Bewerten zeitlicher
Strukturierungen. Eine Sicherung der Zukunft in Hinblick
auf biogra sche Möglichkeitsräume und gesellschaftliche
Partizipationsmöglichkeiten ist zudem eine sehr spezi sche
Zeitperspektive, die mit anderen individuellen Zeitperspekti-
ven auszubalancieren ist, denen subjektiv unterschiedlich Re-
levanz zugemessen wird. „Szenarien des Älterwerdens“ unter-
scheiden sich gerade auch altersspezi sch. Eine generationale
Differenz von Kindern und Erwachsenen wird nicht zuletzt an
ihren unterschiedlichen Zeithorizonten festgemacht. So ist
für Kinder z. B. weniger die Sicherung einer fernen Zukunft
vorrangig handlungsleitend, als vielmehr die Ausgestaltung
der „freien“ Zeit oder die Bewältigung von Anforderungen des
Älterwerdens in einem „näherliegenden“ Zeithorizont, die
mit starken sozialen und körperlichen Veränderungen ein-
hergehen (vgl. Stecher 2001). Auch diese sind gesellschaftlich
institutionalisiert und mit Normalitätsvorstellungen „aufge-
laden“, wie etwa der Übergang in die Jugendphase (vgl. Krü-
ger u. a. 1994
;
Stecher/Zinnecker 1996
;
Büchner/Fuhs 1998).
Empirischer Forschungsansatz
Ausgangspunkt des Forschungsprojekts ist vor diesem Hin-
tergrund das empirische Erkenntnisinteresse, welche norma-
tiven Konzepte und Deutungsmuster sich zum Älterwerden
und zu biogra schen Zeitperspektiven im familialen Zusam-
menleben auf nden lassen und wie sich ein darauf bezogenes
Orientierungswissen unterscheidet (vgl. Burkart 1992
;
Bro-
se/Wohlrab-Sahr/Corsten 1993). Wie werden biogra sche
Zeitperspektiven von den Beteiligten im Verhältnis von Ver-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft erlebt und empfunden?
Welche normativen Konzepte und impliziten Orientierungs-
rahmen der Ausgestaltung sind diesbezüglich rekonstruier-
bar? Inwiefern wird etwa ein Erwachsenwerden (müssen) der
Kinder von allen Beteiligten antizipiert? Wie wird letztlich in
den individuellen Sinnkonstruktionen mit der Anforderung
umgegangen, das eigene und das Älterwerden der anderen
im familialen Zusammenleben für biogra sche Zeitperspek-
tiven in Rechnung zu stellen? Mit diesen Ausgangsfragen
wird einerseits dem kommunikativ generalisierbaren Wis-
sen und den lebensweltlich eingebetteten Erwartungen und
Einschätzungen nachgegangen (bspw. hinsichtlich eines
ökonomisch geprägten Vokabulars von Investitionen oder in
Hinblick auf ein Alltagswissen zu körperlichen und mentalen
Veränderungsprozessen etc.). Andererseits wird nach den er-
fahrungsbasierten Orientierungsrahmen gefragt, wobei von
einer hohen Relevanz sowohl der sozialen Lage als auch der
Arbeitsteilung und der Generationendifferenz innerhalb des
Familienlebens ausgegangen wird.
Mit Blick auf die bildungssoziologische Diskussion zu Bil-
dung und sozialer Ungleichheit soll eine de zitorientierte
und engführende Sicht auf „Investitionsverhalten“ im Um-
gang mit Zeit vermieden werden. So ist auch in der neuen
sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung wiederkehrend
eingefordert worden, die Lebenswirklichkeit von Kindern
und ihre zeitliche Perspektivität mit einem vergleichsweise
starken Gegenwartsbezug ernst zu nehmen, anstatt Kinder
in einer teleologischen Logik des Unfertigen vorrangig als
zukünftige Erwachsene anzusehen (vgl. Uprichard 2008).
Die geplante Studie zielt darauf ab, Unterschiede in den
Zeitperspektiven und handlungsleitenden Orientierungen
sowie den Umsetzungsweisen wahrgenommener Strukturie-
rungs- und Planungsanforderungen im Familienleben mit
Grundschulkindern zu untersuchen. Aus einer zeitpolitischen
Perspektive geht es dabei auch um die Frage, wie sich eine
Ökonomisierung der Zeitverwendung im Rahmen einer all-
gemeinen Verdichtung des Zeiterlebens (vgl. Rosa 2005) in
Zeitperspektiven niederschlagen und auswirken. Ein gesell-
schaftlicher Wandel macht sich nicht zuletzt in den privaten
Beziehungen und einer Zeitsozialisation im Familienleben
bemerkbar (vgl. Mischau/Oechsle 2005
;
Heitkötter u. a.
2009) – wobei sowohl die Perspektiven (und Bedürfnisse)
im Familienleben divergieren (vgl. Christensen/James/Jenks
2000
;
Christensen 2002
;
Jurzcyk 2009) als auch in ihrer
jeweiligen lebensweltlichen Einbettung unterschiedlich ent-
worfen, aus agiert und habitualisiert werden. Vor allem in den
sozialen Milieus einer urbanen Mittelschicht (mit einer stark
ausgeprägten Zukunftsorientiertheit) üben sich z. B. Kinder
schon früh in Grundzügen eines Zeitmanagements im Sinn
durchkalkulierter Zeitperspektiven zur Realisierung vielfäl-
tiger Aktivitäten ein (vgl. Zeiher/Zeiher 1994
;
Wehr 2009).
1 Dabei ist der hier verwendete Bildungsbegriff nicht auf formale
Bildungsgänge und -abschlüsse zu beschränken, sondern umfasst
allgemeine „Lebensführungskompetenzen“, wie Peter Büchner
ausführt. Allerdings sei von einer unterschiedlichen „Marktgängig-
keit“ der Bildungsinhalte auszugehen, wie auch von einer unter-
schiedlichen Verfügbarkeit entsprechender Bildungsmöglichkeiten
(Büchner 2003: 9f.)
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
20 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
Grundlagentheoretisch ist diesbezüglich die Sozialtheorie Pi-
erre Bourdieus mit seinem sozialstrukturell orientierten Be-
griff des Habitus bedeutsam (vgl. Boudieu 1993). Bourdieus
Konzepte plausibilisieren einen theoretischen Zusammenhang
zwischen sozialer Lage, biogra sch herausgebildeten Mentali-
täten und milieuspezi sch unterschiedlich ausgebildeten Re-
levanz- und Anerkennungsstrukturen, die sich in der Praxis
des Alltags und den Entscheidungen des Lebens verlaufs ab-
zeichnen. Hinsichtlich der empirischen Rekonstruktion von
Zeitperspektiven und ihrer narrativen Ver echtung im Rah-
men des Familienlebens bildet die Biogra eforschung einen
zentralen methodischen Hintergrund, insbesondere auch be-
züglich der biogra schen Perspektiven und Entwürfe von Kin-
dern (vgl. Grunert/Krüger 2006). Mit Blick auf Leitbilder und
altersbezogene Normalitätsvorstellungen sind auch die Kind-
heitsbilder und die Vorstellungen von Eltern, was für (die ei-
genen) Kinder das Beste sei, ein Bezugspunkt (vgl. Fuhs 1999).
Denn als Kind eine „gute Zeit“ oder eine „gute Zukunft“ haben
zu sollen, kann unterschiedlich in verschiedene Aktivitäten
und Zeitperspektiven übersetzt werden.
Die zeitlichen Vorstellungswelten und Orientierungsrahmen
im gemeinsamen Familienleben wie auch in ihrer inner-
familialen Divergenz werden in diesem Forschungsvorhaben
durch empirische Fallrekonstruktionen untersucht, die nach
dem Prinzip des Theoretical Sampling kontrastiv erhoben
und analysiert werden (vgl. Kelle/Kluge 2010). Methodo-
logisch ursprünglich in der Grounded Theory entwickelt,
werden im Theoretical Sampling gegenstandstheoretische
Hypothesen und Vergleichspunkte zur Theoriegenerierung
in der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material er-
arbeitet. Der weitere Forschungsprozess wird einschließlich
der Auswahl kontrastiver Fälle durch den Prozess der Daten-
analyse gesteuert, sodass zwar von gegenstandstheoretischen
Vorannahmen ausgegangen wird (z. B. einer Relevanz der Ge-
nerationendifferenz, der innerfamilialen Arbeitsteilung, sozi-
aler Milieuunterschiede oder auch der Familienstruktur, z. B.
alleinerziehende Eltern mit Kindern). In diesem Forschungs-
stil wird der Prozess durch dieses explorative Prinzip aber
möglichst offen gehalten.
Zur Realisierung des Forschungsvorhabens werden Eltern
über die Schulleitungen und Elternvertretungen von Grund-
schulen kontaktiert, um Eltern und Kinder für eine Teilnah-
me zu gewinnen. Durch leitfadengestützte Elterninterviews
zu Alltagsorganisation und gemeinsamer Familiengeschich-
te (einschließlich potenzieller weiterer Bezugspersonen im
Rahmen des Zusammenlebens) und durch leitfadengestützte
Kinderinterviews werden Zeitperspektiven zu Alltagsleben
und Lebensverlauf auditiv erhoben und in Anlehnung an die
dokumentarischen Methode rekonstruiert (vgl. Bohnsack
2010
;
Nohl 2013). Für den Forschungsprozess wurden bisher
zwei Familien mit jeweils einem Kind gewonnen: im einen
Fall eine alleinerziehende Frau mit akademischem Bildungs-
hintergrund, die auf erwerbsergänzende Hartz-IV-Bezüge
angewiesen ist, sowie ihre 9-jährige Tochter; im zweiten Fall
ein heterosexuelles Paar, jeweils mit akademischem Hinter-
grund, in dem die Frau in Vollzeit erwerbstätig ist und der
Mann vorrangig als Hausmann und ehrenamtlich als schu-
lischer Elternvertreter fungiert, sowie ihrem 11-jährigen
Sohn. Das erste erhobene Material ist noch nicht hinreichend
analysiert, um zufriedenstellende Zwischenergebnisse zu prä-
sentieren, jedoch zeichnet sich auf inhaltlicher Ebene erwart-
bar eine enge Ver echtung von Lebensverlaufsdarstellungen
(z. B. geglückte oder missglückte Statuspassagen; identitäts-
absichernde „Etappenziele“; strukturelle Veränderungen der
Lebenswelt), körperlichen, mentalen und sozialen Verände-
rungsprozessen (z. B. ein Kompetenzzuwachs im doppelten
Wortsinn von Befähigung und Befugnissen) und wechselsei-
tig aufeinander bezogenen Perspektiven zu Vergangenheit
und Zukunft (z. B. ein Wandel gemeinsamer Aktivitäten und
Interessen) ab.
Diese Forschungsskizze stellt ein Projekt im Rahmen des
Netzwerks „Jung sein – älter werden: Zeitlichkeiten im
Wandel“ dar und ist Teil eines Habilitationsvorhabens „All-
tagsweltliche Sozialisation und Statusarbeit. Kinder im
Grundschulalter und ihre Eltern als Bildungsakteure“ an der
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BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
22 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
TILMAN WAHNE
Soziale Zeit als Gestaltungsaufgabe institutioneller Bildung,
Erziehung und Betreuung im Elementarbereich
(Altersschwerpunkt: 3-7 Jahre) – Eine explorative Studie
1. Forschungsrahmung, Erkenntnisinteresse
und Fragestellung
Die Institutionalisierung der frühen Kindheit hat sozialhisto-
risch gesehen einen langen Weg zurückgelegt, von der Armuts-
und Fürsorgeerziehung des Mittelalters über die Gründung
von Kleinkindschulen, Kleinkindbewahranstalten, Kindergär-
ten und Krippen im 18./19. Jh. bis hin zur Vielfalt exibilisier-
ter, sozialpädagogischer Zeitmodelle mit all ihren Spielarten
zwischen Halb- und Ganztagssettings, Betriebs- und 24-Stun-
denkitas in der Gegenwart (vgl. Wahne 2015; Rauschenbach
2011; Franke-Meyer 2011; Schilling/Zeller 2007).
Zu Beginn des 21. Jhs. nimmt diese Institutionalisierung im-
mer größere Teile des kindlichen Zeitbudgets in Anspruch.
Auf der einen Seite erreicht die Besuchsquote der 3 bis 6-jäh-
rigen in der Kindertagesbetreuung mittlerweile einen Durch-
schnittswert von 94 %. Auf der anderen Seite rückt diese
Institutionalisierung in all ihren Organisationsformen noch
weiter an den Beginn der Lebenszeit heran. So haben alle
1-jährigen durch das Inkrafttreten des Kinderförderungsge-
setzes seit August 2013 zumindest prinzipiell einen Rechts-
anspruch auf einen Betreuungsplatz, auch wenn die Betreu-
ungsquoten hier bundesweit gesehen nach wie vor erheblich
variieren (derzeitige Betreuungsquote der 0 bis 3-jährigen-
deutschlandweit 32,9 %). Neben der Inanspruchnahme steigt
auch die tatsächliche zeitliche Verweildauer in diesen Kinder-
institutionen. Über die Hälfte der 0 bis 3-jährigen (56 %) ver-
bringt mehr als 35 Wochenstunden in der Tagesbetreuung,
für knapp ein Drittel der 3 bis 6-jährigen (32 %) ndet dieser
Lebensabschnitt sogar an 45 und mehr Stunden pro Woche in
KiTa und Kindertagesp ege statt (vgl. Bock-Famulla/Lange/
Strunz 2015; Statistisches Bundesamt 2015).
Diese Befunde belegen eindrucksvoll, dass Bildungs-, Er-
ziehungs- und Betreuungseinrichtungen im Prozess der
Zeitsozialisation eine Schlüsselposition zuteil kommt. Egal
ob Krippe oder Kindergarten, Schul-, Berufsbildungs- oder
Hochschulzeiten, im Laufe ihrer Sozialisation müssen Kin-
der lernen, dass ihr Aufwachsen mit dem Besuch einer ihrer
Altersstufe zugeordneten Institution verbunden ist. Welche
Zeitstrukturen, Zeitlogiken und Zeitpraxen hier wirken, ge-
lebt und erfahren werden, hat bedeutende Ein üsse auf die
Herausbildung derzeitlichen Denk- und Handlungsweisen
auf Seiten der Kinder. Insofern erweisen sich diese sozial
institutionalisierten Zeit gurationen als ein entscheidender
Parameter für Bildungs-, Sozialisations- und Identitätsent-
wicklungsprozesse, die im Heranwachsen jeweils besondere
Zeiten, eigenaktive Zeiten bedürfen, was es in der professi-
onellen pädagogischen Arbeit zu berücksichtigen gilt (vgl.
Wahne 2013; Karsten 1991).
Zeitsoziologisch betrachtet spiegeln sich die zeitstrukturellen
Wandlungen der heutigen Dienstleistungs-, Wissens- und
Informationsgesellschaft (Schimank 2007) direkt in der
Kindertagesbetreuung wieder. Elementarpädagogische Ein-
richtungen bilden eine Arena, in der die unterschiedlichen
gesellschaftlichen Zeitordnungen miteinander um die zeit-
liche Deutungshoheit ringen. Der institutionelle Alltag ist
dabei in ein Zeitamalgam eingebettet, in dem neue, gesell-
schaftlich wirkmächtige, Zeittendenzen und Zeitnormen wie
Flexibilität, Mobilität und Beschleunigung (Nowotny 2012;
Schmidt-Lauff 2008) kumulieren und Zeiten jonglieren so-
wie, eng damit verbunden, die Existenz von Zeitnot in der
tagtäglichen pädagogischen Arbeit einen „Normalitätsstatus“
innehaben (Wahne 2011). Insgesamt wird das institutionelle
Zeithandeln immer mehr zu einer Herausforderung und eine
professionelle, partizipatorisch angelegte Zeitgestaltung zu
einem Gebot der Stunde: Für pädagogische Fachkräfte im
Hinblick auf ihre Arbeitsbedingungen und -qualitäten (vgl.
Karsten/Subucz 2014); für Kinder angesichts der Tatsache,
dass biogra sche Planbarkeit und Sicherheit im postindustri-
ellen Zeitalter schwinden und der Erwerb von re exiver Zeit-
kompetenz (vgl. Jurczyk/Voß 2000) eine immer größere Be-
deutung gewinnt. Festzuhalten ist, dass sich dieses Postulat
aus einer sozialpädagogischen Perspektive nicht an den der-
zeitigen Tendenzen von arbeitskraftorientierten Rationalisie-
rungsstrategien und der Subjektivierung von Arbeit insge-
samt begründet (vgl. Kratzer 2003), sondern vielmehr darauf
abzielt, trotz der doppelten Entgrenzung von Erwerbsarbeit
und Familie (Jurczyk/Schier 2007) in der individuellen Bil-
dungsbiogra e die Befähigung zu erlangen, einen gelin-
genden Lebenslauf und eine weitestgehend selbstbestimmte
Lebensführung realisieren zu können.
Vor dieser Zeitszenerie versteht sich das vorliegende Disser-
tationsprojekt als ein Beitrag dazu, Soziale Zeit (Elias 1984)
als Gestaltungsaufgabe institutioneller Bildung, Erziehung
und Betreuung im Elementarbereich fruchtbar zu machen.
Das übergeordnete Erkenntnisinteresse konkretisiert sich
in der Fragestellung, wie sich das kindliche Zeithandeln
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 23
und -erleben in unterschiedlichen Institutionen der frühen
Bildung und im Übergang zur Grundschule und ihren je be-
sonderen institutionellen Zeitordnungen ausprägt? Aufbau-
end auf den hierbei erarbeiteten Erkenntnissen werden in
einem zweiten Schritt Konsequenzen, Herausforderungen
und Perspektiven für institutionelle Zeitgestaltungen in
kindlichen Bildungsarrangements diskutiert. Im Fokus ste-
hen hierbei ebenso die konkrete pädagogisch-interaktive
Arbeit von Kindheitspädagog*innen, Erzieher*innen und
Grundschullehrer*innen, wie auch die struktur-organisati-
onalen Rahmungen und die dahinter liegenden sozial-, bil-
dungs- und zeitpolitischen Notwendigkeiten.
2. Methodik
Als herausfordernd erweist sich das vorliegende Anliegen inso-
fern, als sich die zeitwissenschaftliche Vermessung der Kind-
heit in der Forschungslandschaft nach wie vor als überschau-
bar darstellt und explizit zeitbezogene Fragestellungen im
Vergleich zu anderen gängigen Analysekategorien wie Raum
und Geschlecht in Kindheitsforschungen deutlich unterreprä-
sentiert sind. Angesichts dieser Forschungslücken ist diese
Studie explorativ angelegt und zielt mittels qualitativer For-
schungsstrategien darauf ab, einen möglichst breiten Einblick
in kindheitsinstitutionelle Zeitkontexte zu erhalten, weshalb
ein kontrastierendes Sampling Anwendung ndet. Grundsätz-
lich verortet sich das Promotionsprojekt in der Sozialpädago-
gik/Pädagogik der Kindheit. Für die theoretische Fundierung
werden desweiteren disziplinäre Zugänge aus den Bereichen
von Kindheitssoziologie und Zeitsoziologie herangezogen, für
die methodologische Rahmung ist allgemein betrachtet eine
qualitativ verortete Kindheitsforschung handlungsleitend.
Aus einer sozialpädagogischen Perspektive auf Ethnogra-
phische Forschung (vgl. Bock/Maischatz 2010) erfolgt die em-
pirische Konkretisierung in ethnogra schen Fallstudien. Die
Phasen der Datenerhebung und -auswertung werden als ein
miteinander verschränkter Prozess gedacht und in Anlehnung
an die Grounded Theory realisiert (vgl. Straus/Corbin 1996).
Als Kontrastlinien werden die Analysekategorien der geo-
gra schen Lage (Land/Kleinstadt/Großstadt) und die Größe
der Einrichtung (klein, ca. 30 Kinder/mittel, ca. 100 Kinder/
groß, ca. 180 Kinder) einbezogen. Eine weitere Kontrastie-
rung erfolgt schließlich im Hinblick auf die Institutionalisie-
rungsform: Die an der Forschung beteiligten Einrichtungen
umfassen einen Waldorfkindergarten, eine evangelische Kin-
dertagesstätte, eine offene Kindertagesstätte, eine Vorschule
sowie den 1./2. Klassenverband einer Grundschule. Als Erhe-
bungsmethode kommt die offene und unstrukturierte Teil-
nehmende Beobachtung in Anlehnung an Geertz’ Konzeption
der Dichten Beschreibungen (Geertz 1983) zur Anwendung.
Der Datenkorpus umfasst für jede der Einrichtungen minu-
tiöse Beobachtungsprotokolle von fünf Tagen (Mo-Fr) sowie
exemplarisch, minutiöse eintägige Beobachtungsprotokolle je
eines Kindes (Altersspanne 3-7 Jahre). Die Verdichtung der
Empirie erfolgt des Weiteren durch die Hinzunahme institu-
tionsspezi scher Dokumentenanalysen. Die Theoriebildung
ist bereits weit fortgeschritten. Die Dissertation wird voraus-
sichtlich im Jahr 2016 eingereicht.
3. Erwartete oder gewonnene Resultate
bzw. Zwischenergebnisse 1
Die bereits angedeuteten Desiderata einer sozialwissenschaft-
lich fundierten, kindheitsbezogenen Zeitforschung liegen ins-
besondere im Bereich frühkindlicher Bildungs-, Erziehungs-
und Betreuungssettings vor. Für eine weitere Theoretisierung
werden in dem Promotionsprojekt grundlegende Wissensbe-
stände darüber erarbeitet, wie sich die sozialen Zeiten in den
jeweils unterschiedlichen Bildungsarrangements darstellen.
Die Befunde beziehen sich dabei vornehmlich auf das Zeit-
handeln, -erleben und -deuten der Kinder. Das kindliche Han-
deln in der Zeit lässt sich nicht losgelöst von den zeitlichen
Denk- und Handlungsweisen der am Leben in der Kinderta-
gesbetreuung involvierten Erwachsenen analysieren, weshalb
die Herausarbeitung dieser „Wirkmächte“ einen elementaren
Stellenwert in der Theoretisierung einnimmt (Transparenz).
Darüber hinaus geht eine leitende These dieser Forschung
davon aus, das die unterschiedlichen milieuspezi schen, geo-
gra schen, konzeptionellen und struktur-organisationalen
Einrichtungsrahmungen andersartige Zeitverhältnisse für
den Alltag evozieren. Jede Einrichtung hat dabei ihren beson-
deren zeitlichen Fußabdruck, der mit differierenden Anfor-
derungen an die professionelle Zeitgestaltung einhergeht. In
der Studie werden Zeitgestaltungserfordernisse überwiegend
auf drei interdependenten Ebenen analysiert (Wahne 2015;
2013): (1) Die pädagogisch-interaktive Ebene nimmt die kon-
krete Bildungs- und Erziehungsarbeit in den Fokus, in wel-
cher der Partizipationsgedanke (Hansen/Knauer/Sturzenhe-
cker 2013) einen zentralen Stellenwert erhält. Wenn Kinder
bereits frühzeitig zeitliche Selbst- und Mitbestimmung er-
leben und erlenen sollen, müssen sie die institutionellen
Zeiten mitgestalten können. Eng hiermit verknüpft ist (2) auf
der Strukturebene die Anforderung an pädagogische Fach-
kräfte, die vorherrschenden Zeitstrukturen und Zeitpraxen
kritisch miteinander zu diskutieren und zu re ektieren. Die
kindliche Aneignung von Welt vollzieht sich gemäß eines so-
zialkonstruktivistischen Bildungsverständnisses durch das
Wechselspiel von Selbstbildung und Ko-Konstruktion(vgl.
Bamler/Wustmann/Schönberger 2010), weshalb zeitliche
Freiräume in kreativen Lernumgebungen angemessen im
Tagesverlauf zu platzieren sind und zeitlich eng geplante
1 Aus universitätsrechtlichen Gründen kann an vorliegender Stelle
kein detaillierterer Einbezug von Zwischenergebnissen vorgenom-
men werden.
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
24 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
und durchstrukturierte Angebote auf ihren tatsächlichen Bil-
dungsgehalt kritisch hinterfragt werden müssen. Die Qualität
der Bildungsarbeit hängt im besonderen Maße von der ver-
balen Kommunikation zwischen Fachkräften und Kindern
ab, folglich bestehen Zeitgestaltungserfordernisse (3) auch
als eine Querschnittsaufgabe auf der kommunikativen Ebe-
ne. Die Alltags- und Fachsprache von Fachkräften und Eltern
speist sich aus einem breiten Korpus an Zeitformulierungen,
die Kinder in ihren ersten Lebensjahren kognitiv nur begrenzt
in ihre eigene Weltdeutung übersetzen können (vgl. Kasten
2001). Damit es Mädchen und Jungen trotzdem gelingen
kann, entsprechende Sinnkonstruktionen aufzubauen, ist es
bedeutsam, zeitbezogene Kommunikation mit nachvollzieh-
baren Handlungen oder konkreten Ereignissen zu verbinden.
4. Zeitpolitische Implikationen
In einer Gesellschaft, in der sich die Lebenswelt der Subjekte
immer weniger durch tradierte Muster und Lebensstile mit
identitätsstiftendem Charakter auszeichnet, sondern für die
vielmehr unklare Gegenwarts- und Zukunftsperspektiven
und das Gefühl einer biogra sch zusammenhanglosen Zeit
charakteristisch werden (vgl. Sennet 2000), gilt es, Zeitpoli-
tiken zu erarbeiten, die sich stärker an den Zeitbedürfnissen
der Bürger*innen orientieren. Für eine sozialpädagogisch
ausgerichtete Zeitpolitik ergibt sich hierdurch die Konse-
quenz, eine den Kindern und Fachkräften angemessene Zeit-
organisation pädagogisch sinnvoll begründet zu bestimmen
und diese aus dem Nachrang zu den eher eng gedachten und
praktizierten betrieblichen oder administrativen Zeitpoli-
tiken herauszuführen, wie sie zuletzt bspw. wieder im 8. Fa-
milienbericht (BMFSFJ 2012) diskutiert wurden (vgl. Karsten
2002; Karsten et al. 2003). Insgesamt bedarf es also sozial
gerechter, zeitpolitischer Denk- und Zukunftsmodelle, die
sich explizit gegen die vorliegende Logik der Ökonomisie-
rung und Unterordnung von Care unter Anforderungen des
Arbeitsmarktes (Thiessen 2015: 38) wenden und das Verhält-
nis sowie die Verteilung von Erwerbsarbeit und Sorgearbeit
neu denken. Denn das aktuelle Szenario einer exibilisierten
24-Stunden Kindertagesbetreuung, die vorrangig den öko-
nomischen Interessen und Bedarfen der Arbeitgeber folgt
und die Zeitbedürfnisse von Familien zweitrangig behandelt,
kann ebenso wenig eine sozial verträgliche Lösung für die
Vereinbarungsfrage von Beruf und Familie bieten, wie eine
einfache Auslagerung der Betreuung in private Sorgearbeits-
dienstleistungen (vgl. DGfZP 2013).
Folgt man dem leitenden Motiv dieser Arbeit, rücken darüber
hinaus auch zeitpolitische Forderungen an die Bildungspoli-
tik in den Vordergrund; und zwar dahingehend, Zeitgestal-
tung insgesamt als ein Bildungsthema zu begreifen und in alle
Stufen des Bildungssystems unterschiedlich akzentuiert zu
integrieren. Dieses schließt auch die Notwendigkeit ein, diese
Zeitthematisierung nicht erst, wie im 8. Familienbericht emp-
fohlen, in der Primarstufe zu verankern, sondern vielmehr
bereits zum inhaltlichen Gegenstand der Bildungspläne im
Elementarbereich werden zu lassen. Da die Zeitsozialisation
und der Erwerb von Zeitkompetenz einen lebenslangen Pro-
zess darstellen, ist es hierbei bedeutsam, die verschiedenen
Bereiche des Bildungssystems nicht isoliert voneinander zu
betrachten. Dies gilt insbesondere für die Frage nach der so-
genannten „Anschlussfähigkeit“ (vgl. Franke-Meyer 2011)
und den Übergang von der KiTa zur/in die Grundschule.
Tilmann Wahne (M.Ed.) promoviert an der Leuphana Uni-
versität in Lüneburg, Fakultät Bildung, Institut für Sozialar-
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VANITA MATTA
Selbstgesteuerte Arbeitszeit, Arbeitsstunden
und individuelle Überbeschäftigung
1. Einleitung
Meine Dissertation (Matta 2015), die ich hier zusammenge-
fasst vorstelle 1, beinhaltet die konzeptuelle Weiterentwicklung
von Umfragedaten zu erwünschten Arbeitsstunden (Aufsatz 1)
und die Bearbeitung einer empirischen Frage (Aufsatz 2 und
3): Führen selbstgesteuerte Arbeitszeiten über eine Auswei-
tung der Arbeitsstunden zu individueller Überbeschäftigung?
In den letzten Jahrzehnten hat sich eine vielversprechende
analytische Perspektive in Soziologie und Wirtschaftswissen-
schaften etabliert: Man vergleicht Angaben zu tatsächlichen
Arbeitsstunden mit Angaben zu erwünschten Arbeitsstunden
auf individueller Ebene und aggregiert z. B. auf den Anteil
individuell „überbeschäftigter“ Personen in einer interes-
sierenden Personengruppe. Das empirische Potential dieser
Perspektive wird allerdings noch nicht voll ausgeschöpft.
Dem Feld fehlt ein einheitlicher, konzeptuell ausgereifter und
überprüfter Indikator für die erwünschten Arbeitsstunden.
Für den kumulativen Erkenntnisfortschritt ist diese Situati-
on ein grosses Hindernis. Zwar erheben immer mehr gros-
se Umfragen erwünschte Arbeitsstunden und es besteht ein
wachsendes Forschungsinteresse an der Kongruenz zwischen
erwünschten und tatsächlichen Arbeitsstunden. Die Chan-
cen, dass sich die Frage nach erwünschten Arbeitsstunden als
Standardindikator in Umfragen etabliert, stehen momentan
gut. Doch gibt es noch nicht einmal eine Debatte hin zu ei-
ner einheitlicheren Konzeptualisierung. Weiterhin behindert
dieser Zustand einen forschungspolitisch wichtigen nächsten
Schritt: Die Etablierung einheitlicher Indikatoren der indivi-
duellen Überbeschäftigung in der of ziellen Arbeitsmarktsta-
tistik Europas (European Labour Force Surveys), welche bis-
her nur Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit kennt. Ohne
explizite Debatte über das Ziel von Fragen nach erwünschten
Arbeitsstunden können keine gezielten Anstrengungen ge-
macht werden, eine optimale Formulierung zu entwickeln.
Aus diesen Gründen und um für meine eigenen Auswer-
tungen ein sicheres Fundament zu besitzen, widmet sich mein
erster Aufsatz diesen konzeptuellen Fragen. Hier entwerfe ich
1 Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version der Synopse meiner Dis-
sertation (Matta 2015).
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
26 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
eine allgemeine Konzeption erwünschter Arbeitsstunden für
die Umfrageforschung. Forschende können diese allgemei-
ne Konzeption für die Entwicklung vielfältiger Indikatoren
innerhalb verschiedenster Forschungsvorhaben verwenden.
Im zweiten Teil des Aufsatzes mache ich eine erste explizite
Argumentation dazu, was die Forschungsgemeinde bei einem
„Mehrzweck-Indikator“ interessieren könnte. Unter einem
„Mehrzweck-Indikator“ ist eine Frage zu verstehen, die für
verschiedene Forschungsprojekte verwendet werden könnte
und die für die grossen Umfrageprogramme der sozialwissen-
schaftlichen Infrastruktur sowie für die Arbeitsmarktstatistik
gebraucht wird.
Die beiden weiteren Aufsätze widmen sich einer konkreten
Frage: Arbeiten Menschen mit selbstgesteuerter Arbeitszeit
derzeit mehr als Menschen mit vorgegebener Arbeitszeit? Zur
dieser Frage wurde bisher erst eine repräsentative Umfrage,
welche im Jahr 2003 erhoben wurde, ausgewertet (Bauer et
al. 2004; Munz 2005). Diese Auswertungen bestätigten hö-
here Arbeitsstunden bei selbstgesteuerter Arbeitszeit. Da
einem statistischen Ergebnis üblicherweise mehr Vertrauen
geschenkt wir, wenn es mehrfach bestätigt wurde, ist es eins
meiner Ziele, weitere Datensätze, die die Überprüfung der
These ermöglichen, auszuwerten. Ich ziehe drei repräsenta-
tive Umfragen heran, die alle ihre Vor- und Nachteile haben;
die die wesentlichen Konzepte unterschiedlich operationali-
sieren und die doch zu mehrheitlich konsistenten Ergebnis-
sen führen. Ich erweitere die Frage ausserdem darum, ob die
möglicherweise erhöhten Arbeitsstunden gleichzeitig auch zu
erhöhter individueller Überbeschäftigung führen. Der dritte
wesentliche Beitrag der Auswertungen besteht darin, dass
zum ersten Mal Längsschnittdaten ausgewertet werden. Da-
durch kann eine häu g vorgebrachte Alternativerklärung in
die Analyse einbezogen werden. Dieser Alternativerklärung
zufolge beobachtet man in der Gruppe der Selbststeuerer
nicht etwa wegen der Arbeitsorganisation durchschnittlich
längere Arbeitszeiten, sondern, weil in dieser Gruppe antei-
lig mehr Menschen vorkommen, die persönlich eine höhere
Neigung haben, sich bei der Arbeit zu verausgaben und Mehr-
arbeit zu leisten. Diese Personen würden, dem Einwand fol-
gend, auch bei vorgegebener Arbeitszeit Mehrarbeit leisten,
kämen aber in der Gruppe der Selbststeuerer anteilig häu ger
vor. Durch die Auswertung von Längsschnittdaten kann die-
se Alternativerklärung, wie später erläutert wird, weitgehend
entkräftet werden. In der längsschnittlichen Auswertung
wird ausserdem zwischen hochgradiger und unregulierter
sowie eingeschränkter und eher regulierter Selbststeuerung
unterschieden. Dies lässt eine erste Überprüfung der Schutz-
wirkung von Arbeitszeitkonten zu, welche allerdings noch un-
ter methodischen Vorbehalten steht. Zuletzt ermöglichen die
Daten der längsschnittlichen Auswertung auch zum ersten
Mal eine systematische Einbeziehung von Führungsverant-
wortung als einer weiteren gängigen Alternativerklärung für
hohe Arbeitsstunden bei selbstgesteuerter Arbeitszeit. In den
nächsten Absätzen fasse ich die hauptsächlichen Methoden
und Ergebnisse der beiden empirischen Beiträge zusammen.
2. Methodik
Die Abbildung orientiert über die verwendeten Datensätze
und die Fragen, welche als Indikatoren für die hauptsäch-
lich interessierenden Variablen verwendet werden. Es ist un-
schwer zu erkennen, dass sehr unterschiedliche Fragen als In-
dikatoren für selbstgesteuerte Arbeitszeit verwendet werden.
Auch die Fragen nach tatsächlichen, vereinbarten und er-
wünschten Arbeitsstunden unterscheiden sich (für eine Dis-
kussion dieser Unterschiede siehe Matta 2015). Für alle Da-
tensätze liegen Ergebnisse aus einfachen Gruppenvergleichen
entlang der Arbeitsextensivierungsindikatoren vor. Auf diese
werde ich mich in der Zusammenfassung nicht beziehen. Ein-
fache Gruppenvergleiche können leicht angezweifelt werden,
da sich die Gruppen in ihrer Zusammensetzung bezüglich
Arbeitsstunden-relevanter Merkmale unterscheiden können.
Um dieses Problem zu mildern, werden multiple lineare bzw.
logistische Regressionen berechnet, bei denen eine Reihe von
Merkmalen, so gut es die Daten zulassen, statistisch konstant
gehalten werden. Für alle drei Datensätze liegen solche Er-
gebnisse vor; beim Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) für
die gepoolten Daten aus den verschiedenen Jahren.
Der hauptsächliche Vorteil des SOEPs liegt aber in der Pa-
nelstruktur. Kausallogisch können Merkmale einer Person
oder ihrer Situation, welche vor und nach einem Wechsel des
Arbeitszeitmodells gleich sind, nicht als Erklärung für Unter-
schiede in den vorher und nachher beobachteten Arbeitsstun-
den herangezogen werden; und zwar egal, ob diese Merkmale
beobachtet wurden oder nicht. Damit kann die „Neigung,
viel zu arbeiten“ als Alternativerklärung weitestgehend aus-
geschlossen werden; und zwar genau so weit, wie angenom-
men werden kann, dass sie eine weitestgehend konstante
Eigenschaft ist. Um die Daten entsprechend dieses Vorteils
auszuwerten, werden Fixed Effect Regressionen berechnet.
Auch bei Fixed Effect Regressionen werden Durchschnittsun-
terschiede betrachtet: Wie unterscheiden sich durchschnitt-
lich die Arbeitsstunden, wenn Personen zwischen festen und
selbstgesteuerten Arbeitszeiten wechseln? Auch bei diesen
Regressionen wird eine Reihe von Merkmalen, die zeitlich va-
riieren können, statistisch konstant gehalten.
3. Ergebnisse
a) Verbreitung von selbstgesteuerter Arbeitszeit
Die Tabelle enthält die Häu gkeitsauszählungen aus allen
drei Datensätzen. Wenn ich die verschiedenen Formulie-
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 27
Frauen Männer
% (SE) % (SE)
ESS 2010: vorgegeben 59.0 (2.2) 48.6 (2.0)
etwas selbstgesteuert 14.6 (1.6) 20.8 (1.7)
ziemlich selbstgesteuert 11.3 (1.4) 12.9 (1.4)
voll und ganz selbstgesteuert 15.0 (1.6) 17.7 (1.5)
EWCS 2010: vorgegeben 57.8 (2.0) 60.7 (2.0)
vorgegeben nach Wahl 12.0 (1.3) 7.8 (1.0)
in gewissem Rahmen selbstgesteuert 24.7 (1.8) 23.7 (1.8)
vollständig selbstgesteuert 5.5 (0.9) 7.8 (1.1)
SOEP 2011: vorgegeben 41.8 (1.2) 38.3 (1.2)
wechselnd fest 24.6 (2.4) 21.4 (1.0)
unreguliert selbstgesteuert 11.9 (0.8) 16.8 (0.9)
Gleitzeit/Konto selbstgesteuert 21.7 (1.0) 23.5 (1.0)
Tabelle: Verbreitung verschiedener Steuerungsformen der Rahmenarbeitszeit
Anmerkungen: eigene Berechnung auf Basis des European Social Survey 2010 (ESS, European Social Survey
2010), des European Working Conditions Survey 2010 (EWCS, EuroFound 2010) und des Sozio-oekonomischen
Panels 2011 (SOEP, bereitgestellt vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, DIW Berlin (Wagner et al.
2007)); Falleinschränkung auf hauptsächlich erwerbstätige, abhängig Beschäftigte; gewichtete Daten; EuroFound
und das UK Data Archive, wo die Daten des EWCS 2010 hinterlegt sind, tragen keine Verantwortung für die hier
präsentierten Auswertungen und Interpretationen.
Abbildung: Übersicht über die verwendeten Umfragedaten
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
28 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
rungen der Fragen und Antwortmöglichkeiten einbeziehe,
schliesse ich aus diesen Ergebnissen, dass etwa ein Drittel bis
40 % der Arbeitnehmer in Deutschland zumindest „etwas“
oder „in einem gewissen Rahmen“ ihre Rahmenarbeitszeit
selbst steuern. Davon besitzt etwa ein Drittel einen sehr ho-
hen Gestaltungsspielraum. Aus den Daten kann nicht eindeu-
tig geschlossen werden, welcher Anteil dieser „Selbststeuerer“
eine funktionsfähige formelle Regulation des Zeitausgleichs
besitzen, falls Mehrarbeit entsteht. Diese würde z. B. eine ver-
bindliche Zeiterfassung, eine Auswertung der Arbeitszeit über
ein Arbeitszeitkonto und verbindliche prozedurale Regeln für
den Ausgleich von Mehrarbeit (u. a. Obergrenzen, Ausgleich-
zeiträume) erfordern (siehe z. B. Munz 2005: 131ff.). In den
meisten Gruppen werden Personen enthalten sein, bei denen
eine solche Regulation vorhanden ist, genauso wie solche,
bei denen diese nicht vorhanden ist. Die Ergebnisse werden
also für jene mit funktionierender formeller Regulation ten-
denziell eine Übertreibung hinsichtlich Arbeitsextensivierung
darstellen und für jene, die keine besitzen, eine tendenzielle
Untertreibung. In den Aufsätzen argumentiere ich dafür,
dass durch „vollständig selbstgesteuert“ im EWCS und durch
„unreguliert selbstgesteuert“ im SOEP ein besonders „expo-
niertes Drittel“ identi ziert wird, das gemäß derAntwortfor-
mulierung offensichtlich einen hohen Gestaltungsspielraum
und, wie ich entlang der Kombination aus Antwortkategorien
vermute, zu hohen Anteilen keine formelle Regulation des
Zeitausgleichs für anfallende Mehrarbeit besitzt.
b) Selbstgesteuerte Arbeitszeit und Arbeitsextensivierung
Die verschiedenen querschnittlichen und längsschnittlichen
Analysen bestätigen, dass ArbeitnehmerInnen in selbstge-
steuerten Arbeitszeitmodellen mehr Stunden über ihre ver-
traglich vereinbarten Stunden hinaus leisten als diejenigen
mit festen Arbeitszeiten.
Frauen und Männer, die zum „exponierten Drittel“ gehören,
leisten durchschnittlich wesentlich häu ger Überstunden,
die weder nanziell noch durch Freizeitausgleich entgolten
werden, als solche mit vorgegebener Arbeitszeit. Für jene
Selbststeuerer-Gruppe, in der ich geringeren Gestaltungs-
spielraum und mehr Personen mit funktionierender Regula-
tion vermute, zeigt sich allerdings das Gegenteil: Sie leisten
sogar seltener als ArbeitnehmerInnen mit vorgegebener Ar-
beitszeit unentgoltene Überstunden. Für Männer, die ihre Ar-
beitszeit selbst steuern, lässt sich ausserdem feststellen, dass
sie wesentlich häu ger „wöchentlich bis täglich“ kurzfristige
Überstunden leisten. Bei den Frauen zeigen sich nur leichte
Unterschiede in diese Richtung.
Männer, die ihre Arbeitszeit selbst steuern, sind wesentlich
häu ger überbeschäftigt; wiederum gilt dieses Ergebnis insbe-
sondere für das „exponierte Drittel“ mit hohem Gestaltungs-
spielraum und vermutlich fehlender formeller Regulation.
Wenn differenziert werden kann (EWCS und SOEP), dann
zeigen die Ergebnisse für jene Selbststeuerer-Gruppe, in der
ich geringeren Gestaltungsspielraum und mehr Personen
mit funktionierender Regulation vermute, weder signi kante
noch relevante Durchschnittsunterschiede zu jenen mit vor-
gegebener Arbeitszeit. Bei Frauen, die ihre Arbeitszeit selbst
steuern, ist individuelle Überbeschäftigung insgesamt nicht
verbreiteter als bei jenen mit festen Arbeitszeiten. Frauen ar-
beiten, häu ger als Männer, auch in niedriger quali zierten
Tätigkeiten vollständig selbstgesteuert und dort scheint bei
sehr geringen Arbeitspensen Überbeschäftigung kein Thema
zu sein. Als theoretisch interessierende Gruppe betrachte ich
das „exponierte Drittel“ des SOEPs. Insgesamt schliesse ich
deshalb, dass Frauen die im „exponierten Drittel“ selbstgesteu-
ert arbeiten, etwas häu ger überbeschäftigt sind, als Frauen
mit vorgegebener Arbeitszeit, es sei denn, sie arbeiten in ge-
ringem Pensum in gering bis niedrig quali zierten Tätigkeiten.
Entgegen landläu ger Einschätzungen konnte weiterhin fest-
gestellt werden, dass die Gruppe der Selbststeuerer zu mehr
als der Hälfte aus Personen ohne Führungsverantwortung
besteht. Weiterhin wurde Führungsverantwortung in den
Analysen zum ersten Mal statistisch konstant gehalten und
kann damit ebenfalls als Alternativerklärung für den Befund
weitgehend ausgeschlossen werden.
Unter methodischen Vorbehalten sprechen die Ergebnisse
dafür, dass selbstgesteuerte Arbeitszeit nicht zu Arbeitszeit-
verlängerungen führt, wenn sie regulativ eingebettet ist, son-
dern nur dann, wenn sie hochgradig und ohne formelle Regu-
lation praktiziert wird.
4. Zusammenfassung und zeitpolitische Implika-
tionen
Viele der Veränderungen, die die Arbeitswelt seit den 80er
Jahren erfahren hat, haben ambivalente Auswirkungen. In
Bezug auf die umgangssprachlich „freien“ Arbeitszeiten liegt
diese Ambivalenz darin, dass sie den Menschen Flexibilität
für eigensinnige Zeitbedarfe versprechen und für einige auch
einlösen. Gleichzeitig werden sie aber sehr häu g in einem
organisationalen Umfeld praktiziert, das viel Leistung fordert
und wenig regulativen Schutz bietet. In solch einem Umfeld
kann es schnell passieren, dass den ArbeitnehmerInnen we-
nig anderes übrigbleibt, als ihre Zeit im Sinne von weiterhin
fremdgesetzten Arbeitsaufgaben einzuteilen. Statt Flexibili-
tät von der Organisation zu erhalten, geben sie dieser dann
Flexibilität. Arbeitszeitverlängerungen sind eine seit langem
diskutierte Folge dieser Praxis.
Im empirischen Teil der Dissertation konnten weitere starke
empirische Belege für Arbeitszeitverlängerungen durch
selbstgesteuerte Arbeitszeit erbracht werden. Auch individu-
elle Überbeschäftigung ist, zumindest bei den Männern und
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 29
bei einer Untergruppe der Frauen, verbreiteter. Es muss an
dieser Stelle betont werden, dass individuelle Überbeschäf-
tigung nicht nur als tatsächlicher Zustand problematisch ist,
sondern auch als potentieller Zustand, der durch seine Signal-
wirkung selbstselektive Mechanismen bewirkt. Insbesondere
Frauen, aber auch zunehmend Männer, können und wollen
sich „zeitliche Armut“ nicht leisten und vermeiden einen Zu-
stand individueller Überbeschäftigung, z. B. auf Kosten einer
quali katorisch passenden Stelle.
Die Ergebnisse sprechen dafür, Arbeitszeitkonten in ihrer
Rolle als Regulierungs- und Schutzinstrument differenzierter
zu erforschen, bekannt zu machen, einzusetzen und weiter-
zuentwickeln. Arbeitszeitkonten können die unternehmens-
seitig nachgefragte Selbststeuerung im Arbeitshandeln mit
einer klaren und doch exiblen zeitlichen Grenzziehung ver-
einbar machen. Ob diese Grenzziehung von den Beschäftigten
genutzt werden kann, um wieder „echte“ Freizeit zu erleben,
oder ob sie sich auch in ihrer betriebsfreien Zeit für den er-
weiterten Wettbewerb der Gesellschaft optimieren, bleibt
eine offene Frage. Zumindest wäre aber mit einer zeitlichen
Grenzziehung eine notwendige Voraussetzung dafür geschaf-
fen. Dabei sei daran erinnert, dass es letztendlich nur solch
abstrakte Messgrößen wie „Stunden“ erlauben, Situationen
über alle Unterschiedlichkeit hinweg zu vergleichen und in
einem konkurrenzbasierten System soziale Mindeststandards
für alle zu de nieren und durchzusetzen.
Vanita Matta hat am Soziologischen Institut der Universität
Zürich promoviert.
Literatur
Bauer, F. / Groß, H./ Lehmann, K./ Munz, E. (2004): Arbeitszeit
2003. Arbeitszeitgestaltung, Arbeitsorganisation und Tätig-
keitsprofi le. Köln.
EuroFound (2010): 5th European Working Conditions Survey
2010 SN: 6971. Colchester, Essex: UK Data Archive [distributor].
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Norwegian Social Science Data Services, Norway - Data Archive
and distributor of ESS data.
Matta, V. I. (2015): Selbstgesteuerte Arbeitszeit, Arbeitsstunden
und individuelle Überbeschäftigung. Dissertation, Universität
Zürich, online unter http://opac.nebis.ch/ediss/20162680.pdf.
Munz, E. (2005): Selbststeuerung der Arbeitszeiten aus Beschäf-
tigtenperspektive. Eine empirische Analyse von Einsatz und Wir-
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tion, Universität Bremen.
Wagner, Gert / Frick, G. / Joachim R. / Schupp, Jürgen (2007): The
German Socio-Economic Panel Study (SOEP) – Scope, Evolution
and Enhancements, SchmollersJahrbuch 127 (1), S. 139–169.
KATHARINA BOHNENBERGER
Die Bedeutung einer Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit
für mehr Zeitwohlstand
Ziel dieses Beitrags ist es zu erörtern, was bei der Gestaltung
von Instrumenten zur Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit aus
zeitpolitischer Sicht zu beachten ist, damit diese dem Zeit-
wohlstand auf individueller Ebene zuträglich sind.
Unter Zeitwohlstand wird hier ein alternativer Maßstab für
das „gute Leben“ verstanden, welcher sich durch vier inter-
dependente Komponenten charakterisieren lässt: Zeitau-
tonomie, Zeitsouveränität, Möglichkeiten zur Teilhabe an
Zeit institutionen und zeitliches Wohlbenden. Zeitautono-
mie bezeichnet hier die Quantität an Zeit, die zur freien Ver-
fügung steht nachdem allen Tätigkeiten (v. a. Erwerbsarbeit)
nachgegangen wurde, die für den Erhalt und das Führen eines
sozial akzeptablen Leben notwendig sind (vgl. Goodin u. a.
2008). Zeitsouveränität geht darüber hinaus und bezeichnet
hier, in welchem Maße man entscheiden kann, zu welchem
Zeitpunkt und mit wie vielen Unterbrechungen man notwen-
digen und frei gewählten Tätigkeiten nachgeht (vgl. Rinder-
spacher 2012). Die Teilhabemöglichkeit an Zeitinstitutionen
(z. B. Wochenende) ist von Relevanz, um gemeinschaftliche
Erlebnisse koordinieren zu können und Räume kollektiver
Zeiterfahrungen zu schafffen (vgl. z.B. Garhammer 2001).
Zeitinstitutionen sind damit auch für zeitliches Wohlbenden
relevant. Dieses bezeichnet einen positiven Gemütszustand,
welcher aus der Art und Weise der Verwendung und Wahr-
nehmung von Zeit gezogen wird. Es steht dem Begriff der
Resonanzerfahrung nahe (vgl. Rosa 2011: 43). Fehlendes
zeitliches Wohlbenden drückt sich unter anderem im Ge-
fühl von Zeitdruck oder Zeitnot aus. Empirisch lässt sich be-
obachten, dass der Zeitdruck unter anderem mit steigendem
Umfang der Arbeitszeit zunimmt (Garhammer 2002: 224)
während das Wohlbenden abnimmt (Kallis u.a. 2013: 1558).
Als Arbeitszeit wird in diesem Text diejenige Zeit bezeichnet,
in welcher eine Person dem Erwerb von Einkommen nach-
geht. Andere Arbeiten (z. B. Haushaltsarbeit) werden nicht
hinzugerechnet, auch wenn sie Auswirkungen auf den Zeit-
wohlstand einer Person haben. Auch Abwägungen gegenüber
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
30 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
einer Lebensarbeitszeitverkürzung und deren zeitpolitischer
Bedeutung werden nicht diskutiert. Im Folgenden wird die
Effektivität von Instrumenten zur Verkürzung der Erwerbs-
arbeitszeit zur Förderung von Zeitwohlstand analysiert. Ein
Hinweis darauf liefert die Frage, warum nicht mehr Men-
schen ihre Arbeitszeit reduzieren.
Wunsch nach Arbeitszeitverkürzung
Zum einen könnte bei vielen Arbeitnehmern keine Präferenz
für kürzere Arbeitszeiten bestehen, etwa weil zusätzliches
Einkommen freier Zeit vorgezogen wird. Um effektiv zu sein,
müssten Instrumente der Arbeitszeitverkürzung demnach
versuchen, zusätzliche Freizeit gegenüber zusätzlichem Ein-
kommen attraktiver zu machen, beispielsweise indem hohe
Einkommen und lange Arbeitszeiten überdurchschnittlich
besteuert werden. Aber auch die Attraktivität von Einkom-
men selbst ist variabel. Viele Produkte werden nicht auf
Grund ihres Gebrauchswert, sondern ihres Statuswerts ge-
kauft. Sinkt das für positionale Güter zur Verfügung stehende
Einkommen aller Person gleichmäßig, braucht auch jede ein-
zelne Person weniger Einkommen, um den gleichen sozialen
Status zu halten. Auch Suf zienzpolitiken, die versuchen, den
hedonistischen Adaptionsprozess, also eine Gewöhnung an
höheres Einkommen, zu verlangsamen oder gar umzukehren,
ermöglichen es Menschen, weniger Einkommen zu benöti-
gen, um zufrieden zu sein. Sie erhöhen die Attraktivität von
Arbeitszeitverkürzung, indem sie die psychologischen Kosten
einer Einkommensreduktion senken.
Finanzielle Möglichkeiten
Der Grund für die seltene Verkürzung der Arbeitszeit liegt
aber nicht vorrangig in der Präferenz für Einkommen ge-
genüber Freizeit. Mehr als die Hälfte der Beschäftigten wür-
de gerne weniger arbeiten, kann sich dies aber nicht leisten
(Torres u. a. 2007: 68). Eine echte Abwägung zwischen Geld-
Zeit-Präferenzen ndet demnach bei vielen gar nicht statt.
Wobei häu g bei Äußerung über das benötigte Einkommen
nicht miteinbezogen wird, dass durch die frei gewordene Zeit
mehr in Eigenarbeit hergestellt werden kann und dadurch ein
geringeres Einkommen benötigt wird. In jedem Fall bedarf es
Instrumente zur nanziellen Ermöglichung individueller Ar-
beitszeitverkürzung, z. B. durch ein Grundeinkommen oder
entsprechende staatliche Sachleistung. Wichtig ist auch eine
sichere und ausreichende nanzielle Unterstützung im Falle
sozialer Risiken und das Recht auf eine Rückkehr zur vorher-
gehenden Arbeitszeit bei Arbeitszeitverkürzung, sodass aus-
reichende nanzielle Mittel sichergestellt sind und privates
nanzielles Vorsorgen weniger nötig ist.
Der nanzielle Aspekt ist auch bei einer gesetzlichen kollek-
tiven Reduktion der Arbeitszeit (z. B. 32-Stunden-Woche) zu
beachten. Wenn das Einkommen aus einer Arbeit für einen
angemessenen Lebensstil nicht ausreicht, kann es Arbeit-
nehmer nötigen, einen zusätzlichen Nebenjob anzunehmen.
Dieser macht die gewonnene Zeitautonomie zunichte. Ande-
rerseits ermöglicht die Arbeitszeitverkürzung einer Person
es, ihrer Familie auch erst Care-Arbeit egalitärer zu verteilen
und er ermöglicht es dem anderen Partner, erwerbstätig zu
werden oder den Arbeitsumfang von geringfügiger Teilzeit
auf eine vollzeitnahe Teilzeit zu erhöhen. Dies entspricht
auch den zeitlichen Präferenzen vieler Familien: Während
die meisten Väter gerne weniger arbeiten möchten, wün-
schen sich viele Mütter eine Erhöhung der Erwerbsarbeit
(Lewis u. a.2008: 33). Die Vereinbarkeit von bezahlter Arbeit
und familiären oder sozialen Verpichtungen ist bei dem
Modell der Teilzeitarbeit beider Partner am höchsten (Euro-
found 2012: 90). Dies führt zu einer vermehrten Teilhabe an
Zeitinstitutionen, entweder, weil sich die Möglichkeiten für
gemeinsame Zeit erhöhen, wenn sich die Arbeitszeiten über-
schneiden oder weil persönliche Erledigungen des zuvor Voll-
zeitarbeitnehmers dann geschehen können, wenn der andere
Partner arbeitet, so dass sie nicht von der gemeinsamen Zeit
abgehen. Eine effektive Verkürzung der Regelarbeitszeit trägt
also durch mehr diskretionäre Zeit, Zeitsouveränität und
Möglichkeiten zur Pege von Zeitinstitutionen positiv zum
Zeitwohlstand bei.
Finanzielle Aspekte scheinen aber nicht der einzige Grund für
die fehlende Reduktion der Arbeitszeit zu sein. Befragungen
zeigen, dass ein großer Teil der Bevölkerung selbst bei einem
entsprechend geringeren Einkommen seine Arbeitszeit redu-
zieren würde (Eurofound 2012: 36). Man muss sich also die
Frage stellen, woraus diese Überbeschäftigung resultiert.
Rechtliche Möglichkeiten
Ein Grund können die fehlenden Rechte auf individuelle Ar-
beitszeitverkürzung sein, welche beispielsweise durch zeit-
liche Ziehungsrechte realisiert werden könnten (vgl. DgfZP
2005: 12). Allein schon die Wunschäußerung nach verkürzter
Arbeitszeit wird häug mit der Ansicht assoziiert, man sei we-
niger motiviert (Torres u. a. 2007: 69). Arbeitnehmer stehen
bei der Wahl ihrer Arbeitszeit also meist vor einer „take it or
leave it“-Entscheidung. Neben dem Recht auf Arbeitszeitver-
kürzung ist es demnach auch wichtig, ein umfangreiches An-
gebot an reduzierter Vollzeit zu schaffen.
Anreize für Arbeitszeitverkürzung
Um Arbeitszeitverkürzung für Arbeitgeber auch attraktiv zu
machen, ist es daher geboten, durch die Lohnnebenkosten der-
artige Anreize zu setzen, dass die durchschnittlichen Kosten
pro Leistungseinheit mit dem Umfang der Arbeitszeit steigen.
Auch die Anreizstruktur für den Arbeitnehmer kann fehlge-
staltet sein, beispielsweise indem Überstunden besonders gut
vergütet werden, so dass die Bezahlung einer zusätzlichen
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 31
Arbeitsstunde einer Stunde Freizeit vorgezogen wird. Dies
könnte verhindert werden, indem Überstunden nicht nan-
ziell besser vergütet werden und gleichzeitig für den Arbeit-
geber teurer als gewöhnliche Arbeitszeiten sind, indem Über-
stunden in zusätzlicher freier Zeit vergütet werden (z. B. eine
Überstunde entspricht 1,5 Stunden Freizeit zu einem anderen
Zeitpunkt). Selbst wenn Arbeitnehmer entscheiden, Arbeits-
zeit nicht zu reduzieren, sind solche Instrumente der Zeit-
souveränität zuträglich, weil sie den Entscheidungsspielraum
des Arbeitnehmers über den Umfang der Arbeitszeit erhöhen.
Auch die Gelegenheiten, an Zeitinstitutionen teilzunehmen,
steigen. Außerdem ist zu erwarten, dass auch das zeitliche
Wohlbenden steigt, wenn Arbeitnehmer ihre Arbeitszeitprä-
ferenzen umsetzen können (vgl. z. B. Mückenberger 2012),
weil z. B. eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Fami-
lie den täglichen Zeitdruck verringert.
Umstände der Entscheidungssituation
Außerdem können auch soziale Umstände der Entschei-
dungssituationen die Arbeitnehmer davon abhalten, nur so
viel wie eigentlich gewünscht zu arbeiten. Und zwar dann,
wenn die tatsächliche Arbeitszeit nicht die Konsequenz einer
einmaligen Entscheidung zwischen Einkommen und Freizeit
ist, sondern die Kumulation von Einzelentscheidungen. Diese
tagtäglichen Entscheidungssituationen nden in einem sozi-
alen Kontext statt, bei dem beispielsweise der Wunsch, einem
Kollegen bei der Fertigstellung einer Arbeit zu helfen, oder
selbst eine Frist einzuhalten, Priorität haben können. Gerade
wenn man als einziger seine Stundenzahl reduziert, können
diese Effekte besonders stark hervortreten. Förderinstru-
mente des Staates, die letztendlich versuchen, die Attraktivi-
tät einer Stunde Freizeit gegenüber dem alternativ in diesem
Zeitraum verdienten Geld zu erhöhen, bleiben bei solchen
Fällen wirkungslos, weil sie nicht auf die tatsächliche Ent-
scheidungssituation zugeschnitten sind.
Wenn Arbeitnehmer diese Teilzeit-Illusion (Echtelt 2006:
507) bei der Entscheidung über ihre of zielle Arbeitszeit anti-
zipieren, ist es für sie rational, ihre of zielle Arbeitszeit nicht
zu verringern und lieber ein höheres Gehalt zu bekommen,
anstatt trotz gesunkenem Einkommen Überstunden zu lei-
sten und damit letztendlich genauso lange wie zuvor zu ar-
beiten. Unter solchem Umständen kann eine gesetzlich vor-
geschriebene Reduktion der Arbeitszeit aller Arbeitnehmer
als Notwendigkeit zu Realisierbarkeit der Arbeitszeitwünsche
begriffen werden. Damit diese auch effektiv wirken kann,
müssen sich mit der Regelarbeitszeit auch die Höchstarbeits-
zeiten reduzieren. Sonst besteht das Risiko, dass die Verkür-
zung der Arbeitszeit allein in eine Erhöhung der Überstunden
übersetzt wird. Wenn Überstunden gar nicht bezahlt oder
aufgezeichnet werden, können diese politischen Maßnahmen
natürlich auch nicht erst angewendet werden.
Unbezahlte Überstunden reduzieren den effektiven Stunden-
lohn und stellen damit eine Lohn exibilität nach unten dar.
Arbeitskräfte, die dazu bereit sind, erweisen sich für den Ar-
beitgeber als besonders pro tabel. Sie dienen damit der Absi-
cherung gegen individuellem Arbeitsplatzverlust, auch wenn
sie kollektiv zu weniger Einstellungen führen und damit die
allgemeine Arbeitsplatzsicherheit senken. So zeigen Studien
aus mehreren europäischen Ländern, dass mit höherer re-
gionaler Arbeitslosigkeit die Wahrscheinlichkeit für unbe-
zahlte Überstunden und Überbeschäftigung zunimmt (Matta
2012: 15; Brautzsch u. a. 2012: 310).
Am stärksten hängen unbezahlte Überstunden mit sog. post-
fordistischen Arbeitsplätzen zusammen (Andresen 2009: 4).
Zunächst scheint es paradox, dass gerade diejenige Arbeits-
form, welche den Arbeitnehmern mehr Autonomie ver-
spricht, sich als zeitraubend entpuppt. Intrinsisch motivie-
rende Tätigkeiten lassen den Arbeitnehmer die Zeit vergessen
(Arbeitsfreude); direkt von erfolgreicher Projektarbeit ab-
hängige Arbeitsplatzsicherheit führt zu hohem Arbeitsdruck;
eine kompetitive Arbeitsatmosphäre und die Schwierigkeit,
die Qualität der Arbeit zu bewerten, kann sich darin nieder-
schlagen, dass die Länge der Arbeitszeiten als Indikator für
die Arbeitsmotivation und Produktivität gesehen wird und
Karrierechancen daran geknüpft werden.
Veränderter Umgang mit der Zeit in
post-fordistischen Arbeitsbedingungen
Das Ausmaß unbezahlter Mehrarbeit bei post-fordistisch or-
ganisierten Arbeitsplätzen kann aber überraschenderweise
nicht vollständig durch die aggregierten Effekte von Arbeits-
freude, Arbeitsdruck und zeitsensitiven Karrierechancen er-
klärt werden (Echtelt 2007: 53). Die besonderen Umstände
von post-fordistischen Arbeitsplätzen führen also dazu, dass
Arbeitnehmer anders als andere Arbeitnehmer mit ihrer Zeit
umgehen. Es spricht einiges dafür, dass dies das Ergebnis ei-
ner veränderten Wahrnehmung und Einstellung zur Zeit ist:
Die Zeit innerhalb und außerhalb der Arbeit verdichtet sich,
sie unterliegt zunehmend einem ökonomischen Verwertungs-
impuls, der durch einen beständigen Steigerungszwang des
Arbeitnehmers noch verstärkt wird.
Folgendermaßen lässt sich das erklären: Da im Post-For-
dismus die Arbeitszeitaufzeichnung entfällt und allein die
Ergebniserfüllung im Vordergrund steht, spornt er den Ar-
beitnehmer an, seine Zeit gut zu nutzen, um Überstunden zu
vermeiden bzw. Freizeit zu gewinnen (Echtelt 2007: 53). Die
für eine Aufgabe zur Verfügung stehende Zeit wird minimiert,
was sich negativ auf das Wohlbenden in der Arbeitszeit aus-
wirkt (vgl. Matta 2012: 20). Arbeitnehmer verdichten also aus
Eigeninteresse ihre Arbeitszeit.
Zugleich müssen Arbeitnehmer durch Ziel- und Leistungs-
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
32 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
vereinbarungen selbst Zeitmanagement betreiben und ste-
hen damit unter dem Druck der Zeitbewirtschaftung. Die Zeit
verändert ihre Bedeutung. Sie ist nicht mehr der Rahmen,
innerhalb dessen einer bestimmten Tätigkeit nachgegangen
wird, sondern muss, wie ein knappes Investitionsgut, ef zient
genutzt werden. Es kommt zu einer Ökonomisierung der Zeit.
Wachten im Industriekapitalismus noch Vorgesetzte über
Arbeitstempo, Arbeitsdauer, Pünktlichkeit und ökonomische
Zeitverwendung, sind es nun die Beschäftigten selbst, die die-
se Aufgabe übernehmen.
Durch die Entgrenzung der Arbeit, also die fehlende Trennung
zwischen Arbeit und Privatem, im Post-Fordismus macht
dieses Ef zienzdenken nicht vor anderen Lebensbereich halt.
Haben Arbeitnehmer den wirtschaftlichen Umgang mit der
Zeit bereits durch ihre Arbeit als eigenen Denkmodus interna-
lisiert, macht die Entgrenzung der Arbeit es zudem schwierig,
zwischen Arbeitszeit, in welcher dieser Denkmodus vielleicht
angemessen wäre, und anderen Zeiten, in welchen andere
Denkmodi passender wären, zu unterscheiden. Arbeitnehmer
versuchen also, die Grenzproduktivität der Zeitverwendung
in allen Lebensbereichen gleich hoch zu halten.
Hinzu kommt, dass die Freizeit, da sie erst durch anstren-
gendes, gestresstes und mühevolles Arbeiten gewonnen wer-
den konnte, überdies als besonders wertvoll gilt und effektiv
zu nutzen ist. Das Opportunitätskostenkalkül der Zeit (Held
2002: 24) setzt sich demnach in allen Lebensbereichen durch.
Zeitkon ikte äußern sich nicht mehr als Kon ikt zwischen so-
zialen Zeiten und individuellen Zeiten, sondern verbleiben in
dem Betroffenen selbst.
Und gerade in einer kompetitiven Arbeitsatmosphäre müssen
Arbeitnehmer beständig ihre Arbeitsleistung erhöhen. Diese
Steigerungslogik verändert auch die Wahrnehmung der Zeit
weg von einer zyklischen zu einer linearen Zeitwahrnehmung.
Sind zudem die zukünftigen Erwartungen, welche an den Ar-
beitnehmer gestellt werden, unsicher, weil Unternehmen ihre
Beschäftigten stärker mit dem Markt konfrontieren, kommt
es zum Übergang von einem linear-geschlossenem zu linear-
offenem Zeitbewusstsein (Garhammer 1999: 59).
In der Konsequenz sinkt die Dauer, für die der Erfahrungs-
raum dem Erwartungshorizont entspricht, was ein Gefühl der
Gegenwartsschrumpfung auslöst (Rosa 2012: 192) und damit
Zeichen einer sozialen Beschleunigung ist, was wiederum ei-
nen ständigen Anpassungszwang und Verpassensangst zur
Folge hat (Rosa 2005: 218).
Folgen für das zeitliche Wohlbenden
Neben einem veränderten Umgang mit der Zeit nimmt durch
diese Prozesse auch das zeitliche Wohlbenden ab: Der An-
passungszwang der Steigerungslogik löst das Gefühl von
Zeitdruck aus. Zudem führt eine Verpassensangst zu einem
Ausbau der Optionen, welche, bei gleichzeitiger Ökonomisie-
rung der Zeit das Gefühl von Zeitnot nähren, weil nie ausrei-
chend Zeit vorhanden ist, um all die geschaffenen Möglich-
keiten zu verwirklichen.
Die zunehmende Dichte innerhalb der Arbeitszeit und in al-
len Lebensbereichen kommt einer Verkürzung und/oder Ver-
dichtung von Handlungsepisoden gleich. Tätigkeiten werden
schneller oder simultan ausgeführt und Leerzeiten reduziert,
worunter die Qualität der Zeit leidet: Wegen der Gleichzei-
tigkeit von Tätigkeiten mangelt es an Verarbeitungstiefe der
einzelnen Aktivitäten (Wittmann 2012: 134). Neben dem
Gefühl des Rasens der Ereignisse bleiben letztere noch dazu
belanglos und dekontextuiert: Der fehlende Zusammenhang
der Erlebnisse mit den eigenen Stimmungen und Wünschen,
gerade vor dem Hintergrund der sich wandelnden sozialen
Realitäten, unterbindet, dass Ereignisse an Bedeutung für
die eigene Identität und Lebensgeschichte gewinnen (Rosa
2005: 232). Die Folge ist eine Wahrnehmung der Zeit in Form
eines Kurz-Kurz-Zeitmusters. Im Erleben erscheint die Zeit
kurz, in der Erinnerung jedoch auch: während des Ereignisses
selbst erscheint das Geschehen als kurzweilig und gestresst,
aber auch im Rückblick schrumpfen die Erinnerungen. Das
Leben wird erlebnisreicher, aber erfahrungsärmer.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Umstände der
post-fordistischen Arbeitsorganisation nicht nur durch Ver-
dichtung, Ökonomisierung der Zeit und einen Steigerungs-
zwang zu weniger zeitlichem Wohlbe nden führen, sie unter-
graben zugleich die Möglichkeit, Erlebnisse in bedeutungsvolle
Erfahrungen zu verwandeln und verhindern damit, dass die
negativen Auswirkungen auf das zeitliche Wohlbenden durch
Resonanzerfahrungen wettgemacht werden.
Bedeutung für die Ausgestaltung von
Arbeitszeitverkürzung
In Anbetracht dieser psychologischen Vorgänge ist es also
angebracht, Politikinstrumente zur Arbeitszeitverkürzung
nicht nur auf ihre rechtlichen und nanziellen Anreize hin
zu untersuchen, sondern auch dahingehend, ob sie der Ent-
wicklung von individuellem und kollektivem Zeitbewusstsein
zuträglich sind und bei Arbeitnehmern die nötige Zeitkom-
petenz fördern, um den Mechanismen von post-fordistischen
Arbeitsstukturen zu widerstehen. Viele klassische Instru-
mente der Arbeitszeitverkürzung sind diesbezüglich schon
richtungsweisend: Neben dem verpichtenden Ausgleich von
Überstunden in Freizeit durch sogenannte Zeitkonten formt
schon eine gesicherte Aufzeichnung der Arbeitszeiten und eine
Nachprüfung dieser Zeiten hinsichtlich der Gesetz mäßigkeit
das Bewusstsein der Arbeitnehmer für ihre Arbeitszeit. Bei
der täglichen Entscheidung würde dann vielleicht weniger die
Wahl zwischen Aufgabenerledigung oder negativer Bewertung
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 33
durch andere, sondern mehr die Entscheidung zwischen Frei-
zeit und Überstunden in den Blick rücken. Auch wenn es pa-
radox klingt, könnte gerade eine Bezahlung der Überstunden
die Wahrnehmung der Entscheidungssituation ähnlich schär-
fen und zum gleichen Effekt führen.
Vor allem wäre es aber förderlich, die Zeitkompetenz der
Menschen zu fördern, so dass sie ihre Zeitbedürfnisse selbst
wahrnehmen und vertreten können. Dies könnte beispiels-
weise durch den Ausbau von Zeitinstitutionen geschehen,
welche unterschiedlichen Zeitkulturen Raum geben.
Insgesamt fördern Politikinstrumente zur Arbeitszeitverkür-
zungen also auf vielfältige Weise Zeitwohlstand. Bei ihrer
Ausgestaltung sollte beachtet werden, welche Gründe einer
individuellen Arbeitszeitverkürzung im Weg stehen könnten,
damit die Politikinstrumente auch tatsächlich ihren Effekt für
mehr Zeitwohlstand entfalten können.
Dieser Beitrag ist im Rahmen der Abschlussarbeit in Philo-
sophy & Economics (B. A.) an der Universität Bayreuth ent-
standen.
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DGfZP bei twitter
Seit Dezember 2015 kann man der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik
auch bei Twitter folgen: www.twitter.com/Zeitpolitik.
Getwittert werden Anregungen zu den Themen Zeit und Zeitpolitik
sowie Hinweise unserer Mitglieder auf Veranstaltungen oder Veröffentlichungen.
Der Account wird derzeit von unserem Vorstandsmitglied Etta Dannemann betreut.
Kommentare, Anregungen und Material bitte senden an
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BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
34 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
ELKE GROSSER
Zeitwohlstand 4.0 1
Im Zuge der Digitalisierung 2 unserer Arbeits- und Alltagswelt
verändern sich Zeitstrukturen, Umgang mit Zeit sowie das
Verhältnis zur Zeit gravie-
rend. Das Internet ist über
die schnelle und umgrei-
fende Verbreitung mobiler
Kommunikationsgeräte zu
einem wichtigen alltäglichen
Begleiter für den Einzelnen
geworden, es wird universal
genutzt, als unverzichtbares
Medium eingeschätzt und
ist im Alltag geradezu „om-
nipräsent“ (vgl. Frees/Koch
2015a; Frees/Koch 2015b).
Daher ist es unumgänglich,
Zeitwohlstand als ein zeitpolitisches Konzept auch unter die-
sem Aspekt zu diskutieren. Denn ausreichend Zeit für sich und
individuelle Bedürfnisse zu haben, Zeit für und in Beziehungen,
die Selbstbestimmung über die eigene Zeit sowie ausreichend
entdichtete Zeiten 3 bemessen sich zunehmend an den spezi-
schen Zeitformen des Digitalen.
Ausreichend Zeit
Virtuelle Zeiten und reale Zeiterfahrungen ergänzen sich
nicht einfach im Alltag, sondern stehen im Zeit-Kon ikt auf
dreierlei Art und Weise:
Einmal verbrauchen sie vor allem eines – unsere Alltagszeit;
die Zahl der individuellen Nutzungsstunden im Internet ist
in den letzten Jahren stark angestiegen. Neben der Internet-
verbreitung sind die tägliche Zeit, die im Internet verbracht,
sowie die Frequenz, mit der das Internet genutzt wird, in allen
Altersgruppen deutlich angestiegen. Das gilt insbesondere für
die Nutzung mobiler Endgeräte, wie z. B. Smartphones (vgl.
Frees/Koch 2015a). Der Trend der Internetnutzung geht zum
„Überall“ und zum „jeder Zeit“.
Zweitens ist Zeit in einer digitalisierten Welt stark fragmen-
tiert und von ständigen Unterbrechungen in Arbeits- und All-
tagstätigkeiten geprägt, die unsere Aufmerksamkeit beein us-
sen. Ergebnisse einer Studie
der Universität Bonn zur
Smartphone-Nutzung bei-
spielsweise zeigen, dass ihre
Besitzer im Durchschnitt 53
mal am Tag ihr Handy akti-
vierten und ihre gerade aus-
geführte Tätigkeit damit alle
18 Minuten unterbrachen
(vgl. Markowitz 2015). Diese
Unterbrechungen erlauben
es nicht, sich für längere Zeit
einer Tätigkeit vollkommen
zu widmen und verhindern
Flow-Erfahrungen. Im Durchschnitt verbrachten die Studi-
enteilnehmer zweieinhalb Stunden am Tag mit ihren Handys.
Ein „Zuviel an Zeit“ im virtuellem Raum kann mit Suchtver-
halten und gesundheitlichen Beeinträchtigungen einherge-
hen. Kinder und Jugendliche, die viel Zeit vor dem PC ver-
bringen, bewegen sich zudem im Alltag insgesamt weniger
(vgl. Techniker Krankenkasse 2014).
Drittens lassen gesellschaftliche Entgrenzungsprozesse die
Grenzen zwischen der realen und virtuellen Welt ießend
verlaufen bzw. virtuelle und reale Zeiten überlappen sich,
das heißt, nden geradezu gleichzeitig statt. Beru iche Zeiten
über eine ständige Erreichbarkeit dringen in die private Welt
hinein, private, öffentliche und kommerzielle Internetnut-
zung überschneiden sich.
Zeitwohlstand heißt in diesem Zusammenhang nicht nur,
genügend Zeit für sich und seine Bedürfnisse zu haben, son-
dern eine ausreichend zusammenhängende Zeit für eine be-
stimmte Tätigkeit oder Bedürfnisse und ausreichend Zeit für
rein reale Welterfahrungen.
Zeit für soziale Beziehungen
Ein großer Teil der täglichen sozialen Kommunikation n-
det digital statt; die digitale Kommunikation ist so selbst-
verständlich wie das Gespräch face-to-face geworden. Der
Zeitaufwand für reale Kontakte und Geselligkeit ist gesunken,
im Gegenzug dazu wird mehr Zeit im Internet verbracht, um
mit Freunden und Verwandten zu kommunizieren (vgl. Sta-
tistisches Bundesamt 2015).4 Digitale Kommunikation ndet
oft als Parallelzeitkommunikation neben anderen Gesprächen
1 Längst wird im Zuge der Digitalisierung der gesamten Lebenswelt
von einer Revolution 4.0 (vgl. Floridi 2015) bzw. einer 4. Medien-
revolution gesprochen. Für Veränderungen in der Arbeitswelt
werden Debatten um eine Industrie 4.0 geführt.
2 Unter Digitalisierung wird hier die schnelle Verbreitung und
Nutzung moderner digitaler Informations- und Kommunikations-
technologien und die Vernetzung „intelligenter“ digitaler Systeme
in der Arbeits- und Alltagswelt verstanden. Dieser Beitrag ist vor
allem auf die Digitalisierung in der Alltagswelt von Individuen
bezogen. Das Internet spielt hierbei eine besondere Rolle.
3 Die vier Komponenten von Zeitwohlstand nach Jürgen Rinderspa-
cher, vgl. Rinderspacher 2012 4 vgl. auch Freizeitmonitor 2015
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 35
oder Tätigkeiten statt, obwohl das von den jeweiligen Kom-
munikationspartnern als störend oder unhö ich empfunden
wird und Online-Gesprächszeiten als weniger emotional und
ober ächlicher eingeschätzt werden (vgl. Institut für Demo-
skopie Allensbach 2010). Nach Rosa (2016) ist es kaum mög-
lich, in Kommunikationszeiten über soziale Medien im Inter-
net Resonanz als Inbegriff eines guten Lebens zu erfahren.
Private digitale Beziehungszeiten gehen zudem über rein Pri-
vates hinaus, denn sie werden vollständig ökonomisiert, in
dem jegliche private Information vermarktet wird.
Zeitwohlstand heißt eine gesunde Balance zwischen digitalen
und realen Zeiten sozialer Beziehungen zu nden, ausrei-
chend störungsfreie Beziehungszeiten zu haben sowie eine
Bewahrung privater Beziehungszeiten als einen kulturellen
Wert an sich, die nicht der Totalökonomisierung des „Inter-
net-Auges“ unterworfen werden.
Selbstbestimmte Zeit
Digitalisierung erleichtert die Kommunikations- und Alltags-
organisation. Zeit- und raumübergreifend ist es exibel mög-
lich, sich zu verabreden, Nachfragen zu stellen und erreichbar
zu sein oder Informationen zu gewinnen, was als Zeitautono-
mie geschätzt wird. Diese Selbstbestimmtheit über die eigene
Zeit hat ein janusköp ges Gesicht. Zeitzwänge entstehen, die
eine Zeitautonomie und die Kontrolle über die individuelle
Zeit konterkarieren.
Durch den Trend zum „always on“ entsteht der Zwang zur
ständigen Präsenz im Netz, ein medialer Zwang einer fort-
währenden Vernetzung und des gesellschaftlichen Dazuge-
hörens im Netz. Im Zusammenhang mit der Menge ständig
neu eingehender Nachrichten entstehen bei den Nutzern Er-
wartungshaltungen zu einer schnellen Antwortübermittlung
sowie stets Up-to-date zu sein.
Kontrolle über die Alltagszeit, über das, was wir wann, wie
lange, in einer bestimmten Geschwindigkeit tun, überneh-
men zunehmend mathematische Algorithmen. Digitale mo-
bile Endgeräte sind die sozialen Zeitgeber, die die Uhren der
Moderne auf einer höheren Zivilisations- und Abstraktions-
stufe von Zeit ersetzen und auf Zeitdisziplinierung und eine
höchstmögliche Leistungs- und Selbstoptimierung des Indi-
viduums zielen.
Die Organisation eigener Kontakte, das Filtern von Infor-
mationen in der Welt des Digitalen oder eine digitalfreie
Zeitgestaltung erfordern zudem einen hohen Grad von Zeit-
kompetenz als individuelle Fähigkeit. Die Ergebnisse der
ICILS-Studie 2013 (vgl. Bos, Eickelman, et al. 2014) zeigen,
dass ein routinisierter alltäglicher Umgang mit den moder-
nen Kommunikationsmedien nicht unbedingt mit einer ho-
hen Zeit- bzw. Medienkompetenz einhergeht. Zu einem kom-
petenten Umgang gehört vielmehr ein sozial verantwortlicher
und kontextübergreifender Gebrauch, zu dem es u. a. dazuge-
hört, die eigenen Medienzeiten zu re ektieren, zu bewerten
und zu hinterfragen.
Entdichtete Zeiten
Durch die Digitalisierung werden weitere Beschleunigungs-
prozesse angestoßen, deren Auswirkungen infolge des schnel-
len sozialen Wandels noch nicht abgeschätzt werden können.
Neu ist, wie massiv sie in den Alltag eindringen und seine
zeitliche Qualität insgesamt verändern und mit welchem ra-
santen Tempo das geschieht: Politik, Bildung wie Forschung
zum Thema hinken hinterher: Kann man gesellschaftlich
wie individuell, „die sich permanent verändernden techno-
logischen Anforderungen jemals ‚einholen‘ “ (Cray 2014: 37)?
Denn die mediale Welt scheint immer schon ein Stück weit
voraus zu sein.
Digitale Zeiten sind hochverdichtete Zeiten, die weiterhin
durch Multitasking, Omnipräsenz, Informationsüber utung
sowie Kommunikations- und Erwartungsstress gekennzeich-
net sind.
Soziale Kommunikationsplattformen dienen oft als Zeitver-
treib oder „Lückenfüller“, zum Beispiel in Leerzeiten wie in
Bus oder Bahn, in Pausen oder Wartezeiten (vgl. Busemann,
Fisch, Frees 2012: 263). Eine 24/7-Allzeitverbundenheit mit
der digitalen Technik lässt Rückzugsmöglichkeiten des „mit-
sich-Selbst-Seins“ verkümmern und Muße „ist eine Oase in
der Wüste der Dauerverbundenheit“ geworden. Oft wissen
wir in einer „kommunikativ überhitzten Gesellschaft“ gar
nicht mehr, wie sich Muße oder nur mit sich selbst allein zu
sein anfühlt (vgl. Hecht 2015).
Schnelllebige digitale Technologien führen zudem durch die
Verwendung seltener Erden und anderer knapper Werkstoffe
zu einem problematischen Ressourcenverbrauch, insbeson-
dere wenn man ihre sehr kurze Nutzungsdauer bedenkt. Sie
widersprechen somit auch im Hinblick auf Umweltbelange
einer Ökologie der Zeit.
Zeitwohlstand sollte sowohl auf diese Aspekte digitaler Zeit
als auch auf den Aspekt ausreichend entdichteter Real-Zeiten,
zum Beispiel in Form von Muße, bestimmt werden.
Slow Media 5 - Ein Konzept für Zeitwohlstand 4.0?
Bei Slow Media als Konzept geht es darum, politische, kultu-
relle und gesellschaftliche Lösungen auf die 4. Revolution hin
zu denken. Slow Media setzt auf Nachhaltigkeit 6 in Bezug auf
die Verwendung von Rohstoffen, der Organisation von Pro-
zessen und Arbeitsbedingungen, auf deren Grundlage digitale
5 Das Slow Media Manifest ist 2010 erschienen. http://www.slow-
media.net/manifest
6 Damit sind auch eng die Begriffe Ökologie der Zeit und Suffi zienz
verbunden.
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
36 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
Technologien erzeugt werden und sie zielt auf einen nachhal-
tigen Konsum durch den Nutzer.
Slow Media spricht sowohl individuelles Verhalten im Um-
gang mit den digitalen Medien, das Media-Produkt selbst und
entsprechende organisatorische/gesellschaftliche Strukturen
an. So steht Slow Media für einen re ektierten und aktiven
Umgang mit Medien, die nicht auf Multitasking und ihren
Nebenher-Konsum ausgerichtet sind, sondern Konzentrati-
on, Aufmerksamkeit und den Genuss fördern sowie für lang-
lebige Medienprodukte von hoher Qualität stehen. In diese
Richtung gehen einschlägige Forschungsprojekte, u. a. zum
digitalen Arbeitsschutz oder zum digitalen Nutzungsverhal-
ten 7.
Slow Media als Konzept enthält beachtenswerte Ansatz-
punkte, die zeitpolitisch aufzugreifen und weiter auszubauen
wären, um Zeitwohlstand auch in einer digitalisierten Welt
entsprechend diskutieren zu können.
Dieser Beitrag entstand aus Vorüberlegungen zu einem ge-
planten Forschungsprojekt zum Thema „Zeitwohlstand und
Digitalisierung“.
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7 http://slow-media-institut.net
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 37
GERRIT VON JORCK
Zeitwohlstand – Chancen und Herausforderungen einer Arbeits-
welt 4.0 für sozial-ökologische Konsum- und Arbeitsweisen
1. Zeitwohlstand als gesellschaftliches Leitbild
einer Arbeitswelt 4.0
Gesellschaftliche Leitbilder bilden einen Orientierungsrah-
men für unser Handeln und gelten als Voraussetzung für ge-
sellschaftliche Transformationsprozesse (vgl. WBGU 2011).
Im Diskurs um die Zukunft der Arbeit werden verschiedene
gesellschaftliche Leitbilder unterschieden, z. B. das Ganze der
Arbeit, Gute Arbeit oder exibilisierte Arbeit (vgl. Enquete
WWL 2013). Dem stehen im Diskurs um sozial-ökologische
Transformationen Leitbilder wie etwa Grünes Wachstum,
Grüner Gesellschaftsvertrag, sozial-ökologischer Umbau,
Mäßigung und Degrowth gegenüber (vgl. von Jorck 2013).
Bisher sind diese beiden Diskurse nur wenig aufeinander be-
zogen, es bildet sich jedoch – so die Arbeitshypothese – ange-
sichts der anstehenden Veränderungen einer Arbeitswelt 4.0
ein gesellschaftliches Leitbild heraus, welches beide Diskurse
miteinander verbindet: Zeitwohlstand.
Dieser Beitrag dient dem Zweck, einen Projektentwurf zu um-
reißen und zur Diskussion zu stellen, der zum Ziel haben soll,
die verschiedenen Facetten von Zeitwohlstand sowie deren
Suf zienz-Chancen und Rebound-Risiken herauszuarbeiten.
Dabei wird zunächst der Diskurs um die Zukunft der Arbeit
in den Kontext sozial-ökologischer Transformationen gestellt
(Abschnitt 2). Es folgt darauf eine kurze Darstellung des ange-
dachten methodischen Vorgehens des geplanten Forschungs-
projekts (Abschnitt 3), bevor abschließend einige erwartete
Ergebnisse skizziert werden (Abschnitt 4).
2. Die Zukunft der Arbeit im Kontext
sozial-ökologischer Transformationen
Der Globale Norden be ndet sich in einer multiplen Krise.
Nicht zuletzt mit der 2009 veröffentlichten Studie zu den
planetaren Grenzen (vgl. Rockström et al. 2009) hat der Dis-
kurs um die Grenzen des Wachstums neue Brisanz erhalten.
Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen
(WBGU) sieht die Notwendigkeit einer Großen Transforma-
tion (vgl. WBGU 2011) zur Bewältigung der Umweltkrise und
trägt zu einer lebendigen Debatte über die sozial-ökologische
Umgestaltung unserer Gesellschaft bei, indem er eine (Wie-
der-)Einbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft anmahnt.
Zugleich be ndet sich die Arbeitswelt in einem Wandlungs-
prozess. Die Ausweitung atypischer Beschäftigungsverhält-
nisse im Zuge der Agenda 2010 hat zu einer Prekarisierung
von Teilen des Arbeitsmarktes geführt (vgl. Dörre/Haubner
2012). Zudem strömt die Generation Y mit ihren neuen Wert-
vorstellungen auf den Arbeitsmarkt und fordert damit ge-
wohnte Organisations- und Anforderungsmuster heraus (vgl.
Hurrelmann/Albrecht 2014). Die Digitalisierung im Rahmen
der vierten industriellen Revolution stellt derweil neue An-
forderungen und Möglichkeiten für die Arbeitswelt bereit
(vgl. BMAS 2015). Insbesondere die damit einhergehende
zunehmende Flexibilisierung und Entgrenzung der Produkti-
onsweise treibt eine organisatorische Revolution der Berufs-
welt an (vgl. Enquete WWL 2013).
Den Diskursen um sozial-ökologische Transformationen und
um die Zukunft der Arbeit ist gemein, dass sie weniger einen
vorherrschenden Zustand beschreiben als Leitbilder mög-
licher Produktions-, Arbeits-, Konsum- und Lebensweisen.
Wurden diese Diskurse bisher weitestgehend parallel geführt,
verbindet sich innerhalb der Postwachstumsdebatte die Su-
che nach einer alternativen Wirtschaftsweise mit Verände-
rungen der Arbeitswelt (vgl. Koepp et al. 2015). Dabei sind die
genauen Zusammenhänge zwischen der Arbeitsorganisation
und einer sozial-ökologischen Produktions- und Lebensweise
noch unzureichend erforscht (vgl. Enquete WWL 2013).
Zeitwohlstand (vgl. Reisch/Bietz 2016; von Jorck et al. 2015;
Konzeptwerk Neue Ökonomie 2014) als gesellschaftliche
Alternative zu einer einseitigen Orientierung am materiellen
Wohlstand kommt bei der Frage nach dem Zusammenhang
zwischen Arbeit und sozial-ökologischem Wandel eine zen-
trale Bedeutung zu. Fehlende freie Zeit gilt nämlich als eine
bedeutende soziale Schwelle für eine nachhaltige Konsumwei-
se (vgl. Enquete WWL 2013). Starker nachhaltiger Konsum
basiert überwiegend auf Aktivitäten außerhalb des Marktes –
auf nicht-marktförmiger Subsistenz- und Suf zienzarbeit
und dazu braucht es Zeit. Dabei ist Zeitwohlstand nicht ohne
Zeitgerechtigkeit zu denken: Der Umfang zeitlicher Ressour-
cen hängt im Wesentlichen von der sozialen Stellung und
dem sozialstaatlichen Arrangement ab (vgl. Goodin 2010).
Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen bleiben
ihrer Erwerbsstelle auch dann noch treu, wenn sich ihre Prä-
ferenzen längst in Richtung Zeitwohlstand verschoben ha-
ben. Angesichts prekärer Beschäftigungsverhältnisse verliert
Erwerbsarbeit darüber hinaus ihre alleinige Dominanz als
Strategie zur Konsumsicherung. Stattdessen erleben gemein-
schaftlicher Konsum und Subsistenzwirtschaft außerhalb des
Marktes einen neuen Aufschwung (vgl. Schor 2016). Die Di-
gitalisierung ermöglicht moderne Subsistenzwirtschaft auf
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
38 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
Basis konvivialer 1 Technologien (vgl. Illich 1975). Indem
sie Transaktionskosten minimiert oder mit neuen Technolo-
gien wie dem 3D-Druck die Produktion dezentralisiert, wird
Selbstversorgung wieder ef zienter (vgl. Schor 2016).
Sog. Downshifter/-innen bzw. Zeitpionier/-innen (vgl. Hör-
ning 1990) verlagern ihre Arbeitszeit daher nicht bloß aus in-
dividuellen Überlegungen heraus in den nicht-kommerziellen
Bereich, sondern reagieren damit auch auf sich verändernde
gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Dabei prägen sie ein
kulturelles Umdenken, insbesondere auch innerhalb der Ar-
beitswelt. Sie bringen ihre Erfahrungen aus dem Alltag in-
nerhalb von Reziprozitätsökonomien wie Transition Towns,
Gemeinschaftsgärten, Wohn-, Haus- und Dorfprojekten etc.
ein und verbinden diese mit einem Anspruch auf Zeitsouverä-
nität, achen Hierarchien und Gemeinwohlorientierung (vgl.
von Jorck/Gebauer 2015). Zugleich wirken transformative
Unternehmen auf die nachhaltige Konsum- und Lebenswei-
se ihrer Beschäftigten zurück. Sogenannte Postwachstums-
unternehmen gestalten ihre Produktions- und Arbeitsweise
in einer Form um, die zu Wachstumsunabhängigkeit und
einer sozial-ökologischen Wende beiträgt – Zeitwohlstand
dient ihnen dabei als neue Orientierungsgröße (vgl. ebd.).
Die Zusammenhänge zwischen Zeitwohlstand und einer
nachhaltigen Konsumweise sind jedoch nicht eindeutig und
hängen von den jeweiligen individuellen, betrieblichen und
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Häu g sind auch
sogenannte Time-Rebound-Effekte 2 messbar (vgl. Buhl/Aco-
sta 2016). Die freie Zeit wird dann zum Beispiel für häu gere
Urlaube verwendet, die ökologisch negative Effekte aufwei-
sen. Santarius (2015) unterscheidet ökonomische, psycholo-
gische und soziale Rebound-Effekte: Auf ökonomischer Ebe-
ne treten u. a. durch Einkommens- und Substitutionseffekte,
z. B. in Folge einer Arbeitszeitverkürzung, Rebounds auf der
Mikro-, Meso- und Makroebene auf und verstärken sich dabei
gegenseitig (vgl. Santarius, i. E.); psychologische Rebounds
können auftreten, wenn sich durch Ef zienzsteigerungen,
z.B. im Zuge einer Industrie 4.0, der symbolische Wert von
Dingen verändert; soziale Rebounds lassen sich u. a. in Fol-
ge der sozialen Beschleunigung (vgl. Rosa 2005) beobachten.
Eine Arbeitswelt 4.0 bietet demnach nicht bloß Chancen für
Zeitwohlstand als gesellschaftliches Leitbild, sondern stellt
dieses auch vor neue Herausforderungen.
3. Methodisches Vorgehen
Das Herausarbeiten der verschiedenen Facetten von Zeit-
wohlstand sowie deren Suf zienz-Chancen und Rebound-
Risiken im Rückgriff auf die eingangs formulierte Arbeits-
hypothese soll in drei methodischen Schritten erfolgen:
In einem ersten Schritt wird der Diskurs um eine Transfor-
mation der Arbeits- und Konsumweise im Kontext sozial-öko-
logischer Transformationen mittels der Diskursanalyse von
Keller (2011) rekonstruiert, um darüber die relevanten Nar-
rative und ihre Phänomenstrukturen herauszu ltern. Mit-
tels einer Inhaltsanalyse wird der wissenschaftliche Diskurs
über einen sozial-ökologischen Wandel einer digitalisierten
Arbeitswelt mit Beginn der Wirtschaftskrise 2007 analysiert.
Auf diesem Weg werden Widersprüche und Gemeinsamkeiten
zwischen verschiedenen Diskursfeldern deutlich gemacht und
einzelne Narrative auf ihre Plausibilität hin überprüft. Dabei
werden zugrunde liegende Normen und Zielvorstellungen he-
rausgestellt und relevante Rahmenbedingungen bestimmt.
Insbesondere soll aufgezeigt werden, inwiefern Zeitwohl-
stand als mögliches Leitbild einer digitalisierten Arbeitswelt
4.0 hinreichende Antworten auf die multiplen Krisen der do-
minanten Arbeits-, Konsum- und Lebensweisen geben kann.
Im zweiten Schritt werden die Motive von Zeitpionier/-innen
und transformativen Unternehmer/-innen für eine Verände-
rung ihrer Produktions- und Arbeitsweisen herausge ltert.
In Anlehnung an die Arbeiten von Hörning (1990) werden
in qualitativen Interviews Motive, Erfahrungen, Hindernisse
und günstige Rahmenbedingungen für einen veränderten
Umgang mit Zeit aus ndig gemacht. Ziel ist es, durch Einbe-
zug der individuellen Ebene zu einem besseren Verständnis
für organisationale und soziale Schwellen (vgl. Enquete WWL
2013) von Zeitwohlstand zu gelangen sowie Suf zienz-Chan-
cen und Rebound-Risiken hervorzuheben.
In einem dritten Schritt stehen zeitpolitische Implikationen
einer Transformation der Arbeits- und Konsumweise im
Fokus. In Zukunftswerkstätten werden im Sinne transfor-
mativer Forschung Beschäftigte, Unternehmer/-innen und
Gewerkschafter/-innen gemeinsam zeitpolitische Instrumente
entwickeln, die sich am Leitbild Zeitwohlstand orientieren.
4. Zeitwohlstand: eine sozial-ökologische Ant-
wort auf eine Arbeitswelt 4.0?
Als Ergebnis der Diskursanalyse wird erwartet, dass im Leit-
bild Zeitwohlstand die Dichotomie von Erwerbsarbeit und
sonstigen Tätigkeiten (Subsistenz-, Fürsorge-, Gemeinwohl-
tätigkeiten etc.) zwar nicht gänzlich aufgehoben wird, aber
die Grenzen zwischen beiden Sphären ebenso verschwinden
wie ihre Hierarchisierung. Auch die Dichotomie von Produk-
tion und Konsum wird voraussichtlich in diesem Leitbild im
Rahmen einer modernen Subsistenz aufgeweicht. Das Leit-
1 Illich bezeichnet Technologien als konvivial, wenn sie gesellschaft-
lich eingebettet sind und zur freien Entfaltung des Menschen
beitragen, anstatt ihn durch industrielle Massenproduktion zu
entmündigen.
2 Time-Rebound-Effekte treten auf, wenn nach verkürzter Arbeits-
zeit, die gewonnene freie Zeit mit ökologisch nicht nachhaltigen
Tätigkeiten, wie Kurzurlauben etc. verbracht wird. Der ökologische
Einspareffekt durch die Arbeitszeitverkürzung und in der Regel
einhergehender Lohnkürzung wird dadurch reduziert oder teilwei-
se auch überstrapaziert (sog. Backfi re).
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 39
bild Zeitwohlstand greift sowohl die Künstlerkritik als auch
die ökologische Kritik an der Arbeitswelt produktiv auf. Es
wird jedoch erwartet, dass die Analyse dieses Leitbilds auf-
zeigt, dass sich bzgl. der Integration der Sozialkritik Schwach-
stellen zeigen werden.
Während Zeitwohlstand v. a. Fragen der (Zeit-)Autonomie
und der sozial-ökologischen Konsumweise aufgreift, wird er-
wartet, dass die Interviews hervorheben, dass vielfach auch
soziale Fragen als grundlegende Motive für Zeitpioniere/-
innen gelten. Hier können sich durchaus ambivalente Ergeb-
nisse ergeben: Zum einen verhindern soziale Schwellen eine
gewandelte Arbeits- und Konsumweise, zum anderen verän-
dert die zunehmende Prekarisierung von Teilen der Arbeits-
welt auch die zugrundeliegenden Rationalitäten. Dabei ist zu
erwarten, dass die Motive der Unternehmer/-innen andere
sind. Doch auch hier werden Erfahrungen mit der Auswei-
tung und Beschleunigung der Produktion gemacht, die, an-
statt Wohlstand zu generieren, die Unternehmen vielmehr
vor neue Herausforderungen stellen.
Die neuen Entwicklungen einer Digitalisierung der Arbeits-
sowie der Konsumwelt schaffen Voraussetzungen für eine
suf ziente Lebensweise, können dieses Potenzial jedoch nur
entfalten, wenn die (zeitpolitischen) Rahmenbedingungen
Rebound-Effekte eindämmen. Ein gesellschaftliches Leitbild
Zeitwohlstand muss die Suf zienz-Chancen einer Arbeits-
welt 4.0 integrieren und Antworten auf die Herausforderung
der Rebound-Risiken nden, wenn es zu einem sozial-ökolo-
gischen Wandel der Konsum- und Arbeitsweise beitragen soll.
Dipl.-Volksw. Gerrit von Jorck ist wissenschaftlicher Mitar-
beiter am Institut für Beru iche Bildung und Arbeitslehre im
Fachgebiet Arbeitslehre/Ökonomie und Nachhaltiger Kon-
sum der Technischen Universität Berlin. Der Beitrag ist eine
Vorarbeit für seine Dissertation.
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BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
40 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
BJÖRN GERNIG
Zeitautonomie und Zeitstrukturen
Zeitpolitik braucht passende empirische Instrumente zur
Analyse und Evaluation. Der naheliegende Untersuchungs-
bereich von Zeitverwendungsdaten beschränkt sich dabei
weitgehend auf ein sehr allgemeines, hoch aggregiertes Ni-
veau, was zeitpolitisch wichtige Aspekte wie Zeitstrukturen,
zeitliche Lagen, Sequenzen und Synchronisation individuell
wie kollektiv nicht ausreichend berücksichtigt. Während es
bspw. verschiedene Ansätze zur Messung von Zeitnot anhand
von Zeitverwendungsdaten gibt, dient als Grundlage im-
mer bloß die aggregierte Dauer von bestimmten Tätigkeiten
(bspw. Erwerbsarbeit oder „Freizeit“) als Maßstab, ohne den
jeweiligen zeitlichen Kontext mit einzubeziehen. In meiner
Dissertation greife ich verschiedene Ansätze der Zeitnot-
analyse auf und zeige mit neuen Daten der repräsentativen
Zeitverwendungserhebung des statistischen Bundesamts wie
z. B. Zeitstrukturen, Timing, Dauer, Sequenz und Routine mit
neuen Methoden der sozialen Sequenzanalyse erfasst und
analysierbar gemacht werden können. Ich zeige, dass die rei-
ne Dauer von Tätigkeiten, mit Ausnahme von Sport/Hobbies,
Medienkonsum und P ege,keinen Ein uss auf empfundenen
Zeitstress haben. Die zeitliche Organisation des Alltags er-
klärt allerdings fast die Hälfte der Varianz der empfundenen
Zeitnot. Mit diesem Instrumentarium, von mir erstmals auf
deutsche Zeitverwendungsdaten angewandt, kann Zeitpolitik
zeitliche Problemlagen und Kon ikte empirisch aufzeigen,
um Veränderungen anzustoßen und zu evaluieren.
Zeitnot und Zeitautonomie
Der boomende Markt der Zeitmanagement-Ratgeber (Ama-
zon.de listet bspw. 2.075 Bücher zum Thema) und der Erfolg
von theoretischen Zeitdiagnosen wie Hartmut Rosas sozialer
Beschleunigung weisen auf weit verbreitetes Gefühl hin: sub-
jektive Zeitnot, also einen Mangel an Kontrolle über die eige-
ne Zeitverwendung. Die Wichtigkeit dieses Grundgedankens
schlägt sich mittlerweile auch in der Politik nieder. Der achte
Familienbericht der Bundesregierung Zeit für Familie sieht in
der zeitlichen Selbstbestimmung von Familien einen Indika-
tor für gelungene Familienpolitik, ein Recht auf Zeit wird als
grundlegendes Menschenrecht diskutiert (Fitzpatrick 2004:
198; Mückenberger 2004: 281-287; Ost 1999: 31) und wurde
in einem Entschluss des Europarats bereits verankert (Rec
295 (2010) und Res 313 (2010), Mückenberger 2011). Diese
Arbeiten sind eher theoretisch-konzeptionell gehalten, ein
breit akzeptiertes objektives Maß für Zeitnot oder zeitliche
Selbstbestimmung gibt es nicht. Die Wissenschaft erarbeitet
verschiedene Ansätze, zumeist können diese unter dem Be-
griff Zeitarmut bzw. Zeitstress gefasst werden. Weit weniger
häu g sind Arbeiten zum Konzept Zeitwohlstand (siehe bspw.
DGfZP Jahrestagung 2011 bei Gernig 2011). Fast alle Ansätze
verwenden Daten aus Zeitbudgeterhebungen. In diesen Er-
hebungen (in Deutschland durchgeführt vom Statistischen
Bundesamt) füllen Teilnehmer Zeittagebücher aus, indem
sie bspw. in 10-Minuten-Intervallen eintragen, wo und mit
wem sie gerade welche Haupt- und Nebenaktivität ausführen.
Zusammen mit anderen Daten lassen sich so Zeitmengen für
Erwerbs- und unbezahlte Arbeit, Sorgetätigkeiten oder Frei-
zeit berechnen und diese Verteilung auf sozio-demogra sche
Merkmale beziehen. Zusammen mit einer jeweils theoretisch
bestimmten „Zeitarmutsgrenze“ (wie bspw. verfügbare Rest-
zeit abzüglich aller Arbeit und Schlafens- und Essenszeit) las-
sen sich so soziale Gruppen nden, die eben unter Zeitarmut
leiden – wenig überraschend immer alleinerziehende Mütter
in schlecht bezahlten Jobs. Es gibt auch Ansätze, die das Phä-
nomen von der subjektiven Seite aus betrachten („Fühlen Sie
Zeitstress?“), und nur ganz wenige Ansätze vereinen beides.
Doch zwei bedeutsame Aspekte werden außen vor gelassen:
Zeitautonomie und sozial-zeitlicher Kontext (Gernig & Carius
2010). Damit würde Zeitverwendung nicht länger dekontex-
tualisiert und standardisiert: Angenommen, eine zeitreiche
Person hat pro Woche 28 Stunden Freizeit, so muss die Fra-
ge gestellt werden; wann die Freizeit statt ndet: Immer bloß
abends zwischen 23 und 3 Uhr nachts oder nie mit der Fami-
lie zusammen?
Relevant ist also nicht das Was der Zeitverwendung, es ist das
Wie: statt wie viel Zeit hat man ist die Frage: wie viel Kon-
trolle haben die Menschen über ihre Zeit. Soziale Zeitstruk-
turen, der kollektive Rahmen individueller Zeitverwendung,
müssen genauso beachtet werden wie etwa Zeitpunkte, Dau-
ern und Synchronisationen. Das Konzept der Zeitautonomie
beschreibt, wie viel selbstbestimmte Zeit eine Person über die
Allokation ihrer Zeit hat – innerhalb der gegebenen sozialen
Zeitstrukturen. Zeitautonomie kann somit nicht Freiheit von
allen Zeitbindungen bedeuten, sie ist relational, da sie in so-
zialen Kontexten entsteht, sich darin entwickelt und manife-
stiert. Es geht auch nicht um Freizeitmaximierung, sondern
um den Grad zeitlicher Kontrolle sowohl über die Dinge, die
man tun muss als auch tun möchte. Diese Kontrolle ist wich-
tig für Vorhersagbarkeit, Planbarkeit und auch Sicherheit zu-
sammen mit adäquater Flexibilität. Zeitautonomie ist für das
Individuum bedeutsam, da sie die „erfolgreiche“ zeitliche Or-
ganisation des Alltags ermöglicht. Mangelnde Zeitautonomie
führt also zu Zeitnot – losgelöst von der Art der Aktivitäten.
Dieser Grundgedanke ist z. B. in Goodin, Rice et al. (2008)
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 41
bereits ausformuliert, dort jedoch wieder mit aggregierten
Summenzeiten für Aktivitäten auf Wochenbasis berechnet.
Folgt man dem Ansatz von Zeitautonomie, dann müssen ande-
re Instrumente zur Berechnung von Zeitnot gefunden werden.
Um unter diesen Prämissen zeitproblematische Alltagsver-
läufe zu bestimmen, eignet sich die neue Zeitverwendungser-
hebung des Statistischen Bundesamts. In dieser repräsenta-
tiven Befragung haben in 4775 Haushalten 12.254 Personen
32.105 Zeittagebücher in 10-Minuten-Einheiten (also 144
Abschnitte pro 24 Stunden) sowie persönliche Fragebögen
ausgefüllt. Zeitnot wurde subjektiv erhoben: Die Aussage „Ich
fühle mich häu g unter Zeitdruck“ war mit einer 5er-Skala,
von 1 stimme ganz und gar nicht zu bis 5 stimme voll und
ganz zu zu bewerten. Folgt man den Prämissen bisheriger
Zeitnot-Berechnungen, müsste die Dauer von Aktivitäten
einen Ein uss auf die empfundene Zeitnot haben. Grob ge-
sagt, müssten Erwerbs- und Hausarbeit die Zeitnot erhöhen,
Freizeit hingegen die Zeitnot verringern. Da empfundene
Zeitnot als Variable in 5 Stufen vorliegt, lässt sich dieser Ein-
uss mit einer ordinalen logistischen Regression abschätzen
(s. Abb. 1). Die summierten Zeiten der in den Zeittagebüchern
aufgezeichneten Hauptaktivitäten inklusive Wegezeiten von
Personen ab 10 Jahren wurden in 10 Bereiche geteilt: 1. Er-
werbsarbeit, 2. Persönlich-physiologisches (Schlafen, Essen,
Trinken, Waschen, etc.), 3. Quali kation/Bildung, 4. Haus-
haltsführung und Betreuung in Familie, 5. Ehrenamt, 6. Sozi-
ales Leben/Unterhaltung, 7. Sport/Hobbies/Spiele, 8. Medi-
en (TV, lesen, etc.). Für diese Analyse habe ich zunächst den
Bereich 4 aufgeteilt in Haushaltsarbeit einerseits und care im
engeren Sinne (4a Kinderbetreuung und 4b P ege).
Die Berechnung stützt die Annahmen der bisherigen Ansät-
ze von Zeitnot: Jede Stunde Erwerbsarbeit erhöht die Odds
(die „Chancen“) einer höheren Stufe von Zeitdruck signi -
kant um 7 % (die Chancen, nach einer zusätzlichen Stunde
Erwerbsarbeit höheren Zeitdruck zu fühlen, stehen 1,07:1).
Auch Kinderbetreuung und P ege erhöhen die Odds einer
höheren Stufe von Zeitdruck hoch signi kant. P ege erhöht
die Odds am meisten: jede Stunde P ege erhöht die Odds ei-
ner höheren Stufe von Zeitdruck fast um 50 % (1,48:1). Qua-
li kation/Bildung ist nicht signi kant. Alle anderen Aktivi-
täten verringern die Odds einer höheren Stufe von Zeitdruck
signi kant. So senkt jede Stunde Medienkonsum die Odds
einer höheren Stufe von Zeitdruck um mehr als ein Viertel
(28 %, also 0,72:1). Doch dieses Modell berücksichtigt keine
weiteren Variablen, wie Sozio-Demogra e (Alter, Geschlecht,
Einkommen, Haushaltstyp, etc.) und Variablen, die sich auf
den zeitlichen Kontext beziehen, wie bspw. Arbeitszeitgestal-
tung, Wochenendarbeit, etc. Nimmt man diese Variablen in
das Modell hinein, verlieren die meisten Aktivitätsdauern
ihre Signi kanz, der Zeitdruck wird also von anderen Varia-
blen erklärt (s. Abb. 2).
Abb.1: Ein uss der Aktivitätsdauer pro Stunde auf Zeitdruck,
ordinale logistische Regression
Odds
Logit Ratios
Erwerbsarbeit 0,065* 1,07
Persönlich-physiologisches -0,110 *** 0,89
Bildung 0,027 1,03
Haushalt -0,071 * 0,93
Kinderbetreuung 0,256 *** 1,29
Pfl ege 0,392 *** 1,48
Ehrenamt -0,082 * 0,92
soziales Leben/Unterhaltung -0,132 *** 0,88
Sport/Hobby -0,253 *** 0,78
Medien -0,321 *** 0,72
R2 (Nagelkerke) 18,4 %
Abhängige Variable: Zeitdruck, 5er Skala, N = 10708
* p<.05, ** p<.01, *** p<.001
rote Werte erhöhen, grüne verringern Zeitdruckodds
Schwellenwerte aus Platzgründen ausgespart
Abb.2: Ein uss der Aktivitätsdauer pro Stunde auf Zeitdruck,
ordinale logistische Regression
Odds
Logit Ratios
Erwerbsarbeit 0,004 1,00
Persönlich-physiologisches -0,015 0,99
Bildung 0,048 1,05
Haushalt 0,031 1,03
Kinderbetreuung -0,012 0,99
Pfl ege 0,284* 1,33
Ehrenamt 0,017 1,02
soziales Leben/Unterhaltung -0,041 0,96
Sport/Hobby -0,111** 0,89
Medien -0,129*** 0,88
Tag planen 1 4,158 *** 63,95
Tag planen 2 3,119 *** 22,62
Tag planen 3 2,253 *** 9,52
Tag planen 4 1,572 *** 4,82
Tag planen 5 0a
R2 (Nagelkerke) 47,3 %
Abhängige Variable: Zeitdruck, 5er Skala, N = 10708
* p<.05, ** p<.01, *** p<.001, a.Vergleichskategorie
rote Werte erhöhen, grüne verringern Zeitdruckodds
aus Platzgründen ausgespart: Schwellenwerte und folgende
Variablen: Geschlecht, äquivalenzgewichtetes Haushaltsnetto-
einkommen, Haushaltstyp, soziale Stellung, Bildung,
Voll-/Teilzeit, Schichtarbeit, Zweitjob, Wochenendarbeit, Ar-
beitszeitarrangement, Erwerbstätigkeit des Partners,
Anzahl der Erwerbstätigen im Haushalt, Differenz
gewünschte-tatsächliche Arbeitszeit, Alter, Alter², Alter³
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
42 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
Nach Hereinnahme dieser Variablen haben sich die Logits (und
damit die Odds) der Aktivitätsdauern wie Erwerbsarbeit nicht
nur verkleinert, sondern bis auf P ege, Sport/Hobbies und
Medien sind sie nicht mehr signi kant. Während jede Stunde
P ege die Odds einer höheren Kategorie von Zeitdruck um ein
Drittel (33 %, 1,33:1) signi kant erhöht, verringert jede Stun-
de Sport/Hobbies und Medienkonsum die Odds für höhere
Kategorien von Zeitdruck hoch signi kant um 11 % bzw. 12 %.
Als ein Stellvertreter für Zeitautonomie dient hier die Variable
„Tag planen“: alle Befragten über 10 Jahre beantworteten mit
einer 5er-Skala von 1 stimme voll und ganz zu bis 5 stimme
ganz und gar nicht zu die Aussage „Ich bin darauf angewiesen,
den Tag zu planen“. Die Ergebnisse sind eindeutig (s. Abb. 2):
Vergleichsbasis sind alle, die angaben, auf Tagesplanung nicht
angewiesen zu sein („Tag planen 5“). Im Vergleich zu dieser
Gruppe sind die Odds auf eine höhere Stufe Zeitdruck der Men-
schen, die der Aussage voll und ganz zustimmten, um fast das
64-fache höher (63,95:1). Wer also nur geringe Grade an zeit-
licher Kontrolle über die alltägliche Zeitverwendung hat, muss
die auftretenden zeitlichen Kon ikte lösen, indem der Tag so
geplant werden muss, dass die Aktivitäten sich in die indivi-
duellen und kollektiven Zeitstrukturen einfügen. Mit entspre-
chend höherer zeitlicher Kontrolle gelingt dies zeitstressfreier.
Hiermit wird deutlich, dass die zeitliche Lage, Dauer und Ab-
folge von Aktivitäten einen gro ßen Ein uss auf empfundenen
Zeitstress nehmen. Doch die bisherigen, auf Summenzeiten
basierenden, Ansätze konnten die zeitliche Lage und Abfol-
ge von Aktivitäten nicht einbeziehen. Ich möchte daher kurz
Zeitstrukturen näher beleuchten. Die soziale Sequenzanalyse
erlaubt es, Zeitstrukturen zu visualisieren. Wir beginnen mit
einem Komplettquerschnitt durch die Gesellschaft, getrennt
nach Werktagen (Montag–Freitag) und Wochenende (Sams-
tag, Sonntag), sortiert nach Alter (s. Abb. 3).
Jede Linie des Sequenzindexplots zeigt eine tatsächlich so
aufgezeichnete Sequenz eines Zeittagebuchs, angefangen
um 4 Uhr nachts, 24 Stunden lang bis 3:59 Uhr. Unten sind
die Zehnjährigen, oben die über 85-jährigen. Werktags er-
kennt man zunächst Schule und Studium (rosa), dann das
Erwerbsleben (grün) mit allen anderen Anforderungen wie
Haushalt und Familie, danach die Rente (viel rot und oran-
ge). Im Schnitt steht Deutschland um 7 Uhr auf, isst um 13
Uhr Mittag, schaltet um 20 Uhr den Fernseher ein und geht
um 22 Uhr schlafen. Diese Struktur ist an allen Werktagen
gleich, mit Ausnahme von Freitag, wenn die Menschen eher
Feierabend machen, viel später und länger Abendessen und
viele dann noch ausgehen. Das Wochenende beginnt sozusa-
gen Freitag um 18 Uhr, es hat eine andere zeitliche Struktur:
alle schlafen länger, essen länger, haben mehr Zeit für Sport,
Hobbies und Soziales. Dies kann man auch als gesellschaft-
liche Rhythmen bezeichnen. Diese Zeitstrukturen werden im
Kollektiven durch die soziale Organisation von (Erwerbs)-
Arbeit sowie Öffnungszeiten etc. bestimmt. Den Tag synchron
zu diesen kollektiven Zeitstrukturen zu organisieren scheint
erstrebenswert. Aber es gibt auch Zeitstrukturen und Syn-
chronisationsanforderungen auf der individuelleren Ebene,
etwa in Haushalt und sozialem Umfeld. Zeitautonomie hilft,
die eigenen mit anderen zeitlichen Anforderungen vereinbar
zu machen. Um diese individuellere Ebene zu analysieren,
habe ich mit optimal matching Sequenzen (die Tagebuch-Ta-
ge) geclustert, so dass ähnliche Sequenzen ein Cluster erge-
ben. Für Werktage (Mo-Fr) ergaben sich folgende 12 Cluster,
die nun als Tempogramm dargestellt werden (s. Abb. 4):
Abb. 3: Sequenzindexplot Werktag und Wochenende,
sortiert nach Alter, N=20678& 11427
Abb.4: 12 Werktags-Cluster, Legende s. Abb. 3
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 43
Abb. 4 zeigt nun keine tatsächlichen Sequenzen, sondern
Häu gkeiten von Tätigkeiten pro 10-Minuten Abschnitt des
Tagebuchtags zwischen 4:00 Uhr und 3:59 Uhr. Solche Clu-
ster berücksichtigen nicht nur die Dauer (wie bisherige An-
sätze zu Zeitnot), sondern auch die zeitliche Lage von Akti-
vitäten. So kann man die Clusterzugehörigkeit als erklärende
Variable in die Analyse von Zeitdruck einbeziehen. Exem-
plarisch nehmen wir Cluster 11 als Vergleichscluster. In die-
sem Cluster sind die meisten darauf angewiesen, den Tag zu
planen. Das Cluster besteht aus 72,1 % Frauen, 90,2 % sind
zwischen 25 und 65 Jahre alt, 55,8 % sind angestellt, 53,1 %
arbeiten Teilzeit, 94,6 % haben hohe oder mittlere Bildung,
67,8 % haben einen vollzeitarbeitenden Partner, 40,5 % sind
Paare mit Kindern, 71,7 % haben ein überdurchschnittliches
Einkommen, 26,9 % würden gerne mehr, 21,4 % gerne weni-
ger erwerbsarbeiten. Man könnte meinen, in diesem Cluster
hätten alle genügend Zeit für alle Aktivitäten: Die Arbeits-
zeit ist nicht allzu lang, es gibt scheinbar genügend Zeit für
Haushalt sowie soziale Kontakte und Fernsehen. Welchen
Ein uss hat nun die Zeitstruktur dieses Clusters auf Zeit-
druck im Vergleich zu den anderen Clustern (s. Abb. 5)?
Odds
Logit Ratios
Cluster 1 -0,114 0,89
Cluster 2 -0,178 0,84
Cluster 3 -0,012 0,99
Cluster 4 -0,396 *** 0,67
Cluster 5 -0,444 *** 0,64
Cluster 6 -0,069 0,93
Cluster 7 -0,022 0,98
Cluster 8 -0,308 *** 0,73
Cluster 9 -0,401 *** 0,67
Cluster 10 -0,352 *** 0,70
Cluster 12 -0,250* 0,78
Cluster 11 0a
R2 (Nagelkerke) 28,1 %
Abb.5: Ein uss der Clusterzugehörigkeit auf Zeitdruck,
ordinale logistische Regression
Abhängige Variable: Zeitdruck, 5er Skala, N = 10644
* p<.05, ** p<.01, *** p<.001, a.Vergleichskategorie
rote Werte erhöhen, grüne verringern Zeitdruckodds
aus Platzgründen ausgespart: Schwellenwerte und
Kontrollvariablen wie in Abb. 2.
Alle anderen Cluster haben negative Logits, d. h. im Vergleich
zu Cluster 11 haben alle anderen Cluster geringere Odds auf
höhere Stufen von Zeitdruck (bspw. hat Cluster 10 30 % ge-
ringe Odds auf höheren Zeitdruck, die Chancen stehen 0,7:1).
Allerdings sind nur Cluster 4, 5, 8, 9 und 10 hoch signi kant.
Menschen, deren Werktag Cluster 11 entspricht, haben also
eher Zeitdruck als alle anderen. In diesem Cluster, nennen
wir es „halbtagsarbeitende Ehefrau mit Familie“ reicht also
scheinbar die zeitliche Kontrolle über die Dinge, die erledigt
werden müssen und die man selber gerne machen würde,
nicht aus. Es wird gearbeitet, während der Ehemann (z. B.
Cluster 7) auch arbeitet und die Kinder in der Schule sind
(Cluster 3), danach werden Haushalt und Kinder versorgt,
abends gibt es noch gemeinsames Fernsehen. Innerhalb die-
ser starren Zeitstrukturen müssen Menschen in Cluster 11 die
an sie gestellten zeitlichen Ansprüche koordinieren, was bei
mangelnder zeitlicher Kontrolle zu Zeitstress führt.
Diese Analyse bezieht zwar das Timing von Aktivitäten ein,
allerdings wurden bisher nur Hauptaktivitäten und keine Ne-
benaktivitäten einbezogen. Gerade im Bereich Care, in dem
oftmals Tätigkeiten nebenher erledigt werden, sind genauere
Analysen vorzunehmen. Daher wende ich in meiner Disserta-
tion erstmals eine Multi-Kanal-Sequenzanalyse auf deutsche
Zeitverwendungsdaten an, um Haupt- und Nebenaktivitäten
in Abhängigkeit voneinander zu untersuchen. Des Weiteren
wende ich erstmals eine Analyse mit Modellen von Markow-
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
44 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
ketten variabler Länge auf die Zeitverwendungsdaten an, um
zu analysieren, welche Auswirkungen vorherige Tätigkeiten
auf nachfolgende Tätigkeiten haben. Zusätzlich zu zeitlicher
Lage und Dauer analysiere ich so auch die Reihenfolge der
Tätigkeiten. Zusammen mit der Proxy-Variablen „Tag pla-
nen“ für Zeitautonomie, wird eine erstmals tiefgehende und
über rein ökonometrische Berechnungen hinausgehende
Analyse von Zeitnot in Zusammenhang mit kollektiven und
individuellen Zeitstrukturen vorliegen.
Damit hat die Zeitpolitik dann ein Instrument an der Hand,
um empirisch Problemlagen zu erkennen, zu beschreiben und
hoffentlich Lösungsempfehlungen geben zu können.
Björn Gernig promoviert an der Bremen International Gra-
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STEFAN VORDERSTRASSE
Systemtheoretische Überlegungen zu Zeit und
Politikberatung: Grundlagentheoretische Erwägungen
und praktische Implikationen
1. Einleitung
Das Verhältnis von Politik und Zeit wurde in der Politik-
wissenschaft oftmals vernachlässigt. Die Disziplin hat über
einen längeren Zeitraum kaum von der perspektivenreichen
zeitsoziologischen Debatte pro tiert. Dementsprechend ist
auch die Bedeutung von Zeit in Strukturen und Prozessen
der Politikberatung nur vereinzelt thematisiert worden (vgl.
u. a. Bonß 1995; Heitkötter/Schneider 2004; Böschen/Weiß
2007; Steiner 2009). Dabei liegen systemtheoretische Über-
legungen zum Verständnis von „Zeit“, zu den „Zeitstrukturen
sozialer Systeme“ und zur „Zeit der Gesellschaft“ – zwar ver-
streut, aber in hoher Qualität – vor (vgl. u. a. Luhmann 1971,
1990; Bergmann 1981; Nassehi 2008). Das Thema „Politik-
beratung“ ist im Gegensatz dazu seit weit mehr als einer De-
kade in den unterschiedlichen Disziplinen sattsam diskutiert
(vgl. Falk et al. 2006; Bröchler/Schützeichel 2008) und in
der jüngeren Vergangenheit auch verstärkt in systemtheo-
retischer Perspektive in den Blick genommen worden (vgl.
Kusche 2008; Steiner 2009). In der Studie „Zeit und Politik-
beratung. Eine systemtheoretische Analyse“ (Vorderstraße
2014) nden sich Konzepte und Begrif ichkeiten der beiden
weitgehend getrennt voneinander geführten Diskurse, die mit
den Mitteln systemtheoretischer Analyse aufeinander bezo-
gen werden. Im vorliegenden Beitrag werden ausgewählte
Perspektiven auf die Bedeutung von Zeit in Strukturen und
Prozessen der Politikberatung vorgestellt. Es wird zunächst
die Fragestellung und darauf folgend die methodologische
Basis der Untersuchung dargelegt. In einem dritten Schritt
werden die in der Studie gewonnenen Resultate in Form von
theoretischen und praktischen Implikationen knapp resü-
miert, bevor viertens ausgewählte zeitpolitische Implikati-
onen skizziert werden.
2. Fragestellung
Die Untersuchung befasst sich aus systemtheoretischer Per-
spektive mit der Bedeutung des Faktors Zeit in Strukturen
und Prozessen der Politikberatung. Vor dem Hintergrund
der für die funktional differenzierte Gesellschaft typischen
Beschleunigungsprozesse (vgl. grundlegend Rosa 2005) wird
Politik aktuell mit einem enormen Koordinierungs- bzw. Syn-
chronisationsbedarf sowie mit einer stets gegenwärtig ent-
scheidungsabhängigen und unsicheren Zukunft konfrontiert.
Ein Bedarf an Politikberatung entsteht erstens ausgehend
von einer mehrfach diversi zierten sozialen Gleichzeitigkeit
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 45
(Problem der Gleichzeitigkeit). Politikberatung erscheint
zweitens als Versuch, mit dieser stets unstetigen sozialen
Gleichzeitigkeit Schritt zu halten und damit als ein Prozess,
welcher unter der Bedingung permanenter gesellschaftlicher
Gleichzeitigkeit statt ndet (Problem der Synchronisation
trotz unterschiedlicher Geschwindigkeiten). Drittens sieht
sich (je gegenwärtige) Politik und (je gegenwärtiges) po-
litisches Entscheiden einer (gegenwärtig je) unbekannten
Zukunft ausgesetzt (Problem der ungewissen Zukunft).
Verschiedenste Einrichtungen und Formen der Politikbera-
tung sollen helfen, mit diesen Herausforderungen Schritt zu
halten. In der Studie geht es darum, zu klären, wie und ob
Politikberatung vor dem Hintergrund der kontemporären
spätmodernen Gesellschaft funktionieren kann und welche
Funktion der Politikberatung hinsichtlich der Entscheidungs-
ndung politischer Akteure unter Berücksichtigung der Zeit-
dimension zukommt.
3. Methodologie
Die Untersuchung ist als grundlagentheoretische Auseinan-
dersetzung mit der Bedeutung von Zeit in Fragen der Poli-
tikberatung angelegt. Mittels einer theoriegeleiteten Analyse
wurden Konzepte und Begrif ichkeiten der modernen sozi-
ologischen Systemtheorie zur Bearbeitung der Fragestellung
fruchtbar gemacht. Im Sinne eines operativen Konstruktivis-
mus wurde davon ausgegangen, dass jegliche Erkenntnis das
Ergebnis einer sozialen oder psychischen Beobachtung und
Beschreibung – also ein Konstrukt des Geistes – ist. Die Be-
zeichnung „operativer Konstruktivismus“ gibt an, wie sich Sy-
steme durch Selbsterzeugung ihrer Grenzen infolge eigener,
aneinander anschließender Operationen von ihrer Umwelt
abgrenzen (vgl. grundlegend Luhmann 2005). Ausgehend
vom Sinnbegriff als Grundbegriff der Systemtheorie (vgl.
Schützeichel 2004) wurden soziale Systeme als temporal-
komplexe Systeme gefasst, die zugleich durch Stabilität und
basale Instabilität gekennzeichnet sind. Dementsprechend
wurde Zeit als soziale Kategorie und gesellschaftlich bedingt
identi ziert. Dieses Verständnis von Zeit als soziale Zeit, wie
in der Zeitsoziologie üblich, erlaubte die Akzentuierung der
Zeitdimension des Sozialen in gesellschaftstheoretischer Per-
spektive. Die der Studie zugrunde gelegte Konzeption sozialer
Zeit fußt auf der Verknüpfung dreier analytischer Stränge, i.E.
der Primärdifferenzierung der Gesellschaft, der Ausformung
der Dimensionen des Sozialen sowie von Zeitverständnissen
und -konzepten (Vorderstraße 2014: 86ff., 171 ff.).
Der Analyserahmen der Untersuchung (ebd.: 29ff.) wurde in
der Zusammenschau der drei Sinndimensionen – der Sache,
des Sozialen und der Zeit – aufgespannt. Unter Akzentuie-
rung der Zeitdimension wurde Zeit als Querschnittsthema
von Sach-, Sozial- und Zeitdimension angelegt, so dass evolu-
tionstheoretische Erklärungsmuster, Elemente einer Theorie
sozialer Systeme und der Kommunikationstheorie für die Auf-
klärung der Bedeutung von Zeit in Fragen der Politikberatung
gleichermaßen temporaltheoretisch befragt werden konnten.
Dies fand weiterhin durch die mittels der Evolutionstheorie
in Szene gesetzten und die Untersuchung anleitenden Unter-
scheidung von Vormoderne/(Spät-)Moderne Ausdruck (ebd.
41 ff.). Die drei Dimensionen des Sozialen korrespondieren im
Falle der Sachdimension mit der System-, im Falle der Zeit-
dimension mit der Evolutions- und im Falle der Sozialdimen-
sion mit der Kommunikationstheorie, was eine Aufklärung
der Funktion von Politikberatung für das politische System
ermöglichte (primärtheoretischer Teil der Studie).
Die jeweils korrespondierenden Sinndimensionen und The-
oriestränge sind im sekundärtheoretischen Teil der Studie
vermittels der Rezeption der wissenschaftstheoretischen bzw.
zeitdiagnostischen Diskurse zur Wissens-, Risiko- und Me-
diengesellschaft je schwerpunktmäßig in Szene gesetzt. Auf-
bauend auf den Ergebnissen der primärtheoretischen Überle-
gungen konnten die für die politischen Akteure aufgrund der
gesellschaftlichen Komplexität problematischen und mittels
Politikberatung zu lösenden Herausforderungen der Unsi-
cherheit, der Ungewissheit und der Unberechenbarkeit ge-
sellschaftlich bindender Entscheidungen re ektiert werden.
Während die Problematik der Ungewissheit in erster Linie in
der Zeitdimension verortet und mit dem Diskurs zur Risiko-
gesellschaft ins Gespräch gebracht wurde, ist selbiges für den
Begriff der Unsicherheit hinsichtlich der Sachdimension und
die Debatte zur Wissensgesellschaft sowie für das Problem
der Unberechenbarkeit mit Blick auf die Sozialdimension und
die Verhandlungen zur Mediengesellschaft geschehen. Dieses
Vorgehen ermöglichte die Analyse der Bedeutung von Politik-
beratung für politische Entscheidungsträger.
4. Resultate
Die Ergebnisse der Untersuchung sind auf den analytischen
Rahmen abgestimmt als theoretische (primärtheoretischer
Teil) und praktische Implikationen (sekundärtheoretischer
Teil) festgehalten (Vorderstraße 2014: 349ff., 381ff.). Wäh-
rend an dieser Stelle wesentliche theoretische Implikationen
und insbesondere die Bedeutung von Politikberatung für das
politische System skizziert sind, werden ausgewählte Ergeb-
nisse des sekundärtheoretischen Teils und insbesondere die
Bedeutung von Politikberatung für politische Entscheidungs-
träger in Form zeitpolitischer Implikationen im folgenden
Abschnitt vorgestellt.
Das Ziel des primärtheoretischen Teils der Untersuchung lag
in der Aufklärung der Bedeutung von Zeit in Fragen der Po-
litikberatung. Hierzu wurde aus temporaltheoretischer Per-
spektive zwischen der Funktion von Politikberatung für das
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
46 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
politische System und für politische Akteure differenziert.
Abgestimmt auf die Binnenstruktur des politischen Systems
wurde dessen systemrelative Eigenzeit charakterisiert, was
die Auseinandersetzung mit den drei Problematiken der un-
bekannten Zukunft, der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
und der Synchronisation ermöglichte. Die Problematik der
unbekannten Zukunft wurde als entscheidungsabhängige Zu-
kunft operationalisiert. Die zunehmende und beschleunigte
funktionale Differenzierung bedeutet dabei eine Zunahme
der Anzahl divergierender Beobachter und Zukünfte. Die
Verknüpfung dieser Beobachtung mit dem Entscheidungsbe-
griff und die Verhandlung einer re exiven Modalisierung der
Zeit führten zu einer systematischen temporaltheoretischen
Unterfütterung des operativen Konstruktivismus. Mit Blick
auf die Problematik der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
konnte Gleichzeitigkeit als systemrelativ konstruiert identi-
ziert werden. Mit Hilfe formtheoretischer Kalküle konnte
die Überlagerung der die Problematik konturierenden Unter-
scheidungen von Vergangenheit/Zukunft und System/Um-
welt verhandelt sowie Politikberatung in der Folge mit Hilfe
der systemtheoretischen Konzepte der strukturellen und der
operativen Kopplung präzise eingeordnet und betrachtet wer-
den. Im Rückgriff auf den aufgespannten Doppelrahmen von
Welt- und Zeitverhältnis wurden strukturelle Kopplungen
im Allgemeinen und Politikberatung im Besonderen tempo-
raltheoretisch als Konstellationen doppelt (oder mehrfach)
perzipierter Gleichzeitigkeit im Wechselspiel selbst- und
fremdreferentieller Verweisungen von strukturell gekop-
pelten Systemen ausgedeutet. Die Problematik der Synchro-
nisation bzw. temporalen Koordination im Blick konnte da-
rauf aufbauend Synchronisation als temporaler Ausdruck des
gesellschaftlichen Bedarfs an Integration bestimmt werden.
Es wurde gezeigt, dass der Schlüssel zur Aufklärung der He-
rausforderungen sowie der Funktionsweise von Politikbera-
tung in der Behebung der Problematik der Synchronisation
liegt. In einer Gesellschaft der Gleichzeitigkeit(en) ist Syn-
chronisation zum zentralen Problem für Politik mit expo-
nentiell gesteigertem Abstimmungsbedarf mutiert. Es wurde
gezeigt, wie intra- und extrasystemische System/Umwelt-
Verhältnisse über Politikberatung temporale Koordination
erfahren. Strukturelle Kopplungen, z.B. die der Politikbera-
tung, wurden als temporale Koordination ermöglichende In-
stanzen ausgemacht. Die Problematik der unterschiedlichen
Geschwindigkeiten resultiert aus der Ungleichzeitigkeit des
Gleichzeitigen. Für den Fall der Politikberatung wurde dahin-
gehend herausgestellt, dass Systeme unterschiedlich schnell
oder langsam operieren und auf ihre Umwelt reagieren. Dies
bedeutet, dass politische Entscheidungsträger mit von der
Eigenzeit des politischen Systems abweichenden Zeithori-
zonten und temporalen Erwartungen konfrontiert werden. In
diesem Zusammenhang wurde festgehalten, dass neue, zum
Zweck des beschleunigten kommunikativen Austausches ein-
gesetzte Kommunikationstechnologien – anders als gemein-
hin vermutet – keinesfalls zu einem Mehr an Gleichzeitigkeit
führen, sondern ganz im Gegenteil ein Mehr an Ungleichzei-
tigkeit verursachen, da mehr Kommunikation zu mehr Ver-
hältnissen der Gleichzeitigkeit führt. Zudem wurde deutlich,
wie politische Akteure das Problem durch die Inanspruch-
nahme von Politikberatung, welche durch ihre retardierende
Wirkung unterschiedliche Tempi zumindest zeitweise egali-
siert, handhabbar machen können.
Auf diese Weise konnte ein zeittheoretisch angemessenes
Verständnis von Politikberatung erarbeitet werden. Ausge-
hend von der formtheoretisch begründeten Unterscheidung
von Rat und Tat wurde ein zeitbasierte Schema der Kommu-
nikation mit Blick auf Politikberatung konkretisiert. Poli-
tikberatung konnte unter Bezug auf den Doppelrahmen von
Welt- und Zeitverhältnis als die Form von Expertenrat/Vorbe-
reitung der Herstellung von kollektiv verbindlichen Entschei-
dungen bestimmt werden. Von der Beobachtung der Trans-
formation der Funktion von Politikberatung im Übergang zur
spätmodernen Gesellschaft ausgehend wurde die These for-
muliert und begründet, dass die Erfüllung der Funktion des
politischen Systems in dieser Konstellation maßgeblich durch
Politikberatung gewährleistet ist (Vorderstraße 2014: 241ff.,
344ff.). Auf den Ergebnissen des primärtheoretischen Teils
aufbauend nden sich weitergehende theoretische Implika-
tionen erstens mit Blick auf den Forschungsbereich der Po-
litikberatung (ebd.: 359ff.), zweitens die systemtheoretische
Debatte (ebd.: 361ff.) und drittens die erkenntnistheoretische
Position des operativen Konstruktivismus (ebd.: 365), an wel-
che sich eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage der
Methodik anschließt (ebd.: 365ff.).
5. Zeitpolitische Implikationen
Im sekundärtheoretischen Teil der Studie wurde unter Bezug-
nahme auf die Diskurse zur Risiko-, Wissens- und Medien-
gesellschaft die Bedeutung von Politikberatung für politische
Entscheidungsträger herausgearbeitet. Es wurde gezeigt, wie
politische Akteure die Herausforderungen der Ungewissheit,
der Unsicherheit und der Unberechenbarkeit unter Rekurs
auf Politikberatung bewältigen können. Die zeitpolitischen
Implikationen der Studie werden anhand dreier Themenbe-
reiche, die auf die politische Entscheidungs ndung bezogen
sind, exemplarisch beschrieben (Vorderstraße 2014: 381ff.):
Erstens kann politisches Handeln als strategische Planung
im Angesicht einer ungewissen Zukunft unter den Bedin-
gungen von Veränderungsdruck und Beschleunigung mo-
delliert werden. Die in der Studie dargelegte Fiktion von
Gewissheit, Sicherheit und Berechenbarkeit (ebd.: 341ff.) ist
Voraussetzung für die Identi kation, Eröffnung und Nutzung
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 47
von Handlungsspielräumen für Politikalternativen. Indem
gezeigt wird, dass es sich bei politischen Entscheidungen und
Programmen stets (nur) um Simulationen möglicher Zukünf-
te handelt, können Entwicklungstendenzen als kontingent
und Zukünfte als Möglichkeitsräume bestimmt werden.
Zweitens folgt – im engen Anschluss an die moderne Regie-
rungsforschung und Zeitpolitik als policy – ein Plädoyer für
die kombinierte Betrachtung von Macht-, Sach- und Zeitfra-
gen, d. h. der Sozial-, Sach- und Zeitdimension. Dieses Argu-
ment wird in der Studie in der Auseinandersetzung mit der
kontemporären Regierungsforschung entfaltet (ebd.: 383ff.).
Die kombinierte Betrachtung gibt Hinweise, wie (zeit-)stra-
tegische Planung und (zeit-)politisches Handeln unter den
Bedingungen der beschleunigten und zunehmend komplexen
gesellschaftlichen Situation möglich sein können.
Drittens kann von dem in der Studie vorgestellten entschei-
dungsorientierten Planungsbegriff ein Vorschlag für neue
Formen einer zeitpolitisch informierten politischen Partizi-
pation abgeleitet werden (ebd.: 388 ff.). Angesprochen sind
dabei solche Politikformen bzw. Governance-Konstellati-
onen, die auf Kooperation und Beteiligung Betroffener abzie-
len. Diese sind sogleich Voraussetzung für einen fairen (zeit-)
politischen Interessenausgleich.
Dr. Stefan Vorderstraße ist wissenschaftlicher Mitarbei-
ter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Du-
isburg-Essen. Er nimmt in diesem Beitrag Bezug auf seine
Dissertation.
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SEBASTIAN STAGL
Auf dem Weg in eine temporal differenzierte Gesellschaft
In einer von zunehmender Komplexität geprägten Welt
scheint sich die soziale Zeit zu wandeln. Soziale Zeit wird da-
bei als jene Einheit verstanden, die nicht bloß transzendent ist,
sondern kontextabhängig und operativ durch soziale Inter-
aktion entsteht (vgl. Nassehi 1993, S. 11). Aus dieser Wahr-
nehmung entstand allmählich eine soziologisch-theoretische
Auseinandersetzung mit der Zeit als sozialer und als für die
Gesellschaft konstituierender Faktor. Ausgehend von dieser
De nition widmet sich der vorliegende Text der sozialen Zeit
aus systemtheoretischer Sicht, indem er sie in den Kontext
der gesellschaftlichen Differenzierung bringt, die sich auf-
grund einer zunehmenden Komplexität – so die Vermutung
– im Wandel be ndet.
Dabei wird die These aufgestellt, dass die sich in der Moder-
ne als eigene Sinndimension herausgebildete Zeit zunehmend
zentraler wird, da sie die Differenzierung zwischen den Teilsy-
stemen übernehmen könnte. Dabei löst sie die Sachdimension
als die die Gesellschaft differenzierende Sinndimension ab.
1. Zeit in der Systemtheorie
Niklas Luhmann(1990, S. 109) beschreibt das soziale System
als offen und im ständigen Austausch mit seiner Umwelt ste-
hend. Da im Normalfall keine lineare Kausalität zwischen
System und Umwelt vorliegt, sondern Systeme nur mit ih-
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
48 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
rer inneren Eigenlogik auf Umweltveränderungen reagieren,
ndet ein systemischer Veränderungsprozess immer durch
das System selbst statt. Dies bezeichnet er als Autopoiesis.
Autopoietische Systeme sind demnach system-offene und
operativ-geschlossene Systeme. Da Systemelemente ständig
Platz für neue Elemente machen, nehmen sie die Form von
Ereignissen an. Zeit entsteht somit schon auf der elemen-
taren Ebene der Autopoiesis und wird zum sekundären Pro-
dukt je gegenwärtiger Ereignisse. (vgl. Nassehi 1993, S. 182 f)
Da den Teilsystemen die Zeit der Autopoiesis inhärent ist,
ist sie zunächst nicht für andere Systeme erkennbar. Erst
durch die Beobachtung wird die autopoietische Zeit sicht-
bar. Um die Verzeitlichung autopoietischer Systeme hinrei-
chend beschreiben zu können, muss daher neben der Tem-
poralisierung der Elemente auch die Zeit ihrer Beobachtung
miteinbezogen werden. In einem Gesamtsystem mit vielen
Teilsystemen, die jeweils unterschiedliche Ereignistempora-
litäten (die Geschwindigkeit, mit der Ereignisse von anderen
Ereignisses abgelöst werden) aufweisen, wird die Synchro-
nisation der unterschiedlichen teilsystemischen Eigenzeiten
zur zunehmenden Herausforderung. Damit das System als
Ganzes aufrecht erhalten bleibt, ist diese aber unerlässlich.
2. Von der segmentären über die strati kato-
rische zur funktionalen Differenzierung
Die Synchronisation der in den unterschiedlichen Teilsyste-
men durch deren jeweilige Operationen entstehenden Zeit
gestaltet sich heute als eine der größten Herausforderungen.
Doch dies war nicht immer so. Segmentärdifferenzierte Ge-
sellschaften, wie etwa archaische europäische Gesellschaften,
zeichnen sich durch Teilsysteme aus, deren Ereignistempo-
ralitäten sich nicht voneinander unterscheiden. Einzelne
Handlungssituationen nden in konkreten Lokalitäten statt.
Hauptkriterien für die Zugehörigkeit zu einem (Teil-) System
sind Anwesenheit (Kopräsenz und Kolokalität) sowie Aktuali-
tät der Ereignisse.(vgl. Luhmann 1975, S. 22) Die Komplexität
ist also denkbar gering. Die dreigesellschaftlichen Sinndimen-
sionen – Sozial-, Sach- und Zeitdimension – können zusam-
men gedacht werden, sachlich Unterschiedliches wird einfach
ins Nacheinander verlagert. (vgl. Nassehi 1993, S. 247) Da-
durch entsteht auch kein Synchronisierungsproblem.
Die Beschränkung auf Aktualität und Kopräsenz unterbietet
jedoch das gleichzeitige Statt nden von sachlich Ungleichem.
Um dem aufkommenden Druck nach gleichzeitigem Vor-
kommen sachlich unterschiedlicher Dinge nachzugeben,
musste mit einer Ungleichheit in der Sozialdimension rea-
giert werden. Die segmentäre Differenzierung archaischer
Gesellschaften wird dadurch durch eine strati katorische
Differenzierung im Übergang zum Mittelalter abgelöst. Die
Sozialdimension beginnt sich von den anderen Sinndimensi-
onen herauszulösen und die gesellschaftliche Differenzierung
vorzunehmen. Die Grenzen zwischen den gesellschaftlichen
Teilsystemen sind also ungleiche Schichten und Ränge. (vgl.
Nassehi 1993, S. 261f) Handlungen können also nicht mehr
bloß nacheinander, sondern auch nebeneinander statt nden,
indem Tätigkeitsbereiche durch Arbeitsaufteilung und Spezi-
alisierung organisiert werden, die es zu synchronisieren gilt.
An der Epochenschwelle zur Moderne kam es allmählich zur
Ablösung der strati katorisch differenzierten Gesellschaft
durch die funktional differenzierte Gesellschaft. Die strati ka-
torische Differenzierung wurde der weiter zunehmenden Kom-
plexität, dem Drang nach Aufbau von Kontingenz- und Selekti-
onsspielräumen von Seiten der Politik sowie dem Wunsch nach
gesellschaftlicher Egalität nicht mehr gerecht. Die Gesellschaft
begann sich entlang unterschiedlicher Funktionen (Wirtschaft,
Politik, Recht, Religion, Erziehung, Wissenschaft etc.) zu orga-
nisieren, die sich nicht wechselseitig substituierbaren lassen,
jedoch neben- und miteinander aus ihrer jeweiligen funkti-
onsspezi schen Perspektive agieren können. Durch das Um-
denken von Handlungszeit zu abstrakten Zeiträumen geschah
eine Entkopplung von Zeit und Geschehendem. Dadurch bil-
dete sich nicht nur die Zeit als eigenständige Sinndimension
heraus, sondern gesellschaftliche Differenzierung ndet nun
auch entlang der Sachdimension und nicht mehr entlang der
Sozialdimension statt. Innerhalb der einzelnen Funktionen,
die nun Teilsysteme des Gesamtsystems sind, begannen sich
unterschiedliche Eigenzeiten herauszubilden, die synchroni-
siert werden müssen, damit das Gesamtsystem aufrecht erhal-
ten werden kann. (vgl. Nassehi 1993, S. 281 ff und 297)
Hartmut Rosa (2014, S. 298 und 302) bezeichnet innerhalb
seiner Beschleunigungstheorie die Ausdifferenzierung in un-
terschiedliche Funktionen bzw. Teilsysteme als Motor des
sozialen Wandels. Dabei seien die einzelnen Funktionen ei-
nerseits einem endogenen Beschleunigungsdruck ausgesetzt,
da sie aufgrund unaufhörlichen Prozessierens nur dynamisch
stabilisierbar sind. Andererseits seien sie Teil eines Gesamt-
systems und dadurch voneinander abhängig. Jede Funktion
sei als Teilsystem Umwelt für ein anderes Teilsystem, das von
außen Beschleunigungsdruck ausübt. Aufgrund unterschied-
licher Geschwindigkeiten der unterschiedlichen Teilsysteme
wird deren Synchronisation in der spätmodernen, beschleu-
nigten Gesellschaft insofern zur Herausforderung, als sich
nicht mehr nur die einzelnen teilsystemischen Geschwindig-
keiten unterschiedlich schnell beschleunigen, sondern die
Beschleunigung gleichzeitig auch immer mehr Teilsysteme
erzeugt. Durch Beschleunigung wird die Gesellschaft dem-
nach nicht nur immer weniger synchronisierbar, sondern
auch zunehmend komplexer. Die Synchronisation der einzel-
nen Funktionen stößt an ihre Grenzen.
Dies zeigt sich zum Beispiel in der Politik, wo darüber nach-
gedacht wird, Entscheidungsprozesse von der Legislative in
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 49
die Exekutive zu verschieben, um den Anforderungen der
Ökonomie nach Flexibilität und Reaktionsfähigkeit gerecht
zu werden. (vgl. Wittmann 2014, S. 78) In der Erziehung und
der Wissenschaft wird Bildung zu Ausbildung, um in immer
kürzerer Zeit auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten.
Neben der Beschleunigung stellen die, wie ich sie nenne, „Mo-
toren“, bestehend aus Globalisierung, Individualisierung und
Digitalisierung, Hauptursachen einer zunehmenden Ausdif-
ferenzierung in immer mehr Teilsysteme dar. Da die Globa-
lisierung in der heutigen Gesellschaft ohne Digitalisierung
nicht denkbar ist (vgl. Giddens 1990, S. 31), wird letztere als
sekundäres Charakteristikum betrachtet. Dies lässt vermu-
ten, dass eine einseitige Kausalität (Digitalisierung führt zu
Globalisierung) besteht. Seit der Veröffentlichung dieser An-
nahmen hat die Digitalisierung inzwischen zu viel mehr Ver-
änderungen geführt, als 1990 erkennbar war. Daher, so mein
Argument, ist die Digitalisierung gleichwertig relevant und
ergänzt die Globalisierung und Individualisierung als gleich-
wertiger, den Modernisierungsprozess antreibender Faktor.
Die Wirkungen der Motoren sind dabei ganz verschieden.
Zum einen entziehen sie dem Handlungssubjekt die Möglich-
keit einer kollektiven Identität und vervielfachen die ihm zur
Verfügung stehenden Optionen. Zum anderen führen sie zur
Loslösung sozialer Prozesse aus ihrer kontextualen Direkt-
heit, indem sie Zeit und Raum dehnen (time-space distanti-
ation). Dadurch wächst die Notwendigkeit gesellschaftlicher
Regelungs-, Koordinierungs- und Standardisierungsmecha-
nismen. Dies manifestiert sich in Expertensystemen, wie etwa
Zerti zierungen, sowie in Symbolen, z. B. Geld. (vgl. Giddens
1990, S. 14, 16 f und 20)
Solche Standardisierungen lassen sich nur durch eine insti-
tutionelle Organisation gewährleisten, die aufgrund der zu-
nehmenden Globalisierung und Digitalisierung sowohl den
globalen und lokalen als auch den realen und virtuellen Raum
abdecken muss.
Aufgrund des unendlichen Beschleunigungsdrucks, der Syn-
chronisierungsherausforderungen sowie der Rückwirkung
der durch die Motoren entstehenden Prozesse auf sich selbst
(vgl. Beck 1994, S. 5 ff und 176) wird das System allmählich
Opfer seiner eigenen Operationen. Denn genau die Ausdiffe-
renzierung in immer mehr funktionale Teilsysteme ist es, was
die funktionalen Grenzen sprengt. Die zunehmenden Unsi-
cherheiten, Ambivalenzen und Kontingenzen spiegeln genau
jene Selbstzerstörung des Systems wider.
3. Temporale Differenzierung
Wenn die Abhängigkeit von Grenzen aufgrund des Bedarfs
nach Regelung, Koordinierung und Standardisierung auf-
recht bleibt bzw. sich sogar verstärkt (da es immer mehr
Teilsysteme zu regeln und koordinieren gibt), die bislang
bekannten Grenzen aber nicht mehr ausreichen, muss es
zur Neubildung systemischer Grenzen kommen. Daher ar-
gumentiere ich, dass sich die bisherigen Grenzen aufgrund
der Selbstreferenzder Teilsysteme selbst zerstören und neue
Grenzen autonom entstehen. Da die gesellschaftliche Diffe-
renzierung entlang unterschiedlicher sozialer Schichten (So-
zialdimension) schon auf dem Weg in die Moderne verlustig
ging und mit der zunehmenden Individualisierung im Wider-
spruch steht und auch die bisherige funktionale Differenzie-
rung (Sachdimension) keinen Halt mehr zu bieten scheint,
stelle ich folgende These auf:
Die Zeit wird zur zentralen Funktion. Indem sie die Grenzen
zwischen den Teilsystemen de niert, entsteht eine temporal-
differenzierte Gesellschaft, die die funktional differenzierte
Gesellschaft ablöst.
Das würde bedeuten, dass sich die oben beschriebenen auto-
nom entstehenden Grenzen nicht mehr entlang funktionaler
Differenzen, sondern entlang temporaler Differenzen bilden.
Es sind also genau die bisherigen funktionalen Eigenzeiten
der Teilsysteme (Ereignistemporalitäten), die zur neu entste-
henden Einheit der Differenz werden. Die Grenzen könnten
sich also da ziehen, wo sich zeitliche Horizonte gleichen bzw.
wo sich Geschwindigkeiten gesellschaftlicher Entwicklungen
ähneln. Dies könnte etwa so aussehen, dass gesellschaftliche
Prozesse (und nicht Funktionen), die sich im selben Zeit-
horizont wandeln, zusammen gedacht werden müssen. Eine
solche temporal differenzierte Gesellschaft würde somit die
funktional differenzierte Gesellschaft ablösen.
Da sich, wie Rosa in seiner Beschleunigungstheorie zeigen
konnte, sozialer Wandel aufgrund der exponentiellen Be-
schleunigung permanent vollzieht, entfallen bisherige (mo-
derne) Referenzpunkte wie etwa das soziologische Denken
in Generationen. Auch Legislaturperioden der Politik schei-
nen keine geeignete Grundlage mehr zu bieten, da sie den
beschleunigten ökonomischen Prozessen nicht mehr hinter-
herkommen. Die langsamen Rhythmen der Bildung und Er-
ziehung scheinen aufgrund der technischen Beschleunigung
und der Digitalisierung auch keinen Halt mehr zu bieten, da
es ständiger Neuanpassung bedarf. Wie auch immer sich die-
se neuen prozessorientierten temporalen Grenzen gestalten
mögen, eine Entwicklung in diese Richtung wäre nur konse-
quent, da ein solches System es ermöglichen würde, sich der
weiterhin zunehmenden Komplexität unserer Gesellschaftin-
terfunktional und interdisziplinär zu nähern.
4. Zusammenfassung
Während archaische, segmentär differenzierte Gesellschaften
noch relativ einfach zu organisieren waren, kam es in der
mittelalterlichen strati katorisch differenzierten Gesellschaft
allmählich zu ersten Synchronisationsherausforderungen.
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Der Komplexitätszunahme, ausgedrückt im Wunsch, sachlich
Unterschiedliches neben- und nicht mehr bloß nacheinander
regeln zu können, wurde mit einer Ungleichheit im Sozialen
begegnet. Die Gesellschaft differenzierte sich entlang unter-
schiedlicher Stände und Ränge. Den aufkommenden Ega-
litätsbestrebungen und dem politischen Wunsch nach Kon-
tingenzaufbau wurde diese Differenzierung allerdings auch
nicht mehr gerecht. Indem sich die Gesellschaft im Übergang
zur Moderne entlang unterschiedlicher Funktionen zu orga-
nisieren begann, gelang es, viele unterschiedliche Teilsysteme
herauszubilden. Die einzelnen Funktionen bzw. Teilsysteme
verfolgen dabei ihren individuellen Geschwindigkeiten. In-
dem sich dadurch die Zeit als eigene Sinndimension heraus-
bildete, kann nun scheinbar unendlich viel sachlich Unter-
schiedliches gleichzeitig statt nden. Die Herausforderung
bestand nun darin, die einzelnen Teilsysteme mit ihren je-
weils unterschiedlichen Eigenzeiten zu synchronisieren.
Aufgrund der Komplexitätszunahme (Herausbildung vieler
neuer funktionaler Teilsysteme) wird die Koordination der
einzelnen Teilsysteme, die als Teile des offenen, gesellschaft-
lichen Gesamtsystems in ununterbrochenen Austausch mitei-
nander stehen, sich jedoch mit unterschiedlichen Geschwin-
digkeiten fortbewegen, zur Herausforderung. Der extremen
Gleichzeitigkeit extrem vieler unterschiedlicher Sachverhalte
scheinen die funktionalen Grenzen keinen Halt mehr bieten
zu können. Die Einheit der Differenzierung zwischen den
Teilsystemen muss daher anderweitig erfolgen. Aufgrund der
wachsenden Re exivität – der Rückwirkung sozialer Prozesse
auf sich selbst – in der Spätmodernekann sich die Differen-
zierung allerdings nur autonomisiert formen. Im Hinblick auf
die unterschiedlichen Sinndimensionen scheint sich hierfür
nur noch die Zeitdimension anzubieten. Gesellschaftliche
Differenzierung könnte also da statt nden, wo sich (teil-)sy-
stemische Eigenzeiten bzw. Zeithorizonte gleichen.
Somit würde die Zeit, die sich erst in der Moderne als eigene
Sinndimension herauszubilden begann, in der Spätmoderne
zur zentralen, die Gesellschaft organisierenden Einheit, in-
dem sie die systemische Differenzierung vornimmt und die
funktionale Differenzierung ablöst.
Sebastian Stagl hat seinen Master Zukunftsforschung an der
Freien Universität Berlin gemacht.
Literatur
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chen: oekomverlag. S. 74-85.
UWE BÖHME
Stau – der unausweichliche Zeit-Killer?
Für viele Arbeitnehmer hat der Weg zur und von der Arbeit
negative Begleiterscheinungen. Diese äußern sich vor allem in
städtischen Gebieten darin, dass öffentliche Verkehrs mittel
und Straßen in den Morgen- und Nachmittagsstunden ihre
Kapazitätsgrenze erreichen oder sogar überschreiten. Der da-
mit verbundene Zeitverlust ist für die Betroffenen nicht nur
ärgerlich, sondern kann auch zu Gesundheits- und Leistungs-
einschränkungen führen und stellt damit einen volkswirt-
schaftlichen Schaden dar (vgl. Stadler et al. 2000: 56).
Auf den ersten Blick erscheint es naheliegend, einen Teil des
Verkehrsaufkommens mit Maßnahmen der Arbeitszeit exi-
bilisierung zeitlich zu entzerren. Tatsächlich lässt sich in der
zeitlichen Verteilung des Verkehrsaufkommens bereits seit
Längerem beobachten, dass die Verkehrsspitze kleiner wird
und etwas später einsetzt als in der Vergangenheit (Wermuth
1990, zit. nach: Chlond 1996: 10). Verkehrsspitzen an Wo-
chentagen zeigen sich immer noch (vgl. infas; DLR 2008: 133),
aber „die Eingrenzung der Zeitfenster mit hoher Verkehrs
belastung auf wenige Stunden am Vormittag und am Nach-
mittag ist nicht mehr gültig“ (FGSV 2006: 25). Doch die
Hoffnung der Verkehrsplaner, dass sich durch Telearbeit und
exible Arbeitszeiten das Problem von selbst erledigt, hat
sich nicht bewahrheitet. Deutlich wird hier die Wirkung der
aus der Zeitgeographie bekannten „constraints“ (capability
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
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Abbildung 1: Wegezwecke nach Wochentagen
Quelle: eigene Darstellung nach infas; DLR (2010: 117)
constraints: biologische Bedingungen wie Zeit für Schlaf, Es-
sen, etc.; coupling constraints: Hindernisse, die sich aus der
Notwendigkeit der Koordination und Synchronisation mit
anderen Personen ergeben; authority constraints: Einschrän-
kungen durch Öffnungszeiten, Zugangsberechtigungen etc.,
vgl. Parkes; Thrift 1980: 248 f., zit. nach Kramer 2005: 32).
Ein vielversprechender und doch viel zu wenig praktizierter
Ansatz ist das Mobilitätsmanagement, das im Gegensatz zum
eher technisch orientierten Verkehrsmanagement am Verhal-
ten der Menschen ansetzt und langfristige Wirksamkeit erzie-
len will. Es soll als „Konzept zur Förderung des nachhaltigen
Verkehrs und zur Verringerung der Autonutzung“ verstanden
werden und vor allem mit weichen Maßnahmen wie Informa-
tion, Kommunikation und Organisation eine Veränderung von
Einstellungen und Verhaltensweisen der Verkehrsteilnehmer
bewirken (vgl. Transferstelle Mobilität). Im Rahmen des be-
trieblichen Mobilitätsmanagements spielen auch arbeitszeit-
organisatorische Maßnahmen eine Rolle (vgl. Müller 2001:
10). Allerdings stellt sich die Frage, welche Potenziale im
Mobilitätsmanagement vor dem Hintergrund der erwähnten
„constraints“ liegen. Sind die täglichen Überlastungen der
Verkehrsinfrastruktur womöglich unausweichlich?
Dimensionen des Berufsverkehrs
Die Ergebnisse der Erhebung „Mobilität in Deutschland (MiD
2008) zeigen deutlich, dass der Wegezweck „Arbeit“ wochen-
tags mit Werten zwischen 15–18 % nicht der hauptsächliche
Wegezweck ist, sondern „Freizeit“ und „Einkauf“ überwiegen.
Trotz der relativ geringen Anteile an allen Wegezwecken stellt
der Berufsverkehr nach wie vor ein großes Problemfeld dar.
Dies ist zum Teil mit dessen zeitlicher Konzentration zu erklä-
ren. So fallen nach den aktuellen SrV-Ergebnissen von 2013
selbst in Berlin, wo Kreativ- und Dienstleistungssektoren
stark vertreten sind (vgl. Schwedes et al. 2011, Pohl 2009:
306 f.), allein in der Zeit zwischen 7–8 Uhr bereits 35 % des
morgendlichen Berufsverkehrs an (vgl. Ahrens 2014a: 57).
Überlagert vom Wirtschaftsverkehr und auch anderen Wege-
zwecken kommt es dann zu Überlastungen der Verkehrsin-
frastruktur.
Beim Blick auf die Verkehrsmittelwahl im Berufsverkehr zeigt
sich immer noch die hohe Dominanz des privaten Pkw. So liegt
der Anteil der Wege des motorisierten Individual verkehrs
(MIV) für den Wegezweck „Arbeit“ laut der MiD-Erhebung
von 2008 bei 65 % (vgl. infas; DLR 2010: 121). Für Städte mit
einem guten öffentlichen Verkehrsangebot, etwa Berlin, sind
die Anteile des MIV deutlich geringer. Die Auswertungen der
SrV-Befragung des Jahres 2013 zeigen für Berlin einen An-
teil des öffentlichen Personennahverkehrs von 40 % für Wege
zum eigenen Arbeitsplatz, wohingegen der Individualverkehr
nur einen Anteil von 34 % hat (vgl. Ahrens 2014b: 3).
Zeitliche Verlagerung des Berufsverkehrs
und Wirkungsmechanismen
Maßnahmen, die darauf abzielen, die verkehrsbezogenen
Folgen des Berufsverkehrs einzudämmen, können in drei
verschiedene Ebenen unterteilt werden, die in der deutsch-
sprachigen Literatur meist als die „3 Vs“ bezeichnet werden
(Vermeidung, Verlagerung, verträgliche Abwicklung, vgl.
Beckmann 2001: 145). Aus zeitpolitischer Sicht interessant
sind die Ansätze zur Verlagerung, etwa um die Verkehrsmen-
gen gleichmäßiger über die Zeit zu verteilen und damit die
vorhandenen Verkehrsinfrastrukturen besser auszulasten.
Das lässt sich bereits seit mehreren Jahren beobachten, z. B.
durch Flexibilisierung der Arbeitszeiten, Verlängerung von
Öffnungszeiten im Einzelhandel und öffentlichen Einrich-
tungen oder Verbreitung von Telekommunikationstechnolo-
gien (vgl. FGSV 2006: 11 f.). Fraglich ist, inwiefern der weitere
Abbau der Verkehrsspitzen möglich ist und dies in der Ge-
samtbetrachtung zielführend ist.
Bei den Bemühungen zur zeitlichen Verlagerung des Verkehrs
muss berücksichtigt werden, dass eine gleichmäßigere Vertei-
lung des Verkehrs in nachfragearme Zeiten nicht in jedem Fall
eine Verbesserung darstellt. So kommt es durch die nahezu
konstant hohe Belastung der Verkehrsinfrastruktur zu schnel-
lerem Verschleiß und damit zur Steigerung der Kosten für den
Unterhalt der Infrastruktur, wenn es praktisch kaum noch
Zeitfenster für die notwendigen Arbeiten gibt (ebd.: 25 f.).
Auch aus der Perspektive der Nutzer kann die zeitliche Verla-
gerung des Verkehrs vereinzelt nachteilig sein, wenn dadurch
Ruhezeiten z. B. für Anwohner wegfallen. Dann beeinträchti-
gen hohe Lärm- und Schadstoffbelastungen über den gesam-
ten Tag die Wohnqualität. Eine sorgfältige Abwägung bei der
Maßnahmenentwicklung unter Berücksichtigung der Nutzer-
perspektive ist daher ratsam.
BEITRÄGE AUS DEM NETZWERK ZEITFORSCHUNG DER DGfZP
52 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
Dies gilt auch für den Ansatz bei der Flexibilisierung von
Arbeitszeiten im Rahmen des (betrieblichen) Mobilitäts-
managements. Zweifelsohne spielen die arbeitszeitlichen
Rahmenbedingungen eine große Rolle in Bezug auf den Zeit-
punkt des Arbeitswegs. Aber als Maßnahme zur gezielten
Beein ussung des Berufsverkehrs können Arbeitszeit exibi-
lisierungen Akzeptanzprobleme beinhalten, wie die beiden
folgenden Zitate deutlich machen:
„Eine einmal im Rahmen der Lebensführung etablierte Zeit-
ökonomie als ausbalanciertes System von Prioritäten sowie
von Berechenbarkeit und Stabilität ist widerständig gegenü-
ber Versuchen einer Deregulierung von außen her, wie sie mit
einer Flexibilisierung der Arbeitszeiten einhergeht. Gewohn-
heiten sind nicht leicht aufzubrechen, erst recht nicht ein gut
eingespieltes, austariertes System alltäglicher Lebensführung.
Nichts ist stabiler und konservativer als Alltagsgewohnheiten:
die Wiederholung von Handlungsabläufen dient nicht nur der
Sicherung von Kontinuität, sondern repräsentiert zugleich ein
Grundmuster der Berechenbarkeit und sozialen Anschlussfä-
higkeit individueller Handlungen.“ (Kudera 2000: 301 f.)
„Die Freigabe von Zeitstrukturen, die auf eine selbstverant-
wortliche Organisation der Arbeitszeit hinausläuft, über-
fordert eine ganze Reihe von Mitarbeitern (‚Das kann nicht
jeder!‘). Viele Mitarbeiter wollen ja gerade eine genaue Ori-
entierung, einen festen Rahmen, in dem sie sich auch zeit-
lich bewegen können und müssen!“ (Wolf; Scholz 1999).
Zeitpolitisches Fazit
Die umfassende Analyse von Nachfragestrukturen im Be-
rufsverkehr erweist sich als sehr komplexer Forschungs-
gegenstand, der hier dementsprechend nur kurz angerissen
werden kann. Festgehalten werden kann aber, dass bei der
Entwicklung von Maßnahmen zur weiteren zeitlichen Verla-
gerung des Berufsverkehrs mit viel Augenmaß vorgegangen
werden muss und einfache, auf den ersten Blick naheliegende
Lösungsstrategien Risiken hinsichtlich der Wirksamkeit be-
inhalten. Das Phänomen der täglichen Überlastungen scheint
zwar nicht per se „unausweichlich“ zu sein. Aber es braucht
einen integrierten Maßnahmenmix, bei dessen Entwicklung
ebenso zielgruppenorientierte Ansätze mit modalen Verla-
gerungsstrategien und Erkenntnisse aus Nachbardisziplinen
wie der Zeitforschung berücksichtigt werden müssen,
Uwe Böhme ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut
für Land- und Seeverkehr (ILS)/ Straßenplanung und Stra-
ßenbetrieb der TU Berlin. Sein Beitrag basiert auf den Er-
gebnissen seiner Dissertation.
Literatur
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ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 53
FORUM
ALBERT MAYR
Zeit, sprachlich und nicht sprachlich
Forum
Inzwischen schauen wir ja für alles Mögliche ins Netz. So
habe ich kürzlich „Zeit verlieren“ gegoogelt: Millionen Treffer
im Deutschen, Englischen, Italienischen und Französischen.
Hunderte Ratgeber, die uns zu zeigen vorgeben, wie wir uns
von dem in unserer Zivilisation abscheulichsten Fehlverhal-
ten befreien können. Aber haken wir mal nach. Können wir
Zeit wirklich verlieren? Oder ist es nicht eher so, dass die
unselige Gleichung „Zeit ist Geld“ sich in beklagenswertem
Ausmaß im Sprachgebrauch niedergeschlagen hat. Verben
wie gewinnen, verlieren, sparen, vergeuden usw., die, wenn
sie das Geld betreffen, durchaus zutreffend sind, werden be-
denkenlos auf die Zeit angewandt, wo sie entschieden weni-
ger Sinn machen. Nehmen wir „verlieren“: Wenn wir 200,- €
verlieren, durch Diebstahl oder eine missglückte Transaktion,
haben wir eben um diesen Betrag weniger in der Brieftasche
oder auf dem Konto. Doch wenn wir sagen: „Jetzt habe ich
zwei Stunden verloren“, heißt das ja nicht, dass jemand (z. B.
die Parze, die laut Wilhelm Busch in einer Wolke sitzt und
sich um unseren Lebensfaden kümmert) diesen unseren Fa-
den um zwei Stunden verkürzt hat; es bedeutet eher, dass wir
uns für zwei Stunden in einer Situation befunden haben, die
uns, aus verschiedenen Gründen, nicht zugesagt hat, oder die
für das, was wir eigentlich vorhatten, nicht das Richtige war.
Verloren haben wir die Stunden nicht. Unsere biologischen
Rhythmen liefen munter weiter, auch emotional und geistig
waren wir „da“, und sei es nur, um uns zu ärgern.
Ähnliche Einwände lassen sich gegen die weiteren, üblichen
Zeit/Geld-Ausdrücke anführen: Zeit gewinnen, sparen, ver-
geuden, usw. Doch gibt es auch andere Gründe, außer der
Zeit=Geld-Gleichung, dafür dass diese Ausdrücke so beden-
kenlos verwendet werden. Als Komponist erlebe und denke
ich die Welt um mich herum als polyphones Gefüge, und so
drängt sich die Vermutung auf, dass die Sprache (oder jeden-
falls unser Sprachgebrauch) als primär monophones Medium
dazu verleitet, das Lineare an der Zeit hervorzuheben. Deut-
lich wird das bei den Zeitbudget-Studien, wo der monofunk-
tionale Einsatz von Zeit im Vordergrund steht. Giovanni Gas-
parini hat hervorgehoben, dass die Zeitbudget-Erfassungen
„bei der ‚äußeren‘ Zeit Halt machen, …und uns nichts über die
‚innere‘ Zeit sagen, also über die Rhythmen und die Qualität
der jeweiligen Zeitabschnitte.“ (Gasparini 1996, 105, meine
Übersetzung). Gasparini deutet also an, dass die übliche, „ein-
schichtige“ Tätigkeits-Zuweisung für Zeitstrecken unbefriedi-
gend ist. Denn nur selten sind unsere Zeitstrecken so strikt
monophon, wie sie verhandelt werden, denn das, was neben,
aber eigentlich ober- und unterhalb der jeweiligen „of ziellen“
Tätigkeit passiert, an Gedanken, Gefühlen, wahrgenomme-
nen (oder teilweise wahrgenommenen) Ereignissen, Interak-
tionen, gehört ebenso dazu, auch wenn es nicht „of ziell“ zu
Buche schlägt und wir es oft nicht beachten. Schon als biolo-
gische Wesen sind wir polyphon. In unserem Organismus gibt
es unzählige Abläufe, mit Periodendauern von Millisekunden
bis Jahren, die aufeinander abgestimmt sei müssen. Auch die
psychischen Schichten, die nach den Vertretern der Schich-
theorien unsere Persönlichkeit ausmachen (z. B. drei Schich-
ten bei Freud, sechs bei Rothacker) tragen mit ihrer jeweiligen
Rhythmik (oder A-Rhythmik) zur Polyphonie bei.
Sprache tut sich in der Beschreibung vielschichtiger zeitlicher
Sachverhalte schwer, weil sie das, was zeitlich in der „Verti-
kalen“ passiert, unweigerlich in die „Horizontale“ biegen muß
und so etwa Gleichzeitiges nur in aufeinander folgenden Wor-
ten beschreiben kann. Bildliche und klangliche Darstellungen
hingegen haben mit der Vertikalen keine Schwierigkeiten.
Bekanntlich wird inzwischen neben den geläu gen graphi-
schen Darstellungen auch die Soni kation in verschiedenen,
meist naturwissenschftlichen Disziplinen eingesetzt; einen
Ansatz im Bereich Stadtplanung ndet sich z. B. bei Adhitya
und Kusskankare 2011. Es gibt auch den eher ungewöhnlichen
Versuch von Eva Johannsson, das Notationssystem der Musik
für die Darstellung mehrschichtiger sozialer Abläufe einzuset-
zen (Johannson 1981). Hingegen wird Gesellschaftszeit fast
ausschließlich sprachlich dargestellt, analysiert und geplant,
mit den oben skizzierten Nachteilen. Vielleicht könnte man
darüber nachdenken, das Instrumentarium zu erweitern.
Literatur
Giovanni Gasparini (1996): La dimensione sociale del tempo.
Mailand.
Sara Adhitya / Mika Kuunskanare (2011): The Sonifi ed Urban
Masterplan (SUM) Tool. Paper presented at the 17. International
Conference on Auditory Display.
Eva Johanson (1981): How to Use Musical Notation or Modifi ca-
tions of Musical Notation to Improve Data Registration in Lon-
gitudinal Research. Paper presented at the Applied Criminology
workshop, Tübingen.
54 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
AUS DER DGfZP
Aus der DGfZP
Zum Jahresende:
Liebe Mitglieder, Freundinnen und Freunde
der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik!
Ich möchte das Jahresende nutzen, wiederum Ihnen allen
eine gutes und frohes Jahr 2017 und darin Zeit zum Nachden-
ken, zur Ruhe, zum Sprechen und zum Handeln zu wünschen.
Ich tue dies als wiedergewählter Vorsitzender auch im Namen
des geschäftsführenden Vorstandes, der auf der diesjährigen
Mitgliederversammlung neu gewählt wurde. Helga Zeiher
möchte sich ein wenig (zum Glück nicht ganz!) aus der ak-
tiven Tätigkeit für die DGfZP zurückziehen und hat nicht wie-
der für den geschäftsführenden Vorstand kandidiert. Sie wur-
de in den beratenden Vorstand gewählt und hat versprochen,
die Arbeit der DGfZP nach Kräften von dort aus weiterhin zu
unterstützen. Vor allem wird sie sich weiter – dankenswerter-
weise unterstützt durch Elke Großer – um das Zeitpolitische
Magazin kümmern, das in seiner aktuellen Gestalt ihr Werk
ist und das ein gutes Stück weit auch in Zukunft ihrer Erfah-
rung, Kreativität und Energie bedürfen wird. Danken möchte
ich Helga Zeiher an dieser Stelle, wie schon in der Mitglieder-
versammlung im vergangenen Oktober. Helga ist eine „Frau
der ersten Stunde“ der DGfZP, ohne ihre ruhige und unauf-
geregte Gestaltungsenergie, fachliche Kompetenz und Wärme
gäbe es die DGfZP so nicht.
An ihrer Stelle hat die Mitgliederversammlung einhellig Ka-
rin Jurczyk aus dem beratenden in den geschäftsführenden
Vorstand gewählt. Karin Jurczyk, akademisch ausgewiesen
in der Alltags- und Geschlechtersoziologie, arbeitet als Ab-
teilungsleiterin im Deutschen Jugendinstitut, wo sie schon
seit Jahren auch zeitpolitische Impulse für die Forschung
gegeben und verfolgt hat, vor allem auf dem Gebiet der
Familien politik. Sie wird gegen Ende nächsten Jahres in ihr
„drittes Lebensalter“ übergehen – und wir freuen uns, dass
sie uns einen nicht unerheblichen Teil ihrer damit „gewon-
nenen Zeit“ versprochen hat.
In meinem letzten Brief zum Jahresende teilte ich meine Be-
sorgnis über drei sich aufhäufende Krisen mit, deren Zusam-
mentreffen zu beängstigender Unübersichtlichkeit beitragen.
Die sog. „Flüchtlingskrise“ wurde nach den grauenhaften Pa-
riser Anschlägen von der Terrorismuskrise überlagert – und
das in Zeiten einer Umweltkrise und den mühsamen Versu-
chen der Weltklimakonferenz, dieser Langfristkrise Herr zu
werden. Gewiss ist im Umgang mit diesen Krisen eine gewisse
„Entdramatisierung“ eingetreten, zuweilen sind sogar gesell-
schaftliche und politische Fortschritte erzielt worden. Aber
im Verlaufe des Jahres 2016 ist ein neues Krisensymptom
hervorgetreten, das latent schon längst vorhanden war: der
Populismus als gesellschaftliche Bewegung und reaktionäre
Politik. Entgegen allen Prognosen und jenseits aller ratio-
naler Faktengrundlage und Argumentation haben populi-
stische Strömungen – die sich in Deutschland etwa als Pegi-
da und AfD ausbreiten – Macht erhalten und drohen, davon
noch mehr zu gewinnen: Erst der Brexit, dann der Wahlsieg
des Donald Trump, die „volksautoritären“ Entwicklungen
in Ungarn, Polen und in der Türkei, die knapp verhinderte
Wahl Hofers zum österreichischen Präsidenten, die Nieder-
lage Renzis im italienischen Referendum, die Aussichten von
Martine Le Pen in Frankreich und von Geert Wilders in den
Niederlanden – Beispiele politischer Machtergreifung von
xenophobischen autoritären Bewegungen, die demokratische
Spielregeln und Institutionen aushebeln, einem neuen Nati-
onalismus huldigen, der Fremdes nicht duldet und der Min-
derheiten nicht länger respektiert.
Zweierlei ist am Populismus mit der Aufklärung und der De-
mokratie auch der Zeitpolitik fundamental abträglich. Der
Populismus (etwa Trump’scher Prägung) ist „post-faktisch“.
Er nimmt ohne jedes Zögern Lüge, Verleumdung, Gering-
schätzung und Falschdarstellung in seinen rhetorischen Ka-
non auf – ein „Wahrheitsbeweis“ wird weder gesucht noch
anerkannt, der Slogan lässt das Faktische hinter sich. Da-
mit wird natürlich rationale Argumentation, wie wir sie mit
Zeitpolitik anstreben, an der Wurzel in Frage gestellt. Und:
Der Populismus nimmt plötzlich die Selbstbestimmung des
Volkes und der Bürger für sich in Anspruch. Beteiligung,
u. U. Plebiszit, Basisorientierung – bislang meist emanzipa-
torischen Bewegungen vorbehalten – werden in den Dienst
ausgrenzender und vernunftfeindlicher Bewegung genom-
men. Auch das kann die Zeitpolitikerin nicht kalt lassen:
Das Recht auf „Eigenzeiten“, die zeitliche Selbstbestimmung
der Menschen sind eine Essenz von Zeitpolitik, in welchen
Feldern auch immer sie auftaucht (in der Stadt, im Betrieb
oder der Dienststelle, in der Schule, im Krankenhaus oder
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 55
AUS DER DGfZP
P egeheim etc.). Wird Selbstbestimmung umfunktioniert in
einen minderheitsfeindlichen Mehrheitsautoritarismus, dann
verrät sie ihre Emanzipationsversprechen.
Wir bewegen uns mit unseren zeitpolitischen Anliegen in
einem schwierigen Umfeld. Die Bedeutung des „richtigeren“
Arguments, von Fakten, von normativen Orientierungen
muss neu thematisiert und erkämpft werden. Da trifft es sich
gut, dass wir das neue Jahr mit einer Kooperationstagung
mit der Evangelischen Akademie Tutzing und dem Deut-
schen Kinderhilfswerk beginnen, die dem Thema Zeitpolitik
für Kinder gilt (Tagungsankündigung in diesem ZpM). Wo,
wenn nicht in Kindheit und früher Sozialisiation, könnten
eine alltagsnahe Zeitkultur, die dafür erforderliche Kraft des
Arguments und Selbstwirksamkeit in humanen Eigenzeiten
erfahren und erlernt werden?
Beste Wünsche für das Weihnachtsfest
und für den Jahreswechsel sendet Ihnen
Ulrich Mückenberger
ULRICH MÜCKENBERGER
Atmende Lebensläufe nehmen Fahrt auf...
In der öffentlichen Wirksamkeit der DGfZP hat das Thema
der Jahrestagung 2015 „Atmende Lebensläufe - zeitpolitische
Gestaltungsoptionen“ Fahrt aufgenommen. Ziel ist bekannt-
lich, in der derzeit an Boden gewinnenden Lebenslaufpolitik
ein Lebensarbeitszeitmodell zu verankern, das den Optionen
der Menschen für Sorge („Care“)-Tätigkeit, aber auch Weiter-
bildung, Gesunderhaltung usw. einen größeren und gesicher-
ten zeitlichen Rahmen gibt. Wir (Karin Jurczyk und Ulrich
Mückenberger) haben diese Aktivitätslinie seit längerem be-
trieben und die Jahrestagung 2015 vorbereitet. Das Modell
eines „Carezeit-Budgets“, das wir in Grundzügen vorgelegt
haben, sieht für jede Person in der erwerbsaktiven Lebens-
phase ein Zeitguthaben vor, das in Gestalt von Ziehungs-
rechten vor allem für Carezwecke mobilisiert werden kann.
Dieses Modell hat 2016 großen Anklang gefunden. Der
Jahrestagung 2015 folgte das ZpM „Atmende Lebensläufe“
(Nr. 28, Juli 2016), das sämtliche derzeit in der Diskussion be-
ndliche Modelle für familien- und lebenslauforientierte Ar-
beitszeitgestaltung versammelt und vorstellt. Die Hamburger
Körber-Stiftung griff das Thema der Jahrestagung auf und in-
tegrierte – in Kooperation mit der DGfZP – Lebenslaufpolitik
in ihren Öffentlichkeitsschwerpunkt Demogra scher Wandel.
Dazu wurde mit dem NDR eine Sendereihe durchgeführt, bei
der DGfZP-Vertreter/innen mehrfach zu hören waren. Die
Körber-Stiftung führte in ihrem Berliner Veranstaltungshaus
ein sehr gut besuchtes Forum mit Karin Jurczyk und Ulrich
Mückenberger zu dem Thema durch. Daraus ging das breit
verteilte Politikpapier Körber Impuls Demogra e „Atmende
Lebensläufe“ hervor. Weitere Aktivitäten in Kooperation mit
der Körber-Stiftung werden folgen.
Das Bundesarbeitsministerium (BMAS) hat begonnen, das
Thema der atmenden Lebensläufe aufzugreifen. Auf einem
von Frau Prof. Gesine Schwan geleiteten und von hochran-
gigen Vertreter/innen von Politik, Wirtschaft und Zivilgesell-
schaft getragenen sog. „Trialog“ wurde die Arbeitszeitgestal-
tung mit ihren derzeitigen Kon ikten unter zeitpolitischen
Gesichtspunkten durchbuchstabiert. Karin Jurczyk und Ul-
rich Mückenberger waren dort präsent, der Abschlussbericht
des Trialogs nimmt ausdrücklich auf die DGfZP Bezug. Eine
weitere Perspektive tat sich auf, als das BMAS ein „Förder-
netzwerk innovative Sozialpolitikforschung“ eröffnete und
2016 erstmals ausschrieb. Unsere Interessenbekundung für
ein Projekt „Atmende Lebensläufe“ wurde positiv mit einer
Aufforderung zur Antragstellung beantwortet. Die Aussichten
für ein interdisziplinäres soziologisch-juristisches Projekt,
das die Grundzüge des Carezeitbudget-Modells konkretisiert
und auf Verwirklichungsbedingungen abprüft, sind offenbar
nicht gering. Das Thema der Atmenden Lebensläufe hat näm-
lich auch in das in diesen Tagen vorgestellte BMAS-Weiss-
buch „Arbeiten 4.0“ Eingang gefunden. Dort wird nicht nur
ein Wahlarbeitszeitgesetz erwogen, sondern auch ein „per-
sönliches Erwerbstätigenkonto“ angedacht, das in Richtung
auf ein Carezeitbudget entwickelbar erscheint.
Da wir auch in weiteren nicht unbedeutenden Beratungskrei-
sen sind – beide in der Heinrich-Böll-Stiftungs-Kommission
„Zukunft der Familienpolitik“, Ulrich Mückenberger in der
Hans-Böckler-Stiftungs-Kommission zur „Arbeit der Zu-
kunft“ -, sind auch dort die Anliegen der „Atmenden Lebens-
läufe“ präsent.
56 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
AUS DER DGfZP
CHRISTEL ECKART
Notizen zur Jahrestagung 2016
»Zeitkompetenz und Zeitmanagement. Konzepte zum besseren Umgang
mit der Zeit auf dem zeitpolitischen Prüfstand.«
Die Tagung suchte den Dialog und Austausch mit Vertrete-
rinnen und Vertretern des Coaching, um die Erfahrungen
mit professioneller Beratung im individuellen Umgang mit
der Zeit und die Möglichkeiten politischer Regelungen für
Zeit gestaltung miteinander zu verbinden. Beide Zugänge zu
einem besseren Umgang mit der Zeit erfordern die Rücksicht
des je anderen. Diesen Zusammenhang verfolgten die Fragen
im Tagungsprogramm: Inwieweit gelingt individuelle Stär-
kung durch Coaching? Wo stoßen Beratungsansätze an Gren-
zen? Welche strukturellen Bedingungen von der Arbeitsorga-
nisation und den gesellschaftlichen Zeitregelungen werden in
diesen Grenzen sichtbar und erfahrbar? Welche kollektiven
Handlungsmöglichkeiten gegen „pathogene Zeitstrukturen“
(Jürgen Rinderspacher) gibt es? Welche politischen Verände-
rungen sind notwendig, wenn wir als Ziel „atmende Lebens-
läufe“ (s. dazu ZpM 28, 2016) vor Augen haben?
Die Entwicklung des Coaching seit etwa zwanzig Jahren ist
Ausdruck und Ergebnis von Veränderungen der Arbeits-
anforderungen an die Einzelnen, die durch die formelle be-
triebliche Organisation (noch) nicht erfasst wurden oder auf
formelle Weise gar nicht hinreichend erfasst werden können.
Re exive Anforderungen an beru iche Tätigkeiten entwi-
ckeln sich schneller als die Bedingungen, um entsprechend
handeln zu können: Die Fähigkeit zur (Selbst-)Re exion, zur
Veränderung von Einstellungen und Haltungen. Die Synchro-
nisation, Kooperation, Kommunikation in betrieblichen Pro-
zessen erfordern Fähigkeiten, die häu g erst im Manko, das
als persönliches Ungenügen erlebt wird, erkannt und dann
erst eingeübt werden können.
Beiträge aus der Coaching-Praxis beschrieben dieses indivi-
duelle Erleben als ein Motiv von Klienten, die Beratung zu
suchen. Dabei sind Leidensdruck oder Zeitprobleme nicht
durchgängig die Worte zur Selbstbeschreibung. Vielmehr
kann am Beginn des Coachingprozesses der Wunsch nach
Verbesserung, nach Optimierung der eigenen Leistung ste-
hen, angespornt von einem „entfesselten Leistungstrieb“,
wie Angelika Leder es für „zahlenorientierte ManagerInnen“
beobachtet. Für diese „Zahlenmenschen“ gilt es, im Bera-
tungsprozess die Bedeutung von persönlichen Beziehungen
zu Kommunikationspartnern zu erkennen und sich selbst als
körperliche, emotionale Person wahrzunehmen.
Zeitkompetenz hieße in diesem Kontext, die Einseitigkeit
einer Sach- und Ergebnisorientierung zu erkennen und der
Kommunikation in persönlichen Beziehungen mit Respekt
für die Resonanz der Gesprächspartner Raum zu geben. Es
blieb in der Diskussion strittig, inwieweit dieser Lernprozess
doch vor allem der „erweiterten Nutzung der Arbeitskraft“
dient, wie sie der Soziologe Günter Voß in der Entwicklung
zur „Subjektivierung der Arbeit“ darstellte, die die Ef zienz-
steigerung des Unternehmens zum Ziel hat.
Doch eine polarisierende Beurteilung der Coachingpraxis
zwischen einer Kritik an neoliberalen Mechanismen der
Selbst optimierung und einem emanzipatorischen Anspruch
von Selbstre exion wäre eine zu grobe Grenzziehung, die die
Wechsel- und Nebenwirkungen des Prozesses ignoriert.
Von Klienten, die wegen Problemen mit Zeitdruck und Stress
und mit Wünschen nach Verbesserung ihres Zeitmanage-
ments Beratung suchen, berichtete Olaf Georg Klein. Die
Schritte der Re exion sollen hier helfen, herauszu nden, was
hinter den eingefrorenen Zeit-Worten steht: Welche und wes-
sen Ziele werden angestrebt, sind es die eigenen? Welchen
ökonomischen und Ef zienzleitbildern folgt die Selbstbewer-
tung? Es gelte, die ideologisch verfestigte Sprache von „Zeit“
gemeinsam mit den Klienten zu dekonstruieren. In gleichem
Sinne sprach Manfred Molicki vom Entideologisieren der
Rede von der Zeit. Im Prozess des Coaching soll die eigene
Wahrnehmungsfähigkeit geweckt, der eigene „Zeitsinn“ und
ein Emp nden für die eigene „Wohlfühlgeschwindigkeit“
(Klein) entfaltet werden. Von Achtsamkeit, die auch die An-
deren erfasst, sprach Elmar Hatzelmann.
„Der kompetente Umgang mit Zeit als Beziehungsziel“, so
umschrieb M. Molicki den Lernprozess für die Schule. Ge-
ronnene ideologische Zeitbegriffe müssten ent-lernt werden.
Nicht Anpassung an vorgegebene Zeitstrukturen, sondern
die Fähigkeit zum selbständigen Denken und zur „Chaos-
kompetenz“ sollten eingeübt werden. Zeit für Selbstre exion
könne für LehrerInnen durch echte Pausen während der Un-
terrichtszeiten ermöglicht werden, berichtete er als Beispiel
aus seiner Schule, durch Pausen, die nicht durch verschobene
Erledigungen aufgefressen werden.
Eine „Zeitgestaltungskompetenz“, die sich wider die „chrono-
metrische Hegemonie“ behaupten kann, nannte Annett Herr-
mann als Ziel von Zeitpolitik. Die „Multitemporalität“ von Le-
bensverhältnissen zu erkennen, ist ein Prozess des bewussten
Erlebens und der Wahrnehmung. Diese Komplexität nicht
durch vorgegebene Prioritäten reduzieren zu lassen und sich
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 57
AUS DER DGfZP
diesen nicht unterzuordnen, braucht Zeitgestaltungskompe-
tenz und politisch geregelte Optionen.
Durch die Beiträge aus den Coachingprozessen mit Klienten
aus verschiedenen Berufen wurde in unterschiedlicher Weise
deutlich, dass die angestrebten Re exionen auch über das je-
weilige Selbst hinausgehen. So kann die selbst geübte und be-
anspruchte Zeitkompetenz zu entsprechender Beachtung von
Strategien von KollegInnen führen, zur Ermutigung, Fehler
im Arbeitsprozess als Probleme öffentlich zu machen (nicht
versteckt auf dem Klo über vermeintliche eigene De zite zu
weinen), Anforderungen und Überforderungen als ungenü-
gende Arbeitsbedingungen zu thematisieren (Projekte, weil
undurchführbar, offen an die Wand zu fahren) oder auch
dazu, den Arbeitsplatz selbst zu kündigen.
Der „Siegeszug des Coaching“ (Klein) ist den veränderten
Anforderungen in Unternehmen geschuldet. Diese suchen
therapeutisches Wissen in ihre Arbeitsorganisation zu über-
setzen und für die Verbesserung von Kommunikation und die
Steigerung von Kreativität zu nutzen. Es entstehen dabei auch
neue Anforderungen und Erwartungen an die Führungskräf-
te: Vorgesetzte werden schlecht beurteilt, wenn ihre Mitarbei-
terInnen in Burn-Out geraten. Der reine „Zahlenmensch“ ist
keine gute Führungskraft.
Professionelles Coaching wird meist wegen Problemen in und
mit der beru ichen Tätigkeit gesucht. Die Gestaltung der Be-
ratung ist selbst ein Prozess, der sich „mit der Zeit“, d. h. in
der Beziehung, in laufender Abstimmung der Beteiligten ent-
wickelt und verändert. Es hängt vom Setting des Coachings ab
– u. a. wo es statt ndet, ob es selbst oder vom Unternehmen
angestoßen wurde – und von den Wegen der Selbstre exion,
welche Erfahrungen jenseits des Berufs zur Sprache gebracht
werden, welche Bedeutung persönlich private Beziehungen
und körperlich sinnliche Erlebnisse haben oder (wieder) ge-
winnen. Die eigenen Bilder, die dabei von einem guten Leben
entstehen, für das man Zeitkompetenz anstrebt, können auch
solche jenseits der eingefahrenen Vorstellungen von Verein-
barkeit von Familie und Beruf sein, offen für noch ungeübte,
unkonventionelle Arbeits- und Lebensformen.
In der Schlussrunde wurde von allen Beteiligten die Organisa-
tion des Tagungsablaufs wertgeschätzt, die das Tagungsthema
in der Praxis erprobte und die durch Pausen, Arbeitsgruppen
und Fishbowls Zeit für persönlichen Austausch gegeben hat.
Dr. Peter Beier (5. März 1945 – 13. Oktober 2016)
Peter Beier war – obschon selbst nie Mitglied
– den Mitgliedern und Sympathisantinnen der
Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik durch
mehrere Tätigkeiten bekannt. Er war – neben
Eckart Hildebrandt, Helga Krüger, Helmut
Spitzley und mir – Mitverfasser des zeitpoli-
tischen Manifests „Zeit ist Leben“ (2005) und
hat als Grundsatzreferent der Arbeitnehmer-
kammer Bremen für Druck und Verbreitung
dieser Streitschrift gesorgt. Bei dem Manifest
ging es ihm um den Respekt von Eigenzeiten
arbeitender Menschen in einer von Beschleunigung ge-
prägten Arbeitswelt. Er hat mit Klaus Körber und mir die
Jahres tagung 2013 „Demokratie braucht Zeit“ konzipiert
und ausgestaltet. Sein Ziel war, arbeitenden Menschen die
Zeit zu geben, die sie brauchen, um demokratische Teilhabe
wahrnehmen zu können, aber auch demokratischen Institu-
tionen und darin tätigen Akteuren Zeit zu geben, um proble-
mangemessen beraten und entscheiden zu können.
Er verband Sorge für Zeitpolitik mit Engagement für mehr
Bürgerbeteiligung. In Bremen wirkte er mehr als drei
Jahrzehnte in der gewerkschaftsnahen Arbeitnehmerkam-
mer und war an zahlreichen Initiativen und Projekten zu
den „Zeiten der Stadt“ beteiligt. Er zog das
„Forum Zeiten der Stadt“ mit auf, war an
der Expo 2000 in Hannover mit einer Aus-
stellung zur Zeitpolitik beteiligt. Er verband
Zeitpolitik immer mit Stadtentwicklungspro-
jekten – wie dem WiN-Projekt (Wohnen in
Nachbarschaften), der Mitarbeit bei Mehr
Demokratie e. V. etc. Als ehrenamtlicher Ge-
schäftsführer der Bremer Bürgerstiftung und
Mitarbeiter im bundesweiten Netzwerk Bür-
gerbeteiligung wollte er Betroffene – gerade
die wenig Beteiligungserfahrenen – in Beratungs- und
Entscheidungsprozesse über „ihre“ Angelegenheiten ein-
beziehen. Zuletzt begründete er eine Initiative im Bundes-
netzwerk, die sich gegen die „Landnahme“ durch Pegida
u. a. richtete, Bürgerbeteiligung, ja Plebiszite für Ziele
rechter und fremdenfeindlicher Politik zu usurpieren.
Peter Beier stritt stetig und beharrlich für Emanzipati-
on und Gerechtigkeit in einer zivilisierten und demokra-
tischen Gesellschaft. Er baute Brücken zum Anderen. Er
vertraute der verändernden Kraft des Geistes und der
Sinne. Das vereinte ihn mit Grundanliegen der Zeitpolitik.
Ulrich Mückenberger
58 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
VERANSTALTUNGEN
Zeitpolitik für Kinder
Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing
in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik
und dem Deutschen Kinderhilfswerk
Tutzing, 26. - 27. Januar 2017
„Arbeitszeit und Lebenszeit in der digitalen Optimierungsge-
sellschaft – Es ist Zeit darüber zu reden“
Gemeinsame Ringvorlesung von DGB und TU Berlin im WS 2016/17
Vom 27. 10. bis zum 15. 12. 2016 fanden an jedem Donnerstag in der TU Berlin Vorlesungen zum Thema „Arbeits- und Lebens-
zeit“ statt, u. a. mit einer Vorlesung von Ulrich Mückenberger zum Thema „Lebensphasenorientierte: Modelle und Ansätze“.
Folien und Audio-Dateien der einzelnen Vorlesungen im Internet unter www.zewk.tu-berlin.de/v_menue/wissenschaft_ar-
beitswelt_koop/tagungen_und_veranstaltungen/gemeinsame_ringvorlesung_von_dgb_und_tu_berlin_im_ws_201617
Kinderzeit – Keine Zeit?
Manchmal scheint es fast so. Bei einer „40-Stunden-Woche
und mehr“ in der Schule, die eine Umfrage des Deutschen
Kinderhilfswerks und von UNICEF unter Kindern und Ju-
gendlichen ermittelt hat, wird selbstbestimmte Zeit zur
Mangelware. Und doch scheint gerade sie so wichtig, um das
Erlebnis Kindheit voll ausschöpfen zu können. Kinder müs-
sen lernen, aber ist Schule der einzige Bildungsort? Musik-,
Sport- und Freizeitangebote geraten immer mehr ins Hinter-
treffen im gedrängten Kinderalltag.
Kinder brauchen auch Zeit zum Spielen, zum Erkunden der
Umwelt, für Freundschaften, zum Rumstromern, zum Le-
sen… Freilich, wir erleben, dass solch klassischer „Zeitver-
treib“ – besser Zeitnutzen – in der weniger gewordenen Zeit
der Kinder gar nicht mehr an vorderer Stelle steht, sondern die
Beschäftigung mit Computer, Smartphone und Playstation.
Wie ist der aus Sicht von Erwachsenen oft zu ausgedehnte
Mediengebrauch auch im Hinblick auf die Zeitfrage zu be-
werten? Was kann und will Zeitpolitik für Kinder erreichen?
Kann sie auch Zeitpolitik mit Kindern werden? Wie verhält
sie sich zu den Bildungsansprüchen der Schule (auch schon
der Kitas)? Und nicht zuletzt: Was wären die konkreten Maß-
nahmen, um eine Zeitpolitik für Kinder sinnvoll umzusetzen?
Diese und weitere Fragen wollen wir gemeinsam mit Ihnen in
der Tagung erarbeiten. Zeit- und Kindheits-ExpertInnen geben
uns Inputs, wir wollen uns aus Sicht unterschiedlicher Diszi-
plinen und Institutionen austauschen und zu neuen Einsichten
im Hinblick auf eine Zeitpolitik für Kinder gelangen. Wir laden
Sie herzlich in die Evangelische Akademie Tutzing ein!
Dr. Ulrike Haerendel, Ev. Akademie Tutzing, Holger Hof-
mann, Deutsches Kinderhilfswerk, Prof. Dr. Ulrich Mücken-
berger, Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik
www.ev-akademie-tutzing.de/veranstaltung/zeitpolitik-fuer-kinder/
Veranstaltungen
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 59
NEUE LITERATUR
Neue Literatur
Bitte senden Sie Informationen über Ihre Veröffentlichungen an elke-grosser@t-online.de
Beiträge von DGfZP-Mitgliedern in Sammelbänden und Zeitschriften
Karin Jurczyk und Ulrich Mückenberger (2016):
Arbeit und Sorge vereinbaren: Ein Carezeit-Budget für atmende Lebensläufe.
In: Körber Impuls Demographie Nr. 5. www.koerber-stiftung.de
Rezension beider Bücher:
Das Thema „Zeit- und Leistungs-
druck“ in der Arbeitswelt ist in den letzten Jahren vor allem
infolge einer neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik so-
wie der Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen verstärkt
in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt. Begriffe wie
Burn-out-Syndrom, Arbeitsstress, Entgrenzung der Erwerbs-
arbeit, Work-Life-Balance oder Deregulierung und Flexibili-
sierung verweisen nicht nur aus Sicht der Beschäftigten auf
problematische Entwicklungen und auf die vielschichtigen
Aspekte des Zeit- und Leistungsdrucks. Wichtige Informa-
tionen zu diesem Themenkomplex sind beispielsweise dem
„Stressbericht Deutschland 2012“ der Bundesanstalt für Ar-
beitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) sowie den regelmä-
ßig erscheinenden Studien verschiedener Krankenkassen zu
entnehmen, z. B. den jährlichen Gesundheitsreports der DAK.
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
(BAuA) hat auch das Forschungsprojekt „Zeit- und Lei-
stungsdruck bei Dienstleistungstätigkeiten“ in Auftrag ge-
geben, dessen Teilstudien in den beiden hier vorgestellten
Büchern dargestellt sind. Im Vorwort des ersten Bands stellt
Gisa Junghanns (BAuA) fest, dass es bisher ungeklärt sei,: „…
was die Beschäftigten unter Zeit- und Leistungsdruck jeweils
konkret verstehen, welche betrieblichen Bedingungen in wel-
cher Weise zur Entstehung von Zeit- und Leistungsdruck am
Arbeitsplatz beitragen und welche Umgangsweisen und Stra-
tegien Organisationen und Beschäftigte entwickelt haben,
um den Druck zu bewältigen“ (S. 9). Hieraus habe sich das
Forschungsinteresse ergeben, wobei sich der Fokus auf qua-
Empfehlenswerte neue Veröffentlichungen anderer Autoren
li zierte Dienstleistungstätigkeiten in ausgewählten Berufs-
bereichen gerichtet habe. Jede der beiden Autorengruppen
berichtet über Fallstudien aus mehreren Berufsgruppen. Zur
Erfassung der betrieblichen Belastungen wurde ein ausführ-
lich beschriebener und begründeter Mix von Instrumenten
der qualitativen Sozialforschung eingesetzt und für jede Be-
rufsgruppe eine Fallstudie erstellt.
Im Band „Professioneller Umgang mit Zeit- und Leistungs-
druck“ sind dies Fallstudien über Ärztinnen und Ärzte eines
Krankenhauses, über Fach- und Führungskräfte in einem
Technik- und Infrastrukturdienstleistungsunternehmen so-
wie über Lehr- und Führungskräfte eines großen Bildungs-
anbieters. Die Autoren de nieren Zeit- und Leistungsdruck
als Folge belastender Arbeitsanforderungen und -bedin-
gungen (S. 215). Dabei unterscheiden sie zwischen zeitbezo-
genem Druck (z.B. Arbeitsgeschwindigkeit und Termindruck)
und leistungsbezogenem (z. B. Aufgabenfülle sowie büro-
kratische, unklare und vor allem widersprüchliche Anforde-
rungen). In allen Bereichen sei seit einiger Zeit zunehmender
Zeit- und Leistungsdruck feststellbar gewesen. Als belastend
wurden u. a. zu enge Zielvorgaben, kleinteilige, über Kenn-
ziffern gesteuerte Ergebniskontrollen und aufwändige Doku-
mentationsverp ichtungen gesehen. Wenn die Tätigkeiten an
individuellen und betrieblichen Qualitätsstandards und an
berufsethischen Normen ausgerichtet seien, verringere sich
das Erleben von Druck. Wenn aber aufgrund von Zeit- und
Leistungsdruck gegen diese Standards verstoßen werde, stei-
ge der vorhandene Druck. Verschärfte Marktanforderungen
Christoph Handrich,
Carolyn Koch-Falkenberg
und G. Günter Voß
Professioneller Umgang mit Zeit-
und Leistungsdruck
2016
Baden-Baden:
edition sigma/Nomos
Wolfgang Dunkel und Nick Kratzer
Zeit- und Leistungsdruck bei Wis-
sens- und Interaktionsarbeit: Neue
Steuerungsformen und subjektive
Praxis
2016
Baden-Baden:
edition sigma/Nomos
60 ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016
NEUE LITERATUR
und die immer bedeutsamere Kundenorientierung verursach-
ten zusätzliche Belastungen. Die Bewältigung des betrieblich
bedingten Zeit- und Leistungsdrucks werde primär von den
Beschäftigten individuell geregelt, „und sie werden damit sy-
stematisch alleingelassen“ (S. 232). Auf individueller Ebene
könne den Belastungen nur begrenzt entgegengewirkt wer-
den. Die Forscher entwickeln zum Schluss Ansätze, wie auf
betrieblicher Ebene Belastungsfaktoren verringert werden
könnten. Vorgeschlagen werden u. a. kooperativ beschlossene
Zielvereinbarungen statt Zieldiktaten, Begrenzung von Ne-
benaufgaben und bürokratischen Verp ichtungen sowie klare
Stellvertreterregelungen.
Im Band „Zeit- und Leistungsdruck bei Wissens- und Inter-
aktionsarbeit“ werden Betriebsfeldstudien aus der Branche
„IT-Service“ und der Branche „Entwicklung“ vorgestellt. Das
IT-Unternehmen entwickelte Softwareprodukte und bot Ser-
viceleistungen zu diesen an. Das andere war ein Familien-
betrieb mit einigen tausend Beschäftigten im High-Tech-
Bereich. In beiden Fallstudien konnten vier Bedingungsfak-
toren für Zeit- und Leistungsdruck nachgewiesen werden: ko-
stenorientierter Personaleinsatz, anspruchsvollere Kunden/
komplexere Produkte, komplexe/globalisierte Organisation
sowie Beschleunigung der Innovationszyklen, der Organisati-
onsentwicklung, aber auch der Arbeit selbst. Die Beschäftigten
nahmen die wachsenden Belastungen vor allem in drei Formen
von Zeit- und Leistungsdruck wahr: 1. Anforderungsdruck,
d. h. die Beschäftigten sahen sich überhöhten Leistungs-
anforderungen ausgesetzt. 2. Erwartungsdruck an Ef zienz
der Organisation und Koordination der eigenen Tätigkeiten.
3. Beobachtungsdruck, der durch die permanenten Kontrollen
und Bewertungen der eigenen Leistung erzeugt wird.
Die Akzeptanz dieser Belastungen sei individuell unter-
schiedlich. Insgesamt sei die Akzeptanz vor allem von der
Anerkennung erbrachter Leistungen, von quantitativer und
qualitativer Überschaubarkeit und von der Begründung hö-
herer Anforderungen sowie vom Erfolg der unter Druck er-
ledigten Tätigkeiten abhängig. Die Autoren unterscheiden
zwei konträre (ideal)typische Umgangsweisen mit Zeit- und
Leistungsdruck: Perfektionismus und Pragmatismus. Sie ge-
ben Letzterer den Vorzug: „Kurz gesagt und mit aller Vorsicht
kann angenommen werden, dass ‚Pragmatismus‘ die gesün-
dere Umgangsweise mit Zeit- und Leistungsdruck ist und
andersherum dem ‚Perfektionismus‘ die Gefahr der Selbst-
überforderung… – und angesichts unerfüllbarer Leistungs-
anforderungen auch der Enttäuschung und des Scheiterns –
inhärent ist“ (S. 185). Allerdings seien die Spielräume der
Beschäftigten gering, das Missverhältnis von Anforderungen
und Ressourcen zu verändern. Realistisch betrachtet gebe
es solche nur, um Zeit- und Leistungsdruck arbeits- und
lebensverträglicher zu gestalten. Ansatzpunkte könnten sein:
bessere Arbeitsorganisation (Reduktion von Störungen und
Unterbrechungen), Ausweitung von Gestaltungsspielräumen,
betriebliche Diskussionen über die Umgangsweisen mit Bela-
stungen und die Festlegung erreichbarer Ziele sein, die auch
individuell unterschiedliche Lebensumstände, Quali kati-
onen und Erfahrungen berücksichtigt.
Die Fallstudien in beiden Bänden zeigen, dass Beschäftigte
auf höheren Hierarchiestufen im Dienstleistungssektor dem
wachsenden betrieblichem Zeit- und Leistungsdruck vor
allem mit individuellen Gegenstrategien begegnen. Oftmals
werden die Folgen von Belastungen wie Zeitstress oder ge-
sundheitlichen Beeinträchtigungen als Folge individueller
Quali kations- und Organisationsprobleme angesehen. Kol-
lektive Gegenstrategien werden im Bereich der in den Studi-
en untersuchten hoch quali zierten Dienstleistungsbereiche
dagegen nur sehr selten diskutiert.
Ludwig Heuwinkel
Truis Wyller
Was ist Zeit?
Ein Essay
Stuttgart: Philip Reclam jun.
Im Alltag gehen wir ganz selbstverständlich um mit Zeit, aber
so recht begrei ich wird sie uns dennoch nicht, In der Antike
behalf man sich damit, die Zeit als Gottheit zu verstehen. Spä-
ter hielten das Phänomen die ersten für etwas Physisches, die
anderen für etwas Psychisches. Ist Zeit aber vielleicht beides?
Und wie ist das Verhältnis von naturwissenschaftlich gemes-
sener zu erlebter Zeit zu verstehen?
Die verschiedenen Fachdisziplinen wie Physik, Anthropolo-
gie, Geschichte, Religion und Literatur haben sich um Beant-
wortung dieser drängenden Fragen gekümmert. Truis Wyller
durchforstet diese spannenden Ansätze und erklärt kompli-
zierte Sachverhalte und Fragen durch einfache, aus der Re-
alität genommene oder erfundene Scenarien. (Verlagstext)
ZPM NR. 29, DEZEMBER 2016 61
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... Grundsätzlich birgt Entschleu- 55 3 Gesellschaftliche Trends der Resscourcenschonung nigung sowohl positive wie negative Umweltaus- wirkungen. Zeitliche Kapazitäten, die gegenwärtig mit Hilfe digitaler Technologien und zunehmender Flexibilisierung generiert werden können, lassen in der Regel Zeit-Rebound-Effekte folgen, wenn ein Mehr an Zeit und Freizeit die Häufigkeit von Konsummög- lichkeiten begünstigt(Buhl 2016, Bruckner 2008.Forderungen nach alternativen, nachhaltigen Ar- beitsformen entstehen in Erwerbsarbeitskontexten, in denen neue kollektive Arbeitsformen beginnen sich auszubilden(von Jorck 2016). Gerade die Ent- wicklung neuer Informations-und Kommunikations- technologien lassen im Zuge der Digitalisierung neue Formen sozio-kultureller Praktiken (z. ...
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Technologische Entwicklungen und Trends, können signifikant zu Ressourcenschonung beitragen. Wie sie konkret wirken hängt jedoch stets von den gesellschaftlichen Kontextfaktoren ab. Neben politischen Rahmenbedingungen sind hier soziale Routinen, Handlungsmuster und Konsumstile bedeutsam, da sie einen erheblichen Einfluss auf den individuellen und gesamtgesellschaftlichen Ressourcenbedarf besitzen. Die vorliegende Trendanalyse untersucht daher systematisch, wie sich sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Trends auf die Inanspruchnahme von Ressourcen auswirken können. Die Ergebnisse dieser Trendanalyse legen nahe, dass es übergreifende und ganzheitliche Ansätze und seitens der Politik einen Policy Mix mit passgenauen Instrumenten zur Erreichung von Ressourcenschonung erfordert.
Technical Report
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Vor dem Hintergrund drohender Überschreitungen der ökologischen Grenzen einerseits, aber auch gesellschaftlich geäußerter Bedürfnisse nach mehr Zeitwohlstand und -autonomie andererseits wird in den letzten Jahren die Rolle von Zeit auch für Umweltschutz, nachhaltige Entwicklung und die Gestaltung von Transformationsprozessen stärker thematisiert. Das vorliegende Papier versucht, die unterschiedlichen Aspekte bzw. Dimensionen von Zeit im Kontext der Gestaltung von Umweltpolitik und Nachhaltigkeitstransformationen konzeptionell aufzubereiten. Den Ausgangspunkt bildet dabei das Konzept der „transformativen Umweltpolitik“ (Jacob et al. 2020; Wolff et al. 2018). Es stellt Ansätze vor, mit denen Nachhaltigkeitstransformationen vorangetrieben und gestaltet werden können. Im Konzept der transformativen Umweltpolitik wird Zeit teils implizit, teils explizit aufgegriffen – im Kontext der Langfristigkeit und spezifischen Dynamiken von Nachhaltigkeits-Transformationen sowie der Unsicherheit und Pfadabhängigkeiten, mit denen diese zu kämpfen haben. Im vorliegenden Papier wird grundsätzlicher umrissen, welche Rolle Zeit als Einflussfaktor auf umweltrelevantes Handeln spielen kann und welche Zusammenhänge zwischen Zeit und Politik (i.S.v. „policy“, „politics“ und „polity“) bestehen. Es werden vier mögliche Ansatzpunkte für die Berücksichtigung von Zeit in der (Umwelt-) Politik skizziert: „Umweltpolitische Zeitgestaltung“, „Zeitbewusste Umweltpolitik“, „Vorausschauende Umweltpolitik“ und „Ökologische Zeitwohlstandspolitik“. Dabei wird jeweils beschrieben, was unter dem Ansatz zu verstehen ist; mit welchen der Handlungsansätze für eine transformative Umweltpolitik er zusammenhängt und mittels welcher Verfahren und Instrumente er umgesetzt werden kann. Im Fazit wird hervorgehoben, dass es sich lohnt, Ansatzpunkte für die Berücksichtigung von Zeit stärker in der umweltpolitischen Praxis zu verankern und systematischer zu nutzen: Sie alle haben das Potenzial, die Durchsetzbarkeit, Wirksamkeit, Gerechtigkeit und Akzeptanz von (transformativer) Umweltpolitik zu erhöhen.
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Dem Alltagswissen gilt die Differenz von Kindern und Erwachsenen — ähnlich wie die Geschlechterdifferenz — als natürliche Tatsache. Während darüber gestritten wird, inwiefern von der 68er, der 89er und dergleichen Generationen mehr gesprochen werden kann, wird nicht bezweifelt, dass es Kinder, Erwach-sene und Alte tatsächlich gibt. Dennoch - oder gerade deshalb - will ich in diesem Beitrag eine Forschungsperspektive entwickeln, die danach fragt, wie die Differenz und Asymmetrie von Kindern und Erwachsenen in der kulturellen Praxis „gemacht“ wird. Diese Perspektive nimmt Distanz zum Alltagswissen über Generationen ein, um die Generationendifferenzierung kulturanalytisch untersuchen zu können.1
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Alter und Altern werden heute von verschiedenen Wissenschaften intensiv erforscht. Biologen, Soziologen, Psychologen und andere sprechen vom Alter(n) - und scheinen dabei als selbstverständlich vorauszusetzen, dass sie alle über das Gleiche reden. Christiane Mahr untersucht erstmals, ob die verschiedenen wissenschaftlichen Begriffe des Alter(n)s tatsächlich dieselbe Bedeutung haben. Ihre Analyse zeigt, dass der Anschein der semantischen Einheitlichkeit trügt, weil zwischen den verschiedenen Alter(n)sbegriffen signifikante Unterschiede bestehen. Die Untersuchung führt zu einer begrifflichen Klärung, die für die Optimierung der interdisziplinären Kommunikation fruchtbar gemacht werden kann.
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Man kann die moderne Gesellschaft unter sachlichen Gesichtspunkten beobachten – und stößt auf die Differenzierung von Funktionen. Man kann sie unter sozialen Gesichtspunkten in den Blick nehmen – und stößt auf Schichtung, auf Kollektivitäten und Distributionsstrukturen. Man kann sie auch auf räumliche Dimensionen hin untersuchen – und stößt dann auf wechselseitige Beobachtungsverhältnisse von Orten und Perspektiven. In diesem „modernen Klassiker“ der Systemtheorie wird die moderne Gesellschaft im Hinblick auf ihre zeitliche Ordnung und Dynamik hin abgeklopft. Man stößt dann auf die Gleichzeitigkeit all der zuvor genannten Dimensionen: auf die Gleichzeitigkeit der Funktionen, Schichten, Kollektivitäten und Räume und auf das Problem ihrer Synchronisation. Neben einer sozialtheoretischen Aufarbeitung einer soziologischen Theorie der Zeit wird in dieser Untersuchung auch ein Entwurf einer Gesellschaftstheorie der Zeit vorgelegt. Diese Neuauflage wird um einen aktuellen Beitrag des Autors ergänzt, in dem Ertrag und aktuelle Bedeutung der Untersuchung fokussierend auf den Begriff gebracht werden.
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Der Autor entwickelt die These, dass die zunächst befreiende und befähigende Wirkung der modernen sozialen Beschleunigung, die mit den technischen Geschwindigkeitssteigerungen des Transports, der Kommunikation oder der Produktion zusammenhängt, in der Spätmoderne in ihr Gegenteil umzuschlagen droht. Das Tempo des Lebens hat zugenommen und mit ihm Stress, Hektik und Zeitnot, so hört man allerorten klagen – obwohl wir auf nahezu allen Gebieten des sozialen Lebens mithilfe der Technik enorme Zeitgewinne durch Beschleunigung verzeichnen können. Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen. Dafür, so die leitende These der Arbeit, ist es erforderlich, die Logik der Beschleunigung zu entschlüsseln.
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Im Zeitalter großer Organisationen ist Zeit knapp geworden. Zeitdruck ist eine verbreitete Erscheinung. Der Blick auf die Uhr und der Griff zum Terminkalender in der Tasche sind Routinebewegungen geworden. Die Verabredungsschwierigkeiten treiben die Telefonkosten in die Höhe. Schlichte rote Mappen (mit längst nicht mehr eiligem Inhalt), Eilt-Mappen, Eilt-sehr-Mappen bevölkern den Schreibtisch und seine Umgebung. Einige drängen sich durch ihre Lage mitten auf dem Schreibtisch und durch einen besonderen Zettel »Terminsache!« vor im Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Die Orientierung an Fristen und fristbedingten Vordringlichkeiten bestimmt den Rhythmus der Arbeit und die Wahl ihrer Thematik. Das alles bedarf vor den Lesern dieser Zeitschrift keines Nachweises. Es gehört zu ihrer eigenen Erfahrung. Die Organisation der Arbeit bringt das mit sich. Aber auch der organisierte Urlaub weist die gleiche eingeteilte und kleingehackte Zeitstruktur auf. Man ißt nicht, wann man Hunger hat, sondern um 12.30 Uhr. Man jagt nach Hause, um den Beginn der Fußballreportage nicht zu verpassen, beschleunigt heftig, um noch vor Umschaltung der Ampel über die Kreuzung zu kommen und riskiert Menschenleben — für Sekunden. Es scheint, daß die Einteilung der Zeit die Ordnung der Werte durcheinandergebracht hat.
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Die Dokumentarische Methode ist eine Methodologie der qualitativen Sozialforschung, die sich seit langem in der Forschungspraxis bewährt hat. In diesem Buch wird in umfassender Weise theoretisch begründet und forschungspraktisch gezeigt, wie mit der Dokumentarischen Methode Interviews ausgewertet werden. Dabei wird dem narrativen Charakter von Interviews, seien diese leitfadengestützt oder biographisch angelegt, besonders Rechnung getragen. Neben der formulierenden und reflektierenden Interpretation der Interviews geht es um deren Vergleich und um die sinn- wie soziogenetische Typenbildung. Das Buch zeigt in seiner fünften Auflage zudem wichtige Weiterführungen der dokumentarischen Interpretation narrativ fundierter Interviews auf, ist mit seinen ausführlichen Forschungsbeispielen vor allem aber eine Anleitung für die Forschungspraxis. Der Inhalt • Einleitung • Narrativ fundierte Interviews • Die Methodologie der dokumentarischen Interpretation von Interviews • Die Praxis der dokumentarischen Interpretation von leitfadengestützten Interviews • Die Praxis der dokumentarischen Interpretation von biographischen Interviews • Weiterführungen der dokumentarischen Interpretation narrativer Interviews • Fazit und Ausblick Die Zielgruppen Studierende und Dozierende der Sozialwissenschaften. Der Autor Dr. Arnd-Michael Nohl ist Professor für Erziehungswissenschaft, insbesondere systematische Pädagogik, an der Helmut Schmidt Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg.
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There is — or at least there used to be — an English saying that ‘your school days are the best days of your life’ and as such, this phrase forms part of the contemporary mythologizing of childhood in England. This widely portrays childhood as a time of happiness, as a time for being carefree and innocent, a time when the world’s woes are held at bay (Gittens, 1998). In this chapter, however, I use the term mythology more deliberately, recalling Roland Barthes’s (1976) usage to describe the stories or ‘myths’ that are told about life events and which, in time, become motifs around which particular complexes of ideas are strung or through which particular personae emerge. These cultural myths, which we tell ourselves or which are told to us, he suggests, provide schemas for our thinking and a charter for our actions.