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Der Einfluss von Aquaplaning auf die Verkehrssicherheit
bei Nässe
Analyse von Unfällen bei Nässe aus Polizei- und GIDAS-Daten
Thomas Unger, VUFO, Verkehrsunfallforschung an der TU Dresden
Florian Spitzhüttl, VUFO, Verkehrsunfallforschung an der TU Dresden
Frédéric Biesse, Michelin, Clermont Ferrand, Frankreich
Fabrice Goizet, Michelin, Clermont Ferrand, Frankreich
1. Einführung
Seitdem das Phänomen Ende der 1950er Jahre identifiziert wurde, gilt der Effekt des
Aquaplaning als gefährliches Ereignis für Autofahrer.
Die Frage nach der Häufigkeit des Aquaplanings wird in der Fachwelt vielfach diskutiert. Hier
treffen teilweise gegensätzliche Positionen aufeinander. Einerseits gibt es die Aussage, dass
ein wesentlicher Anteil der Nässeunfälle auf Aquaplaning zurückzuführen ist und andererseits,
dass es sich dabei um einen sehr seltenen Fall handelt und der Nassgriff von führender
Bedeutung ist.
2. Physikalische Grundlagen - Aquaplaning
Rollt ein Reifen mit hoher Geschwindigkeit über eine nasse Oberfläche, bewegt sich ein
„Wasserkeil“ vor dem Reifenlatsch. Das Zusammenspiel von Reifen und Wasser an der
Vorderseite der Aufstandsfläche bewirkt einen Anstieg des Wasserdrucks (hydrodynamischer
Druck). Wenn dieser Druck über dem des Reifen-Straßen-Kontaktdruckes steigt, kann das
Wasser nicht mehr ausreichend abtransportiert werden und der Reifen hebt von der
Fahrbahnoberfläche ab. Dies wird als Aquaplaning bezeichnet. Abhängig von der Wassertiefe
verliert der Reifen ab einer bestimmten Geschwindigkeit jeglichen Kontakt zur
Fahrbahnoberfläche und reduziert so seine Brems- und Lenkkapazität drastisch.
Abbildung 1: "Wasserkeil" bei schneller Fahrt des Reifens über nasse Fahrbahnflächen und Abtransport
Die beiden Hauptfaktoren, die das Aquaplaning beeinflussen, sind die
Fahrzeuggeschwindigkeit und die Tiefe des stehenden Wassers auf der Straße. Zudem
spielen das Reifenprofil und die Form der Aufstandsfläche eine Rolle bei der Ableitung von
Wasser aus der Aufstandsfläche und damit bei der Aufrechterhaltung des optimalen Kontaktes
des Reifens mit der Fahrbahnoberfläche. Die Fahrbahnoberfläche wirkt sich ebenfalls auf den
Aquaplaning-Prozess aus.
Aquaplaning wird oft fälschlicherweise als ein binärer Prozess angesehen - entweder greifend
oder schwimmend. Die Realität ist jedoch deutlich komplexer. Wie in Abbildung 2 dargestellt,
ist das Aquaplaning ein fortschreitendes Phänomen, das je nach Wassertiefe auf der Straße
und Fahrzeuggeschwindigkeit die Oberfläche, auf der der Griff arbeiten kann, allmählich
reduziert. Häufig ist auf nassen Straßen in sehr geringem Maße Aquaplaning vorhanden
(partielles Aquaplaning), was die Kontaktfläche reduziert und damit den Reifengriff verringert.
Abbildung 2: Abnahme der Aufstandsfläche bei steigender Geschwindigkeit (Wasser = grün).
Obwohl das Phänomen des Aquaplanings seit etwa 60 Jahren beschrieben wird, sind
wissenschaftliche Einschätzungen zur Häufigkeit von Fahrzeugunfällen durch Aquaplaning
nahezu nicht in der Literatur zu finden, insbesondere in Europa.
Zunehmende Geschwindigkeit
3. Unfalldatenanalyse - Methodik
Um sich diesem Thema zu nähern, wurde eine umfangreiche Unfalldatenanalyse
durchgeführt. In der vorliegenden Studie wurden zwei Datenquellen ausgewertet, um mit einer
maximalen Anzahl von Fällen die relevanten Situationen des Aquaplanings zu erfassen.
Die erste verwendete Datenquelle ist eine so genannte In-Depth Unfalldatenbank (GIDAS),
die 24.577 Personenkraftwagen und für jeden von ihnen relevante Informationen zur
Bestimmung des vollständigen Auftretens von Aquaplaning enthält (z.B. Reifenprofiltiefe,
Anfangsgeschwindigkeit, Regenintensität, Vorhandensein von Spurrillen, etc.). Mit diesen
Parametern sowie Informationen aus dem Fahrerinterview, der Unfallbeschreibung und der
Unfallrekonstruktion ist es möglich, eine objektive Wahrscheinlichkeit zu bewerten, dass der
Unfall durch Aquaplaning verursacht wurde.
Die zweite Datenquelle sind Polizeiberichte des gesamten Bundeslandes Sachsen. Die
Beschreibung der Unfälle ist weniger detailliert, jedoch ist es mit einer entsprechenden
Keyword-Recherche möglich, die Relevanz des Aquaplaning in der Phase der Unfallauslösung
abzuschätzen.
Die Analyse von Personenkraftwagen in der GIDAS-Datenbank war die Haupt-Ergebnisquelle,
da Polizeiberichte nicht in jedem Fall sichere Informationen über Aquaplaning liefern und
dadurch eine Verzerrung möglich ist.
4. Ergebnisse
Untersucht wurden im ersten Schritt Unfälle, welche im Rahmen des Projektes GIDAS erhoben
wurden. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse sind repräsentativ für das Unfallgeschehen in
Deutschland. Basis der Studie sind die GIDAS-Datensätze von 2005-2017 mit 22.783 Pkw,
von denen 5.810 Fahrzeuge bei Unfällen mit bekannter Regenintensität erfasst wurden.
Die Ergebnisse zeigen, dass nur bei etwa 1 (0,15%) von 1.000 Pkw, die an Unfällen mit
Personenschäden beteiligt waren, vollständiges Aquaplaning zum Unfall führte. Das bedeutet
auch, dass bei Nässeunfällen das vollständige Aquaplaning 100-mal seltener auftritt als
"normale" Nassgriff-Situationen (0,6% bzw. 62%), wobei zu berücksichtigen ist, dass ein
partielles Aquaplaning auch in der Nassgriff-Situation existieren kann.
Abbildung 3: Relevanz von Nässeunfällen in Deutschland und Anteil mehrerer Griffsituationen auf
nasser Fahrbahn
Aufgrund der Tatsache, dass Aquaplaning bei einem so geringen Prozentsatz der Unfälle
identifiziert werden konnte, wurden in einem weiteren Schritt die polizeilichen
Dokumentationen des Landes Sachsen ausgewertet. Dabei wurde ein Zeitraum von zwei
Jahren (Juli 2015 bis Juni 2017) mit mehr als 204.000 Unfällen mit Pkw berücksichtigt. Das
Ergebnis ist deckungsgleich mit der GIDAS Auswertung, was die Aussagefähigkeit der Daten
bekräftigt. Mit den Erkenntnissen sind Forscher nun in der Lage, die Anzahl der Unfälle durch
Aquaplaning wissenschaftlich und objektiv zu quantifizieren.
Die aus den Analysen resultierenden Endergebnisse sind in der folgenden Tabelle
zusammengefasst:
Tabelle 1: Ergebniszusammenfassung für Aquaplaning als Grundursache für Unfälle in Deutschland
Datenquelle
Aquaplaning in % der bei
Nässeunfällen beteiligten
Pkw
Aquaplaning in % der bei
allen Unfällen beteiligten
Pkw
GIDAS Datenbank
0.59 %
0.15 %
Sächsischer Polizeireport
0.46 %
0.11 %