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Zugänge zu inklusions– und sonderpädagogisch relevanten Themen über Cultural Mapping:
Der Film »Billy Elliot: I Will Dance« (Stephen Daldry, 2000) >
Joachim Bröcher >
Abteilung Pädagogik und Didaktik zur Förderung der emotionalen und sozialen Entwicklung
Europa-Universität Flensburg, Institut für Sonderpädagogik
Wer an Schulen gearbeitet und vor allem Jungen unterrichtet hat,
weiß wie fragil männliche Identitäten sein können und wie heikel
es für einen Jungen oder für einen jungen Mann sein kann, wenn
er etwa gerne tanzt, wenn er sich also zu musisch-künstlerischen
Dingen hingezogen fühlt, die von weiten Teilen der Gesellschaft
eher Mädchen und Frauen zugerechnet werden. Stephen Daldrys
Film „Billy Elliot: I Will Dance“ setzt sich mit dieser Thematik
auseinander. Der im Jahr 2000 in die Kinos gekommene Film ba-
siert auf einem Drehbuch von Lee Hall. Jamie Bell, der auch
selbst schon früh als Junge tanzte, spielt den zwölfjährigen Billy
Elliot, Julie Walters die Ballettlehrerin Georgina Wilkinson und
Gary Lewis verkörpert Billys Vater Jackie Elliot. Billy bekommt
Boxunterricht und wird von seinem Vater angefeuert hier Fort-
schritte zu machen. Er wirkt mit seinen Handschuhen und dem
Helm im Ring jedoch verloren und unglücklich. Er verhält sich
auch nicht aggressiv und offensiv genug, um in dieser traditionell
männlichen, sehr rauen und hemdsärmeligen Welt zu bestehen,
während in einem anderen Teil der Sporthalle die Mädchen Ballett
üben. Irgendwann zieht es Billy in die Nähe der dort unter der Re-
gie von Mrs. Wilkinson zu Klaviermusik übenden Gruppe, ein be-
stechendes Bild, wie der Körper des Jungen auf natürliche Weise
in die dort praktizierten Bewegungsabläufe hineinfindet. Die
Tanzlehrerin integriert ihn, ohne dies sonderlich zu thematisieren
und leiht ihm schließlich ein Paar Ballettschuhe, die er mit nach
Hause nimmt und unter seinem Bett versteckt. Aus dem Bücherei-
bus stiehlt Billy ein Werk über die Grundlagen des Ballett, nach-
dem die Bibliothekarin ihn schroff zurechtgewiesen hat, dass er
das Buch, in dem er zuvor geblättert hatte, sowieso nicht auslei-
hen könne. Billy hat keinen leichten Weg vor sich. Der an traditio-
nellen Männlichkeitskonzepten der Arbeiterklasse orientierte Va-
ter verliert komplett die Selbstbeherrschung, als er bemerkt, das
Billy nun heimlich an der Ballettklasse teilnimmt und nicht mehr
zum Boxtraining geht. Er übt einen enormen Druck auf seinen
jüngsten Sohn aus, weiter zu Boxen und verbietet ihm rigoros das
Tanzen. Die Tanzlehrerin glaubt jedoch weiter an ihn. Der irgend-
wo in Durham, Nordengland liegende Ort ist geprägt durch den
Bergbau. Wir sehen einfache, eng aneinander gebaute schlichte
Reihenhäuser der
working class
, in den wirtschaftlich harten Jahre
der Thatcher-Zeit, in der Mitte der 80er Jahre. Die Bergleute strei-
ken, auch um den Preis, dass sie kaum noch Geld haben, um zu
leben. Es sind stolze Männer, die auch um ihre Selbstachtung
kämpfen. Der Daseinskampf hat sie hart gemacht. Diese Haltung
kommt auch im Boxsport zum Ausdruck. Billys älterer Bruder ist,
genau wie der Vater, in dieser Welt verhaftet. Die einzige Flucht-
möglichkeit, die der Bruder hat, ist die Welt der Pop-Musik. Sein
ganzer Stolz ist der Plattenspieler neben seinem Bett. Unter sei-
nem Kopfhörer kann er dann und wann abtauchen. Zugleich neigt
er zu hochaggressiven und militanten Verhaltensweisen, im Kon-
text des Bergarbeiterstreiks und in der Auseinandersetzung mit
sog. Streikbrechern, ebenso gegenüber seinem jüngeren Bruder.
Billys Mutter ist schon vor Jahren gestorben. Das Klavier erinnert
an die Mutter, darauf steht ein Familienbild, auch mit der Mutter.
Alles Künstlerische wird in dieser sozialen Welt als weiblich kon-
struiert. Auch die bereits ein wenig verwirrte, mit im Haushalt le-
bende Großmutter, wollte früher einmal Tänzerin werden, wie sie
sagt. Billy kümmert sich liebevoll um sie. Der Vater erträgt es
nicht, wenn Billy am Klavier sitzt und versuchsweise einige Töne
anschlägt. Unterricht bekommt der Junge nicht. Mitten im Winter,
als die finanziellen Mittel der Familie durch den Streik immer en-
ger werden, zerschlägt der Vater das Klavier, um damit zu heizen.
Billy bekommt unterdessen Einzelunterricht im Tanzen von Mrs.
Wilkinson, ohne dass er dafür zahlen muss, weil die Ballettlehre-
rin sein Talent erkannt hat und ihn gerne zum Vortanzen an eine
berühmte Ballettschule in London schicken will. Der erste Ver-
such, sie will ihn persönlich hinfahren, scheitert am Widerstand
von Vater und Bruder, denn Billy kommt nicht zum vereinbarten
Treffpunkt. Die Lehrerin setzt sich mit den beiden auseinander, es
kommt zu sehr dramatischen Szenen. In der Neujahrsnacht übt
Billy gemeinsam mit Michael einige Ballettschritte, in der eiskal-
ten Turnhalle. Der Freund hat sich ein Ballettröckchen angezo-
gen. Bei früherer Gelegenheit sehen wir, wie Michael in ein Mäd-
chenkleid geschlüpft ist und sich und Billy spielerisch ein wenig
Lippenstift aufträgt. Einer der Männer hat das Licht in der Turn-
halle brennen sehen, der Vater wird verständigt, sich das anzuse-
hen. Der aggressiven Drohkulisse des Vaters setzt Billy nun einen
Tanz des Widerstands entgegen. Endlich bewegt sich etwas im
Vater, auch weil ihm Mrs. Wilkinson klar gemacht hat, dass Billy
durch das Tanzen einen Weg in eine andere Zukunft finden kann.
Um das Geld für die Fahrt nach London aufzutreiben, ist der Va-
ter nun sogar dazu bereit, auf die Seite der Streikbrecher zu
wechseln. Wir sehen einen Mann, bewegt, zerrissen, tief emotio-
nal, doch der ältere Sohn und seine Kollegen von der Gewerk-
schaft suchen eine Alternative, es wird Geld gesammelt und
Schmuck verkauft, damit er mit seinem Sohn nach London fahren
kann. Die Jury erkennt sein Talent und ahnt auch seinen Konflikt,
die soziale Hintergrundproblematik, die Tiefenschichten seines
unbeherrschten Auftretens, als er einen anderen Jungen in der
Umkleidekabine geohrfeigt hat, nur weil ihm dieser gut zuspre-
chen wollte. Die Ballettlehrerin hatte auch ein Empfehlungs-
schreiben an die Jury gerichtet und darin etwas zu Billys sozialen
Hintergründen gesagt. Nun steht der Vater voll und ganz hinter
seinem Sohn, weil der die Chance erkannt hat, die in der Verwirk-
lichung seines Traumes liegt. Nun ist er derjenige, der der Jury
sagt, dass Billy jeden Abend tanzt, wir sahen ihn zuvor tanzend
auf Straßen, Plätzen, im Haus, wo auch immer, bis dass er irgend-
wann von einer rostigen Wand aus Metallplatten angehalten wird,
während Billy selbst durch sein wortkarges Auftreten drauf und
dran ist, seine Chancen vor der Jury zu verspielen. Eine Frau aus
dem Gremium ruft ihn noch einmal zurück und will wissen, wie
er sich fühlt, wenn er tanzt. Zögernd kommt es aus ihm heraus,
dass er dann in einer anderen Welt ist, dass es sich anfühlt wie
Elektrizität…. Für die Ohrfeige in der Umkleide wird er unmittel-
bar gerügt, doch Billy wird schließlich von der Londoner Ballett-
Schule aufgenommen, die Familie sitzt fiebernd um den Brief, als
dieser endlich kommt. Vater und Sohn fahren im Aufzug in die
Grube, als der Streik schließlich abgeblasen wird. Vorbei die
Straßenschlachten mit der Polizei, die Attacken auf die Streikbre-
cher. Das Gitter rastet vor ihnen ein, und schließt sie ein, wie in
einen engen Käfig. Am Ende fahren sie aber doch stolz nach Lon-
don und sehen den nun erwachsenen Billy auf der Bühne. Neben
ihnen im Zuschauerraum Michael, mit femininem Kopfschmuck
und farbigem, männlichem Freund. Billy hatte ihm zum Abschied
damals einen Kuss auf die Wange gedrückt. Über Billys Sexuali-
tät verliert der Film kein Wort, er ging damals weder auf die Ein-
ladungen der Tochter der Ballettlehrerin ein, noch ging er weiter
auf Michael zu. So gelingt die Betrachtung seines Weges ohne
ihn sexuell festzulegen. Dieser Film beinhaltet enorme Chancen
für die Pädagogik, wenn es um die Förderung der sozialen und
emotionalen Entwicklung von Jungen wie von Mädchen geht. Ein
Film, der in allen Schulen gezeigt und diskutiert werden sollte.