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Praxis erleben | Wissen erweitern
Coaching
Magazin
Ausgabe 1|2019
www.coaching-magazin.de
D/A/CH: 24,80 €
Coaching ist das, was der
juristischen Fachausbildung fehlt
Dr. Geertje Tutschka | S 14
Konzeption
Personzentrierte Systemtheorie | S 21
Wissenscha
Coach-Auswahl | S 50
Praxis
Coaching zur beruichen Wiedereingliederung | S 32
ISSN 1866-4849
9771866 484006
Personzentrierte Systemtheorie und ihre
praktische Bedeutung im Coaching
Von Prof. Dr. Jürgen Kriz
Im Coaching kommt es vor, dass Klienten eine Veränderung anstreben,
es ihnen jedoch schwerfällt, „bewährte“ Muster zu überwinden. Um hier
anzusetzen, ist es wichtig, zu verstehen, wo diese Muster herrühren. Sie
gehen auf das dynamische Zusammenwirken häug unbewusst ablau-
fender Prozesse zurück – psychischer, interpersoneller, kultureller und
körperlicher Prozesse. Die Personzentrierte Systemtheorie tri an, dieser
Komplexität konzeptionell gerecht zu werden.
Coaching
Magazin
– Konzeption –
1|2019 – S 21
Wenn Klient und Coach gemeinsam arbeiten,
ndet ein „engagierter Austausch von Wirk-
lichkeitsbeschreibungen“ sta (v. Schlippe
et al., 1998). Es werden Bilder von Vergan-
genem und Zukünigem, von Wünschen
und Zielen, von Belastungen und Konikten,
von Ressourcen und Lösungen und vielen
anderen Aspekten des Lebens gezeichnet.
Grundlegendes Ziel der Arbeit ist es ja, die
Selbststeuerungsfähigkeit des Klienten trotz
der wahrgenommenen Probleme und Kompe-
tenzeinschränkungen (wieder) zu verbessern.
Egal, was in der Realität auch immer vorliegen
mag: Die Veränderungen müssen zunächst in
den Prozessen des Wahrnehmens, Denkens,
Fühlens, Entscheidens im Hinblick auf weite-
res Handeln erreicht werden.
Kein Wunder also, dass sehr viele Konzepte
und Tools auf diese psychischen Prozesse fo-
kussieren. Bläert man die Coaching-Magazin-
Ausgaben der letzten Jahre durch, so ndet
man viele ausgezeichnete Beiträge dazu, wie
für Veränderungen auf dieser Ebene anzuset-
zen ist. Sei es der Einsatz von Inneren Bildern
und intuitivem Wissen (Mahias Blenke,
1/2010), die Förderung von Selbststeuerungs-
Techniken (Mechtild Erpenbeck, 4/2017),
die Veränderung des Bezugsrahmens durch
Reframing und Metaphern (Ulrich Dehner,
2/2008), das narrative Arbeiten mit Geschich-
ten und Metaphern (Michael Müller, 3/2014),
der Einsatz von Kunst und ähnlichen kreati-
ven Medien (Barbara Johnson & Hannes Jahn,
2/2014), die Arbeit mit dem „Inneren Team“
nach Schulz v. un (Werner Luksch, 4/2015)
oder das „Tetralemma“ von Mahias Varga von
Kibéd und Insa Sparrer (Dorothe Fritzsche,
3/2012) – um einige exemplarische Beiträge
zu nennen.
Bei genauerer Betrachtung dieser Ansätze wird
allerdings deutlich, dass sie jeweils weit über
den Fokus auf psychische Prozesse hinausreichen.
Dies ist auch angemessen, denn der Klient ist
ja in vielfältige weitere Prozesse in der Realität
seines Lebens und Erlebens eingebunden. Die
Interaktionsstrukturen am Arbeitsplatz und in
der Familie, der Einuss von Massenmedien,
sozialen Netzwerken und kulturellen Normen,
seine körperliche Bendlichkeit einschließlich
der verkörperten Biographie: All dies wirkt
sich hier und jetzt auf sein Fühlen und Denken,
sein Wahrnehmen, Entscheiden und Handeln
aus. Auch wenn ihm vieles davon aktuell gar
nicht bewusst ist. Selbst wenn wir somit aus
der Vielfalt dieser realen Prozesse nur eine ein-
zelne Ebene künstlich und analytisch heraus-
nehmen und nur das psychische Geschehen
des Klienten betrachten, so ist dieses eben den-
noch durch die Wirkungen aus körperlichen,
interpersonellen und kulturellen Prozessen
mit beeinusst.
Und diese Einüsse auf das psychische Ge-
schehen werden eben im „Inneren Team“ oder
im „Tetralemma“ deutlich; sie beeinussen die
Prozesse bei künstlerischer, kreativer und nar-
rativer Arbeit; sie zeigen sich in den Metaphern
und inneren Bildern; und sie wirken sich auch
auf die Möglichkeiten aus, auf Ressourcen der
Selbststeuerung zurückzugreifen und diese an-
forderungsadäquat einsetzen zu können. Diese
wichtigen Einüsse von meist nicht explizit
bewussten Prozessen auf das „Hier und Jetzt“
des Erlebens des Klienten sind beim Coaching
mit zu bedenken. Anleitungen dafür, psycho-
dynamische Leitprozesse zur Veränderung mit
zu berücksichtigen (Eidenschink, 2014) und
die Beziehung zwischen Coach und Klient so
zu gestalten, dass die impliziten Quellen des
Erlebens dem Bewusstsein zugänglich werden
(Kunze, 2016), belegen, dass diese Aspekte
im Wissensfundus des Coachings durchaus
vorhanden sind.
Personzentrierte
Systemtheorie
Anliegen der Personzentrierten Systemtheorie
(siehe dazu auch Kriz, 2017) ist es, dieser Viel-
falt und Komplexität der sich gegenseitig be-
einussenden Prozesse konzeptionell gerecht
zu werden. Es ist also durchaus wünschens-
wert, dass die Autoren der oben genannten
Beiträge die Personzentrierte Systemtheorie
als gut „anschlussfähig“ empnden. Darüber
hinaus geht es um Anregungen, die vielen
fruchtbaren Perspektiven besser nutzen zu
können, indem diese weniger nebeneinander,
sondern stärker miteinander wirkend verstan-
den werden.
Wie der Name vermuten lässt, ist die Per-
sonzentrierte Systemtheorie im Laufe der
letzten drei Jahrzehnte aus der Unzufrieden-
heit darüber entwickelt worden, dass sowohl
die üblichen personzentrierten wie auch die
systemischen Ansätze jeweils Wichtiges aus-
blenden: Der Personzentrierte Ansatz (z.B.
Rogers, 1983) fokussiert hervorragend die
Bedingungen einer konstruktiven Arbeitsbe-
ziehung sowie die Relevanz von subjektiven
Bedeutungen aus dem inneren Bezugsrahmen
des Klienten. Er vernachlässigt aber die mas-
siven Einüsse aus weiteren interpersonellen
Strukturen (Arbeitsplatz, Familie etc.) auf
dieses Geschehen. Diese spielen in den syste-
mischen Ansätzen zwar eine wichtige Rolle,
doch berücksichtigen sie wiederum zu wenig,
dass alle Interaktionsprozesse stets durch das
„Nadelöhr“ persönlicher Sinndeutungen der
Beteiligten gehen müssen. Bei beiden Ansät-
zen werden zudem die Einüsse aus gesell-
schalich-kulturellen Prozessen einerseits
und aus körperlichen Prozessen andererseits
wenig thematisiert.
Die Personzentrierte Systemtheorie unter-
scheidet daher (zumindest) die folgenden vier
Prozessebenen. Je nach Fragestellung können
weitere Teilprozesse berücksichtigt werden.
Aber ein Verzicht auf einzelne Analyseebenen
würde in unzulässiger Weise Essentielles aus
den menschlichen Lebens- und Erlebenspro-
zessen ausblenden.
Psychische Prozesse
Dies ist die zentrale Ebene, auf der Sinn und
Bedeutung von den beteiligten Menschen
generiert wird. Durch Wahrnehmungen und
Handlungen sind wir mit der Welt verbunden;
durch Denk- und Fühlvorgänge bewerten wir
selbst diese Prozesse und können uns dabei
selbst beobachten. Durch vielfältige Rück-
kopplungen entstehen dabei dynamisch sta-
bile Schemata.
Interpersonelle Prozesse
Begrie wie „Interaktionsmuster“ oder „kom-
munikative Regeln“ verweisen darauf, dass
die Bedeutungen von Äußerungen und deren
Coaching
Magazin
– Konzeption –
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Beitrag zum Miteinander in gemeinsamer
Interaktion entstehen und verfestigt werden.
Jeder glaubt um die Erwartungen der anderen
zu wissen und lässt sich davon beeinussen
oder gar leiten. Es ist ein Geecht von gegen-
seitigen Unterstellungen. Dieses erzeugt und
stabilisiert „Realität“ sogar dann, wenn vieles
daran nicht zutreend ist. Da selten über diese
stillschweigenden Annahmen geredet wird,
sind die Chancen auf Korrektur eher gering.
Die Coaching-Literatur ist voll von Beispielen,
wie sich Menschen o als Opfer von anderen
oder der Umstände erleben, obwohl sie selbst
(unbewusst) zur Aufrechterhaltung dieses
Musters beitragen.
Diese beiden Prozessebenen konnten hier ver-
gleichsweise kurz behandelt werden (wesent-
lich ausführlicher in Kriz, 2017), weil deren
Berücksichtigung das „täglich Brot“ für jeden
Coach ist. Weniger beachtet wird aber, dass
diese beiden Ebenen in zwei weitere einge-
beet sind:
Kulturelle Prozesse
Natürlich haben Menschen die Bedeutungen
der Worte und Sätze, die inneren Bilder dar-
über „wie Zusammenleben funktioniert“, die
Erwartungen an die Mitmenschen usw. zu
einem sehr großen Teil nicht individuell er-
funden. Unterschiedliche Herkunsfamilien
und Subkulturen vermieln vielmehr unter-
schiedliche Bedeutungen. Auch aus Medien,
Gesprächen mit Kollegen am Arbeitsplatz
oder aus anderen außerfamiliären Quellen
ießen Hinweise über die Bedeutung des Ge-
schehens im „Hier und Jetzt“ mit ein. Vieles
davon wirkt auch hier unbewusst.
Die ständig auf uns wirkenden Einüsse von
der kulturellen Ebene sind somit nicht aus-
schließlich auf interpersonelle Prozesse in-
nerhalb anderer sozialer Prozesse – wie z.B.
Strukturen in Organisation, Gruppe, Familie
oder auch Massenmedien und Gesetzge-
bung – begrenzt. Tatsächlich wird die Art
und Weise, wie wir unsere Mitmenschen, uns
selbst und die Welt sehen, zentral durch die
gesellschalich-kulturellen Aspekte geprägt:
Will der Mensch sich in seinem Fühlen, Den-
ken, Handeln selbst verstehen, so muss er die
„Kulturwerkzeuge“ seiner sozialen Umwelt
anwenden – insbesondere wenn es um seine
innersten, ureigensten, „subjektiven“ Vorgänge
(Aekte, Wahrnehmungen etc.) geht. Gemeint
sind hier vor allem die Werkzeuge der Sprache.
Dabei geht es allerdings keineswegs nur um
Begrie, denn mit „Sprache“ werden sozusa-
gen automatisch auch narrative Strukturen,
Deutungs- und Erklärungsprinzipien usw. ver-
mielt. Gerade diese bestimmen unsere An-
sichten und Vorstellungen darüber, was wir als
gerecht oder ungerecht, richtig oder falsch und
wichtig oder unwichtig ansehen. (Kriz, 2019)
Viele Wirkungen der kulturellen Prozesse sind
dem Alltagsbewusstsein nicht präsent. So ist
uns etwa die verdinglichende Wirkung unseres
indoeuropäischen Sprachsystems meist nicht
bewusst. Doch die „verkrusteten Strukturen“,
mit denen aus systemischer Perspektive die
festgefahrenen Beschreibungen von Klienten
bezeichnet werden, obwohl es sich doch ei-
gentlich um Prozesse handelt, werden durch
diese Grammatik unterstützt. Der Kontrahent
„ist“ dann böse, „hat“ eine „Krankheit“ oder
kein „Mitgefühl“ und er bedeutet eine „Ge-
fahr“ für das Team.
Körperliche Prozesse
Bereits Ciompi (1982) hat mit seiner „Af-
fektlogik“ ausgeführt, dass in jedem Moment
kognitiv-psychische und aektive Prozesse
gleichzeitig in unserem Organismus ablau-
fen. Dabei bilden die aektiven die Rahmung
für die kognitiven Prozesse. Neuere Konzepte
belegen darüber hinaus die große Relevanz
impliziten Wissens in unserem Organis-
mus. Dieses stammt sowohl aus den frühen
Erfahrungen wie auch aus evolutionären
Präformierungen, deren erheblicher Beitrag
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Coaching
Magazin
– Konzeption –
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auf die Prozesse menschlichen Erlebens lan-
ge unterschätzt wurde. Der Mensch ist aber
keineswegs die „Tabula Rasa“ im Sinne eines
Organismus, der für sämtliche Lernerfahrun-
gen z.B. behavioraler Lerntheorien oen wäre.
Vielmehr sucht das menschliche Neugeborene
aufgrund evolutionärer Programme aktiv die
soziale Welt nach Mustern für die Befriedigung
grundlegender Entwicklungsbedürfnisse ab.
Es geht um Bedürfnisse wie „Platz“, „Nahrung“,
„Unterstützung“, „Schutz“, „Beziehung“, „Be-
achtung“, „Wertschätzung“ usw. Gerade in
der frühkindlichen Entwicklung werden diese
Grundmuster zwar erfahrungsspezisch ent-
faltet, aber ihre Wirkung auf die Erlebenspro-
zesse im „Hier und Jetzt“ ist ganz erheblich.
Systemisches Zusammenwirken
der Prozesse
Das Zusammenwirken dieser vier (analytisch)
unterschiedenen Prozessebenen in jedem Mo-
ment menschlichen Lebens sollte man sich
nun nicht wie Teile eines Puzzles oder die
Steine eines Mosaiks vorstellen, sondern in
Form von „Bedeutungsfeldern“ (Kriz, 2017),
die sich in dynamischer Weise überlagern. Kerne
solcher Bedeutungsfelder sind „Sinnarakto-
ren“ – d.h., zeitlich stabile Interpretationssche-
mata, welche den weiteren Verstehensprozess
beeinussen. Dies soll kurz erläutert werden:
Systemtheoretisch lässt sich zeigen, dass rück-
gekoppelte Prozesse selbstorganisiert Muster
bilden (sta von „Mustern“ spricht man auch
von „Regeln“, „Ordnungen“, „Schemata“ – oder,
systemtheoretisch, von „Araktoren“). Dieses
abstrakt formulierte Phänomen wird in der
Praxis oensichtlich, wenn man mit zwei zer-
strienen Personen an ihrem Konikt arbeitet
und feststellt, wie wenig sie sich zuhören. Auf
die Frage: „Haben Sie gehört, was X gerade
gesagt hat?“ wird typischerweise geantwortet
„äh – nein – nicht so genau. Aber so, wie X
anng, wusste ich schon, was er sagen würde.“
In den Interaktionen zweier Menschen, also
auch der beiden Kontrahenten, bilden sich
durch die ständigen Rückkopplungen typische
Muster heraus. Diese Interaktionsmuster sind
aber verbunden mit kognitiven Mustern, d.h.,
Mustern, wie „man“ den anderen interpretiert.
Denn auch psychische Prozesse sind rückge-
koppelt – nach „außen“ durch die Interaktion
und nach „innen“ durch eine ständige Schleife
zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis (wo-
bei zusätzlich „verkör perte“ Schemata aus dem
impliziten Gedächtnis diesen Prozess mode-
rieren).
In diesem Gesamtgeschehen tragen die ein-
zelnen Ebenen gegenseitig zur Stabilisierung
aber auch zur Veränderung dessen bei, was
„Problem“ genannt wird. Im Beispiel der Kon-
trahenten wäre es also wichtig, (1.) die Inter-
aktionsregeln zu beeinussen (gegenseitiges
Zuhören, Benennen der eigenen Bedürfnisse,
Klärung der Wahrnehmung und Unterstel-
lungen – also das, was man glaubt, dass der
andere erwartet etc.). Dazu muss aber (2.) auf
der psychischen Ebene jeder einzelne Klient
darin unterstützt werden, seine Wahrneh-
mungen, Erwartungen, Enäuschungen etc.
zu erhellen (Förderung von Achtsamkeit und
von Selbstexploration des Erlebens), aber auch
seine möglichen Ressourcen und Beiträge zur
Veränderung auszuloten. Dies kann tunlichst
(3.) auch die Förderung eines besseren Kon-
taktes zu den impliziten, „verkörperten“ Be-
deutungseinüssen mit einschließen (wann
bin ich bedroht und schalte auf „primitivere“
Gehirnfunktionen zurück, welche unerf üllten
Bedürfnisse und Bilder aus früherer Biograe
drängen sich der Interpretation aktueller Si
-
tuationen auf etc.). Letztlich lassen sich auch
(4.) (sub-)kulturelle Deutungseinüsse mit
heranziehen. Man kann, etwa über ein Ge-
nogramm oder eine Aufstellung, Leit-Ideen
(allzu o: Leid-Ideen) ausndig machen, die
aus Familientraditionen oder Sub-Kulturen
stammen. Denn diese treiben als Erklärungs-
und Lebensprinzipien unhinterfragt und un-
bewusst ihr „Unwesen“ beim Denken, Fühlen,
Entscheiden, Wahrnehmen und Handeln.
Die Personzentrierte Systemtheorie teilt
dabei die Sicht der meisten Coaching-Kon-
zepte, dass die „Probleme“ der Klienten mit
überstabilen, zu wenig adaptiven, aektiven,
kognitiven und interaktiven Verstehens-
und Handlungsmustern zu tun haben (eben
die „Sinnaraktoren“). Jeder Einzelne muss
– wie jedes Paar, jede Familie, jedes Team,
jede Organisation auch – erfolgreiche und
bewährte Muster nach einiger Zeit neu an ver-
änderte Umstände adaptieren. Sowohl an den
Dreijährigen als auch an seine Eltern stellen
sich mit Kindergarten, Schule, Pubertät, Be-
rufsanfang, Auszug etc. zahlreiche Entwick-
lungsaufgaben, an die bisherige kognitive und
interaktionelle Strukturen angepasst werden
müssen. Auch Teams oder Organisationen und
ihre Mitglieder werden nach der Gründungs-
phase von Zeit zu Zeit mit Entwicklungsauf-
gaben konfrontiert, weil Teamgrößen über-
schrien werden, Konkurrenten am Markt er-
scheinen, eine neue Technologie eingeführt
wird usw.
Da Coaches in der Regel nur bei „Problemen“
gerufen werden, wird o übersehen, dass sol-
che sogenannten „Ordnungs-Ordnungs-Über
-
gänge“ (Schiepek, 1999) im Alltag unzählige
Male hinreichend gut klappen. „Probleme“
ergeben sich aber dort, wo an „guten, alten“
Lösungen festgehalten wird und diese dann
nicht mehr zu den neuen Anforderungen pas-
sen. Wie oben in aller Kürze skizziert wurde,
gibt es dafür aber gute Gründe, die in der Regel
mit einer gegenseitigen Stabilisierung der vier
Prozessebenen zu tun haben.
Es ist daher sehr sinnvoll, den jeweiligen Bei-
trag der Prozessebenen zu dieser Überstabilität
explizit zu beachten und in die Coaching-Beglei-
tung des Klienten zur Veränderung seiner Pro-
zessmuster einzubeziehen. Da „Veränderung“ im
Sinne eines Ordnungs-Ordnungs-Übergangs
immer eine Phase der Instabilität mit ein-
schließt – wo die alten Muster zwar teilweise
überwunden, aber neue noch nicht zuverlässig
etabliert sind (Kriz, 2017) – ist eine sichere
Arbeitsbeziehung unerlässlich.
Komplementäre
subjektive und objektive
Perspektiven
Wesentlich für die Personzentrierte System-
theorie ist auch die Betonung des Unterschie-
des zwischen der „objektiven“ Perspektive
auf ein Geschehen und der Perspektive der
beteiligten Subjekte. Meistens nutzen wir die
„objektive“ Sicht alltäglicher oder gar fachli-
Coaching
Magazin
– Konzeption –
1|2019 – S 24
Der Autor
Prof. Dr. Jürgen Kriz ist Emeritus
für Psychotherapie und Klinische
Psychologie an der Universität Osnabrück
und hae Gastprofessuren in Wien,
Zürich, Berlin, Moskau, Riga und den
USA. Er ist Ehrenmitglied etlicher
psychotherapeutischer Fachgesellschaen
und erhielt mehrere Preise und
Auszeichnungen. Er verfasste 22 Bücher
und über 300 Fachbeiträge.
kriz@uos.de
Foto: Gila Kriz
Literatur
»Ciompi, Luc (1982). Aektlogik. Stugart: Kle-Coa.
»Eidenschink, Klaus (2014). Fragen an Klaus Eidenschink. Coaching-Magazin, 3, S. 36.
»
Kriz, Jürgen (2019). Personzentrierte Systemtheorie im Coaching. In Alica Ryba & Gerhard
Roth, Coaching und Beratung in der Praxis (S. 424–449), Stugart: Kle-Coa.
»Kriz, Jürgen (2017). Subjekt und Lebenswelt. Personzentrierte Systemtheorie für Psychothe-
rapie, Beratung und Coaching. Göingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
»Kunze, Dorothea (2016). Personzentriertes Coaching. Coaching-Magazin, 1, S. 20–25.
»Rogers, Carl R. (1983). erapeut und Klient. Frankfurt: Fischer.
»Schiepek, Günter (1999). Die Grundlagen der Systemischen erapie. Göingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht.
»v. Schlippe, Arist; Braun-Brönneke, Annee & Schröder, Karin (1998). Systemische
erapie als engagierter Austausch von Wirklichkeitsbeschreibungen. System Familie, 2,
S. 70–79.
cher Begriichkeiten (die bestenfalls eine „in-
tersubjektive“ ist). Diese muss allerdings kei-
neswegs mit der Perspektive der betroenen
Subjekte in ihrer Lebenswelt übereinstimmen
(Kriz, 2017). Dies wird deutlich, wenn wir uns
beispielsweise wundern, dass eine Person von
„oenkundigen“ Ressourcen keinen Gebrauch
macht. Jedoch können diese „Ressourcen“ für
den Klienten eine ganz andere Bedeutung ha-
ben – und vielleicht als Bedrohung, Beschrän-
kung, Bevormundung und dergleichen erlebt
werden.
Wenn im Coaching beispielsweise von „Sys-
tem“ und „Umgebung“ gesprochen wird, müs-
sen wir immer nach der Perspektive fragen:
Ist die „Umgebung“ aus Sicht der Beobachter
und des Coachs, oder ist die „Umgebung“
im Verständnis des Klienten gemeint? Beide
sind komplementär zueinander, d.h., beide
sind wichtig, aber keineswegs identisch – und
sie sollten auch nicht miteinander vermengt
werden. Diese Dierenzierung wird allerdings
dadurch erschwert, dass wir uns im Alltag allzu
o selbst aus einer „objektiven“ Außen-Per-
spektive beschreiben. Manchmal wundern
wir uns, dass doch Entscheidungen, die wir
„objektiv“ abgeklärt haben und wo eigentlich
alles stimmt, sich dennoch als „nicht stimmig“
erweisen. Der Komplementarität subjektiver
und objektiver Perspektiven widmen wir
gleichwohl wenig Aufmerksamkeit.
So wird beim Coaching von Führungsperso-
nen in Organisationen leicht nur die objektive
Perspektive eingenommen, weil es in diesem
Bereich viele gute „Landkarten“ dazu gibt, wie
sich Organisationen entwickeln, welche Pha-
sen zu beachten sind usw. Daher könnte ein
Coach seine Aufmerksamkeit darauf richten,
gemeinsam mit dem Klienten das zu beratende
Unternehmen „als System“ mit seinen Inter-
aktionsstrukturen und -ebenen, mit seinen
Ressourcen und Deziten etc. zu „erfassen“,
um dann daraus Interventionsstrategien zu
entwickeln.
Komplementär zu dieser Außen-Perspektive
könnte man aber seinen Blick auch darauf rich-
ten, dass ja der Klient „ein Problem hat“. Und
dass ggf. seine Beschreibung der Organisati-
onsstrukturen und -prozesse, d.h., seine Sicht-
und Verstehensweise, mit den Schwierigkeiten
zu tun haben könnte. Man würde dann darauf
schauen, ob und wo diese Beschreibungen die
Sicht für weitere Interpretationen begrenzen
und damit ggf. Ressourcen verstellen. Diese
Perspektive richtet sich somit nicht auf die
„Realität der Organisation“. Sondern es geht
um die „Realität der Klienten“ und die Frage,
wie deren Veränderung den Raum an mög-
lichen Handlungsoptionen verändern und
vergrößern könnte.
Trotz der notwendigen Kürze dieses Beitrags,
sollte das Plädoyer der Personzentrierten Sys-
temtheorie deutlich geworden sein, dass eine
Berücksichtigung der vier Prozessebenen und der
Komplementarität von subjektiven und objektiven
Perspektiven für Coaching wesentlich ist.
Einen Beitrag, in dem der Autor das ema aus-
führlicher behandelt, nden Sie in: Ryba, Alica &
Roth, Gerhard (2019). Coaching und Beratung
in der Praxis: Ein neurowissenschalich fundier-
tes Integrationsmodell. Stugart: Kle-Coa.
Coaching
Magazin
– Konzeption –
1|2019 – S 25
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Herausgeber:
Christopher Rauen Gesellscha mit beschränkter Haung
Rosenstraße 21 | 49424 Goldenstedt | Deutschland
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hält sich vor, Leserbriefe / E-Mails – mit vollständigem Namen,
Anschri und E-Mail-Adresse – auch gekürzt zu veröentlichen.
Bie teilen Sie uns mit, wenn Sie mit einer Veröentlichung nicht
einverstanden sind.
ISSN: 1866-4849
EBERMANN: Unter „Doxing“ versteht man
das böswillige Veröentlichen privater Daten
im Internet. Möglicherweise wird sich der
Begri nach dem jüngsten Hackerangri auf
Prominente und Politiker im Bewusstsein vie-
ler Internetnutzer festsetzen. Und zur Vorsicht
mahnen?
UEN: Eine solche Mahnung ist ja nicht
neu. Sie wird nur nicht gehört. Es gibt eben
keine zu 100 Prozent sicheren Computersys-
teme, jedes System kann gehackt werden. Zur
Not eben über den Benutzer und sein fahrläs-
siges Verhalten.
EBERMANN: Gerade Letzteres scheint sich
der Täter in vielen Fällen zu Nutze gemacht zu
haben. Bei Sicherheitsabfragen zur Passwort-
wiederherstellung nach dem Moo „Wie lautet
der Vorname Ihrer Muer?“ sollte man wohl
eine Antwort wie „FZKDÖL3KUPO“ ein-
richten. Wir alle nutzen täglich die Suchfunk-
tionen des Internets, kommen aber oenbar
nicht auf die Idee, dass der tatsächliche Name
auf genau diesem Wege schnell in Erfahrung
gebracht ist …
UEN: Ja, es fehlt manchmal an Fantasie.
Das gilt auch für die Vorstellung, dass nur
Daten, die gar nicht erst gesammelt werden,
sicher sind. Aber wie hat man das Volk wissen
lassen, als die Snowden-Papiere veröentlicht
wurden: „Wer nichts zu verbergen hat, …“
EBERMANN: „ … hat auch nichts zu be-
fürchten!“ Dabei weiß niemand, was mit
einmal gesammelten Daten in Zukun ge-
schieht. Das gilt auch für soziale Netzwerke.
Heute wird personalisierte Produktwerbung
präsentiert, morgen schon werden von Drien
abgegriene Daten genutzt, um – wie mut-
maßlich geschehen – demokratische Wahlen
zu beeinussen. Und übermorgen?
UEN: Übermorgen werden ganz andere
Daten verkau. Oder gestohlen. Wie praktisch
ist es da, dass faktisch der gesamte Internetver-
kehr gespeichert wird. Natürlich ausschließ-
lich zu unserer Sicherheit. Das ist in den Augen
der Politiker, die jetzt aueulen, oenbar kein
Angri auf die Demokratie.
EBERMANN: Bereitet Ihnen das größere
Sorgen?
UEN: Sagen wir mal so: Es ist doch be-
kannt, dass Menschen sich bereits angepasster
verhalten, wenn sie um ihre Überwachung wis-
sen. Es ist dann gar keine „ozielle“ Andro-
hung einer möglichen Bestrafung mehr not-
wendig, um „Wohlverhalten“ zu produzieren.
Ein schönes Neuland.
Das Letzte
1|2019 – S 66
Coaching
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in Unternehmen, an Ausbildungsinstitute und potenzielle Coaching-Klienten. Das
redaktionelle Ziel ist es, dem Leser eine hochwertige Mixtur aus Szene-Informationen,
Hintergründen, Konzepten, Portraits, Praxiserfahrungen, handfesten Tools und einem
Schuss Humor anzubieten. Dabei ist der Redaktion wichtig , inhaltlich wirklich auf
das Coaching als professionelle Dienstleistung fokussiert zu sein und nicht schon jedes
kleine Kunststückchen aus dem Kommunikationstraining in Verbindung mit modischen
Lifestyle-emen zum Coaching hochzustilisieren.
Mediadaten: www.coaching-magazin.de/mediadaten
Praxis erleben | Wissen erweitern
Coaching
Magazin
Ausgabe 1|2018
www.coaching-magazin.de
D/A/CH: 19,80 €
Online-Coaching w ird die Normalität sein,
Face-to-Face das Besondere
Prof. Dr. Elke Berninger-Schäfer i m Interview | S 14
Konzeption
Business-Development-Coaching | S 22
Wissenscha
Persönlichkeit im Coachi ng | S 50
Spotlight
Hypnose im Coaching | S 38
ISSN 1868-2243
Praxis erleben | Wissen erweitern
Coaching
Magazin
Ausgabe 2|2018
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Organisations-Coaching braucht O en heit
und Transparenz
Rita Strackbein im Inter view | S 14
Konzeption
Coaching-Kompetenzen | S 22
Philosophie/Ethik
Fehlgebrauch von Coaching-Fragen | S 55
Spotlight
Coaching in agiler La ndscha | S 38
ISSN 1868-2243
Praxis erleben | Wissen erweitern
Coaching
Magazin
Ausgabe 3|2018
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Was Coaching von Terrorfahndung und
Kriminalarbeit lernen kann
Ralf Gasche im Inter view | S 14
Konzeption
Coaching bei MTU Aero Eng ines | S 22
Philosophie/Ethik
Coaching Erwerbsloser | S 55
Spotlight
Coaching und künstl iche Intelligenz | S 33
ISSN 1868-2243
Praxis erleben | Wissen erweitern
Coaching
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Ausgabe 4|2018
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Die Rolle des Coachs ist
in der Ö entlichkeit a ngekommen
Dr. Wolfgang Looss im Interview | S 14
Konzeption
Coaching bei innogy SE | S 21
Philosophie/Ethik
Grundrecht auf Coachi ng? | S 55
Praxis
Coaching und Unternehmensent wicklung | S 32
10
Jahre
ISSN 1868-2243
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