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Abstract

Leben wir in einem neuen, vom Menschen bestimmten Erdzeitalter? Diese Frage wird intensiv und kontrovers innerhalb und außerhalb der Geowissenschaften diskutiert. Während Geowissenschaftler nach eindeutigen Markern in Eisbohrkernen, Sedimentschichten und Böden suchen und dem „Golden Spike“ auf der Spur sind, der den Beginn des sogenannten Anthropozäns markieren soll, wird der Begriff in den Gesellschaftswissenschaften und in der Öffentlichkeit breiter und kritischer betrachtet. An der Universität Heidelberg spielen Mensch-Umwelt-Wechselwirkungen in Forschungsprojekten und auch in der Lehre eine zunehmende Rolle. - Ruperto Carola Forschungsmagazin, Ausgabe 15/2019, S. 24-33, Universität Heidelberg.
DER MENSCH ALS
GEOLOGISCHE
KRAFT
25
GEOLOGIE
Leben wir in einem neuen, vom
Menschen bestimmten Erdzeitalter?
Diese Frage wird intensiv und kon-
trovers innerhalb und außerhalb der
Geowissenschaften diskutiert. Wäh-
rend Geowissenschaftler nach ein-
deutigen Markern in Eisbohrkernen,
Sedimentschichten und Böden suchen
und dem „Golden Spike“ auf der
Spur sind, der den Beginn des so-
genannten Anthropozäns markieren
soll, wird der Begriff in den Gesell-
schaftswissenschaften und in der
Öffentlichkeit breiter und kritischer
betrachtet. An der Universität
Heidelberg spielen Mensch-Umwelt-
Wechselwirkungen in Forschungs-
projekten und auch in der Lehre eine
zunehmende Rolle.
DER MENSCH ALS GEOLOGISCHE KRAFT
OLAF BUBENZER, HANS GEBHARDT & FRANK KEPPLER
KULTUR
&
NATUR
KAPITEL I
DAS ZEITALTER
DES ANTHROPOZÄNS
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RUPERTO
CAROLA
NR. 15
DEZEMBER
2019
GEOLOGIE
Bereits Alexander von Humboldt, dessen Geburtstag sich
am 14. September 2019 zum 250. Mal jährte, erkannte
die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Umwelt.
In der Folgezeit wiesen vor allem Geowissenschaler wie
George Perkins Marsh (1864, „Man and Nature“), Antonio
Stoppani (1873, „Anthropozoic“), Alexander Petrovich
Pavlov (1992, „Anthropogene“) und auch Vladimir Ver-
nadsky (1924, „Noosphere“) wiederholt darauf hin, dass
der Mensch zu einem wichtigen Faktor im natürlichen Pro-
zessgeschehen auf der Erde geworden sei. Es dauerte jedoch
bis zum Jahr 2000, bis der Atmosphärenforscher und
Nobelpreisträger Paul Crutzen den Begri „Anthropozän“
(von „Anthropos“ – Mensch und „zän“ – Epoche) in die
wissenschaliche Debatte trug – zunächst während einer
Konferenz in Mexiko und dann gemeinsam mit dem Biolo-
gen Eugene Stoermer. Er wies darauf hin, dass der Mensch
der dominierende Faktor im (Klima-)System Erde geworden
sei, da spätestens mit dem Beginn der Industrialisierung
nahezu alle wichtigen Sto kreisläufe – beispielsweise Stick-
sto-, Phosphor- und Kohlenstokreislauf – maßgeblich
und nachfolgend verstärkt von menschlichen Einflüssen
verändert worden seien.
In den Folgejahren wurde der Begriff Anthropozän in an-
deren Wissenschasdisziplinen und zunehmend auch in
der breiten Öentlichkeit diskutiert. Die Geowissenschaen
suchen dabei vor allem nach einer klaren Einordnung in
die geologische Gliederung der Erdgeschichte und einem
klar zu definierenden Startzeitpunkt für dieses neue Zeit-
alter. Dagegen führte die Diskussion in anderen Disziplinen
wie Biologie, Ökonomie, Philosophie, Soziologie, Politik-
wissenschaen und Ethnologie sowie in der Öentlichkeit –
etwa in Zeitungsartikeln, Filmen und Ausstellungen – zu
einer wesentlich breiteren Wahrnehmung und Ausdeutung
des Begries.
Die geologische Perspektive
Mit der Industrialisierung ist der Mensch eine geologische
Kra geworden: Noch nie hat eine Spezies das Gesicht des
Planeten Erde in so kurzer Zeit so grundlegend verändert.
Die dramatischsten Veränderungen, die häufig unter dem
Begri „The Great Acceleration“ zusammengefasst werden,
setzten in den 1950er-Jahren ein. Seither verändern sich
die biogeochemischen Kreisläufe und die als Biodiversität
Bbezeichnete biologische Artenvielfalt in erheblichem Maße.
Die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf unserer
Erdoberf läche sind unübersehbar und werden durch Auf-
nahmen aus dem All besonders augenscheinlich. Wenn
nicht eine globale Extremkatastrophe die Menschheit trit,
wird sich diese Rolle als dominierende Kraft in der Um-
welt weiter verstärken. In der Erdsystemforschung spielen
dabei die Begriff lichkeiten „Kippelemente“ und „Kipp-
punkte“ eine wichtige Rolle.
Kippelemente als Achillesfersen im Erdsystem
Was ist mit „Kippelementen“ und „Kipppunkten“ gemeint?
Seit einigen Jahrzehnten ermöglicht es die Analyse von
Satellitendaten, die anthropogene Überprägung und Um-
gestaltung der Landoberflächenbedeckung zu erfassen,
woraus eindrucksvolle Karten entstanden sind. Das zuneh-
mende Wissen um die globalen Sto kreisläufe bewegte
den Resilienzforscher Johan Rockström und den Klimafor-
scher Will Steen dazu, planetarische Grenzen („Planetary
Boundaries“) für die anthropogene Beeinflussung wichtiger
globaler biophysikalischer Stokreisläufe sowie die Bio-
sphäre und die Landnutzung vorzuschlagen. Damit bauten
sie letztendlich auf dem 1972 veröentlichten Report des
Club of Rome mit dem Titel „Die Grenzen des Wachstums“
auf. Bei einem Überschreiten dieser planetarischen Gren-
zen, beispielsweise durch einen zunehmenden Schadsto-
eintrag oder durch Waldrodung, könne es zu unumkehr-
baren Schäden kommen, erklärten die Wissenschaler. Die
negativen Veränderungen verlaufen nach diesen Szenarien
schleichend oder auch schnell, sobald kritische Schwellen-
werte überschritten wurden.
In diesem Zusammenhang identifizierten und diskutieren
der Klima- und Erdwissenschaftler Tim Lenton sowie der
Physiker und Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber
sogenannte Kippelemente oder Kipppunkte als „Achilles-
fersen im Erdsystem“: Darunter sind Bestandteile des
Erdsystems von überregionaler Größe zu verstehen, die ein
Schwellenverhalten in Bezug auf das Hintergrundklima
aufweisen. Damit ist gemeint, dass sie, wenn sie bereits nah
an einem Schwellenwert operieren, schon durch kleine
externe Störungen in einen qualitativ neuen Zustand ver-
setzt werden können. Manche dieser Kipppunkte könnten
bereits im Laufe des 21. Jahrhunderts überschritten wer-
den oder sind sogar schon überschritten. Allerdings lässt
sich bislang nicht aus Beobachtungen ableiten, wo genau
ein solcher Punkt liegt – also beispielsweise bei welcher
Temperatur oder bei welcher Niederschlagsmenge er über-
schritten wird – beziehungsweise ob er überhaupt exis-
tiert. Ein solches „Umkippen“ stellt also ein Risiko dar, bei
dem der Schaden gewaltig, aber die Wahrscheinlichkeit
des Eintretens unbekannt ist. Nach Einschätzung von Ex-
perten stellt das Abschmelzen des arktischen Meereises
und des grönländischen Eisschilds derzeit die größte Be-
drohung dar.
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KULTUR
&
NATUR
KAPITEL I
„Mit der Indus-
trialisierung ist der
Mensch eine
geologische Kraft
geworden: Noch nie hat
eine Spezies das
Gesicht des Planeten
Erde in so kurzer
Zeit so grundlegend
verändert.
GEOLOGIE
PROF. DR. OLAF BUBENZER
leitet seit dem Jahr 2017 den
Forschungsbereich „Geomorpho-
logie und Bodengeographie“
am Geographischen Institut der
Universität Heidelberg, den er
bereits in den Jahren 2007 bis
2012 vertrat. In der Zwischen-
zeit forschte und lehrte er an der
Universität zu Köln, wo er die „AG
Quartärforschung und Angewandte
Geomorphologie“ sowie die „Abtei-
lung für Afrikaforschung“ leitete.
Aktuell ist er Teilprojektleiter in
den Sonderforschungsbereichen
806 „Unser Weg nach Europa:
Kultur-Umwelt-Interaktion und
menschliche Mobilität im späten
Quartär“ und 1211 „Evolution der
Erde und des Lebens unter extre-
mer Trockenheit“. Olaf Bubenzer
ist Fellow des Marsilius-Kollegs
und Gründungsdirektor des Heidel-
berg Center for the Environment
(HCE). Seine Schwerpunkte liegen
in der physisch-geographischen
Trockengebietsforschung einschließ-
lich Mensch-Umwelt-Interaktionen.
Kontakt: olaf.bubenzer@
uni-heidelberg.de
PROF. DR. HANS GEBHARDT
wurde 1996 auf die Professur
für Anthropogeographie an der
Universität Heidelberg berufen,
seit 2018 ist er als Seniorprofes-
sor tätig. Seine Forschungsschwer-
punkte liegen in der modernen
Kulturgeographie und der Poli-
tischen Geographie, regional im
Vorderen Orient, in Südostasien
und in China. Er war Fellow des
Marsilius-Kollegs und gehört zu
den Gründern des Heidelberg
Center for the Environment (HCE).
Gemeinsam mit dem Umwelt-
physiker Prof. Dr. Ulrich Platt
und dem Umweltökonom Prof.
Timo Goeschl organisierte Hans
Gebhardt zwei interdisziplinäre
Forschungsprojekte im Rahmen
des Marsilius-Kollegs beziehungs-
weise des HCE zu den Themen
„Global Change and Globalisa-
tion“ und „The Global Governance
of Climate Engineering“.
Kontakt: hans.gebhardt@
uni-heidelberg.de
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RUPERTO
CAROLA
NR. 15
DEZEMBER
2019
Löst das Anthropozän das Holozän ab?
Die drastischen Veränderungen auf der Erdoberfläche haben
dazu geführt, dass in den Geowissenschaften intensiv
darüber diskutiert wird, ob das Anthropozän ozieller Teil
der geologischen Zeitskala wird und damit das Holozän –
den gegenwärtigen Zeitabschnitt der Erdgeschichte, der
seit dem Ende der letzten Eiszeit vor 11.700 Jahren gilt –
als neue geologische Epoche ablöst. Aber auch die Geo-
experten sind sich in dieser Frage alles andere als einig.
Einige Kolleginnen und Kollegen sind überzeugt, es gebe
überhaupt keinen Grund, eine neue geologische Epoche
einzuläuten. Um ein neues Zeitalter auszurufen, müssen
aus geologischer Sicht eindeutige stratigraphische Krite-
rien erfüllt werden, also Kriterien, die geologische Schich-
ten und die Chronologie betreffen. Somit muss sich in
einem Zeitraum der Erdgeschichte, die etwa 4,5 Milliarden
Jahre umfasst, etwas grundlegend und weltweit verändert
haben. Dokumentiert sein kann das durch eine Gesteins-
schicht mit bestimmten Leitfossilien wie beispielsweise
Trilobiten und Ammoniten oder mit Meeresablagerungen,
durch besondere Gesteinsformationen oder durch charak-
teristische Einschlüsse in Eisbohrkernen – wobei letztere
Umweltarchive bei fortschreitendem Klimawandel bald
verschwunden sein werden.
Die Entscheidung darüber, ob wir in einem neuen Zeitalter
leben, trit ein ausgewähltes Gremium von Experten: die
Internationale Stratigraphische Kommission (International
Commission on Stratigraphy, ICS). Die ICS hat zur Klärung
dieser Frage eine 34-köpfige Arbeitsgruppe eingesetzt, an
der neben Geologen auch Klimaforscher, Ökologen und
Juristen beteiligt sind. Diese Arbeitsgruppe „Anthropozän“,
zu der auch Nobelpreisträger Crutzen und der Berliner
Geologe und Paläontologe Reinhold Leinfelder gehören, be-
schäigt sich seit dem Jahr 2009 mit der Ausarbeitung
einer Empfehlung. Am 21. Mai 2019 wurde beschlossen,
dass das Anthropozän als chronostratigraphische Einheit
mit einem „Global Stratotype Section and Point“ (GSSP),
also einer klar zu definierenden zeitlichen Untergrenze,
behandelt werden soll. Als diese Untergrenze soll eines der
„stratigraphischen Signale“ gefunden werden, die seit
Mitte des 20. Jahrhunderts deutlich messbar und global
verbreitet sind – beispielsweise das Aureten von Radio-
nukliden nach dem Test von Atombomben, Plastik, Ver-
brennungsrückstände, synthetische Chemikalien, Techno-
fossilien, Schwermetalle oder Biodiversitätsverlust.
Die Suche nach dem „Golden Spike“
In den Geowissenschaen wird die Untergrenze eines
erdgeschichtlichen Abschnittes möglichst mit einem soge-
nannten „Golden Spike“ markiert. Ursprünglich stammt
dieser Begri aus der (Eisenbahn-)Geschichte Nordamerikas:
Am 10. Mai 1869, also vor 150 Jahren, wurde im Bundes-
staat Utah der letzte (goldene) Nagel zur Vollendung der
GEOLOGIE
transkontinentalen Eisenbahn eingeschlagen. Um eine
idealerweise weltweit aufzufindende Untergrenze eines erd-
geschichtlichen Abschnittes definieren zu können, bedarf
es also einer sogenannten Typuslokalität, die stellvertretend
für dessen Beginn steht. Während Paul Crutzen den Beginn
der Industrialisierung und die damit zunehmende Verun-
reinigung der Atmosphäre als Beginn des Anthropozäns vor-
schlug, sehen andere Wissenschalerinnen und Wissen-
schaler den Beginn der „Dominanz des Menschen über die
Natur“ schon früher. Vorgeschlagen werden beispielsweise:
das Massenaussterben der späteiszeitlichen Groß-
säuger, vermutlich infolge anthropogener Bejagung,
etwa 12.000 v. Chr.;
das Sesshawerden des Menschen mit der Einführung
von Ackerbau und Viehzucht und den damit verbun-
denen regional großflächigen Waldrodungen – womit das
Anthropozän nahezu das aktuelle Holozän (seit etwa
11.700 Jahren) ersetzen könnte;
die großflächige Ausdehnung des Nassreisanbaus seit
etwa 5.000 Jahren und der damit in Zusammenhang
gebrachte Anstieg der Methankonzentration in der
Atmosphäre;
das seit 1.000 Jahren weltweit deutlich verstärkte
Aureten von Bodenerosionserscheinungen.
Aus physisch-geographischer und geoarchäologischer Sicht
ist es allerdings problematisch, dass die durch den Men-
schen verursachten Veränderungen im regionalen Vergleich
zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlicher Aus-
prägung und Intensität aufgetreten sind.
Kontrakt, Komposition, Konflikt
Eine kritische Sicht des Konzepts Anthropozän kommt
vor allem aus den Geistes- sowie den Wirtschafts- und
Sozialwissenschaen. Anthropozän hat in der neueren
Debatte zwei Seiten: einerseits als wissenschaliches Kon-
zept und Gegenstand geologischer Debatten und anderer-
seits als Idee, welche inzwischen auch die Gesellschas-
wissenschaen und die Öentlichkeit durchdringt und die
Frage nach der Wechselbeziehung zwischen Gesellscha
und Umwelt aufwir. Manche Autoren sprechen gar vom
„Capitolocene“ und sehen somit das Anthropozän primär
als Ergebnis eines desaströsen Kapitalismus; Politologen
vermissen ein „Re-politicizing the Anthropocene“.
In den vergangenen Jahren ist nicht nur eine Fülle von
wissenschalichen Publikationen zum Anthropozän erschie-
nen, sondern der Begri hat es auch in populäre Medien
wie „Der Spiegel“ und „Die Zeit“ geschat, es werden Aus-
stellungen dazu gestaltet und Diskussionsrunden darüber
bestritten. Dabei wird Anthropozän in seinem Bedeutungs-
gehalt nicht selten ausgeweitet, wird zum Synonym für
„das technische Zeitalter“, „die Zivilisationsgeschichte“
oder gar „die großen Probleme unserer Zeit“ schlechthin.
PROF. DR. FRANK KEPPLER
studierte Geologie und Paläon-
tologie an der Universität Heidel-
berg, an der er auch im Fach
Mineralogie promoviert wurde.
Es folgten Postdoc-Aufenthalte
als Marie-Curie-Fellow an der
Queen’s University in Belfast (Ver-
einigtes Königreich) und am
Max-Planck-Institut für Kernphysik
in Heidelberg. Im Jahr 2006
erhielt er den European Young
Investigator Award und wurde
Nachwuchsgruppenleiter am Max-
Planck-Institut für Chemie in
Mainz, an dem er auch mit Nobel-
preisträger Paul Crutzen zu-
sammenarbeitete. Als Heisenberg-
Professor kehrte Frank Keppler
im Jahr 2014 an die Universität
Heidelberg zurück und etablierte
dort die Forschungsgruppe für
Biogeochemie am Institut für Geo-
wissenschaften. Das Forschungs-
interesse des Marsilius-Fellows gilt
der Untersuchung von globalen
Stoffkreisläufen und deren starken
Beeinflussung durch den Menschen.
Kontakt: frank.keppler@
geow.uni-heidelberg.de
29
KULTUR
&
NATUR
KAPITEL I
Ähnlich wie „Nachhaltigkeit“ oder „Resilienz“ wird der
Begriff dann zunehmend zu einem „leeren Signifikanten“,
der alles und damit letztlich nichts bedeuten kann. Dies
zeigt sich nicht zuletzt im sehr unterschiedlichen Umgang
mit dem, was Anthropozän für die „Menschheit“ bedeuten
könnte. Autoren wie der Rechtsethiker Jens Kersten dis-
kutieren drei mögliche Konzeptionalisierungen des Begris:
als Kontrakt, als Komposition oder als Konflikt.
Ein Anthropozän-Konzept als Kontrakt knüp an die Idee
eines globalen Gesellschaftsvertrags an. So integriert
der Klimafolgenforscher Hans Joachim Schellnhuber einen
„modernen Leviathan“ in seine Erdsystemanalyse: Das
Anthropozän erfordere einen kognitiven Wandel der globa-
len Zivilisation, die sich ihrer Bedeutung als formende
Kra zunehmend bewusst werde. Es sei eine neue soziale
„Geschäsgrundlage“ erforderlich, ein neuer „Weltgesell-
schaftsvertrag“ für eine klimaverträgliche und nachhaltige
Weltwirtschasordnung. Ein solcher globaler Gesellschas-
vertrag düre jedoch Illusion bleiben, er ist kulturräumlich
undierenziert und normativ überdimensioniert und bleibt
gerade für eine Wissenscha der räumlichen Dierenz wie
die Geographie fragwürdig.
Ein kompositionistisches Anthropozän-Konzept entfaltet
unter anderem der Soziologe und Philosoph Bruno Latour
(2010). Dabei geht er von einer „Loop-Vorstellung“ aus:
Die Konsequenzen ihres Handelns kehren zu den Menschen
selbst zurück, so dass ihnen die so entstehende loopförmige
GEOLOGIE
Handlungssphäre als weitgreifende Verantwortungssphäre
bewusst wird. Auch dieses Konzept bleibt letztlich frag-
würdig: Gerade beim globalen Klimawandel, aber auch
beim Artensterben fallen Ursachen und Wirkungen räum-
lich wie zeitlich weit auseinander: räumlich insofern, als
die Verursacher in den alten Industrieländern der OECD-
Welt sitzen, die Betroenen aber im globalen Süden – bei-
spielsweise auf Inseln, die vom Meeresspiegelanstieg bedroht
sind. Zeitlich hingegen insofern, als wesentliche Grundlagen
des anthropogen verursachten Umweltwandels bereits von
unseren Vorgängern gelegt wurden, die dramatischen Folgen
aber erst unsere Kinder und Kindeskinder zu spüren be-
kommen werden.
Dem Anliegen einer kritischen Humangeographie wird
wohl ein konfliktorientiertes Modell am ehesten gerecht:
Wenn die Handlungen von Akteuren nicht auf die eigene
Lebensführung zurückwirken, sondern andere Gruppen
an anderen Orten und anderen Zeiten betreffen, so sind
sie als räumliche Konfliktforschung ein Thema der Poli-
tischen Geographie. Das Anthropozän war in Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukun ein Erdzeitalter der lokalen,
regionalen und globalen Konf likte. Im Diskurs um den
globalen Klimawandel wurde spätestens auf der UN-
Klimakonferenz in Kopenhagen im Jahr 2009 deutlich,
dass wir eben nicht alle in einem Boot sitzen, sondern
in sehr verschiedenen. Inzwischen wird der globale Kli-
mawandel häufig als „Sicherheitsproblem“ konstatiert;
es werden „Klimakriege“ heraufbeschworen und es wird
„In den Geowissenschaften
wird die Untergrenze eines
erdgeschichtlichen
Abschnittes möglichst mit
einem sogenannten
‚Golden Spike markiert.
RUPERTO
CAROLA
NR. 15
DEZEMBER
2019
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GEOLOGIE
über Strategien (der alten Industrieländer) gegenüber
Umweltflüchtlingen diskutiert. Das Anthropozän ist in
dieser Sicht das Ergebnis einer disparitären Welt mit
asymmetrischen Machtstrukturen. Nicht der Mensch oder
die Menschheit sind zu einer erdgeschichtlichen Kra
geworden, sondern ganz konkrete Menschen, die sich bisher
in den Sozial- und Wohlstandsökonomien der OECD-
Welt eingerichtet haben. Diese verhängen, wie es unter
anderem der Berliner Geologe und Paläontologe Reinhold
Leinfelder ausdrückt, eine Art globale Sippenhaftung
aller Menschen für Probleme wie den Klimawandel, die
in Wahrheit von einer Minderheit im kapitalistischen
Westen verursacht werden.
Marsilius-Kolleg:
Brücken zwischen Disziplinen bauen
Als „Center for Advanced Study“ wurde das Mar-
silius-Kolleg 2007 als ein zentraler Baustein des
Zukunftskonzepts gegründet, mit dem die Universität
Heidelberg in beiden Runden der Exzellenzinitiative
des Bundes und der Länder erfolgreich war. Benannt
nach Marsilius von Inghen, dem ersten Rektor der
Universität Heidelberg 1386, trägt es dazu bei, wis-
senschaftlich tragfähige Brücken zwischen den ver-
schiedenen Fächerkulturen zu schlagen, um auf diese
Weise die Idee einer Volluniversität entscheidend zu
fördern. Das Marsilius-Kolleg versteht sich als Ort der
Begegnung und der Innovation, an dem disziplinen-
übergreifende Forschungsprojekte realisiert werden.
Seit 2014 leiten der Biologe Prof. Dr. Thomas Rausch
und der Historiker Prof. Dr. Bernd Schneidmüller als
Direktoren die Einrichtung.
Etwa zwölf Fellows der Universität Heidelberg werden
jedes Jahr an das Marsilius-Kolleg berufen, um sich
fundamentalen Fragestellungen aus interdisziplinä-
rer Perspektive zu widmen. Aus ihren Diskussionen
gehen die sogenannten Marsilius-Projekte hervor, die
die einjährige Zusammenarbeit der Fellows in länger-
fristige fächerübergreifende Forschungsverbünde
überführen. Das Marsilius-Kolleg errichtet auf diese
Weise ein forschungsbasiertes Netzwerk zwischen den
Lebens- und Naturwissenschaften einerseits und den
Sozial-, Rechts-, Geistes- und Kulturwissenschaften
andererseits. Bisher wurden fünf Projekte erfolgreich
abgeschlossen: „Menschenbild und Menschenwürde“,
„Perspectives of Ageing in the Process of Social and
Cultural Change“, „The Global Governance of Climate
Engineering“, „Ethische und rechtliche Aspekte der
Totalsequenzierung des menschlichen Genoms“ sowie
„Gleichheit und Ungleichheit bei der Leberallokation“.
www.marsilius-kolleg.uni-heidelberg.de
„Das Anthropozän war
in Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft
ein Erdzeitalter der
lokalen, regionalen und
globalen Konflikte.
Eine neue Aufklärung
Das Thema Anthropozän ist mit der Forschung an der
Universität Heidelberg eng verbunden, insbesondere mit
Projekten zur Gesellschas-Umweltforschung, die unter
anderem im Heidelberg Center for the Environment (HCE)
verwirklicht werden. Hierzu gehören die beiden Nachwuchs-
gruppenprojekte zu „Umwelt und Gesellscha. Handeln
in Hungerkrisen der Frühen Neuzeit“ und „Umwelt und
Gesundheit in ariden Regionen“ sowie im Umfeld des
Marsilius-Projekts „The Global Governance of Climate
Engineering“ durchgeführte Arbeiten.
In den Geowissenschaen erforschen wir die Ursachen
und Folgen von Klimaveränderungen in der Vergangen-
heit. Aus den Abläufen der erdgeschichtlichen Ver-
gangenheit lassen sich Vorhersagen zur nahen und fernen
Zukunft der Erde ableiten. In der Forschungsgruppe
Biogeochemie gibt es verschiedene Projekte, die darauf
abzielen, lokale Quellen des Klimagases Methan zu
erfassen, um dadurch den globalen Kreislauf von Methan
besser zu verstehen. Damit lässt sich der Beitrag des
anthropogenen Methans zu zukünigen Klimaänderungen
besser abschätzen. Auch in verschiedenen geoarchäolo-
gischen Projekten und dem Masterstudiengang Geoarchä-
ologie, der in interdisziplinärer Weise Kenntnisse und
Methoden der Archäologie, Ur- und Frühgeschichte sowie
der Geographie und Geowissenschaften kombiniert,
spielen Fragen zu Mensch-Umwelt-Wechselwirkungen eine
wichtige Rolle.
31
CULTURE
&
NATURE
CHAPTER I
GEOLOGY
Do we live in a new geological era that is shaped by our presence on the planet?
This question is giving rise to intense and controversial debates. Alexander von
Humboldt already noted the impact of human activity on the environment. But it
was not until the year 2000 that the atmospheric researcher and Nobel laureate
Paul Crutzen introduced the term of the “Anthropocene” into the scientific debate.
In industrialising the world, humans became a geological force: never before has
a species changed the face of the planet so fundamentally, and in so short a time.
The most dramatic changes, frequently summarised under the term “The Great
Acceleration”, began in the 1950s.
While geoscientists search for distinct markers in ice cores, sediment layers and
soils and are on a quest for the “golden spike” that allegedly marks the beginning of
the Anthropocene era, the term is used more widely, and discussed more critically,
by social scientists and the general public. As a reflection on the current state of the
world, the term “Anthropocene” indeed provides a new perspective. It uncovers the
countless interconnections between nature, social affairs and technology and raises
awareness of the implications for our planet. More specifically, it attributes a global
importance to the geosciences that members of this discipline will certainly welcome
for political reasons. Among social scientists, on the other hand, there are concerns
that the definition of the Anthropocene as a quasi-geological era might lead to a de-
politicisation of the associated global environmental changes.
But the debate centring on the Anthropocene is not purely academic. It also touches
on the basic question of whether and how we can live on the earth in the long term.
At Heidelberg University, the interaction between humans and the environment plays
an increasingly important role in research and teaching alike.
THE ANTHROPOCENE
HUMANS AS A GEOLOGICAL FORCE
OLAF BUBENZER, HANS GEBHARDT & FRANK KEPPLER
RUPERTO
CAROLA
NO. 15
DECEMBER
2019
32
PROF. DR FRANK KEPPLER
studied geology and palaeon-
tology at Heidelberg University,
where he also obtained his PhD
in mineralogy. He then worked
as a postdoctoral researcher and
Marie Curie Fellow at Queen’s
University in Belfast (UK) and
at the Max Planck Institute for
Nuclear Physics in Heidelberg. In
2006 he received the European
Young Investigator Award and
became head of a junior research
group at the Max Planck Institute
for Chemistry in Mainz, where he
worked with Nobel laureate Paul
Crutzen, among others. In 2014
Frank Keppler returned to Heidel-
berg University as a Heisenberg
Professor and established the
research group for biogeochemistry
at the Institute of Earth Sciences.
He is a Marsilius Fellow whose
main research interest is the inves-
tigation of global biogeochemical
cycles and how they are impacted
by human activity.
Contact: frank.keppler@
geow.uni-heidelberg.de
PROF. DR OLAF BUBENZER
has been heading the “Geomor-
phology and Soil Geography”
research centre at Heidelberg
University’s Institute of Geography
since 2017, a position he held
once before, between 2007 and
2012. In the intervening years,
he conducted research at the
University of Cologne, where he
headed the “Working Group Quater-
nary Research and Applied Geo-
morphology” and the “Section on
Africa Research”. He is currently
a project leader in Collaborative
Research Centres 806 “Our Way
to Europe” and 1211 “Earth
Evolution at the Dry Limit”. Olaf
Bubenzer is a fellow of the
Marsilius Kolleg in Heidelberg and
founding director of the Heidel-
berg Center for the Environment
(HCE). His main scientific interest
is the physical-geographical in-
vestigation of drylands, including
human-nature interaction.
Contact: olaf.bubenzer@
uni-heidelberg.de
“In industrialising the
world, humans
became a geological
force: never before
has a species changed
the face of the planet
so fundamentally, and
in so short a time.
GEOLOGY
PROF. DR HANS GEBHARDT
accepted the Chair of Anthro-
pogeography at Heidelberg Uni-
versity in 1996 and was made
senior professor in 2018. He is
particularly interested in modern
cultural geography and political
geography with special focus on
the Near East, South East Asia
and China. He is a former fellow
of the Marsilius Kolleg and one
of the founders of the Heidelberg
Center for the Environment (HCE).
With his colleagues, environmen-
tal physicist Prof. Ulrich Platt and
environmental economist Prof. Timo
Goeschl, Hans Gebhardt organised
two interdisciplinary research
projects for the Marsilius Kolleg
and the HCE on the subjects of
“Global Change and Globalisation”
and “The Global Governance of
Climate Engineering”.
Contact: hans.gebhardt@
uni-heidelberg.de
33
KULTUR
&
NATUR
KAPITEL I
GEOLOGIE
Als Fellows des Marsilius-Kollegs stellten wir Autoren
dieses Beitrags das Konzept Anthropozän im Winter-
semester 2018/2019 im Marsilius-Kolleg der Universität
Heidelberg vor. Dabei beleuchteten wir das Für und Wider
eines neuen Erdzeitalters aus verschiedenen Perspektiven.
Mit unserem Gast Sir Philip Campbell – langjähriger Chef-
redakteur der renommierten Zeitschri „Nature“ und jetzt
Editor-in-Chief von „Springer Nature“ – konnten wir weitere
Aspekte des Themas und insbesondere die Vermittlung
wissenschalicher Erkenntnisse an eine breite Öentlich-
keit vertiefen.
Fazit: Der Begri des Anthropozäns hat sich in vielen wis-
senschalichen und öentlichen Debatten längst etabliert.
Das Anthropozän als Reflexionsbegri auf die heutigen
Weltverhältnisse bringt durchaus eine neue Perspektive ins
Spiel. Der Begri macht die Verwobenheit von Natur, Sozia-
lem und Technik sichtbar und er rückt eine planetarische
Perspektive in den Blick. Speziell die Geowissenschaen
lädt er mit einer globalen Bedeutsamkeit auf, die disziplin-
politisch sicher willkommen ist. Aus gesellschaswissen-
schaftlicher Sicht gibt es eher Befürchtungen, dass die Er-
klärung des Anthropozäns als quasi geologische Epoche
zu einer Entpolitisierung der damit verbundenen globalen
Umweltveränderungen führen könnte. Machtvolle Akteure,
Organisationen, Institutionen und deren räumlich dieren-
ziertes Handeln in einer globalisierten Welt drohen hinter
der Kategorie „Menschen“ zu verschwinden.
Doch die Debatte um das Anthropozän ist keine rein akade-
mische. Es geht auch um die grundlegende Frage, ob und
wie wir langfristig auf der Erde leben können, einer Erde, auf
der schon in wenigen Jahrzehnten zehn Milliarden Menschen
leben werden. Der Club of Rome fordert daher in seinem neuen
Buch „Wir sind dran“ neben einem nachhaltigen Umgang
mit den Ressourcen eine neue Aulärung, um kurzfristige
Denkgewohnheiten und Handlungen abzulösen.
„Die Idee des
Anthropozäns wirft die
Frage nach der
Wechselbeziehung
zwischen Gesellschaft
und Umwelt auf.
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Die Geowissenschaften befassen sich mit der Entstehung, Entwicklung und Funktionsweise des Systems Erde, insbesondere auch den Inter-aktionen zwischen der festen Erde und der Biosphäre. Hydrosphäre und Atmo-sphäre waren in der Erdvergangenheit deutlich anders beschaffen als heute, lebensfreundliche Bedingungen existieren aber seit mindestens vier Milliarden Jahren und das Leben selbst spielte eine aktive Rolle bei der Gestaltung der Umwelt. In diesem Kapitel wird das Thema Umwelt aus geowissenschaftlicher Sicht vorgestellt. Zunächst wird die Disziplin „Geowissenschaften“ als Fachwissenschaft mit ihren Unterdisziplinen und ihrer spezifischen geschichtlichen Entwicklung präsentiert. An verschiedenen Thematiken wie z. B. der Entstehung und stoffli-chen Entwicklung der Erde, ihrer vulkanischen und seismischen Aktivität und der damit verbundenen Umweltgefahren sowie der biogeochemischen Stoffkreisläufe, die durch den Menschen stark beeinflusst werden, sollen beispielhaft wichtige umweltspezifische Fragestellungen in den Geowissenschaften verdeutlicht werden. Zudem werden Verknüpfungen und enge Bezüge zu anderen disziplinären Kapi-teln wie z. B. →Rechtswissenschaften, →Chemie, →Geographie und →Physik sowie zu den interdisziplinären Kapiteln →Anthropozän, →Evolution, →Klimawandel, →Risiken, →Wachstum und →Raum aufgezeigt.
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