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Zur Bedeutung der »Critical Discourse Analysis« für den schulischen Förderschwerpunkt der emotionalen und sozialen Entwicklung

Authors:

Abstract

Norman Fairclough, emeritierter Professor an der Lancaster University, UK, hat in seinen Arbeiten auf dem Gebiet der angewandten Linguistik insbesondere den Zusammenhang von sprachlichem Diskurs und sozialen Ordnungen untersucht. Die von Fairclough betriebene Soziolinguistik richtet ihren analytischen Blick auf den Zusammenhang von Macht bzw. Hegemonialität und Sprache, denn die Welt des Sozialen wird mithilfe von Sprache konstruiert. Hegemonialität wird hier im Sinne von Vorherrschaft oder Überlegenheit speziell von sozialen Institutionen oder Organisationen verstanden. Die Critical Discourse Analysis, wie sie von Fairclough seit Erscheinen seines Buches »Language and power« 1989 theoretisch und methodologisch breit entworfen worden ist, will nun einerseits analytisches Werkzeug liefern, um Macht und Diskurs als Kernelemente des sozialen Geschehens herauszuarbeiten. Zum anderen tritt die Critical Discourse Analysis mit dem Anspruch auf, unmittelbar auf soziale, politische und pädagogische Veränderungen hinzuwirken. Insofern versteht sich die Critical Discourse Analysis nicht als rein deskriptiv, sondern als normativ, indem sie auf die Beseitigung von sozialen Missständen, Ungleichheiten oder Benachteiligungen abzielt. Fairclough unternimmt eine Kapitalismuskritik, wie auch eine Kritik an neoliberalen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und administrativen Strukturen und verarbeitet in seinen Texten Gedanken von Marx, Gramsci, Arendt, Butler, Bourdieu oder Bernstein, bis hin zu Foucault und Habermas. Worin ist nun der Zusammenhang mit dem schulischen Förderschwerpunkt der emotionalen und sozialen Entwicklung zu sehen? Zum einen sind in den Fachdiskursen auf diesem Gebiet bestimmte kategorisierende, etikettierende, oftmals pathologisierende sprachliche Wendungen auszumachen, die mit Hilfe der Critical Discourse Analysis problematisiert werden können, Begriffe wie »Verhaltensstörung«, »Entwicklungsstörung«, »Verhaltensauffälligkeit«, im Englischen auch »behavioral disorders« oder »emotional disturbances«. Zum anderen haben verhaltenstheoretisch, klinisch-psychologisch ausgerichtete Wissenschaftscommunities im Verbund mit denjenigen Institutionen, die die Bildungs- und Sozialsysteme kontrollieren oder repräsentieren, ein Gebäude aus praxisbezogenen Diskursen und sozialen oder (sonder-)pädagogischen Praktiken errichtet, in denen mithilfe einer speziellen »Test-Diagnostik« »Entwicklungsabweichungen«, »Entwicklungsrückstände« oder »Entwicklungs– bzw. Verhaltensstörungen« festgestellt werden, auf die hin dann spezifische, datenbasierte, evidenzbasierte »Interventionen« eingesetzt werden. Akademisch gebildete Menschen üben nun, aus der Sichtweise der Critical Discourse Analysis, in einem sich modern gebenden demokratischen Staat, in Universitäten, Ministerien, Aufsichtsbehörden und Schulen die soziale Kontrolle über gesellschaftlich oftmals marginalisierte Personengruppen aus, indem sie deren vermeintliche Probleme definieren und benennen. Diese werden zu Adressaten bestimmter sozialer, administrativer und (sonder-)pädagogischer Praktiken und erfahren somit eine soziale Statuszuweisung. Das Ganze geht einher mit der Implementierung übergeordneter schulischer Steuerungssysteme, in denen zwar individuelle Förderung propagiert wird, allerdings erfolgt diese nach relativ rigiden kompetenzorientierten Standards, unter denen die heranwachsenden Subjekte in ihrer Autonomie verloren zu gehen drohen. Statt einer gesellschaftskritischen, subjektzentrierten Pädagogik stehen nunmehr »Classroom Management« und »kompetenzorientierte Förderung« im Vordergrund. Hierdurch werden aus Sicht der Critical Discourse Analysis institutionell abgesicherte Herrschaftsbeziehungen von Menschen über Menschen etabliert. Lesen wir einmal exemplarisch in dem 2013 veröffentlichten Sammelband von Fairclough: »I view social institutions as containing diverse ‚ideological-discursive formations‘ (IDFs) associated with different groups within the institution. There is ususally one IDF which is clearly dominant. Each IDF is a sort of ‚speech community‘ with its own discourse norms but also, embedded within and symbolised by the latter, its own ‚ideological norms‘. Institutional subjects are constructed, in accordance with the norms of an IDF, in subject positions whose ideological underpinnings they may be unaware of. A characteristic of a dominant IDF is the capacity to ‚naturalise‘ ideologies, i.e., to win acceptance for them as non-ideological ‚common sense‘« (p. 30). Es geht der Critical Discourse Analysis auch um das Aufdecken von Ideologien, auf denen wissenschaftliche Diskurse und sich hieraus ergebende soziale und (sonder-)pädagogische Praktiken beruhen, Ideologien, die mit der Zeit als »common sense« auftreten und oftmals gar nicht mehr hinterfragt werden. Für Fairclough (2013, p. 46) beinhaltet Ideologie »... the representation of the world from the perspective of a particular interest«. Auch die (sonder-)pädagogische Arbeit wird im Sinne der Critical Discourse Analysis eine andere werden, geht es doch um ein vertieftes Bewusstsein und das Entwickeln von »critical language awareness« (Fairclough 2013, pp. 527-543). Was sind also die dominierenden ideologisch-diskursiven Formationen (IDF) auf unserem Fachgebiet? Welche Sprachgemeinschaften existieren hier und an welchen diskursiven Normen sind diese ausgerichtet? Nach der kritischen Bestandsaufnahme kommt die eigene Positionsbestimmung: In welcher Art von Fachdiskurs wollen wir unser professionelles Handeln also verankern? Welche Sprache wollen wir sprechen, wenn wir über unser Handlungsfeld und die Menschen, die wir darin antreffen, reden? Welche Modelle und Konzepte wollen wir dabei anwenden? Wollen wir affirmativer Teil des sozialen Kontroll- und Steuerungsapparats werden und uns in die hier praktizierten Diskurse und Routinen einfügen oder wollen wir gemeinsam mit den uns in pädagogischer Verantwortung anvertrauten Menschen die wahrgenommenen und erkannten Strukturen und Prozesse einer philosophischen Reflexion und kritischen Analyse unterwerfen? So ließen sich die oftmals in ihren Lebens– und Handlungsmöglichkeiten eingeschränkten Kinder und Jugendlichen und ihre Familien doch immerhin stärken und zugleich ließe sich auf die notwendigen sozialen Veränderungen hinwirken. Aber wie könnte das gelingen? Was wären hier die Ziele und in welchen Schritten ließen sie sich erreichen? Welchen Beitrag können wir als Lehrkräfte im schulischen Förderschwerpunkt der emotionalen und sozialen Entwicklung im Sinne der Critical Discourse Analysis leisten?
Zur Bedeutung der »Critical Discourse Analysis« für den schulischen
Förderschwerpunkt der emotionalen und sozialen Entwicklung
Joachim Bröcher und Julia M. Siebert
Abteilung Pädagogik und Didaktik zur Förderung der emotionalen und sozialen Entwicklung >
Europa-Universität Flensburg, Institut für Sonderpädagogik
Norman Fairclough, emeritierter Professor an der Lancaster
University, UK, hat in seinen Arbeiten auf dem Gebiet der an-
gewandten Linguistik insbesondere den Zusammenhang von
sprachlichem Diskurs und sozialen Ordnungen untersucht. Die
von Fairclough betriebene Soziolinguistik richtet ihren analyti-
schen Blick auf den Zusammenhang von Macht bzw. Hegemo-
nialität und Sprache, denn die Welt des Sozialen wird mithilfe
von Sprache konstruiert. Hegemonialität wird hier im Sinne
von Vorherrschaft oder Überlegenheit speziell von sozialen In-
stitutionen oder Organisationen verstanden. Die Critical Dis-
course Analysis, wie sie von Fairclough seit Erscheinen seines
Buches »Language and power« 1989 theoretisch und methodo-
logisch breit entworfen worden ist, will nun einerseits analyti-
sches Werkzeug liefern, um Macht und Diskurs als Kernele-
mente des sozialen Geschehens herauszuarbeiten. Zum ande-
ren tritt die Critical Discourse Analysis mit dem Anspruch auf,
unmittelbar auf soziale, politische und pädagogische Verände-
rungen hinzuwirken. Insofern versteht sich die Critical Dis-
course Analysis nicht als rein deskriptiv, sondern als normativ,
indem sie auf die Beseitigung von sozialen Missständen, Un-
gleichheiten oder Benachteiligungen abzielt. Fairclough unter-
nimmt eine Kapitalismuskritik, wie auch eine Kritik an neoli-
beralen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und administrati-
ven Strukturen und verarbeitet in seinen Texten Gedanken von
Marx, Gramsci, Arendt, Butler, Bourdieu oder Bernstein, bis
hin zu Foucault und Habermas. Worin ist nun der Zusammen-
hang mit dem schulischen Förderschwerpunkt der emotionalen
und sozialen Entwicklung zu sehen? Zum einen sind in den
Fachdiskursen auf diesem Gebiet bestimmte kategorisierende,
etikettierende, oftmals pathologisierende sprachliche Wendun-
gen auszumachen, die mit Hilfe der Critical Discourse Analy-
sis problematisiert werden können, Begriffe wie »Verhaltens-
störung«, »Entwicklungsstörung«, »Verhaltensauffälligkeit«,
im Englischen auch »behavioral disorders« oder »emotional
disturbances«. Zum anderen haben verhaltenstheoretisch, kli-
nisch-psychologisch ausgerichtete Wissenschaftscommunities
im Verbund mit denjenigen Institutionen, die die Bildungs- und
Sozialsysteme kontrollieren oder repräsentieren, ein Gebäude
aus praxisbezogenen Diskursen und sozialen oder (sonder-)
pädagogischen Praktiken errichtet, in denen mithilfe einer spe-
ziellen »Test-Diagnostik« »Entwicklungsabweichungen«, »Ent
-wicklungsrückstände« oder »Entwicklungs– bzw. Verhaltens-
störungen« festgestellt werden, auf die hin dann spezifische,
datenbasierte, evidenzbasierte »Interventionen« eingesetzt
werden. Akademisch gebildete Menschen üben nun, aus der
Sichtweise der Critical Discourse Analysis, in einem sich mo-
dern gebenden demokratischen Staat, in Universitäten, Mini-
sterien, Aufsichtsbehörden und Schulen die soziale Kontrolle
über gesellschaftlich oftmals marginalisierte Personengruppen
aus, indem sie deren vermeintliche Probleme definieren und
benennen. Diese werden zu Adressaten bestimmter sozialer,
administrativer und (sonder-)pädagogischer Praktiken und er-
fahren somit eine soziale Statuszuweisung. Das Ganze geht
einher mit der Implementierung übergeordneter schulischer
Steuerungssysteme, in denen zwar individuelle Förderung pro-
pagiert wird, allerdings erfolgt diese nach relativ rigiden kom-
petenzorientierten Standards, unter denen die heranwachsen-
den Subjekte in ihrer Autonomie verloren zu gehen drohen.
Statt einer gesellschaftskritischen, subjektzentrierten Pädago-
gik stehen nunmehr »Classroom Management« und »kompe-
tenzorientierte Förderung« im Vordergrund. Hierdurch werden
aus Sicht der Critical Discourse Analysis institutionell abgesi-
cherte Herrschaftsbeziehungen von Menschen über Menschen
etabliert. Lesen wir einmal exemplarisch in dem 2013 veröf-
fentlichten Sammelband von Fairclough: »I view social insti-
tutions as containing diverse ‚ideological-discursive forma-
tions(IDFs) associated with different groups within the insti-
tution. There is ususally one IDF which is clearly dominant.
Each IDF is a sort of ‚speech community with its own dis-
course norms but also, embedded within and symbolised by
the latter, its own ‚ideological norms‘. Institutional subjects
are constructed, in accordance with the norms of an IDF, in
subject positions whose ideological underpinnings they may
be unaware of. A characteristic of a dominant IDF is the capa-
city to ‚naturaliseideologies, i.e., to win acceptance for them
as non-ideological ‚common sense‘« (p. 30). Es geht der Criti-
cal Discourse Analysis auch um das Aufdecken von Ideolo-
gien, auf denen wissenschaftliche Diskurse und sich hieraus
ergebende soziale und (sonder-)pädagogische Praktiken beru-
hen, Ideologien, die mit der Zeit als »common sense« auftre-
ten und oftmals gar nicht mehr hinterfragt werden. Für
Fairclough (2013, p. 46) beinhaltet Ideologie »... the represen-
tation of the world from the perspective of a particular inte-
rest«. Auch die (sonder-)pädagogische Arbeit wird im Sinne
der Critical Discourse Analysis eine andere werden, geht es
doch um ein vertieftes Bewusstsein und das Entwickeln von
»critical language awareness« (Fairclough 2013, pp. 527-543).
Was sind also die dominierenden ideologisch-diskursiven For-
mationen (IDF) auf unserem Fachgebiet? Welche Sprachge-
meinschaften existieren hier und an welchen diskursiven Nor-
men sind diese ausgerichtet? Nach der kritischen Bestandsauf-
nahme kommt die eigene Positionsbestimmung: In welcher
Art von Fachdiskurs wollen wir unser professionelles Handeln
also verankern? Welche Sprache wollen wir sprechen, wenn
wir über unser Handlungsfeld und die Menschen, die wir darin
antreffen, reden? Welche Modelle und Konzepte wollen wir
dabei anwenden? Wollen wir affirmativer Teil des sozialen
Kontroll- und Steuerungsapparats werden und uns in die hier
praktizierten Diskurse und Routinen einfügen oder wollen wir
gemeinsam mit den uns in pädagogischer Verantwortung an-
vertrauten Menschen die wahrgenommenen und erkannten
Strukturen und Prozesse einer philosophischen Reflexion und
kritischen Analyse unterwerfen? So ließen sich die oftmals in
ihren Lebens– und Handlungsmöglichkeiten eingeschränkten
Kinder und Jugendlichen und ihre Familien doch immerhin
stärken und zugleich ließe sich auf die notwendigen sozialen
Veränderungen hinwirken. Aber wie könnte das gelingen? Was
wären hier die Ziele und in welchen Schritten ließen sie sich
erreichen? Welchen Beitrag können wir als Lehrkräfte im
schulischen Förderschwerpunkt der emotionalen und sozialen
Entwicklung im Sinne der Critical Discourse Analysis leisten?
Literatur
Fairclough, N. (1989).
Language and power
. London: Longman
Fairclough, N. (1992).
Discourse and social change
. Cambridge: Polity
Fairclough, N. (2013).
Critical Discourse Analysis: The critical study of
language
. London, New York: Routledge
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