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Industrie 4.0
30 Industrie 4.0 Management 35 (2019) 5
Den Ausgangspunkt bildet ein
Industrie 4.0-Reifegradmodell.
Es dient dazu, die Leistungsfä-
higkeit eines Unternehmens im
Kontext von Industrie 4.0 (I4.0)
zu bewerten. Reifegradmodel-
le gliedern sich in der Regel in Handlungsbe-
reiche, darin enthaltene Handlungselemente
(Kriterien) sowie zugehörige Leistungsstufen je
Kriterium. Mithilfe eines I4.0-Reifegradmodells
ist zunächst die aktuelle Leistungsfähigkeit ei-
nes Unternehmens zu bestimmen. Je nach Rei-
fegradmodell kann dies auf verschiedene Wei-
se erfolgen, beispielsweise Software-gestützt
oder in Workshops mit Unternehmensvertre-
tern. Im vorliegenden Beispiel wurde der sog.
Quick-Check Industrie 4.0 des Forschungsver-
bundprojekts INLUMIA – Instrumentarium zur
Leistungssteigerung von Unternehmen durch
Industrie 4.0 verwendet. Unabhängig davon
existieren zahlreiche weitere Industrie 4.0-Rei-
fegradmodelle wie der Maturity Index von aca-
tech [1]. Eine Übersicht liefert beispielsweise
[2]. Auch für andere Reifegradmodelle kann
das hier vorgestellte Vorgehen herangezogen
werden, solange sie dem oben beschriebenen
Aufbau entsprechen.
Den Aufbau des hier verwendeten I4.0-Reife-
gradmodells verdeutlicht Bild 1. Dem Projekt
INLUMIA liegt die Annahme zugrunde, dass es
sich bei Unternehmen in Anlehnung an Ulich
um soziotechnische Systeme handelt. Neben
der rein technischen Weiterentwicklung von
Unternehmen sind demnach ebenso organi-
satorische und soziale Aspekte gleichermaßen
zu berücksichtigen [3]. Vor dem Hintergrund
ökonomischer Unternehmensziele gilt es au-
ßerdem, wirtschaftliche Aspekte in Betracht
zu ziehen. Daher erfolgt im vorliegenden Rei-
fegradmodell eine Unterteilung in drei sog.
Dimensionen Technik, Business und Mensch.
Jede Dimension enthält vier sog. Handlungs-
bereiche. In der Dimension Technik sind dies
beispielsweise die Technikorganisation, das
Engineering, die Produktion und das Produkt.
Jeder Handlungsbereich enthält Kriterien, die
mit je vier Leistungsstufen versehen sind [4].
Beispiele für Kriterien in der Technikorganisa-
tion sind die Horizontale und Vertikale Integ-
ration oder die IT-Prozessunterstützung. Die
detaillierten Beschreibungen der Leistungs-
stufen ermöglichen eine genaue Einschätzung
der Leistungsfähigkeit je Kriterium. Die Work-
shop-Version des Quick-Check Industrie 4.0
Erfolg versprechende
Industrie 4.0-Zielposition
Ermittlung unter Berücksichtigung zukünftiger Umfeldentwicklungen
Christoph Pierenkemper, Jannik Reinhold, Roman Dumitrescu und Jürgen Gausemeier,
Heinz Nixdorf Institut, Universität Paderborn
Mithilfe von Industrie 4.0-Reifegradmodellen können Unternehmen ihren Leis-
tungsstand im Kontext Industrie 4.0 systematisch erfassen. Mit der Ermittlung
des Status Quos ist in aller Regel die Frage verbunden „Wo wollen wir zukünftig
hin?“. Vor dem Hintergrund, dass Unternehmen aus unterschiedlichen Gründen
nicht immer das grundsätzlich Mögliche einführen können, ist die Beantwor-
tung dieser Frage nicht trivial. Ist sich ein Unternehmen über seine I4.0-Zielposi-
tion vermeintlich im Klaren, führen äußere Einflüsse häufig dazu, dass die Zieler-
reichung erschwert wird, was oftmals eine Anpassung der Zielposition zur Folge
hat. Es gilt also, diese Umstände bereits in der Planung zu berücksichtigen. Der
vorliegende Beitrag zeigt auf, wie Umfeldentwicklungen bei der Ermittlung ei-
ner Erfolg versprechenden I4.0-Zielposition von Unternehmen einbezogen wer-
den können.
Determining a Promising Industry 4.0
Target Position for Companies Taking Into
Account External Influences
Using industry 4.0 maturity models, companies
can systematically record their performance in
the context of industry 4.0. When the status
quo is determined, the question “Where do
we want to be in future?” is usually associated
at the same time. However, companies are not
always in a position to introduce what is fun-
damentally possible. Therefore, this question is
not trivial. If a company is supposedly aware
of its I4.0 target position, external influences
often lead to the fact that the achievement of
the target is made more difficult or hindered.
It is therefore important to take these circum-
stances into account. This paper shows how
environmental developments can be taken
into account when determining a promising
I4.0 target position. The target position forms
the starting point for the implementation of
industry 4.0 in the company.
Keywords:
industry 4.0, maturity model, performance im-
provement, strategy, target position
M. Sc. Christoph Pierenkemper ist
wissenschaftlicher Mitarbeiter in
der Fachgruppe Advanced Systems
Engineering am Heinz Nixdorf Institut
der Universität Paderborn.
M. Sc. Jannik Reinhold ist als wissen-
schaftlicher Mitarbeiter in der Fach-
gruppe Advanced Systems Enginee-
ring am Heinz Nixdorf Institut der
Universität Paderborn beschäftigt.
Prof. Dr.-Ing. Roman Dumitrescu ist
Direktor am Fraunhofer-Institut für
Entwurfstechnik Mechatronik IEM und
Leiter der Fachgruppe Advanced Sys-
tems Engineering am Heinz Nixdorf
Institut der Universität Paderborn.
Prof. Dr.-Ing. Jürgen Gausemeier
ist Seniorprofessor für Strategische
Planung und Systems Engineering am
Heinz Nixdorf Institut der Universität
Paderborn und Vorsitzender des
Clusterboards des BMBF-Spitzenclus-
ters „Intelligente Technische Systeme
Ostwestfalen-Lippe (it´s OWL)“.
christoph.pierenkemper@
hni.upb.de
www.hni.uni-paderborn.
de/ase
Industrie 4.0
31https://doi.org/10.30844/I40M_19-5_S30-34
enthält insgesamt 59 Kriterien. Eine
reduzierte Form mit 33 Kriterien steht
darüber hinaus als Online-Selbstcheck
unter www.inlumia.de zur Verfügung.
Die Online-Version ermöglicht einen
Vergleich des eigenen Reifegrads mit
der Leistungsfähigkeit ähnlicher Un-
ternehmen in der Datenbank.
Ermittlung einer Erfolg
versprechenden Industrie
4.0-Zielposition
Die Leistungsstufen eines Reifegrad-
modells können nicht nur zur Ermitt-
lung der heutigen Leistungsfähigkeit
herangezogen werden. Sie eignen
sich ebenso zur Bestimmung einer
Erfolg versprechenden Zielposition.
Wie eine solche Zielposition aussieht,
ist von Unternehmen zu Unterneh-
men unterschiedlich und daher nä-
her zu untersuchen. Im Umfeld eines
Unternehmens existieren zahlreiche
Entwicklungen, die Einfl uss auf die Erreichung
einer Zielposition haben. Dazu zählen Trends
und Einfl ussfaktoren aus verschiedenen Be-
reichen wie beispielsweise Politik, Ökonomie,
Gesellschaft, Technologie oder Umwelt [5]. Wir
erläutern im weiteren Verlauf, was wir darunter
verstehen.
Die beschriebenen Entwicklungen beeinfl us-
sen die Kriterien eines Reifegradmodells sowie
deren Weiterentwicklung – und zwar zu unter-
schiedlichen Zeitpunkten in der Zukunft. Wir
schlagen daher eine schrittweise Weiterent-
wicklung der Kriterien vor. Konkret bedeutet
dies die Erhöhung der Leistungsfähigkeit durch
Erreichen höherer Leistungsstufen im Reife-
gradmodell zu verschiedenen Zeitpunkten.
Unter Berücksichtigung der Umfeldentwick-
lungen ermitteln wir in einem zweistufi gen
Vorgehen Erfolg versprechende Zielpositionen
für die mittlere und lange Frist (Bild 2). Daraus
ergeben sich folgende Vorteile:
• Die Entwicklung von Zukunftsbildern be-
ruht auf dem Grundprinzip des vernetzten
Denkens [5]. Die Komplexität dieser Aufga-
be wird häufig unterschätzt. Durch die Kom-
bination von Trends und Zukunftsszenarien
wird dieses Prinzip bestärkt und sicherge-
stellt, dass die Gesamtheit aller äußeren Ein-
flüsse bei der Ermittlung der Zielpositionen
ins Kalkül gezogen wird.
• Durch die iterative Bewertung von Trends
und Szenarien können quasi „spielerisch“
verschiedene Zukunftsbilder ermittelt wer-
den. Das unterstützt ein weiteres wichtiges
Grundprinzip – nämlich das der multiplen
Zukunft [5]. Dieses Grundprinzip ermun-
tert den Anwender, das „Undenkbare“ zu
denken und die Grenzen des gewohnten
Denkens zu überwinden.
• Kein Umfeld eines Unternehmens gleicht
dem des anderen. Das beschriebene Vorge-
hen greift diese These auf und ermöglicht
eine unternehmensindividuelle Beschrei-
bung der Zukunft. Jedes Unternehmen ist
dadurch in der Lage, daraus die entschei-
denden Schlüsse zu ziehen und eine Erfolg
versprechende Industrie 4.0-Zielposition zu
definieren.
Die Ermittlung der Zielposition gliedert sich in
drei übergeordnete Phasen, dargestellt in Bild 2
oben: Vorausschau durchführen (Phase 1), Aus-
wirkungsanalyse durchführen (Phase 2) und
Zielpositionen ermitteln (Phase 3). Diese über-
geordneten Phasen werden in den zwei darun-
ter befi ndlichen Strängen näher konkretisiert.
Oberhalb der grau gestrichelten Linie (oranger
Pfad) wird die Trendanalyse zur Ermittlung des
mittelfristigen Zielprofi ls beschrieben (Schritte
1a) bis 3a)). Unterhalb (roter Pfad) kommt die
Szenario-Technik zum Einsatz (Schritte 1b) bis
3b)). Die Anwendung dieser Methoden führt
zu zwei Zielprofi len mit unterschiedlichen Zei-
thorizonten und wird im Folgenden näher be-
schrieben.
Vorausschau durchführen (Phase 1)
Zur Abschätzung der mittelfristigen Industrie
4.0-Entwicklungen (Zeithorizont ca. fünf Jahre)
wird zunächst eine Trendanalyse durchgeführt.
Bei einem Trend handelt es sich um eine mögli-
Soziotechnische Unternehmensklassifizierung
Quick-Check Industrie 4.0
Technik Business Mensch
2. Innovations-
kultur
3. Geschäfts-
modell
4. Daten
1. Arbeits-
gestaltung
2. Qualifikation
3. Innerbetr.
Kommunik.
4. Interaktion
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1. Strategie
Quick-Check Industrie 4.0
Dimension Technik
Technikorganisation
T1: Horizontale Integration: Wie stark sind die Prozesse/Ressourcen der Unternehmen
Heutige Position
Angestrebte Zielposition
Heutige Position
Angestrebte Zielposition
T3: IT-Prozessunterstützung: Wie hoch ist der Anteil der digitalen Prozessunterstützung
T4: Tool-Landschft: Wie homo
T2: Vertikale Integration: Wie stark vernetzt sind die verschiedenen Unternehmenseben
Keine horizontale
Integration
1Partielle horizon-
tale Integration
2Umfangreiche
horizontale Integration
3
Umfangreiche
vertikale Integration
3
Durchgehende
IT- Unterstützung
3
Keine vertikale
Integration
1Partielle vertikale
Integration
2
Heutige Position
Angestrebte Zielposition
Rudimentäre
IT-Unterstützung
1Umfangreiche
IT-Unterstützung
2
Wie hoch ist der Anteil der digitalen Prozessunterstützung
4. Produkt
3. Produktion
2. Engineering
1. Technik-
organisation
Bild 1: Aufbau des Rei-
fegradmodells „Quick-
Check Industrie 4.0“ von
INLUMIA.
Industrie 4.0
32 Industrie 4.0 Management 35 (2019) 5
che Entwicklung der Zukunft, die in gewissem
Rahmen bereits heute beobachtet werden
kann und aufgrund ihrer Eintrittswahrschein-
lichkeit und Auswirkungen aller Voraussicht
nach einen Einfl uss auf das künftige Geschäft
haben wird [5]. Die Trendanalyse (Schritt 1a)
beinhaltet verschiedene Maßnahmen. Zu-
nächst erfolgt die Ermittlung der Industrie
4.0-Trends. Als geeignete Quellen hierfür ha-
ben sich Studien, Fachpublikationen, Exper-
teninterviews und Webcrawler, die das Internet
nach aufkommenden Trends in verschiedenen
Themenfelder durchsuchen, erwiesen. An-
schließend werden die Trends dokumentiert.
Dies erfolgt beispielsweise mithilfe von Trend-
steckbriefen. Sie beinhalten eine Trendbe-
schreibung sowie mit dem Trend verbundene
Chancen und Risiken [6]. Daraufhin werden die
Trends bewertet. Geeignete Bewertungskrite-
rien sind die Eintrittswahrscheinlichkeit und
die Auswirkungsstärke. Mithilfe der Bewertung
lässt sich schließlich ein Trendradar aufspan-
nen. Ein Trendradar visualisiert die Ergebnisse
der Bewertung und gibt Aufschluss darüber,
welche Trends von besonderer Bedeutung für
das Geschäft von morgen sind. Trends mit ho-
her Eintrittswahrscheinlichkeit liegen im Zen-
trum des Trendradars. Trends mit hoher Aus-
wirkung weisen einen großen Durchmesser
auf. Die Visualisierung ermöglicht eine schnelle
Erfassung relevanter und geschäftsbeeinfl us-
sender Trends.
Anschließend erfolgt die Abschätzung der lang-
fristigen Industrie 4.0-Entwicklungen (Zeithori-
zont ca. 10 Jahre). Anstelle der Trendanalyse wird
hier die Szenario-Technik angewandt (Schritt 1b).
Bei Zukunftsszenarien handelt es sich um allge-
meinverständliche Beschreibungen von mögli-
chen Situationen in der Zukunft. Sie beschreiben
verschiedene denkbare Entwicklungsmöglich-
keiten eines bestimmten Betrachtungsbereichs
mit wählbarem Planungshorizont und eignen
sich auch zur Abschätzung von langfristigeren
Entwicklungen [5].
Die Erstellung von Zukunftsszenarien gliedert
sich ebenfalls in verschiedene Maßnahmen. Zu
Beginn erfolgt die Analyse des Szenariofelds.
Das Szenariofeld beschreibt den Betrachtungs-
bereich, dessen Entwicklungsmöglichkeiten
beschrieben werden sollen (z.B. das zu be-
trachtende Unternehmen oder einen Teilbe-
reich wie die Produktion sowie dessen Umfeld).
In diesem Szenariofeld werden die Einfl ussfak-
toren identifi ziert sowie deren Relevanz und
Vernetzung untereinander bewertet. Einfl uss-
faktoren beschreiben Faktoren, die auf ein Un-
ternehmen einwirken und durch Variation ihrer
Ausprägungen unterschiedliche Einfl üsse auf
ein Unternehmen haben können [7]. Anschlie-
ßend lassen sich daraus die relevantesten Ein-
fl ussfaktoren, sog. Schlüsselfaktoren, ermitteln.
Daraufhin werden alternative Entwicklungs-
möglichkeiten je Schlüsselfaktor beschrieben
(Zukunftsprojektionen). Darunter sind die o.g.
alternativen Entwicklungsmöglichkeiten eines
Einfl uss- bzw. Schlüsselfaktors zu verstehen.
Abschließend werden alle Projektionen einer
Konsistenzanalyse unterzogen. Hochkonsis-
tente Projektionen werden darin zu schlüssi-
gen Projektionsbündeln (Zukunftsszenarien)
Trendanalyse zur Abschätzung
mittelfristiger Entwicklungen
Auswirkungsanalyse
durchführen
Vorrausschau
durchführen
Zielpositionen
ermitteln
Bewertung der Auswirkungen
prognostizerter Industrie 4.0-Trends
Ermittlung des mittelfristigen Zielprofils
Ermittlung des langfristigen Zielprofils
1 2 3
Heutige Industrie 4.0-Leistungsfähigkeit (Ist-Position)
Mittelfristige Industrie 4.0-Leistungsfähigkeit (Trends)
Langfristige Industrie 4.0-Leistungsfähigkeit (Szenarien)
Horizontale Integration
IT-Prozessunterstützung
Systems Engineering
Sensorik (Produktionssyst.)
Aktorik (Produktionssystem)
Intralogistik
Fertigungsflexibilität
Industrie 4.0-Strategie
Pioniergeist
Innovationsorganisation
Digitale Services
Ergonomie
Dokumentation von Wissen
Führungstransparenz
Leistungsstufen (L)
Priorisierte Kriterien L1 L2 L3 L4
T1
T3
T5
T6
T7
T15
T17
B1
B8
B11
B12
M7
M9
M11
Mitarbeiterpartizipation
M12
Datenspeicherung (Produkt)
T23
Wertschöpfungskooperation
B4
i
n
e
s
s
Eintrittswahrscheinlichkeit
T
e
c
h
n
i
k
M
e
n
s
c
h
B
u
s
47
6
16
33
44
38
43 29
26
15
34
46
8
13 10
11 2
9
17
14
32
42
36
37
45
40
39
34
35
41 21
23
27
20
20
24
5
3
hoch
gering
Szenarien zur Abschätzung
langfristiger Entwicklungen
1b)
Politik t
Umfeld
Gestaltungsfeld
Politik Gesellschaft
Ökonomie Umwelt
T
e
c
h
n
o
l
o
g
i
e
M
e
n
s
c
h
O
r
g
a
n
i
s
a
t
i
o
n
Industrie 4.0
Heutige Industrie 4.0-
Leistungsfähigkeit auf
Basis des Quick-Checks
Mittelfristige Industrie 4.0-
Leistungsfähigkeit auf
Basis der Trendanalyse
Leistungssteigerung durch Auswirkungen
der Industrie 4.0-Trends (plus eine Stufe)
L1 L2 L3 L4 Leistungsstufe
Kriterium T23 (Beispiel): Datenspeicherung (Produkt)
+ 1
+ 2
Bewertung der Auswirkungen des
Referenzszenarios
2b)
Heutige Industrie 4.0-
Leistungsfähigkeit auf
Basis des Quick-Checks
Langfristige I4.0-
Leistungsfähigkeit
auf Basis des
Referenzszenarios
Leistungssteigerung durch Auswirkungen
des Referenzszenarios (plus 2 Stufen)
L1 L2 L3 L4 Leistungsstufe
Kriterium B4 (Beispiel): Wertschöpfungskooperation
a) Trendanalyse zur Ermittlung des mittelfristigen Zielprofils
b) Szenario-Technik zur Ermittlung des langfristigen Zielprofils
1a) 2a) 3a)
3b)
Bild 2: Vorgehen zur
Ermittlung einer Erfolg
versprechenden Ziel-
position.
Industrie 4.0
33https://doi.org/10.30844/I40M_19-5_S30-34
zusammengefasst. Ein Szenario besteht also
aus einem Bündel von Zukunftsprojektionen,
die gut zueinander passen. Es bietet sich an, die
Projektionen zu Prosatexten auszuformulieren,
damit die Zukunftsszenarien gut zu verstehen
und leicht im Unternehmen zu kommunizieren
sind. Anschließend werden die entwickelten
Zukunftsszenarien bewertet. Analog zur Trend-
bewertung empfehlen sich hier die Eintritts-
wahrscheinlichkeit und die Auswirkungsstärke
als Bewertungsdimensionen. Die Bewertung
erlaubt die Auswahl eines Referenzszenarios,
das zur weiteren strategischen Planung heran-
gezogen wird und ebenfalls als Eingangsgröße
für eine Auswirkungsanalyse dient. Das Refe-
renzszenario eignet sich außerdem sehr gut,
um den Mitarbeitern eine detaillierte Vorstel-
lung von der Entwicklung der Zukunft zu ver-
mitteln und sie zu motivieren, ihr Denken und
Handeln im Arbeitsalltag auf diese Zukunft
auszurichten.
Bei den in der Vorausschau zu Grunde geleg-
ten Zeitperspektiven für die mittlere und lange
Frist (5 bzw. 10 Jahre) handelt es sich um eta-
blierte Planungshorizonte der strategischen
Vorausschau. Diese können selbstverständlich
auf die individuellen Bedürfnisse eines Unter-
nehmens angepasst werden, ohne dass das
Vorgehen dadurch in irgendeiner Weise einge-
schränkt würde.
Auswirkungsanalyse durchführen
(Phase 2)
Im Anschluss wird eine Auswirkungsanalyse
durchgeführt. Hier wird untersucht, welchen
Einfl uss die antizipierten Umfeldentwick-
lungen auf die mittelfristige und langfristige
Zielposition ausüben. Es wird ermittelt, ob die
Trends bzw. ein Referenzszenario eine Leis-
tungssteigerung behindern oder begünstigen.
Es wird deutlich, ob unter Berücksichtigung der
Umfeldentwicklungen höhere Leistungsstufen
erzielt werden können. Die Auswirkungen be-
rechnen sich zum einen aus den individuellen
Bewertungen der zukünftigen Entwicklungen
(Trends und Szenarien). Zum anderen wurde
eine Einfl ussanalyse mithilfe einer Einfl ussma-
trix durchgeführt, die den Einfl uss der Umfel-
dentwicklungen auf die Entwicklung der Leis-
tungsstufen im Reifegradmodell (Quick-Check)
untersucht. Diese Einfl ussmatrix kann anschlie-
ßend in eine Auswirkungsmatrix überführt
werden (Bild 3). Wir erläutern die Auswirkungs-
analyse am Beispiel der Industrie 4.0-Trends.
In der Einfl ussmatrix geht es um die Fragestel-
lung, wie ein Trend j (Spalte) die Leistungsstei-
gerung eines Quick-Check-Kriteriums i (Zeile)
beeinfl usst. Als Bewertungsmaßstab dienen
fünf Ausprägungen: von -2 (Trend erschwert
Leistungssteigerung stark) bis 2 (Trend be-
günstigt Leistungssteigerung stark). Mithilfe
dieser Matrix kann der Einfl uss jedes Trends
auf die Quick-Check-Kriterien ermittelt wer-
den. Als Beispiel dient der paarweise Vergleich
des Quick-Check-Kriteriums T1 „Horizontale
Integration“ und Trend 7 „Durchdringung von
CPS“. Der Trend begünstigt eine Leistungs-
steigerung des Kriteriums stark und wird da-
her mit einer Einfl ussstärke von 2 bewertet.
Die Matrix gilt es vollständig auszufüllen. An-
schließend können die Gesamt-Auswirkungen
berechnet werden. Dies erfolgt mithilfe der
Auswirkungsmatrix. Darin geht es um die Fra-
gestellung, welche Gesamt-Auswirkung ein
Trend j (Spalte) auf die Leistungssteigerung
eines Quick-Check-Kriteriums i (Zeile) hat. Im
Gegensatz zur Einfl ussmatrix wird hier neben
der Einfl ussstärke auch die individuelle Trend-
bewertung eines Unternehmens berücksich-
tigt. Durch Multiplikation der drei Kennzahlen
Einfl ussstärke, Eintrittswahrscheinlichkeit und
Auswirkungsstärke eines jeden Trends kann
die Auswirkungsmatrix berechnet werden. Für
das oben genannte Beispiel ergibt sich hier
eine Gesamt-Auswirkung von 30. Bildet man
zusätzlich für jedes Quick-Check-Kriterium die
Zeilensumme, erhält man eine Kennzahl für die
Beeinfl ussung eines Quick-Check-Kriteriums
durch die antizipierten Industrie 4.0-Trends.
Ausgehend von diesen Zeilensummen können
Fragestellung:
die Leistungssteigerung des Quick-
Check- Kriteriums i (Zeile)?“
Bewertungsmaßstab:
-2: Trend erschwert Leistungssteigerung stark
-1: Trend erschwert Leistungssteigerung leicht
0
1: Trend begünstigt leicht
Trend hat keinen Einfluss
2: Trend begünstigt stark
Industrie 4.0-Trends
Zunahme von Big Data
Zunahme Cloud Comput.
AR-/VR-Anwendungen
Losgröße 1
Additive Fertigung
Virtuelle Wartung/Inst.
Durchdringung von CPS
...
Quick-Check-Kriterien Nr. 1 2 3 4 5 6 7 ...
Horizontale Integration T1 2 2 0 -1 1 2 2
...
Vertikale Integration T2 2201012
IT-Prozessunterstützung T3 2221112
Tool-Landschaft T4 2221122
Systems Engineering (SE) T5 1111022
Sensorik (Produktionssystem) T6 2121122
Aktorik (Produktionssystem) T7 1111222
... ... ...
2
2
ertikale Integration
-Prozessunterstützung
ool-Landschaft
Systems Engineering (SE)
Sensorik (Produktionssystem)
ertikale Integration
-Prozessunterstützung
ool-Landschaft
Systems Engineering (SE)
Sensorik (Produktionssystem)
Einflussstärke: 2
Der Trend „Durchdringung
von CPS“ begünstigt eine
Leistungssteigerung des
Kriteriums „Horizontale
Integration“ stark.
„Wie beeinflusst der Trend j (Spalte)
Auswirkungsmatrix
Fragestellung:
„Welche Auswirkung hat die
Bewertung von Trend j (Spalte)
auf die Leistungssteigerung des
Quick-Check-Kriteriums i (Zeile)?“
Bewertungsmaßstab:
20 < x ≤ 30: Stark positive Auswirkung
10 < x ≤ 20: Positive Auswirkung
0 < x ≤ 10: Gering positive Auswirkung
≤ 0: Negative Auswirkung
Industrie 4.0-Trends
Zunahme von Big Data
Zunahme Cloud Comput.
AR-/VR-Anwendungen
Losgröße 1
Additive Fertigung
Virtuelle Wartung/Inst.
Durchdringung von CPS
...
Zeilensumme
Quick-Check-Kriterien Nr. 1 2 3 4 5 6 7 ... ∑
Horizontale Integration T1 16 8 0 -15 324 30
...
237
Vertikale Integration T2 16 8 0 15 0 12 30 220
IT-Prozessunterstützung T3 16 8 30 15 312 30 271
Tool-Landschaft T4 16 8 30 15 324 30 306
Systems Engineering (SE) T5 8 4 15 15 0 24 30 324
Sensorik (Produktionssystem) T6 16 4 30 15 324 30 341
Aktorik (Produktionssystem) T7 8 4 15 15 6 24 30 271
... ... ... ...
30
30
Aus Einflussmatrix:
Einflussstärke 2
Aus Trendbewertung:
Eintrittswahrscheinlichkeit 5
Auswirkungsstärke 3
Ableitung der mittelfristigen Ziel-
Leistungsstufe je Kriterium
Ausgehend von den Zeilensummen
in der Auswirkungsmatrix können
Empfehlungen für mittelfristige Ziel-
Leistungsstufen abgeleitet werden.
Bei ausreichender Teilnehmerzahl
in der Werkzeugunterstützung lassen
sich diese Ziel-Leistungspositionen mit
ähnlichen Unternehmen abgleichen.
ertikale Integration
-Prozessunterstützung
ool-Landschaft
Systems Engineering (SE)
Sensorik (Produktionssystem)
ertikale Integration
-Prozessunterstützung
ool-Landschaft
Systems Engineering (SE)
Sensorik (Produktionssystem)
Gesamt-Auswirkung: 30
Die Konsolidierung der
Einflussstärke und Trend-
bewertung führt zu einer
stark positiv wirkenden
Gesamt-Auswirkung.
Gesamt-Auswirkung (Produkt): 30
Bild 3: Ermittlung von
Auswirkungen der Indust-
rie 4.0-Trends auf die Leis-
tungssteigerung.
Industrie 4.0
34 Industrie 4.0 Management 35 (2019) 5
Empfehlungen für mittelfristige Ziel-Leistungs-
stufen jedes Kriteriums abgeleitet werden. Dies
erfolgt zweistufig:
• Die Zeilensumme aus der Auswirkungsma-
trix kann in eine Intervallskala überführt
werden. Je nachdem, in welchem Intervall
sich eine Zeilensumme befindet, werden
dadurch Handlungsempfehlungen von 0
bis zu 3 Stufensprüngen ausgegeben. Die
mittelfristige Industrie 4.0-Leistungsfähig-
keit (z. B. Leistungsstufe 3) ergibt sich dann
aus Summe der heutigen Industrie 4.0-Leis-
tungsfähigkeit (z. B. Leistungsstufe 2) und
der Leistungssteigerung durch die Auswir-
kungen der Industrie 4.0-Trends (z. B. plus
1 Stufe), wie am Beispiel des Kriteriums
T23 „Datenspeicherung (Produkt)“ in Bild 2
(Phase 3a bzw. orangefarbener Pfad) dar-
gestellt.
• Die dadurch ermittelte, mittelfristige Ziel-
position kann mithilfe der Datenbasis aus
der Online-Software mit ähnlichen Unter-
nehmen verglichen und ggf. korrigiert wer-
den. Das führt dazu, dass die Ermittlung
der Zielposition nicht einzig und allein auf
der eigenen Einschätzung beruht, sondern
zusätzlich durch die Einschätzung externer
Anwender verifiziert wird. Zum gegenwärti-
gen Zeitpunkt beinhaltet die Software rund
200 Vergleichs-Datensätze.
Durch analoges Vorgehen kann die Auswir-
kung des ausgewählten Referenzszenarios
auf die langfristige Zielposition ermittelt wer-
den. Anstelle der Industrie 4.0-Trends werden
in der Einfluss- bzw. Auswirkungsmatrix die
Quick-Check-Kriterien sowie die im Referenz-
szenario enthaltenen Zukunftsprojektionen
gegenübergestellt. Bild 2 unten (bzw. roter
Pfad) zeigt das Ergebnis der Auswirkungsana-
lyse am Beispiel des Kriteriums B4 „Wertschöp-
fungskooperation“. Eine Leistungssteigerung
unter Berücksichtigung des Referenzszenarios
wird stark begünstigt. Im Zeithorizont von 10
Jahren wird eine Leistungssteigerung um zwei
Stufen von L2 auf L4 empfohlen.
Zielpositionen ermitteln (Phase 3)
Aus der Auswirkungsanalyse ist jetzt bekannt,
wie sich die Industrie 4.0-Trends sowie das Re-
ferenzszenario auf die einzelnen Kriterien des
Reifegradmodells auswirken. Daraus können in
der dritten Phase ein mittel- und langfristiges
Zielprofil gebildet werden. Darin kann abgelesen
werden, welcher Handlungsbedarf sich für die
priorisierten Kriterien in den kommenden fünf
bzw. zehn Jahren ergibt. Durch die prägnanten
und detaillierten Beschreibungen der Leistungs-
stufen erhalten Unternehmen einen Überblick
darüber, welche Maßnahmen zur Erreichung der
Zielprofile zu ergreifen sind. Diese Maßnahmen
können ggf. über Maßnahmenpläne oder Um-
setzungs-Roadmaps konkretisiert werden.
Fazit und Ausblick
Der Beitrag liefert ein Vorgehen, das die Er-
mittlung einer Erfolg versprechenden Indus-
trie 4.0-Zielposition unter Berücksichtigung
von Umfeldentwicklungen ermöglicht. Mit-
hilfe eines Reifegradmodells, Methoden der
Vorausschau und einer Auswirkungsanalyse
ist es möglich, Zielprofile zu zwei aufeinander
aufbauenden Zeitpunkten in der Zukunft zu
ermitteln. Damit sind die Grundvoraussetzun-
gen zur Umsetzungsplanung von Industrie
4.0 geschaffen. Durch die Beschreibungen der
Leistungsstufen im Reifegradmodell gewin-
nen Unternehmen eine genaue Vorstellung
von zukünftig erforderlichen Aktivitäten. An
die Grenzen stößt das methodische Vorgehen
derzeit noch bei der Berücksichtigung der In-
terdependenzen zwischen den Kriterien, die
weiterentwickelt werden sollen. Identifizierte
Abhängigkeiten gilt es bei der Umsetzung zu
berücksichtigen, um Synergien bestmöglich
auszuschöpfen. Diese Berücksichtigung er-
folgt derzeit noch manuell und häufig erst in
der Umsetzungsplanung. Sie basiert vor allem
auf der Erfahrung des Anwenders. Der Gegen-
stand aktueller Forschungsbemühungen ist es,
diese Interdependenzen bereits frühzeitig mit
ins Kalkül zu ziehen. Ferner wird aktuell ein me-
thodisches Vorgehen zum Umsetzungs- und
Prämissen-Controlling erprobt. Beim Prämis-
sen-Controlling wird regelmäßig geprüft, ob
die bei der Zielpositionsermittlung getroffe-
nen Annahmen (z. B. die Trends) nach wie vor
gelten. Das Umsetzungs-Controlling hat hin-
gegen die Aufgabe, die Umsetzung der Maß-
nahmen zur Erreichung der ermittelten Zielpo-
sitionen sicherzustellen. Für den Fall, dass hier
Abweichungen in Bezug auf Annahmen und
Umsetzungsmaßnahmen festgestellt werden,
können die Zielpositionen und Maßnahmen
iterativ angepasst werden.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Verbund-
projekts INLUMIA – Instrumentarium zur Leis-
tungssteigerung von Unternehmen durch Indus-
trie 4.0. Das Verbundprojekt aus 11 Partnern wird
aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale
Entwicklung NRW (EFRE.NRW) mit einem Förder-
volumen von rund 2,5 Millionen Euro unterstützt.
Schlüsselwörter:
Industrie 4.0, Reifegradmodell, Leistungsstei-
gerung, Strategie, Zielposition
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