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© Verlag Österreich 2019
https://doi.org/10.33196/juridikum201903031201
Zeitgeist: Interdisziplinäre Rechtsforschung
Rezension
Petra Sußner
Rezension zu Christian Boulanger/Julika Rosenstock/Tobias Singelnstein (Hrsg), Interdisziplinäre Rechtsforschung.
Eine Einführung in die geistes- und sozialwissenschaftliche Befassung mit dem Recht und seiner Praxis, Wiesbaden
2019, 316 Seiten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21990-1
1. Warum (auf einmal) interdisziplinär?
Der Einführungsband Interdisziplinäre Rechtsforschung trifft einen Zeitgeist: Die Ein-
sicht, dass Rechtsforschung mehr ist als Rechtsdogmatik, öffnet Forschungskontexte und
Hörsäle für neue Ansätze. Echokammern gelten als Übel unserer Zeit; interdisziplinäre
Rechtsforscher’innen sind in unterschiedlichen Wissenskontexten geübt. Sie überwinden
selbstreferenzielle Blasen und übersetzen–so die Herausgeber‘innen sinngemäß1–das
Ideal der universalgelehrten Person ins 21. Jahrhundert.
Aber: Ist interdisziplinäre Rechtsforschung wirklich neu? Braucht es eine Einführung?
Gerade wer mit der deutschen Rechtsforschungslandschaft vertraut ist, denkt bei diesen
Fragen vielleicht an die Kongresse der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigun-
gen. Tatsächlich bringt die Rechtssoziologie vielfältige Perspektiven zu Recht und Ge-
sellschaft zusammen; wenn Susanne Baer ihr Rechtssoziologie-Lehrbuch mit dem Unter-
titel „Einführung in die interdisziplinäre Rechtsforschung“2 versieht, ist das sinnbildlich.
Der Mehrwert einer hervorgehobenen interdisziplinären Rechtsforschung ist also erklä-
rungsbedürftig.
2. Aufbau und Inhalt des Einführungsbandes
Die Herausgeber‘innen, selbst Politikwissenschafter (CB), Juristin und Religionswissen-
schafterin (JR) sowie Jurist und Kriminologe (TS), erproben sich im einführenden Grund-
lagenteil an einer solchen Erklärung. Dazu beziehen sie sich auf die anglo-amerikanische
Tradition der Law and Society-Forschung / Socio-Legal Studies und formulieren den
Anspruch, disziplinäre Eingrenzungen zu überwinden, soziologische Fragestellungen zu
erweitern. Interdisziplinäre Rechtsforschung ist bei ihnen va empirischer Forschungs-
1 Rosenstock/Boulanger/Singelnstein, Vers uch über das Sei n und Soll en der Rechtsf orschung. Bes tandaufnahme ein es in-
terdisziplinären Forschungsfeldes, in Boulanger/Rosenstock/Singelnstein, Interdisziplinäre Rechtsforschung (2019) 5.
2 Baer, Rechtssoziologie3 (2017).
merk.würdig
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kontext, der sich im Gegensatz zur Rechtsdogmatik bewegt. Ebenfalls im Grundlagen-
teil ndet sich ein Theoriebeitrag von Walter Fuchs. Er macht mit rechtssoziologischer
Tra dition vertr aut . Die f olg enden vier Teile variieren in ihren Pers pek tiven:Metho dis che
Zugänge (II), Funktion, Genese und Wirkung (III), Anwendung und Durchsetzung (IV)
und Wandel (V). Zu Wort kommen in allen Teilen Autor‘innen, die ihre Arbeit in der in-
terdisziplinären Rechtsforschung verorten–hier wird der herausgeberische Anspruch
einer Bestandsaufnahme deutlich.
Martina Kolanoski stellt in der Eröffnung des Methodenteils ihre trans-sequentielle Ana-
lyse militärischen Datenmaterials vor und vermittelt dabei einen Einblick in Forschungs-
strategien, die sich am Gegenstand ihres Feldes ausrichten. Michelle Cottier illustriert
ihren Zugang zur Rechtsvergleichung anhand ihrer Auseinandersetzung mit dem Fami-
lien- und Erbrecht. Zentrale Konzepte wie Rechtskulturen, Rechtspluralismus oder auch
law on books / law in action nden bei ihr Erwähnung. Judith Beyer legt den Fokus auf
eine Rechtsethnologie (auch: -anthropologie), die nicht (länger) das Anders-Sein unter-
sucht, sondern nach der Operationalisierung von Differenz fragt. Im Teil zu Funktion,
Genese und Wirkung (des Rechts) stellt Michael Wrase die Wirkungsforschung als einen
Aspekt von Grundlagenforschung vor. Einer ihrer prominenten Anwendungsbereiche ist
die Kriminologie; an sie knüpft Christina Schlepper an. Mit Verweis auf die Critical Le-
gal Studies fragt sie nach kriminalpolitischen Funktionen des Strafrechts. Stefanie Vedder
und Sylvia Veit bringen Politik- und Rechtswissenschaften ins Gespräch, indem sie sich
der Vielschichtigkeit des Gesetzgebungsprozesses widmen.
Rechtsanwendung und -durchsetzung sind im umfangreichsten Teil Thema. Einleitend
greift Christian Boulanger die Rechtsdogmatik auf und weckt Forschungsinteresse an
einem Bereich, dem im übrigen Sammelband eher die Rolle eines Gegenpols zukommt.
Sein Beitrag lässt sich gut mit Silvia von Steindorff zusammenlesen, die sich mit richter-
lichem Entscheiden aus Perspektive von Herstellung und Darstellung befasst. Sie plädiert
für einen interdisziplinären Fokus auf Entscheidungstexte, die ein wesentliches Doku-
ment dogmatischer Praxis sind. Mit der Praxis polizeilicher Rechtsdurchsetzung befasst
sich Michael Jasch. Die juristische Ausbildung nehmen Anja Böning und Ulrike Schultz
in den Blick; den Fokus legen sie auf die Geschlechterdimension. Mit der Rechtsmobili-
sierung greift Gesine Fuchs einen Bereich mit hoher Aufmerksamkeitskonjunktur auf.
Sie behandelt Schlüsselbegriffe und bettet sie in das alte Dilemma von Recht als ambi-
valenter Ressource. Im abschließenden Teil diskutiert Boris Burghardt die Informalisie-
rung des Rechts zwischen einem Idealtypus formal-zwingenden Rechts und einem plu-
ralistischen Rechtsbegriff. Petra Wittig nimmt Begriffsklärungen im Rahmen der Öko-
nomisierung des Rechts vor. Die anglo-amerikanische Law and Economics-Forschung
ist ihr Ausgangspunkt, die Ökonomisierung des Strafrechts ihr Anschauungsfeld. Den
Abschluss macht Michael Riegner. Er betont Globalisierung und Europäisierung; Mehr-
ebenensysteme, in denen sich relevante interdisziplinäre Rechtsforschung heute fast not-
wendigerweise bewegt.
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3. Kritik und Ausblick
Die Rechtsanthropologie ndet zusehends institutionelle Verankerung–es lässt sich etwa
an die Max Planck-Abteilung ‚Recht und Ethnologie‘ denken. Mit „Rechtsdogmatik“3
hat sich Christian Bumke zuletzt gegen das Klischee einer unre ektierten und selbstge-
fälligen Forschungssparte gestellt. Interdisziplinäre Rechtsforschung sichtbar zu positio-
nieren, ist idS zeitgeistig und verdient Aufmerksamkeit. Im Umgang mit dem Sammel-
band ist es wichtig, den Untertitel „Einführung“ nicht über zu bewerten. Der Fokus liegt
vielmehr auf Bestandsaufnahme. Konzeptionelle und methodologische Schlüsselverständ-
nisse ießen genauso selbstverständlich in die Beiträge ein wie Dynamiken von Empirie
und Theoriegenerierung. Das kann gerade für Einsteiger’innen voraussetzungsvoll sein.
Als Begleitliteratur emp ehlt sich das angesprochene Lehrbuch von Baer oder der Sam-
melband „Neue Theorien des Rechts“4, der in Kürze in dritter Au age erscheinen wird.
Begrüßenswert ist der Anspruch, die deutschsprachige Forschung an den Law and So-
ciety-Kontext anzubinden. Einige Beiträge knüpfen hier bereits an, andere konzentrieren
sich noch auf die deutschsprachig-rechtssoziologische Tradition; beides ist derzeit Be-
standteil eines Brückenschlags. Der Law and Society-Kontext verfügt über einen um-
fangreichen–in einem Sammelband kaum zu bewältigenden–Fundus; mit Law as Nar-
rative und Legal Geography5 sind nur zwei weitere Konzepte genannt, die eine interdis-
ziplinäre Rechtsforschung interessieren sollen. Angezeigt ist auch ein näherer Blick auf
die Legal Gender Studies. Deren Perspektiven sind genuin interdisziplinär, sie bieten mit
Konzepten wie der Intersektionalität Schlüsselwerkzeuge und sind im deutschsprachigen
Raum über Professuren bis hin zu–wie etwa in Linz– eigenen Institutionen akademisch
verankert. Die Fluchtforschung ist ebenso Beispiel für ein interdisziplinäres Feld, das eng
an das Recht angebunden und am Weg institutioneller Verdichtung ist. Zusammenge-
fasst: Wir können uns freuen, wieder von der interdisziplinären Rechtsforschung zu hö-
ren.
Dr. Petra Sußner ist Post-Doc Mitarbeiterin an der HU Berlin. Sie gehört der interdisziplinären DFG-Forschungsgruppe
‚Recht–Geschlecht–Kollektivität‘ an und ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift juridikum; petra.sussner@rewi.hu-berlin.de
3 Bumke, Rechtsdogmatik (2017).
4 Buckel / Christensen / Fischer-Lescano, Neue Theorien des Rechts2 (2017).
5 Vgl Braverman/Blomely/Delaney, The Expanding Spaces of Law: A Timely Legal Geography (2014).