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Die kohärente völkisch-identitäre Strategie des B. Höcke
Eine Analyse des Wahlprogramms der AfD zur Thüringer Landtagswahl 2019
Nachdem sie Anfang September in Brandenburg und Sachsen mit 22 bzw. 27% ihre bisher größten
Stimmenanteile bei Landtagswahlen erreichte, hofft die AfD auch bei der Landtagswahl in
Thüringen Ende Oktober auf mehr als ein Viertel der Wähler:innenstimmen. Gemessen daran, dass
sich eine klar rassistisch und autoritär ausgerichtete und in Thüringen mit Björn Höcke von einem
gerichtsfest als solcher zu bezeichnenden Faschisten angeführte Partei anschickt, zur zweitstärksten
Kraft zu werden, ist die Stimmung im Land bisher bemerkenswert ruhig. Zu einer Demonstration
anlässlich seines Wahlkampfauftritt in Erfurt am 12.10. kamen zwar immerhin 600 Menschen, doch
konnte er – wie auch in den meisten anderen thüringischen Städten – auch hier seine Rede fast
ungestört halten. Selbst in der Landeshauptstadt haben sich öffentliche Auftritte der AfD mit offen
rassistischen Tiraden als Teil des normalen Stadtbilds etabliert, während sich ihre Gegner:innen in
ländlichen Gebieten angesichts der breiten Unterstützung, die sie genießt, teilweise kaum noch in
der Lage sehen zu vermitteln, warum sie überhaupt der Kritik würdig sein soll. Verdienstvolle
Gegenkampagnen, wie etwa die „Wann, wenn nicht jetzt?“-Konzerttour durch eine Reihe von
Kleinstädten, fanden zwar statt, haben aber – über das engere linke Spektrum hinaus – bislang in
der breiteren Öffentlichkeit des Landes kaum zu erhöhter Aufmerksamkeit geführt. Die Stimmung
scheint in weiten Teilen von einer Mischung aus Gewöhnung, Desinteresse und Fatalismus geprägt
– gegen den absehbaren Erfolg der AfD scheint sich ohnehin nichts wirksames tun zu lassen, und
die Erfahrung der letzten Legislaturperiode, in der sie bereits im Landtag saß, politisch aber kaum
eine Rolle spielte scheint vielen zu suggerieren, so werde es letztlich weitergehen.
Diese Gemengelage scheint nicht zuletzt dadurch bedingt, dass die politische Programmatik der
Höcke-AfD, wenngleich sie schwarz auf weiß vorliegt, kaum Beachtung findet, und wenn doch, in
der vollen Tragweite ihrer Absichten nicht verstanden wird. Im Folgenden sollen daher eine Reihe
von Kernpunkten des Wahlprogramms und ihrer Kampagnenstrategie zur Landtagswahl 2019
analysiert werden, um aufzuzeigen, dass und warum Alarmismus durchaus angebracht ist. Auch
wenn es sprachlich vordergründig eher wenig aggressiv daherkommt, ist das Wahlprogramm,
gerade wenn es im Kontext mit früheren Äußerungen Höckes gesehen wird, die hochgradig
kohärente, mit großem Geschick konstruierte Ankündigung einer gezielten und langfristigen
Strategie zur Aushebelung von Demokratie und Rechtsstaat, zur Entrechtung, Inhaftierung und/oder
Deportation ganzer Bevölkerungsgruppen und zur Errichtung eines autoritären Staates auf der
Grundlage völkisch-rassistischer Ideologie. Als diese Ankündigung, und nicht als bloßes Dokument
rechter Wahlkampfrhetorik, muss es verstanden werden.
Ihre Kohärenz bezieht die Programmatik der Thüringer AfD daraus, dass sie letztlich das Werk
eines einzigen Mannes ist. Daran lässt die sehr hohe Übereinstimmung zwischen dem
Wahlprogramm, Höckes Wahlkampfreden und seinen früheren Äußerungen kaum einen Zweifel.
Offenkundig handelt es sich beim Wahlprogramm nicht um das Ergebnis eines innerparteilichen
Diskussionsprozesses, sondern Höcke hat es sich – zumindest in weiten Teilen – selbst auf den Leib
geschrieben und von den Parteigremien lediglich abnicken lassen. Dass es ihm an innerparteilicher
Unterstützung für diese politische One-Man-Show dabei alles andere als mangelt, lässt sich daran
ablesen, dass der Landesparteitag im August das Programm ohne inhaltliche Änderungen und
einstimmig annahm.
Die unterschiedlichen Elemente der Politik, die Höcke ankündigt, gehen aus dem Programm
deutlich hervor. Der identitär-völkische, in vielem in der Tradition des Nationalsozialismus
stehende Charakter des von ihm und der Thüringer AfD angestrebten Gesellschaftsmodells
1
erschließt sich allerdings erst in einer Gesamtbetrachtung, die sich von der Fixierung auf einzelne
politische Maßnahmen löst und, auch unter Berücksichtigung der Anschlüsse an Höckes über Jahre
hinweg an unterschiedlichsten Stellen geäußerte ideologische Überzeugungen (verdienstvoll
zusammengetragen in Kemper 2016), die übergreifende Logik und Systematik aufzeigt, nach der sie
ineinandergreifen. Zudem erfordert es, das Programm und die Kampagnenmaterialien entgegen
politischer Lesegewohnheiten eben nicht als taktische Versprechen und wohlklingende Rhetorik zu
lesen, jenseits derer die Partei, einmal im nüchternen Tagesgeschäft des Regierens angekommen,
sich doch letztlich den Zwängen und Begrenzungen des politischen Systems mit seinen Checks and
Balances stellen müsste, sondern als die sprachlich geschickt verpackte, aber inhaltlich deutliche
Ankündigung einer politischen Strategie. Um dies herauszuarbeiten, ist es dennoch nötig, zunächst
eine Reihe zentraler programmatischer Elemente einzeln zu analysieren und aufzuzeigen, welche
Pläne und strategischen Zielsetzungen sich hinter der taktisch gewählten Sprache des Programms
erkennen lassen. Tut man das, so im Weiteren deutlich werden, so ergibt sich daraus berechtigter
Anlass zu mehr als nur zur Sorge.
Ideologischer Dreh- und Angelpunkt ist nach wie vor die rassistische Agitation gegen
„Masseneinwanderung“ (s.u. 6.), und davon abgeleitet die Kanalisierung einer beim Publikum
vermuteten Wut auf die Berliner und Erfurter „Altparteien“, die diese aus „ideologischen“ Motiven
gefördert hätten. Fast alle wichtigen Politikfelder werden konsequent ethnisiert, für Missstände bei
Bildung, Arbeitsmarkt, innerer Sicherheit, Familien- und sogar Gesundheitspolitik wird
gebetsmühlenartig die Zuwanderung verantwortlich gemacht. Die Neigung, alles durch eine
rassistische, ethnisierende Brille zu betrachten und Probleme primär aus diesem Blickwinkel
verstehen zu wollen (5.), ist nach wie vor Ausgangspunkt und Hauptmotiv der politischen
Argumentation der AfD. Faktisch in den Vordergrund gerückt ist in der Agitation allerdings
inzwischen die daraus abgeleitete wütende Verachtung der politischen Eliten sowie allgemeiner
eines „linken Meinungsmainstreams“, der sich in der agitatorischen Rede von einer „DDR 2.0“
verdichtet (1.). Hiergegen richtet sich der Aufruf zur „Vollendung der Wende“, um die (für Höcke
ideologisch absolut zentrale) „Wiederherstellung der Meinungsfreiheit“ (2.) sowie eine „lebendige
Mitmachdemokratie“ (3.) zu erkämpfen. Die abzusetzenden politischen Eliten und ihre
Unterstützer:innen werden sodann direkt für kriminell erklärt und zu einer der zentralen
Zielgruppen von angekündigten harten Repressionsmaßnahmen gemacht (4.). Hinzu kommt als
weiterer durchgängiger Argumentationsstrang die Ablehnung von Energiewende und Klimapolitik
(7.), die sich einreiht in eine allgemeinere Polemik gegen „ideologische“ Bevormundung durch
Politiker:innen, Journalist:innen und Wissenschaftler:innen (8.), die auch auf anderen Politikfeldern,
besonders auch im Hinblick auf das Feindbild „Gender Mainstreaming“, beklagt wird.
Demgegenüber wird auf dem unideologischen Charakter der eigenen Politik beharrt, die sich nur
am „gesunden Menschenverstand“ orientiere – ein Kernmerkmal einer identitären, aggressiv gegen
jede gesellschaftliche Veränderung und auf die Wiederherstellung der Fiktion einer intakten
ethnisch homogenen Gesellschaft gerichteten Ideologie. All das fügt sich konsistent zu einem
völkisch-identitären Weltbild zusammen, das an ideologische Traditionslinien des historischen
Nationalsozialismus anknüpft, und es lässt sich auch als mehrstufiger Plan zur Eroberung der
politischen Macht bei gleichzeitiger Aushöhlung von Rechtsstaat und Demokratie entschlüsseln
(9.).
1. Das Schreckensbild „DDR 2.0“ und der Ruf nach einer zweiten „Wende“
Schon in der Einleitung des Programms, wie auch immer wieder in der öffentlichen Kampagne zur
Wahl, werden das politische und mediale „Establishment“ im allgemeinen und die rot-rot-grüne
Landesregierung im besonderen mit dem Führungspersonal der untergehenden DDR gleichgesetzt,
deren gewalttätige Herrschaft die Bürger:innen Ostdeutschlands vor 30 Jahren erfolgreich und
2
friedlich beseitigt hätten, und es wird mit dem Slogan „Wende 2.0“ gefordert, das damals
Begonnene nun durch den Sturz der heutigen „Staatsführung“ zu vollenden. Diese Figur wird nicht
nur im ersten Abschnitt „Für eine lebendige Demokratie“ ausgeführt, sondern taucht immer wieder
auf, etwa in der Gleichsetzung des Thüringer Verfassungsschutzes unter Rot-Rot-Grün mit der Stasi
(18). Durch suggestive Verwendung diverser DDR-konnotierter Begriffe und Wendungen in
Programm wie Kampagnenmaterial („Blockparteien“, „erstarrtes Machtkartell“, „Wir sind das
Volk“, „Bürgerrechtler“, „Wende 2.0“) wird gezielt ein Zerrbild erzeugt, demzufolge die AfD und
rechte Bewegungen wie Pegida in der Tradition der DDR-Opposition stünden und von einem
ebenso brutalen und skrupellosen Machtapparat unterdrückt würden.
In ihrem Bezug auf die „friedliche Revolution“ des Herbsts 1989 changiert die AfD zwischen einer
verbalen Affirmation des damals praktizierten friedlichen Protests einerseits und einer
agitatorischen Sprache, die einen durchaus nicht unbedingt gewaltlosen Umsturz zu beschwören
scheint, andererseits. Während das Programm lediglich auf die angebliche Gefahr einer „DDR 2.0“
eingeht und die Vorstellung einer neuen oder zu vollendenden „Wende“ gar nicht näher ausführt,
wird dieser Punkt in den Kampagnenmaterialien stark betont. So wird schon auf der ersten Seite der
Wahlkampfzeitung, wie auch auf Plakaten, zur „friedlichen Revolution mit dem Stimmzettel“
aufgerufen. Zwar ist die Wahl ein friedlicher Akt, dennoch soll er aber ja nach dem Wunsch der AfD
einen grundsätzlichen Systemwechsel (eben eine politische Revolution) einleiten – nichts anderes
geschah ja infolge der Ereignisse von 1989. Eine bloße Übernahme der Macht durch die AfD bliebe
hinter dem, was mit diesem Bild evoziert wird, deutlich zurück. Dementsprechend sieht sich die
Partei als Vollstreckerin des kollektiven Willens zum radikalen Bruch – und von den Wähler:innen,
die sie zur „Revolution“ aufruft, verlangt sie hierfür nicht mehr als die Legitimation, als einmal
gewählte Regierungspartei zum eisenharten Durchgreifen übergehen und die Revolution von oben
vollziehen zu können. Es sind also weniger insurrektionalistische Phantasien1, die sich in dem in
den letzten Wochen verstärkt unter die Plakate anderer Parteien gehängten Wahlkampfplakat mit
einem nach oben zeigenden Pfeil und der Parole „SIE hatten 30 Jahre Zeit!“ ausdrücken, als
vielmehr Vorstellungen einer Ergreifung der Macht. Versprochen wird, dass man, wenn man einmal
regiere, bei der Abrechnung mit dem bisherigen politischen Personal nicht zimperlich vorgehen
werde.
2. „Meinungsfreiheit“ als Kern des Höckeschen Programms: Revisionismus und Relativismus
Gegen das völlig kontrafaktische, aber wegen seiner Anschlussfähigkeit an kollektive Erfahrungen
bei Teilen der Bevölkerung sehr wirkmächtige Zerrbild der „DDR 2.0“ ruft die AfD zuvörderst nach
unbedingter „Meinungsfreiheit“. Diese Forderung, die Höcke schon seit langem als zentral für die
„historische Mission“ der AfD bezeichnet (Kemper 2016: 65), hat eine doppelte strategische
Funktion.
Zum Einen sollen die Grenzen des Sagbaren verschoben werden, um jene Teile der eigenen
Vorstellungen, die gegenwärtig aus guten historischen Gründen diskreditiert sind, künftig als „ganz
normale“, hoffähige Positionen vertreten zu können. Dabei wird der Begriff der Meinungsfreiheit
selbst in verzerrter und irreführender Form verwendet, denn gefordert wird weniger das Recht,
alles, was man denkt, sagen zu können (auch wenn manche Elemente von Höckes Gedankenwelt
1 Auch wenn Höckes Phantasien durchaus nicht frei sind von Fackeln und Mistgabeln. Erinnert sei hierzu an das
Ultimatum, das er bei einer Kundgebung im thüringisch-bayerischen Mödlareuth am 17. Juni 2018 den anwesenden
Polizeibeamten stellte: Diese hätten innerhalb von fünf Minuten die Musikbeschallung der AfD durch die
Gegendemonstration auf der anderen Ortsseite zu beenden, ansonsten würden seine anwesenden Anhänger
handgreiflich dafür sorgen. Als sich daraufhin einige Dutzend seiner Unterstützer:innen als Pulk auf die Absperrung
in Richtung des Gegenprotests zubewegten, um seine Aufforderung umzusetzen, kamen die Beamten dem nach und
erzwangen die Abschaltung der Musik.
3
offen ausgesprochen tatsächlich justiziabel sein könnten), sondern die Etablierung der eigenen
völkisch-rassistischen Vorstellungen als gleichberechtigte, gleichermaßen legitime „Meinungen“ im
öffentlichen Diskurs sowie die Kriminalisierung jeder öffentlichen Kritik an ihnen als Verletzung
der eigenen Freiheit.2 Mittelbar zielt das auch auf die Aushöhlung und Veränderung der
Rechtsordnung: Wäre im Hinblick auf die NS-Geschichte Höckes Vorstellung von
„Meinungsfreiheit“ als herrschende Meinung durchgesetzt, müssten etwa die Straftatbestände der
Holocaustleugnung (§130 StGB) und des Verbreitens von NS-Propaganda (§86/86a StGB)
aufgehoben werden; gelte die Auffassung als legitim, ein ethnisch homogener Volksstaat sei
eigentlich eine feine Sache, ließe sich daraus ebenso ‚legitim‘ die Forderung nach einer
entsprechend ausgerichteten neuen Verfassung nach Art. 146 GG ableiten…
Zum anderen geht es aber auch um die „Freiheit“ von AfD-Anhänger:innen und verbündeten
Kräften, anonym im Internet Hass und Hetze zu verbreiten (S. 7, 10). Nicht umsonst folgt direkt im
zweiten Abschnitt (10f.) die Forderung nach einer „freien“, unregulierten Medienlandschaft, nach
einer massiven Beschneidung der Aufgaben und Möglichkeiten der öffentlich-rechtlichen Medien
(Abschaffung Rundfunkgebühren, Kündigung Rundfunkstaatsverträge, Einschränkung auf Kultur-
und „neutrale“ Politikberichterstattung) und nach „Stärkung der Nutzerrechte im Internet“ (11). So
berechtigt letzteres oberflächlich klingt: Die AfD meint damit die faktische Gleichstellung der
Elaborate von Hassbloggern und verschwörungstheoretischen Youtube-Kanälen als gleichermaßen
legitimer Quelle von „Informationen“. Das bedeutet die Abwertung seriösen, gesellschaftlicher
Kontrolle unterworfenen und rechenschaftspflichtigen Journalismus‘ zugunsten der freien
Verbreitung hetzerischer und erlogener Pseudoinformationen – eine gezielte Post-Truth-Politik, in
deren Interesse jede Beschränkung des „Rechts“ auf politische Lüge mit den Praktiken von
Diktaturen wie China und dem Iran gleichgesetzt wird (11).
3. „Lebendige Mitmachdemokratie“ als trojanisches Pferd zur Zerstörung von Demokratie
und Rechtsstaat
Gegen das Schreckensbild der „DDR 2.0“ formuliert die AfD das Versprechen einer
„Mitmachdemokratie“, die durch den erheblichen Ausbau direktdemokratischer Instrumente auf
Landesebene ermöglicht werden und „den Bürgern“ erlauben solle, gegen das „erstarrte
Machtkartell“ der Parteien die eigenen Interessen durchzusetzen (S. 7-9). Die Forderungen, die
zunächst als breit anschlussfähiger Ruf nach größerer Bürger:innenbeteiligung daherkommen
(Senkung der Hürden für Volksbegehren, Volksinitiativen, Möglichkeit bindender Referenden gegen
Landesgesetze, Verkleinerung des Landtags), werden als Hebel zur Entmachtung der „Altparteien“
und ihres „Pfründesystems“ (7) gerahmt. Tatsächlich zielen sie darauf, die bestehenden
demokratischen Institutionen zu delegitimieren und die AfD in die Lage zu versetzen, diese
strategisch durch Nutzung jener Instrumente weitgehend zu lähmen. Durch Angstkampagnen und
strategisches Aufgreifen verbreiteter Ressentiments könnte sie mit Hilfe solcher Elemente in
Bereichen wie der Migrations- und der Energiepolitik die Gesetzgebung des Landtags vollständig
zum Erliegen bringen – um sich dann als die Kraft darzustellen, die verspricht, das Chaos und die
Ineffektivität der demokratischen Kräfte rücksichtslos und ohne Respekt für die Checks&Balances
der Rechtsordnung im Interesse des „gesunden Menschenverstands“ der „Bürger“ zu beenden.3
2 Indem er den Protest erfolgreich zum Schweigen bringen ließ, war es Höcke in Mödlareuth (s. vorherige Fußnote)
gelungen, dieses Verständnis von „Meinungsfreiheit“ unter Androhung von Gewalt durchzusetzen – und er kündigte
dort an, auch künftig zu solchen Mitteln (freundlich-rechtsordnungsnah formuliert als „Mut, Wut und ziviler
Ungehorsam“) zu greifen.
3 Wer das für eine übertriebene Vorstellung hält, sollte einmal genau die Strategie des harten Pro-Brexit-Flügels der
Tories in den letzten vier Jahren und das aktuelle Vorgehen der Johnson-Regierung studieren. Sie ist ein Lehrstück
dafür, wie plebiszitäre Demokratie binnen kürzester Zeit zum Vehikel der Zerstörung demokratischer
Rechtsordnungen durch Strategien autoritärer Zuspitzung werden kann.
4
4. Aggressiv verfassungsfeindliche Wertehierarchie hinter formalem Bekenntnis zum
Grundgesetz, Ankündigung von Repression gegen politische Gegner:innen
Dass das Programm der AfD Thüringen nicht nur rassistisch und autoritär, sondern auch aggressiv
kämpferisch gegen den Geist des Grundgesetzes gerichtet ist, kommt wie im Brennglas verdichtet
im ersten Satz von Abschnitt 3 zur Inneren Sicherheit zum Ausdruck: „Die Sicherheit seiner Bürger
ist der zentrale Daseinszweck des Staates“ (12). Laut Artikel 1 des Grundgesetzes besteht dieser
Daseinszweck in der Achtung und im Schutz der Würde aller Menschen, woraus sich die zentralen
Grundsätze der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2) und der Gleichheit vor dem Gesetz
(Art. 3) ableiten.4 „Sicherheit“ als verfassungsmäßig garantiertes Recht gibt es im Grundgesetz
nicht.5 Was die AfD hier vornimmt, ist eine völlige Verkehrung der Wertehierarchie der Verfassung.
Zudem nimmt sie mit dem Wort „Bürger“ in diesem Satz auch eine Ausgrenzung vor, die dessen
Kerngedanken widerspricht: Indem sie die Verpflichtungen, die dem Staat aus seinem
Daseinszweck auferlegt sind, auf dessen Bürger beschränkt (und diesen Begriff zudem ethnisch
definiert, dazu gleich mehr), negiert sie den Universalismus von Artikel 1 zugunsten eines
ethnischen Partikularismus und legitimiert implizit schon die im migrationspolitischen Teil
angekündigte exzessive staatliche Gewalt gegen als „Nicht-Bürger“ Definierte, denen
zugeschrieben wird, die Sicherheit der „Bürger“ zu bedrohen.
Als zentrale Bedrohung für die „Sicherheit der Bürger“ wird sodann der unterstellte „Verzicht auf
einen wirksamen Schutz unserer Staatsgrenzen“ (12) identifiziert. Hiermit habe die regierende
politische Elite die „Bürger“ verraten, dies gelte es rückgängig zu machen und hierfür sei jene zur
Rechenschaft zu ziehen. Hieran zeigt sich recht gut die verquere, den Grundintentionen des GG
letztlich diametral entgegengesetzte Verfassungsinterpretation, auf der die schon seit 2015 stetig
wiederholte Behauptung vom Rechts- bzw. Verfassungsbruch durch die behauptete „Grenzöffnung“
für die Geflüchteten vom Budapester Bahnhof Keleti beruht.
Wie wenig die AfD auf dem Boden der aufklärerischen Werteordnung des Grundgesetzes steht, gibt
sie – quasi unabsichtlich – auch gerade dort noch einmal deutlich zu erkennen, wo sie sich verbal zu
dessen Grundprinzipien bekennt: Auf S. 19 listet sie ganz im Sinne von Art. 79 III die
„konstitutiven Bestandteile“ der Verfassungsordnung auf – durchaus richtig und vollständig, aber in
einer Reihenfolge, in der nicht zufällig die „Volkssouveränität“ (Art. 20 II) an erster, die in der
Architektur der Verfassung zentralen Grundrechte aber erst an letzter Stelle genannt werden. Dies
ist kein Zufall.
Welche Vorstellung einer staatlichen Ordnung Höcke und die Thüringer AfD aus dieser nur verbal
grundgesetzkonformen Wertehierarchie ableiten, geht aus dem Rest von Abschnitt 3 recht deutlich
hervor: Die Polizei soll personell verstärkt und besser bewaffnet werden (etwa mit „Tasern“), das
Waffenrecht liberalisiert, die Innenstädte durch harte Law-and-Order-Maßnahmen wie die
Verschleppung missliebiger Personen in entlegene Gegenden („Verbringungsgewahrsam“) „in
Ordnung“ gebracht, der eben noch als Wiedergänger der Stasi dargestellte (18) Verfassungsschutz
zum Sturmgeschütz gegen linke politische Kräfte (zu denen auch Teile der Landesregierung erklärt
4 So auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung im zweiten NPD-Verbotsverfahren: „Ihren
Ausgangspunkt findet die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1
GG). Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und
Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit“ (2BvB 1/13, Leitsatz 3.a).
5 Im Bereich der Grundrechte (Art. 1-19) kommt „Sicherheit“, genauer „öffentliche Sicherheit“, nur als unter
bestimmten Umständen legitimer Grund zur Beschränkung einzelner Grundrechte (Brief- und Fernmeldegeheimnis,
Unverletzlichkeit der Wohnung) vor – also eben nicht als Recht, sondern ganz konträr als etwas, was mit den
Grundrechten potentiell im Konflikt steht. Auch dies lässt sich als eine der Lehren aus der Geschichte lesen, die
sich im Wortlaut des GG niederschlagen.
5
werden) und gegen „Ausländerextremismus“ gemacht (18f.), die Trennung zwischen Geheimdienst
und Polizei aufgeweicht werden. Am besorgniserregendsten sind aber die Ausführungen zur
Stärkung der Justiz (14-16): Hier wird unter dem Vorwand eines angeblichen zu laxen Umgangs mit
„Intensivtätern“ angekündigt, die Staatsanwaltschaften und Gerichte personell zu verstärken, um
eine schnelle Aburteilung von Straftaten sicherzustellen. Es wird die Gründung zusätzlicher
Schwerpunkstaatsanwaltschaften und ein „Ausbau der Personenfahndung“ angekündigt, mit Hilfe
„spezialisierter Haftstaatsanwälte“ solle die „U-Haft-Quote“ deutlich erhöht werden.
Verfolgungsschwerpunkte sollen bei „Gewaltkriminalität, Sexualstraftaten, Drogen- und
Einbruchskriminalität sowie politisch und religiös motivierter Kriminalität gesetzt werden“ (15),
ganz besonders aber bei „Straftaten aus dem linksextremen Unterstützerkreis der rot-rot-grünen
Landesregierung“ (ebd.). Gleichzeitig wird angekündigt, dass infolge dieser Maßnahmen
„langfristig deutlich mehr Haftplätze in Thüringen benötigt werden. Die Reaktivierung oder der
Neubau einer geeigneten Haftanstalt ist daher eine weitere Schwerpunktaufgabe“ (15). Das JVA-
Personal soll zudem unter dem Vorwand der Bekämpfung des Drogenhandels Befugnisse zur
Anwendung von Gewalt gegen Inhaftierte erhalten. Angesichts dessen, dass Höcke in der
Vergangenheit immer wieder Gefängnisstrafen gegen politische Gegner:innen wegen Aktionen wie
Sitzblockaden, dem Zerknüllen von Flaggen oder auch nur lautstarken Protesten gegen AfD-
Versammlungen gefordert hat (Kemper 2016: 92f., 130f.), ist dies alles andere als reine
Wahlkampfrhetorik. Vielmehr handelt es sich um die offene Ankündigung einer massiv
grundgesetzwidrigen Strafverfolgungspraxis und von großangelegten Verhaftungswellen gegen
politische Gegner:innen und andere aus AfD-Sicht störende oder unerwünschte Personen. Um diese
Verfolgungsoffensive auch schon in der für die nächsten Jahre zu erwartenden Zeit als stärkste
Oppositionspartei vorzubereiten, wird die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zu
angeblichen Rechtsverstößen der Landesregierung im Zusammenhang mit behaupteten
Einschränkungen des Versammlungsrechts der AfD und anderer rechter Gruppen angekündigt –
sollte die AfD mehr als 25% der Stimmen erreichen, könnte sie die Einsetzung von
Untersuchungsausschüssen ohne Unterstützung anderer Parteien erzwingen.
5. Ethnisierter Bürgerschaftsbegriff: „Bürgerlich“ ist das neue „völkisch“
Aus dem Abschnitt zur inneren Sicherheit geht ferner hervor, dass nicht nur der Volksbegriff,
sondern auch der Begriff des „Bürgers“ ethnisiert verstanden werden. „Bürger“ kann für Höcke nur
sein, wer einem „gemeinschaftsorientierten Werte-, Sitten- und Normengefüge“6 angehöre, „das
sich über Jahrhunderte hinweg ausgeprägt hat“ (12). Das ist zumindest verbal kein biologischer,
sondern ein kulturalistischer Rassismus (ganz im Sinne der „Neuen Rechten“)7, bedeutet aber in der
Konsequenz, dass Menschen – auch Deutsche – deren Vorfahren nicht seit mindestens einigen
Generationen in Deutschland leben, für die AfD nicht zum „Volk“ gehören und keine „Bürger“ sind.
Vor diesem Hintergrund liest sich folgende Formulierung als eindeutige Ankündigung: „Das Volk
entscheidet über seine eigenen Angelegenheiten. Hiermit ist ein Wahlrecht für Ausländer prinzipiell
nicht vereinbar“ (9). Das heißt: es geht darum, Deutschen, die die AfD mit ihrem rassistischen
Verständnis nicht als solche anerkennt, die Bürgerrechte zu entziehen. All die Forderungen nach
größerer Mitbestimmung des „Volks“ und der „Bürger“, die zuvor im vordergründig
basisdemokratisch-bürgernah daherkommenden ersten Abschnitt formuliert wurden, laufen vor
diesem Hintergrund auf Ausgrenzung und Entrechtung all derer hinaus, die nicht als „Bürger“
akzeptiert werden, und die „Sicherheit der Bürger“ als „Daseinszweck des Staates“ beinhaltet auch
6 Eine Formulierung, die Höcke schon in der Vergangenheit gebraucht hat (Kemper 2016: 91).
7 Für Höcke selbst hat Andreas Kemper allerdings gut belegen können, dass dieser in der Tat einem biologistischen
Rassismus anhängt, der sich auf die „Populationsökologie“ von Philippe Rushton mit ihren „Ausbreitungstypen“
bezieht und aus dem sich unter anderem seine wütenden Invektiven gegen die Genderforschung begründen
(Kemper 2016: 59ff.)
6
eine Ankündigung von Gewalt gegen viele Menschen, die Staatsbürger:innen sind, aber von der
AfD nicht als solche anerkannt werden.
Es ist wohl auch im Zusammenhang mit diesem ethnisierten Bürgerschaftsbegriff zu verstehen,
wenn die AfD neuerdings immer wieder darauf beharrt, die wahre „bürgerliche“ politische Kraft zu
sein („Allen anderslautenden Behauptungen zum Trotz sind wir eine demokratische, bürgerliche
Kraft“, S. 6; man selbst sei die „bürgerliche Mitte“, während die Landesregierung „antibürgerliche
Gesinnungen salonfähig machen“ wolle, S. 30). „Bürgerlich“ ist also hier als unbelasteter
Ersatzbegriff für das stigmatisierte „völkisch“ zu verstehen. Das ist augenfällig etwa an einer
Formulierung wie der folgenden: „Die Nutzung sozialen Wohnraums für die Unterbringung von
Asylbewerbern lehnen wir ab. Dieser muss für sozial schwache Bürger unseres Freistaats zur
Verfügung stehen“ (57). Gesagt wird „Bürger“, gemeint ist „Volksdeutsche“.
Hier wie überhaupt meidet das Programm auf der Ebene der Wortwahl jeglichen direkten Verweis
auf NS- oder neonazistisches Vokabular. Durch Wortersetzungen oder -umdeutungen werden die
ideologischen Kernpunkte von Höckes Gedankengut umschrieben – sie bleiben aber unter der
Oberfläche der Worte erkennbar. Schon 2015 hatte Höcke beklagt, dass „jeder, der noch den Begriff
‚Volk‘ in den Mund nimmt, als rechtsradikal stigmatisiert wird“ (nach Kemper 2016: 132) – dies
bemüht er sich nun zu vermeiden, ohne dabei den inhaltlichen Kern seiner Position zu verändern.
Im Grunde liest es sich so, als hätte Höcke die Expertise von Andreas Kemper gelesen und seine
Programmatik auf der Grundlage eines formal verfassungstreuen sprachlichen „Betriebssystems“,
aber inhaltlich unverändert, neu formuliert.
Auffällig ist im Zusammenhang hiermit, dass jegliche Bezugnahme auf die NS-Geschichte, etwa in
Form einer Passage zur Erinnerungspolitik oder zur künftigen Förderpolitik für Einrichtungen wie
die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, vollkommen fehlt. Hier hätte sich das
Dilemma gestellt, entweder „Kreide zu fressen“ und sich von NS-Ideologie klar zu distanzieren
(was Höcke wohl nicht mit sich vereinbaren konnte) oder aber durch irgendeine Form von nicht
klar distanznehmender Formulierung oder mehr oder minder verdeckter positiver Bezugnahme
einen medialen Aufschrei zu provozieren, der der Partei an der Wahlurne im Ergebnis
höchstwahrscheinlich geschadet hätte. Höckes berüchtigte Forderung nach einer
„erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ im Wahlprogramm zu wiederholen, wurde wohl als
inopportun angesehen – dem Eindruck, dass die AfD Thüringen an ihr festhält, in irgendeiner Form
zu widersprechen, allerdings auch.
6. „Ausländer raus“ als Vision und Projekt
Es passt ins Bild der ‚Ein-Punkt-Partei‘ AfD, dass fast jedes im Wahlprogramm abgehandelte
Thema konsequent ethnisiert und fast jedes diagnostizierte gesellschaftliche Problem der
„Masseneinwanderung“ zur Last gelegt wird. Das zieht sich von der Familienpolitik (mehr deutsche
Kinder statt Zuwanderung als Lösung der Demografieproblematik, „Kein Kindergeld ins Ausland“,
S. 24) über die Bildungspolitik (kein Islamunterricht, Schule für geflüchtete Kinder nicht als Pflicht,
sondern als widerruflich zu gewährende Gnade [S. 31], Aufrechnung von Ausgaben für
Schulsanierung gegen behauptete Kosten der Zuwanderung [33]) und die Wirtschafts- (Deutsche
statt Zuwanderer:innen in Handwerksberufen ausbilden) und Gesundheitspolitik (Thematisierung
ausländischen medizinischen Personals nur als Risiko für „Patientensicherheit“, weitgehende
Streichung von Gesundheitsleistungen für „nicht anerkannte oder abgelehnte“ Asylsuchende,
Entzug der Gesundheitskarte [47], ausschließliche Zuschreibung zunehmender Angriffe auf
Rettungsdienste und medizinisches Personal an „gefährliche Migranten“ [48]) bis hin zur
Infrastrukturpolitik (kein sozialer Wohnraum für Asylsuchende [57]).
7
Dies allein ließe sich noch als populistische Strategie zum Stimmenfang interpretieren. Dass Höcke
und die AfD hier aber ungleich ernsthaftere und weiter gehende Pläne hegen, geht sehr deutlich aus
dem Abschnitt zur Migrationspolitik hervor. Beschrieben werden hier politische Vorhaben, die
Höcke im Zuge der Wahlkampagne gerade immer wieder als zentral für die Programmatik der AfD
herausstellt. Sie zielen über die diversen angekündigten Diskriminierungsmaßnahmen hinaus auf
die Eliminierung von Zuwanderer:innen aus der deutschen Gesellschaft, primär auf dem Wege der
Massenabschiebung, die Höcke als zentrales Projekt verfolgt. Die Passagen zur Migrationspolitik
sind sprachlich extrem aggressiv – trotz eingestreuter Phrasen, dass die geplanten Maßnahmen
rechtskonform ablaufen sollten, überwiegte bei ihrer Abfassung offenkundig die Emotionalisierung
ihres Verfassers das Bestreben, sich als seriöse, verfassungstreue Partei darstellen zu wollen, und
die eigenen Gewaltphantasien werden kaum verhohlen zum Ausdruck gebracht. Angekündigt wird
eine rigide Ausweisungspolitik, die, wenn umgesetzt, weit über das verfassungsrechtlich Diskutable
hinausgehen würde.
Um dies zu legitimieren, wird zunächst ein Horrorszenario von ausufernder „systematisch
eingewanderter schwerer Kriminalität“ (50) und „fundamentalistisch ausgerichteter
Parallelgesellschaften“ (ebd.) gezeichnet, das die „Altparteien“ direkt zu verantworten hätten. Unter
angedeutetem Rückgriff auf die These vom „großen Austausch“ des neurechten Autors Renaud
Camus, auf die sich jüngst auch die Massenmörder von Christchurch und El Paso in ihren
„Manifesten“ bezogen, wird unterstellt, die Regierungen auf Landes- und Bundesebene arbeiteten
gezielt an einer „Veränderung des Staatsvolks“ bzw. an „bevölkerungspolitischen Umschichtungen“
(50). Im Zuge dieser „verfassungsfeindlichen“ Politik habe die „in Teilen linksextreme
Landesregierung“ zu verantworten, dass „ganze Stadtteile bevölkerungspolitisch gekippt“ seien. In
der Wahlkampfzeitung der AfD geht Höcke sogar noch weiter und setzt jede Politik, die auf eine
offensive Militarisierung der deutschen Grenzen verzichtet8, rhetorisch mit dem NS-Genozid an
Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma gleich: „Wenn wir unsere Grenzen nicht sichern, dann werden
wir in Deutschland einen Kultur- und Zivilisationsbruch historischen Ausmaßes erleben und
erleiden“ (Wahlkampfzeitung, S. 4). Wird hiermit die derzeitige migrationspolitische Praxis im
höchstmöglichen Maße verteufelt, so wird ihr im Programm der brutalstmögliche Appell an die rohe
Bürgerlichkeit der politischen Zielgruppe entgegengesetzt, indem an ein rüde egoistisches, krudes
Kosten-Nutzen-Kalkül appelliert wird: „Thüringen braucht keine bildungsfernen Migranten. Es
ergibt überhaupt keinen Sinn, illegale Zuwanderung wie bisher mit Milliarden Euro zu fördern“
(51).
Als Maßnahme zur Abwehr gegen diese Schreckensvisionen wird – gemäß der Forderung Höckes
in der Wahlkampfzeitung: „Abwanderung von 300.000 Flüchtlingen pro Jahr!“ (4) – eine
„Abschiebungsinitiative 2020“ in Aussicht gestellt, die als zentrales politisches Projekt deutlich
detaillierter ausgemalt wird als die meisten anderen Pläne der AfD und auch in seinen
Wahlkampfreden stets als zentrales Vorhaben der Landes-AfD im Vordergrund steht. In einem
ersten Schritt werde man durch großangelegte behördliche Ausforschungsmaßnahmen und
Zwangsuntersuchungen zur Altersfeststellung „alle“ Fälle identifizieren, in denen Asylsuchende
durch „missbräuchliche Angaben“ einen Aufenthaltsstatus erlangt hätten. Wer etwa in der
Zwischenzeit ins Herkunftsland gereist sei, könne dort ja nicht verfolgt sein, und man werde
deshalb in solchen Fällen „konsequent auf Entzug der Aufenthaltserlaubnis und
Aufenthaltsbeendigung hinwirken“ (51).
8 Eine militärische Sicherung von Grenzen innerhalb Schengens wäre ein eindeutiger Bruch des EU-Rechts. Hieran
ist deutlich, dass die Höcke-AfD europäisches Recht nicht anzuerkennen bereit ist. Auch die im allerletzten Satz des
Programms gemachte Ankündigung, dass man bei Nichterreichen des Ziels „viel weniger EU“ „auf dem Wege einer
Volksabstimmung über den Verbleib in der EU zu entscheiden“ gedenke, ist in diesem Zusammenhang alles andere
als bloße Rhetorik. Die einseitige rechtswidrige Anordnung von militärischer Grenzsicherung wäre einer der Wege,
auf dem Höcke, könnte er sie verfügen, auch auf EU-Ebene binnen kürzester Zeit die Eskalation suchen würde.
8
Als zweite Stufe wolle man den „Vollzug der Ausreisepflicht aller illegal eingereisten und
geduldeten Ausreisepflichtigen durch neue Verfahrensweisen, insbesondere durch
Massenabschiebungen, herbeiführen“ (51). Dass solche „neuen Verfahrensweisen“ noch auf dem
Boden der bestehenden Rechtsordnung legitimierbar sein sollen, ist kaum vorstellbar. Die
Formulierung ist zwar ausreichend nebulös, dass sich seitens der AfD behaupten lässt, man meine
das selbstverständlich rechtsstaatlich – gleichzeitig ist die unterschwellige Botschaft eines solchen
Satzes, dass man die rechtsstaatliche Ordnung ignorieren werde, um Akte staatlicher Gewalt auf
breiter Front zu verüben. Ganz offen angekündigt wird neben dem Bau eines neuen
Abschiebegefängnisses die Einrichtung von einer Art Sonderlagern: „Gesonderte Einrichtungen“
für „gewaltauffällige Asylbewerber“, die „fernab von Ortschaften“ entstehen sollten (52). Ferner
solle die Härtefallkommission abgeschafft werden, Beteiligte an Aktionen zur Verhinderung von
Abschiebungen werden mit harten Strafen bedroht, alle sie (aus AfD-Sicht) unterstützenden
Organisationen mit dem Entzug öffentlicher Förderung. Auch unterhalb der Inhaftierungs- und
Abschiebungsschwelle will die AfD die Lebensbedingungen für Asylsuchende massiv
verschlechtern: Sachleistungen auf minimalem Niveau statt Geld, Kasernierung in
Landesaufnahmezentren statt dezentraler Unterbringung, Konfiszierung von Vermögen der
Geflüchteten zur Deckung der entstehenden Kosten. Bildungsangebote sollen für Asylsuchende nur
noch dann finanziert werden, wenn sie der „Rückkehrfähigkeit“ dienen, also Fähigkeiten vermitteln,
von denen vermutet wird, dass sie ihnen im Heimatland nützlich wären.
Auch Höcke und die AfD wissen selbstverständlich darum, dass dieses Vorgehen drastisch illegal
und zu großen Teilen gerichtlich nicht haltbar wäre. Es drängt sich der Verdacht auf, dass dies
gerade Teil des Kalküls ist: Käme es zu Kritik, Klagen, Gerichtsurteilen oder einschränkenden
Anweisungen, so wäre dies für Höcke die Gelegenheit, Gerichte, Bundesbehörden, NGOs und
andere Kritiker:innen, die sich diesen Maßnahmen zum Schutz des Rechtsstaats entgegenstellen
würden, als „Verräter“ und „Volksfeinde“ an den Pranger stellen zu können – die Klage über
„mangelnde Meinungsfreiheit“ würde, einmal an den Hebeln der Macht, zur Klage darüber
erweitert, als Landesregierung wegen des Zwangs zur „politischen Korrektheit“ daran gehindert zu
werden, „die Bürger“ zu schützen. Ziel dieser durchaus nicht beispiellosen Eskalationstaktik wäre
die Aushebelung der Checks and Balances der Rechtsordnung.
7. Neuer Schauplatz: Gegen „Klimaideologie“ und Energiewende
Neben dem weiterhin die Agitation der AfD beherrschenden Rassismus spielt inzwischen das
Thema Klima und vor allem die aggressive Ablehnung der Energiewende eine zunehmend wichtige
Rolle als ihr zweiter ideologischer Grundpfeiler. Anknüpfend an vermutete verbreitete
Ressentiments in der eigenen potentiellen Wähler:innenschaft wird auch dieses Thema als Munition
gegen die verhassten „ideologischen Eliten“ in Stellung gebracht. So wird im Abschnitt „Für eine
vernunftbasierte Energie- und Klimapolitik“ gegen die „hysterischen Züge“ der Klimadebatte
polemisiert. Die Argumentation hält sich dabei an das inzwischen etablierte neue Standardframing
der AfD zum Thema: Das Klima wandle sich zwar, habe das aber schon immer getan, ein Einfluss
des Menschen darauf sei nicht nachgewiesen. Über das Pariser Abkommen wird fälschlicherweise
behauptet, es fordere die „Deindustrialisierung westlicher Industrienationen zugunsten junger
Industrienationen wie Indien und China“, denen es dafür immer höhere Emissionen erlaube (66).
Die auf Bundes- und Landesebene geplanten oder eingeleiteten klimapolitischen Schritte seien
„gegen unsere Interessen gerichtet“ und schädigten Thüringen, weil sie zum Wegfall von
Arbeitsplätzen in der Kfz- und Zulieferindustrie führen würden. Jede Klimaschutzpolitik sei nicht
nur ökonomisch schädlich, sondern auch unnütz und müsse beendet werden, nötig seien lediglich
9
Anpassungsmaßnahmen wie Bewässerung von Feldern, Hochwasserschutz, Waldumbau und
flächendeckender Einbau von Klimaanlagen in öffentlichen Gebäuden.
Hauptgegenstand der Polemik ist aber die Energiewende, die pauschal als „ideologisch motivierte
Umverteilung von den einkommensschwachen Bevölkerungsschichten zu vermögenden Investoren“
hingestellt (62). Hiermit wird einerseits erneut an eine kurzsichtige und egoistische Orientierung am
eigenen direkten Vorteil appelliert: Dorfbewohner:innen wird der unveränderte Erhalt der
gewohnten Landschaft, Steuerzahler:innen die Abschaffung oder Senkung bestehender und die
Nichteinführung neuer (CO2-Preis) Steuern und Selbständigen die Beseitigung bürokratischer
Auflagen versprochen. Andererseits wird aber durch die konkrete Argumentation auch eine
Gemeinschaft konstruiert zwischen den (deutschen) kleinen und mittelständischen Unternehmen
und den sozial Benachteiligten, die gemeinsam unter den fremden, von außen kommenden,
ideologisch motivierten Eliten und ihren angeblichen Plänen zur Ummodelung und Unterjochung
der Gesellschaft litten („Die Energiewende ist sozial ungerecht und schadet unserer Wirtschaft“, S.
62). Diese Figur einer Interessengemeinschaft zwischen Lohnabhängigen und deutschem,
binnenmarktorientiertem Kapital findet sich auch im Kapitel zur Wirtschaftspolitik: Wenn man
Klimaschutzvorschriften und Ökosteuern abschaffe, hätten die Unternehmen mehr Mittel zur
Verfügung, um höhere Löhne zu zahlen.9 Zudem werden dort mit antisemitischem Unterton
„exportorientierte Konzerne und die grenzüberschreitende (Finanz-)Wirtschaft“ als Gegner dieser
Gemeinschaft gezeichnet (40). Diese Argumentation erinnert nicht von ungefähr an die
nationalsozialistische Ideologie von der „Volksgemeinschaft“ – in der Tat muss man im Lichte all
dessen, was über Höckes Denken bekannt ist, davon ausgehen, dass sie in deren direkter Tradition
steht.
Gegen das „ideologische“ Projekt der Energiewende wird als Lösung – wie auch in der Familien-,
Migrations- oder Schulpolitik – ein „Zurück“ gefordert: Man wolle zurück zur „zuverlässigen,
sicheren und preisgünstigen Energieversorgung“ der Vergangenheit – allerdings nicht wie ehedem
mit Kohle, sondern primär mit Gas aus Russland. Erneuerbare Energien will man zwar nicht
prinzipiell zurückbauen, sie aber durch Streichung von Fördermitteln – und im Falle der Windkraft
durch gezielte Verteuerung durch zusätzliche bürokratische Vorschriften – ökonomisch unattraktiver
machen. Neue Stromtrassen sollen generell gar nicht gebaut, Überspannungen durch ungenügende
Kapazitäten zur Stromumverteilung dagegen durch Zwangsabschaltung von Windkraftanlagen
verhindert werden (63). Auch von Speichertechnologien hält die AfD nichts: Sie seien ineffizient
und zu teuer, gefördert werden sollten entsprechende Firmen nur, wenn dies zum Aufbau von
Arbeitsplätzen führe. Überhaupt schütze die Energiewende überhaupt nicht die Umwelt, weil Wald
abgeholzt werde, Vögel von Windrädern getötet würden, Mais- und Rapsmonokulturen die
Artenvielfalt reduzierten und seltene Erden „unter schlimmsten Umweltfreveln mit Kinderarbeit in
afrikanischen Minen gefördert werden“ (67) – ein durchaus bemerkenswertes Argument von einer
9 Die Wirtschaftspolitik der AfD Thüringen wäre einer eigenen Betrachtung wert, die hier aber aus Platzgründen
unterbleiben muss. Um aber nur kurz am Rande einer häufig gehörten Fehleinschätzung zu widersprechen: Das
Programm der Thüringer AfD ist in keinem begrifflich sinnvoll anwendbaren Sinne „neoliberal“. Forderungen nach
Steuersenkungen, Liberalisierung oder Privatisierung, Kürzung von Sozialleistungen u.ä. sucht man hier vergeblich.
Vielmehr vertritt die Höcke-AfD eine Art nationalistisch-keynesianische, protektionistische Wirtschaftspolitik. Ihr
Feindbild sind die exportorientierte Wirtschaft und die Finanzbranche, verdeckt antisemitisch wird gegen
„schädliche Spekulation und kurzfristig denkende Renditejäger“ polemisiert (89). Dagegen solle die
mittelständische, binnenmarktorientierte Wirtschaft unterstützt und die Gemeinschaft zwischen deutschen
Unternehmern und ihren Beschäftigten gefördert werden. Niedriglohnstrategien werden auf der Grundlage einer
quasi-keynesianischen Produktionskostentheorie abgelehnt (40). Angekündigt werden auch höhere öffentliche
Investitionen statt „Tricksereien um die ‚schwarze Null‘“ (88), und in Teilen wird sogar die Vergesellschaftung
bestimmter Produktivvermögen befürwortet: Gefordert wird die Gründung eines „Thüringer Staatsfonds“ zwecks
„Abkehr von der jahrzehntelangen Privatisierungspolitik, die als Irrweg zu bezeichnen ist“ (89). Auch die
neoliberale Ökonomisierung des Bildungswesens wird explizit abgelehnt: jede „ideologische oder ökonomische
Einflußnahme auf Forschung und Lehre“ (35) gelte es zu beenden.
10
Partei, die in allen anderen Kontexten die Externalisierung ökologischer und sozialer Kosten der
Selbstverständlichkeiten der eigenen Lebensweise mit allen Mitteln verteidigen will. Dies kommt
noch im selben Abschnitt zum Ausdruck: Wirksamen Umweltschutz könne man am besten
erreichen, indem man arme Länder durch bedingungsgebundene Entwicklungshilfe dazu zwinge.
Erneut wird die eigene Rücksichtslosigkeit aber auch hier auf die Gegenseite projiziert: statt um
Umweltschutz gehe es in Wirklichkeit um „hochprofitable Windkraftanlagen wohlhabender
Investoren und Ökoindustrieller“ (66f.). Energie, so das Versprechen, solle auch in Zukunft so
einfach und billig verfügbar sein wie bisher, und alle damit verbundenen Lasten sollen
ausschließlich Andere und die Umwelt tragen.
Wer hier angesprochen werden soll, ist nicht schwer zu erraten: Was den Aufbau neuer
Energieversorgungsinfrastrukturen angeht, wird erneut „mehr Einfluß der Bürger“ gefordert –
wiederum offensichtlich als Instrument zur Blockade des Strukturwandels, das von der AfD gezielt
propagandistisch genutzt werden könnte. Auch im Programm selbst wird den starken Anti-
Windkraft-Initiativen in Thüringen ausgiebig nach dem Mund geredet.
Das alles macht schon mehr als deutlich, dass es sich bei der Ideologie Höckes und der AfD
Thüringen keineswegs um eine Variante von „rechtsökologischem“ Gedankengut handelt. Das
scheinbare ‚Aufspringen‘ auf den Anti-Windkraft-Zug ist keine bloße taktische Volte zum
Stimmenfang, sondern es wurzelt tief im ideologischen Kern von Höckes identitärem Blut-und-
Boden-Denken. Von Anschlussfähigkeiten gegenüber den Anliegen der Umweltbewegung kann bei
diesem Programm wirklich keine Rede sein. Das verdeutlichen neben der Zentralität der Anti-
Klimaschutz-Argumentation nochmals die Kernpunkte der zwei Seiten zum Naturschutz: Dieser
bedeutet für die AfD
•den Verzicht auf weiteren Ausbau der Windkraft,
•eine emotionalisierte Argumentation für Tierschutz und gegen Tierversuche, die aber nicht
etwa mit einer grundsätzlichen Kritik an Massentierhaltung, sondern mit der Forderung nach
artgerechter Massentierhaltung einhergeht (68),
•die Förderung der Produktion und Vermarktung „heimischer Pelze“ aus bei der Jagd erlegten
Wildtieren,
•eine harte Kriminalisierung von „militanten Tierrechtsorganisationen“ – PETA solle die
Gemeinnützigkeit entzogen, die ALF verboten werden,
•das immer wieder aus rassistischen Gründen geforderte Verbot des Schächtens sowie
•Maßnahmen gegen die Überdüngung der Böden, die in leicht absurder Manier nicht nur der
Landesregierung, sondern auch der DDR angelastet werden, nicht aber den
landwirtschaftlichen Betrieben, die heute zu viel Dünger ausbringen.
Keiner dieser Punkte hat mit den Anliegen von Naturschutzverbänden oder anderen ökologisch
motivierten Gruppen ernsthaft etwas gemein – im Gegenteil wird einem mit ihnen in Teilen
verbündeten Spektrum (Tierrechtler:innen) offen massive Repression angedroht, und auch breitere
Teile des Öko-Spektrums können sich durch die Drohungen, das „extremistische Umfeld der
bisherigen Landesregierung“ hart zu verfolgen, gemeint fühlen. Daneben finden sich auch etwa in
den Passagen zur Verkehrspolitik (Gleichsetzung von Automobilität mit Freiheit, Denunziation
jeder Diskussion über Alternativen als „ideologisch und utopisch“), zur Wirtschaftspolitik
(Abschaffung von Umweltvorschriften für Unternehmen) und zur Landwirtschaft (Bauern
wettbewerbsfähig halten durch Abbau von Öko-Regulierungen) offen anti-ökologische
Forderungen. Wer weiterhin über Anschlussfähigkeiten zwischen der Öko-Szene und der Thüringer
AfD spekuliert, kann diese Passagen nicht gelesen haben. In der Tat könnte kaum deutlicher sein
11
dass, wer Umweltschutz will, sich in den kommenden Jahren auch antifaschistisch wird betätigen
müssen.
8. „Gesunder Menschenverstand“ vs. „Ideologie“
Bei der Lektüre des Programms als Ganzem fällt ins Auge, dass sich ein einziger Topos wie ein
roter Faden durch alle wichtigen Politikfelder – von der Migrations- über die Bildungs- und
Wirtschafts- bis hin zur Klimapolitik – zieht: Der Vorwurf, die Eliten in Politik und Medien
handelten „ideologisch“ und würden „den Bürgern“ ihre von verqueren Theorien bestimmten
Vorstellungen des Zusammenlebens aufzwingen wollen, während die AfD eine „ideologiefreie“
Politik nach Maßgabe des „gesunden Menschenverstandes“ zu machen verspricht.
Auf den ersten Blick wirkt das wie oft gehörte Wahlkampfrhetorik. In der Tat lässt sich davon
ausgehen, dass „Ideologiefreiheit“ und die Gegnerschaft gegen Kräfte, die Veränderungen fordern,
auch große Teile der CDU-Wähler:innenschaft ansprechen. Dennoch handelt es sich hier nicht im
Kern um ein taktisches, nur mit Blick auf diese Wähler:innenpotentiale gewähltes Argument.
Vielmehr findet hier eine weitere reine Wortersetzung statt, die den direkten Bezug zur völkisch-
identitären Ideologie Höckes überdeckt, ohne diese inhaltlich in irgendeiner Weise zu relativieren.
Hinter dem Schlagwort vom „gesunden Menschenverstand“ steht nämlich das – zu recht
vorbelastete und daher hier gemiedene – in seiner klassischen Verwendung ebenso vitale
„Volksempfinden“ (von dem Höcke in der Vergangenheit auch offen gesprochen hat, s. Kemper
2016: 76). „Gesunder Menschenverstand“ bedeutet für die Thüringer AfD also die dogmatische
Festschreibung der eigenen Lebensweise, „Kultur“ und „organisch gewachsenen Gemeinschaft“
und ihre unbedingte Verteidigung gegen alle wahrgenommenen oder vermuteten Angriffe –
legitimiert wird so das Ressentiment gegen jede Veränderung, das aggressiv bornierte Um-Sich-
Schlagen angesichts alles Neuen und Ungewohnten, mit dem einen die Welt konfrontiert.
Und das „Volksempfinden“ orientiert sich nicht nur stets am Hergebrachten, an „bewährten“
Technologien und gewohnten Verfahrensweisen, sondern beinhaltet als Begriff auch deren
Naturalisierung, also das – hier wirklich: ideologische – Beharren darauf, dass es so, wie es schon
immer war, auch immer bleiben müsse, weil es eben schon immer so war: „Die Ideologie wird
niemals über die Natur, über den gesunden Menschenverstand siegen“ (Höcke nach Kemper 2016:
125). Der gesellschaftliche Zustand, die Naturverhältnisse und die Weltsicht von Höckes Klientel
seien also „Natur“: Sie seien so, sie müssten so bleiben, und jeder Versuch ihrer Änderung müsse
zwingend scheitern. „Ideologen“ sind demnach für Höcke alle, die an der Menschengemachtheit
von Sozial- und Naturverhältnissen festhalten und gesellschaftliche Veränderungen einfordern oder
auch nur für möglich halten.
Das nun schließt nicht aus, dass Höcke selbst weitreichende, ja umstürzlerische Veränderungen
anstrebt – sie sind für ihn nur eigentlich keine solchen, sondern lediglich notwendige Maßnahmen,
um die widernatürlichen Veränderungen – oder im entsprechenden Jargon: Entartungen,
Degenerationen – wieder rückgängig zu machen, die die ideologischen Eliten der „DDR 2.0“ den
Deutschen aufgezwungen hätten, um deren Identität, ihre Einheit mit sich und ihrem Land,
wiederherzustellen.10 „Identität“, dieser heute nicht nur bei Höcke, sondern in der gesamten
völkischen Rechten zentrale Begriff,11 ist selbst Ergebnis einer weiteren dieser Wortersetzungen: Zu
Führers Zeiten sagte man noch „Blut und Boden“ – gemeint war die gleiche imaginierte Einheit von
„Volk“ und „Lebensraum“, von ethnisch reiner Gemeinschaft und ihrer natürlichen Umgebung, die
10 In seinem Gesprächsband von 2018 spricht er dementsprechend auch von „Renovation“ und nicht etwa von
Revolution, wo es um seine Umsturzphantasien geht.
11 Auch im Programm kommt er neunmal vor: Neben seiner programmatisch zentralen Verwendung im Titel des
Abschnitts „Für eine identitätserhaltende Migrationspolitik“ wird er etwa in Bezug auf die Thüringer Wälder („Ein
teil unserer Identität“, S. 73), die Kultur („Ausdruck unserer Identität“, S. 80) und den Sport („fördert
Kommunikation, Solidarität und Identität“, S. 86) verwendet.
12
auch für Höcke erhalten bzw. aktiv wiederhergestellt werden soll. Daher nicht zuletzt auch der
erbitterte Widerstand gegen die Windkraft – verändert sie doch die Landschaft, die im Interesse der
organischen Verbindung zwischen „Volk“ und Land unbedingt unverändert zu bleiben habe.
„Identität“ ist in diesem Sinne eine überzeitliche Festschreibung, mit deren Setzung es im Kern
darum geht, alles Nichtidentische, alles über das gewollt irreflexive Festhalten am immer schon
Gewußten, immer schon Gedachten, immer schon so Gewesenen Hinausweisende mit aller Gewalt
zu bekämpfen. „Weil wir wissen, wer wir sind, brauchen wir kein Dagegen. Weil wir eine Identität
haben, sind wir keine Ideologen“ (nach Kemper 2016: 114). Es wäre aus dieser Sicht also kein
„Dagegen“, mit härtester staatlicher Repression gegen alle vorzugehen, die nach Emanzipation,
nach Abbau ungerechter, herrschaftlicher Verhältnisse rufen – es wäre nur eine Verteidigung der
„Natur“. Denn wenn „gesunder Menschenverstand“ „natürlich“ ist und bedeutet, dass sich um
keinen Preis irgendetwas ändern soll, sind dann nicht umgekehrt auch alle, die Veränderungen
fordern oder auf ihre Notwendigkeit hinweisen, eben unvernünftig, irregeleitet, wenn nicht gar
krank, widernatürlich, vielleicht auch gar keine Menschen? In Verbindung damit, dass Höcke in
dem letztes Jahr veröffentlichten Gesprächsband davon spricht, dass eine künftige Regierung
„Maßnahmen ergreifen [müsse], die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“
und das „existenzbedrohende Krisen [...] außergewöhnliches Handeln“ erforderten, sollte das
wirklich alle demokratischen Alarmglocken schrillen lassen.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist zudem besorgniserregend, dass der „Ideologie“-Vorwurf auch
Forscherinnen und Forscher trifft – in allen Forschungsrichtungen, deren Perspektiven oder
Erkenntnisse mit den Vorstellungen der AfD von Identität und „Natur“ nicht kompatibel sind. Offen
gefordert wird „die Abschaffung von als Wissenschaft getarnten Ideologieprogrammen, namentlich
der ‚Gender-Forschung‘, an den Thüringer Hochschulen“, doch dürfte es hierbei kaum bleiben,
bekäme die AfD einmal Einfluss auf die Wissenschaftspolitik des Landes. Auch ein Großteil der zu
anderen Themen arbeitenden Sozial- und Geschichtswissenschaften, aber auch die Klimaforschung,
manche Teigebiete der Biologie und selbst einzelne ingenieurwissenschaftliche Felder (Forschung
zu erneuerbaren Energien) müssten damit rechnen, hier schnell ins Fadenkreuz zu rücken. Insofern
sollte Solidarität schon bei den ersten Anzeichen einer aus der Opposition heraus verfolgten ‚anti-
ideologischen‘ wissenschaftspolitischen Strategie der AfD ein dringendes Gebot für alle
Wissenschaftler:innen sein. Gemeint sind nicht einzelne, aus Sicht mancher vielleicht schwer
nachvollziehbare Ansätze und Disziplinen, sondern das wissenschaftliche Bemühen um Wahrheit
selbst.
9. Fazit: Time to Panic
Im inneren Kern der Programmatik der Höcke-AfD steht also, kaum verdeckt durch die
Selbstdarstellung als „ideologiefrei“, eine völkisch-identitäre „Blut und Boden“-Ideologie in
direkter Kontinuität des Nationalsozialismus. Sie knüpft an an einer in bestimmten Teilen der
Bevölkerung verbreiteten intuitiven Abwehr gegen jegliche Veränderung im eigenen Lebensumfeld.
Als „ideologisch“ erscheint jede Position, die irgendetwas fordert, legitimiert oder auch nur für
unabwendbar erklärt, was die gewohnte Lebensweise und den Alltag der AfD-Klientel in Frage zu
stellen droht. Die rabiate Verteidigung des Gewohnten ist das, was sowohl zentral als Anliegen der
Wähler:innen bedient als auch als Angebot an sie formuliert wird. Wenn Höcke verspricht, wenn er
Ministerpräsident sei, gehe es „nicht länger um irgendwelche ideologischen Weltrettungsprojekte.
Es geht dann wieder um unsere Heimat und darum, das Leben von unseren Bürgern einfacher und
sicherer zu machen!“ (Wahlkampfzeitung, S. 4) bedient er diesen Affekt – und gleichzeitig geht er
weit darüber hinaus, indem er eine doppelte Ankündigung macht. Erstens: Es gehe „wieder um
unsere Heimat“ – erneut wird ein Zurück, eine Rückkehr zu einem früheren, angeblich besseren
13
Zustand versprochen. Während dieser für die Mehrheit der Wähler:innen im Osten wohl eher in den
Versprechen Helmut Kohls zur Bundestagswahl 1990 als in ihren realen Lebenserfahrungen zu
suchen ist, will Höcke ein gutes halbes Jahrhundert weiter zurück, in eine Zeit, in der es ebenfalls
um „unsere Heimat“ ging. Da beides aber illusorische Fiktionen sind, Verklärungen, deren
„Wiederherstellung“ schon deshalb überhaupt nicht möglich ist, steckt in dieser Ankündigung
massive Gewalt: Wer dies verfolgte, müsste Jahrzehnte wirtschaftlicher und gesellschaftlicher
Entwicklungen rückgängig machen. Dazu bräuchte es erhebliche Gewalt, und weil das Ziel
vollkommen unerreichbar ist, würde sich diese immer weiter in ihren „Reinigungs-“ und
Eliminationswahn hineinsteigern. Und das deutet Höcke zweitens schon freimütig an, wenn er als
zweites Ziel ausgibt, „das Leben von unseren Bürgern einfacher und sicherer zu machen“. Hiermit
schlägt Höcke die Brücke zurück zu der auf dem Versprechen von Sicherheit gegründeten
grundgesetzwidrigen Grundgesetzinterpretation, die dem Teil des Programms zur inneren Sicherheit
zugrunde liegt und die, wie gezeigt, gezielte Schritte zur Errichtung eines autoritären Polizeistaats
legitimieren soll. Weil es Sicherheit für Menschen in modernen Gesellschaften nie genug geben
kann – je sicherer eine Gesellschaft, desto mehr fürchtet sie um ihre Sicherheit – und sich ähnliches
wohl auch für „Einfachheit“ sagen ließe, enthält dieses zweite Versprechen also nicht nur die
Ankündigung eines rücksichtslosen autoritär-repressiven Vorgehens, sondern zugleich auch die
Unausweichlichkeit immer weiterer Eskalation dieser Gewalt.
Wir haben es hier nicht mit jemandem zu tun, der aus Selbstgefälligkeit und Machtwillen autoritäre
und rassistische Karten spielt, um Unterstützung zu gewinnen (auch wenn die Selbstgefälligkeit
selbstverständlich nicht zu verleugnen ist), sondern mit jemandem, der einen ausgeklügelten Plan
zur Demontage von Demokratie und Rechtsstaat, zur politischen und ethnischen „Säuberung“
Thüringens und Deutschlands und zur Errichtung eines völkisch-autoritären Staates verfolgt. All das
steht, sprachlich nur locker verhüllt, im Programm. Man muss es nur lesen können – und wollen.
Legt man einmal die gewohnte, wohlige Vorstellung ab, dass das ja ohnehin alles nur politische
Rhetorik sei und dass so jemand, selbst wenn er mal an der Regierung beteiligt sei, sich schnell
mäßigen und den Zwängen des politischen Alltagsgeschäfts unterordnen werde, und nüchtern zur
Kenntnis nimmt, was dieser Mann – wie andere vor ihm – offen ankündigt, dann ist Panik der
einzige gute Ratgeber. Ginge es nach dem Willen der künftig voraussichtlich zweitstärksten Partei
in Thüringen und ihres Führers, so müssten sich linke politisch Aktive, NGO-Aktivist:innen,
kritische Journalist:innen, Sozial- und Klimawissenschaftler:innen (der Genderforschung wird ihre
Beendigung offen angekündigt, andere dürfen und sollten sich mitgemeint fühlen) und andere
politisch nicht genehme Personen auf Bespitzelung, Repression und Haft einstellen, von der AfD als
„Nichtdeutsche“ deklarierte Menschen auf Entrechtung, Schikanierung, Deportation und wohl auch
Schlimmeres, und alle anderen auf Gleichschaltung, ideologische Indoktrination, allgegenwärtige
Überwachung, Militarisierung und Krieg. All das ist nicht weit hergeholt. Denkt man ein wenig
über die unterschiedlichen Ankündigungen der Höcke-AfD, ihre wechselseitigen Bezüge und ihre
kurz-, mittel- und langfristigen Konsequenzen nach, so fügt sich alles konsistent zu einem
systematischen, mehrstufig angelegten Plan zusammen:
•Stufe 1 (läuft bereits): Unzufriedenheit und Ängste schüren, verbreitete Ressentiments in
Wut auf politische Eliten kanalisieren, sich selbst als „Alternative“ präsentieren, damit die
autoritär-nationalistischen Wähler:innenreservoirs möglichst ausschöpfen.
•Stufe 2 (aus der Oppositionsführerschaft heraus): Weiter das verkommene System der
„Kartellparteien“ anklagen, mittels Untersuchungsausschüssen versuchen, die
Regierungsparteien zu diskreditieren, auszuforschen und zu beschädigen. Zentral aber ist für
diese Phase die Forderung nach „lebendiger Mitmachdemokratie“ als vermeintlich
harmloser strategischer Hebel. Auch wenn eine Regierungsbeteiligung der AfD in Thüringen
nach Ende Oktober praktisch ausgeschlossen sein dürfte, erscheint es durchaus nicht
14
unrealistisch, dass die AfD mit immer wieder plakativ vorgetragenen Forderungen nach
mehr plebiszitären Elementen die CDU dazu bringen könnte, zusammen mit ihr ein
entsprechendes Gesetz gegen eine Rot-grün-rote Minderheitsregierung durchzubringen.
Dass in der CDU die Stärkung plebiszitärer Elemente als Mittel zur Schwächung der
amtierenden Landesregierung und als scheinbare Chance, Unzufriedenheiten zu bedienen
und der AfD so auch in Teilen den Wind aus den Segeln zu nehmen, als opportun gesehen
werden könnte, erscheint durchaus nicht abwegig.
•Stufe 3: Die neuen plebiszitären Elemente nutzen, um den parlamentarischen Prozess
weitgehend lahmzulegen und möglichst viele Gesetzgebungsprojekte durch populistische
Kampagnen zu stoppen, um dann der Landesregierung Unfähigkeit und Ineffizienz
vorzuwerfen und zudem Zweifel an der parlamentarischen Demokratie überhaupt zu
schüren. Nun könnte sich Höcke als der starke Mann präsentieren, der „den Stall
ausmisten“, das Chaos beenden und eine entschlossene Politik für die Interessen „des
Volkes“ mache. Bis zu diesem Punkt könnte es der AfD als zweitstärkster Partei auch
gelungen sein, mit ihrem Projekt der „Wiederherstellung der Meinungsfreiheit“ so weit
vorangekommen zu sein, dass etwa der Volksbegriff wieder an die Stelle der aktuell taktisch
gewählten „Bürger“-Terminologie träte.
•Stufe 4: Auf dieser Welle mit einer hetzerischen Angstkampagne und Versprechen von
rigidem Durchgreifen bei der nächsten Landtagswahl zur stärksten Kraft werden und mit
einer den völligen Bedeutungsverlust fürchtenden CDU eine Regierung bilden. Höcke
würde das Ministerpräsidentenamt beanspruchen – es wäre aber auch denkbar, dass er sich
taktisch (nach dem Vorbild Salvinis) mit dem Innenministerium zufrieden gäbe. Denn dieses
ist strategisch entscheidend für…
•Stufe 5: Die sofortige Einleitung der im Kapitel zur inneren Sicherheit und dem zur
Migration angekündigten großangelegten Verfolgungs- und Repressionsmaßnahmen, durch
eine schnelle und drastische Aufstockung und anschließende direkte Instrumentalisierung
von Polizei und Staatsanwaltschaften. Politische Gegner würden festgenommen,
Asylsuchende bespitzelt, schikaniert, inhaftiert und in großer Zahl abgeschoben, die zum
Hauptsündenbock gemachten „gewalttätig gewordenen Asylbewerber“ in Sondergefängnisse
im Wald gesteckt und misshandelt. Selbstverständlich wäre das zu großen Teilen illegal, und
es wäre fraglich, wie weit Höcke damit käme – aber auch das wäre Teil des Plans, gäbe es
ihm doch die Möglichkeit, nunmehr Bundesbehörden und Gerichten, die seinem Vorgehen
Steine in den Weg legen, sowie politischen und zivilgesellschaftlichen Kritiker:innen „Verrat
am Volk“, die Unterstützung von Gewaltverbrechen, die Untergrabung der Sicherheit
deutscher Frauen und Kinder und dergleichen vorzuwerfen und den selbst provozierten
Konflikt mit den „abgewirtschafteten Systemeliten“ so auszuweiten und weiter zu
eskalieren.
•Dies würde dann – Stufe 6 – auf die Bundesebene zielen: Spekulierend darauf, dass die
gegenwärtige systemische Instabilität der Bundespolitik sich in den kommenden Jahren eher
noch verschärft als abschwächt, und dass sich auch die zunehmenden Konflikte um die
Klimapolitik in einer Konfrontation zwischen der AfD als Sprachrohr aller
‚Klimaverweigerer“ und den anderen, basale wissenschaftliche Erkenntnisse akzeptierenden
Parteien zuspitzen, könnte sich Höcke nun als Kanzlerkandidat in Stellung bringen und nach
der Macht im Staate greifen. Soweit nun reichen die Andeutungen des Programms nicht
mehr,12 aber es gehört nicht allzu viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass er auch hier
12 Wiewohl seine Aussage in dem abgebrochenen ZDF-Interview, es könne ja sein, dass er künftig eine „interessante
politische Persönlichkeit“ sein könnte, als Hinweis darauf gelesen werden kann, dass Höcke tatsächlich eine
derartige Vorstellung von seiner politischen Zukunft hegt
15
seine rabiate Ausgrenzungs-, Entrechtungs- und Eskalationsstrategie weiterführen und noch
intensiver versuchen würde, rechtsstaatliche Institutionen auszuhebeln. An politischen
Vorbildern hierfür mangelt es derzeit ja nicht. Wohin die Reise ginge, lässt sich im
Programm zumindest an einigen eher nebenbei formulierten Forderungen – militärische
Grenzsicherung durch die Bundeswehr, drastischer Rückbau der EU oder
Austrittsreferendum – erahnen.
Es gibt also allen Grund zur Panik. Am 27. Oktober müssen wir damit rechnen, dass eine Partei zur
zweitstärksten Kraft im Thüringer Landtag wird, der von ihrem Anführer und Chefdenker eine
konsistent auf seinem neonationalsozialistischen Gedankensystem aufgebaute Programmatik
gegeben wurde. Höcke verfolgt, daran kann nach allem, was wir wissen, kaum ein Zweifel
bestehen, eine gezielte Eskalationsstrategie, und es kann davon ausgegangen werden, dass er dafür
jedes rechtliche und politische Machtmittel, das ihm zufällt, konsequent nutzen wird.
Was lässt sich dem entgegensetzen? Angesichts dessen, dass ein Ergebnis von mindestens einem
Fünftel, eher einem Viertel der Stimmen für die AfD wohl nicht mehr abzuwenden ist, wird die
Aufgabe aller am Erhalt einer offenen, demokratischen Gesellschaft, an Klimaschutz, Asylrecht
oder Bürger:innenrechten interessierten politischen Kräfte darin bestehen, die AfD konsequent zu
isolieren, und die der Zivilgesellschaft darin, dies lautstark immer wieder einzufordern und sich
Höcke und der AfD bei jeder sich bietenden Gelegenheit öffentlich in den Weg zu stellen. Höckes
Eskalationsstrategie ist in ihren frühen Phasen vor allem an einem Punkt anfällig: sie benötigt
punktuelle Unterstützung. Sofern sie unter einem Fünftel der Sitze bleiben sollte, braucht sie zur
Einsetzung von Untersuchungsausschüssen zumindest einzelne Abgeordnete – am ehesten aus der
CDU – die mit ihr Stimmen, und für die Ausweitung der plebiszitären Elemente, die sie als
zentrales strategisches Ziel verfolgt, müsste wohl die ganze Union mit ihr stimmen. Hierzu darf es
nicht kommen – jeder dieser Schritte wäre ein Dammbruch, der Höcke entscheidende strategische
Instrumente in die Hand gäbe und den weg zur nächsten Eskalationsstufe öffnen würde. So
schwierig dies gerade mit der Thüringer CDU werden wird: Dies muss allen Abgeordneten in seiner
vollen Tragweite klar sein, und es wird alles daran gesetzt werden müssen, dass es hierzu nicht
kommt. Anders als durch das konsequente Schneiden, die strikte Verweigerung jeder Kooperation
mit einer Partei, die sich die Zertrümmerung der Grundlagen des Zusammenlebens zum Ziel gesetzt
hat, wird die Strategie kaum zu durchkreuzen sein.
Nachtrag: ein faschistisches Programm
Unabhängig davon, wie wichtig eine solche begriffliche Festlegung letztlich ist, gibt das Programm
keinen Anlass, zu einem anderen Verdikt zu kommen als Kemper, der Höcke 2016 bescheinigte, alle
vier Kernmerkmale einer faschistischen Position im Sinne Roger Griffins (1993, 2004) –
„utopischer Antrieb“, Benennung von Dekadenz als Problem, Forderung nach radikaler Erneuerung
der Nation und Verständnis der letzteren als eines „organischen Ganzen“ – zu erfüllen:
•„Utopischer Antrieb“: Der AfD einen solchen zu bescheinigen, mag auf den ersten Weg
abwegig scheinen, wird doch „Utopismus“ sogar als Vorwurf gegen linke und vor allem
grüne Politikmodelle in Stellung gebracht. Hier, wie überhaupt, wird allerdings projiziert:
Die ganze Erzählung von der „Wende 2.0“ (die Höcke nur deshalb nicht recht als
messianische präsentieren kann, weil er aus dem Westen ist) lebt von der Utopie einer
Befreiung „der Bürger“ (also des deutschen Volks) vom Joch der Altparteien und ihrer
ideologischen Herrschaft, mit dem Ziel der Realisierung der Volksgemeinschaft. Letztere ist
als utopischer Hintergrund in Höckes sonstigen Schriften und Äußerungen deutlich präsent
und scheint auch im Programm zwischen den Zeilen als solcher durch.
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•Dekadenz als Problem: Kemper arbeitet heraus, dass dies sich bei Höcke unter anderem auf
die Gefährdung der deutschen Männlichkeit durch „Gender Mainstreaming“ und queere
Bewegungen sowie auf das Zulassen von „Masseneinwanderung“ durch die „Altparteien“
bezieht. Auch wenn die Begriffe „Dekadenz“, „Degeneration“ oder „Entartung“ offenbar
bewusst gemieden werden, sind beide Argumentationsmuster im Programm sehr klar
präsent. Hinzu kommt noch die spezifische Dekadenzerzählung des „DDR 2.0“-Narrativs:
„Wieder verkommt ein Land, weil seine Führung verbohrt einer zerstörerischen Ideologie
folgt. Wieder wird ein Land von einer arroganten ‚politischen Elite‘ ins Chaos regiert“
(Wahlkampfzeitung, S. 1).
•Radikale Erneuerung der Nation: Entsprechend Höckes Ansicht, dass die „historische
Mission“ der AfD in der „Rückeroberung der Meinungsfreiheit“ bestehe, die ihm
Voraussetzung ist für eine nationalistische Umdeutung der Geschichte und eine breitere
„patriotische Wende“ hin zu einem völkischen Staat, steht die Forderung nach
Meinungsfreiheit nicht nur auf Plakaten, sondern auch prominent direkt im ersten Punkt des
Programms (7). Vehikel für die weitreichende Umgestaltung, auf die das zielt, ist die in
ostentativ demokratischer Wortwahl auf den ersten Seiten geforderte „lebendige
Mitmachdemokratie“. Ist es auf dem Wege neuer direktdemokratischer Instrumente erst
einmal möglich, jede Entscheidung zu blockieren und das Funktionieren der etablierten
demokratischen Institutionen durch populistische Kampagnen lahmzulegen, so das Kalkül
dahinter, lassen sich Forderungen nach dem „starken Mann“, der das Chaos beendet, richtig
durchgreift und rücksichtslos für Disziplin sorgt, ohne die derzeit taktisch notwendigen
Rücksichten – und gerechtfertigt durch den Willen „der Bürger“ – viel offener vertreten und
durchsetzen. Hierin würde sich für Höcke das „Aufstehen“, das „Erwachen“ des Deutschen
Volkes, oder mit Griffin: die „Palingenese“, die völkische Neugeburt, die mehr ist als eine
bloße Rückkehr, manifestieren.13 „Das Brett, das wir bohren müssen, ist sehr dick. Aber wir
werden diese Arbeit leisten“ sagte Höcke 2014 (nach Kemper 2016: 88). Die Forderung
nach direkter Demokratie ist ein strategischer Schritt auf diesem Weg. Letztlich geht es
darum, jede „ideologische“ – also reflexiv begründete, das Bestehende als veränderbar
begreifende – Politik mit Gewalt zu beenden und dem identitären Prinzip, der irreflexiven
Beharrung auf Erhalt des Schon-immer-Gewesenen (eine Vorstellung, wie sie ideologischer
überhaupt nicht sein könnte) zu unbedingter Geltung zu verhelfen. Das Grundgesetz – und
gerade seine ersten 20 Artikel – muss für dieses Projekt früher oder später zum Hindernis
werden
•Nation als organisches Ganzes: Dass eine solche Vorstellung dahinter steht, ist an Höcke-
typischen Formulierungen wie der vom „gemeinschaftsorientierten Werte-, Sitten- und
Normengefüge“ (12), von der „über Generationen gewachsene[n] Vertrauensgesellschaft“
(ebd.) oder von „in Jahrhunderten ohne staatliche Eingriffe organisch gewachsenen
Traditionsbestände[n]“ (30) der Thüringer Heimat ganz deutlich. Sie verdichtet sich im
13 Kemper hat viel Arbeit darauf verwendet, Höcke diese palingenetische – also nicht rein reaktionäre, auf
Wiederherstellung eines früheren Zustands gerichtete, sondern auf eine „Neugeburt mit traditionellen Elementen“
zielende – Vorstellung nachzuweisen. Wie um seinen Punkt zu untermauern hat Höcke inzwischen an zentraler
Stelle – im Titel seines Gesprächsbandes „Nie zweimal in denselben Fluss“ – herausgestellt, dass er in der Tat so
denkt. Der Titel verweist nämlich auf eine Stelle im ersten Abschnitt des Buchs, an der Höcke in seinem typischen
pseudophilosophischen Schwulst ausführt, wie ihn die Erfahrungen seiner Kindheit am Rhein geprägt hätten: „[I]m
Anblick des majestätischen Stroms hat [mein Vater] mir zwei ganz wesentliche Einsichten vermittelt: Zum einen
den heraklitischen Spruch, daß man nicht zweimal in denselben Fluß steigen könne und es also ein unmögliches
Unterfangen darstelle, vergangene Zustände zu wiederholen, zum anderen die Stetigkeit des fließenden Wassers, die
durch Menschenkraft nicht aufzuhalten ist, weshalb ein propagiertes ‚Ende der Geschichte‘ nur ein Zeugnis
menschlicher Hybris darstellen kann“. Nicht einfach zurück wollen, sondern durch einen Akt des Willens im Strom
der Natur, den Andere aus ideologischen Motiven unterbrochen hätten, endlich wieder aufgehen können –
deutlicher als dadurch, dies als Buchtitel zu wählen, kann man sich zur Palingenetik kaum bekennen.
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Schlüsselbegriff der Identität, der als Ersatzwort für die diskreditierte Wendung von „Blut
und Boden“ auf die imaginierte, mit allen Mitteln wiederherzustellende widerspruchs- und
konfliktfreie Einheit des „Volks“ mit sich selbst und seiner „natürlichen“ Umgebung oder
seinem „Lebensraum“ zielt.
Alle vier Kriterien sind also erfüllt. Wenn man, wie jüngst gerichtlich bestätigt, Höcke einen
Faschisten nennen darf, so darf man auch feststellen: Das Wahlprogramm der AfD ist ein sprachlich
geschickt formuliertes, inhaltlich klar faschistisches Programm.
Literatur
Griffin, Roger (1993): The Nature of Facism, London
Griffin, Roger (2004): »Der umstrittene Begri¤ des Faschismus.« Interview mit Roger Griffin, in:
diss-Journal 13 (2004), url: http://www.dissduisburg.de/2004/12/der-umstrittene-begri¤-des-
faschismus/
Kemper, Andreas (2016): »… die neurotische Phase überwinden, in der wir uns seit siebzig Jahren
befinden«. Die Differenz von Konservativismus und Faschismus am Beispiel der »historischen
Mission« Björn Höckes (AfD), Jena: Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen.
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