Conference PaperPDF Available

Erosion der Artenkenntnis - Aktuelle Entwicklungen seit dem letzten DNT

Authors:
  • Independent Researcher

Abstract

Die „Erosion der Artenkenntnis“ ist ein wichtiges Thema im Naturschutz. Ursachen für den Rückgang von Expertise sind bekannt, die Suche nach Lösungen ist aber schwer. Auf Landesebene ist für viele Akteure das meiste Potential vorhanden. Fachvereine werden gegenüber Hochschulen zunehmend wichtiger. Ausreichend potentieller „Nachwuchs“ scheint vorhanden zu sein. Artenkenntnis muss als Schlüsselkompetenz kommuniziert werden, die nötig ist, um gesellschaftliche Aufgaben heute und zukünftig zu erfüllen.
261DNT-JOURNAL 2019
Junges Forum
Erosion der Artenkenntnis – Aktuelle Entwicklungen seit dem letzten DNT
Erosion der Artenkenntnis – Aktuelle Entwicklun-
gen seit dem letzten DNT
Philipp Meinecke
Die „Erosion der Artenkenntnis“ ist ein wichtiges Thema im Naturschutz. Ursachen für
den Rückgang von Expertise sind bekannt, die Suche nach Lösungen ist aber schwer.
Auf Landesebene ist für viele Akteure das meiste Potential vorhanden. Fachverei-
ne werden gegenüber Hochschulen zunehmend wichtiger. Ausreichend potentieller
„Nachwuchs“ scheint vorhanden zu sein. Artenkenntnis muss als Schlüsselkompe-
tenz kommuniziert werden, die nötig ist, um gesellschaftliche Aufgaben heute und
zukünftig zu erfüllen.
1 Einleitung
Das Problem der „Erosion der Artenkenntnis“ begleitet die Naturschutzszene schon
seit längerer Zeit, wird aber erst seit wenigen Jahren verstärkt in den Fokus ge-
nommen und in Fachkreisen sowie der Presse zunehmend thematisiert (Frobel &
Schlumprecht 2016, Kuhlmann 2015). Beim 33. Deutschen Naturschutztag 2016 in
Magdeburg wurden im „Jungen Forum“ Ursachen und Konsequenzen des Schwundes
von Expertise und Spezialisierung beleuchtet (Frobel 2017, Meinecke 2017a). Auch
in anderen Kontexten spielte die „Erosion“ eine wichtige Rolle, meist im direkten Zu-
sammenhang mit der Biodiversitätskrise und des neueren Aspekts Insektensterben.
Zentral ist hierbei die Erkenntnis, dass das globale Artensterben und die großen Her-
ausforderungen der Biodiversitätskrise ohne echte Artenkenntnis, also zum Teil über
Jahre- oder Jahrzehnte erworbenes (z.T. sehr regionalspezisches) Expertenwissen
über Arten, sowie deren Biologie und Ökologie nicht erfolgreich angegangen werden
können. „Moderne“ Methoden aus Genetik und Biodiversitätsinformatik stellen zwar
neue Werkzeuge, aber keinen Ersatz für persönliche Expertise dar. Die angesproche-
ne Mehrdimensionalität und Mehrschichtigkeit von Artenkenntnis (Meinecke 2017a)
wird im Diskurs immer wichtiger, denn es gibt unterschiedlich gelagerte Ursachen
und ebenso vielfältige Lösungsansätze. Eine analytische und strukturierte Herange-
hensweise an das Problem ist notwendig.
Auf politischer Ebene fand das Thema bisher nur im Bezug auf taxonomische For-
schung wirkliche Beachtung. Sowohl die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt
262DNT-JOURNAL 2019
Junges Forum
Erosion der Artenkenntnis – Aktuelle Entwicklungen seit dem letzten DNT
(BMU 2007), als auch die Naturschutzoffensive 2020 (BMUB 2015) sprechen z. B.
von einer „Taxonomie-Ausbildungsinitiative von Bund und Ländern“ oder „neuer För-
derschwerpunkt Taxonomie und Biodiversitätsmonitoring an Hochschulen“. Der
Deutsche Bundestag hat dies 2016/2017 aufgegriffen und einen Beschluss verab-
schiedet (s. Drucksache 18/11700), dessen Fokus vor allem auf taxonomischer For-
schung an Hochschulen und Forschungsmuseen liegt.
2 Artenkenntnis und Arbeitsmarkt – Angebot und
Nachfrage?
Leider ist das Thema Artenkenntnis und Engverwandtes in der deutschen Hochschul-
lehre immer noch bzw. zunehmend ein Stiefkind. Die Hochschulen sind nach Ein-
schätzung vieler Expert*innen z. B. in der Gutachten- und Naturschutzpraxis schlicht
nicht mehr in der Lage (oder willens) junge Menschen so auszubilden, dass sie die
fachlichen Ansprüche des modernen Naturschutzes erfüllen, zu denen zweifelsfrei
auch die Artenkenntnis zählt. Es existiert schon heute ein Fachkräftemangel, zumal
in noch relativ gut nachgefragten Bereichen wie der Feldbotanik und Vegetations-
kunde. Eine Studie des WWF (2017) untersuchte 40 naturschutzrelevante Master-
studiengänge und bemängelte Dezite bei Artenkenntnis, versierten Lehrkräften und
dem entsprechenden Kursangebot.
Auch die Zeitschrift WILA Arbeitsmarkt des Wissenschaftsladen Bonn (2017) stell-
te heraus, dass Artenkenntnis oft als Ausbildungslücke von Arbeitgeber*innen ge-
nannt wird. Doch man kann sich auch fragen, ob denn Artenkenntnisse tatsächlich
hinreichend und konkret eingefordert (und nachgeprüft?) werden, welches Wissen
tatsächlich (auch nanziell) auf dem Arbeitsmarkt honoriert wird und ob es ausrei-
chend Möglichkeiten und Aufforderungen zur konsequenten Weiterbildung gibt. Ste-
hen also Jobangebot und Einkommensmöglichkeiten im Verhältnis zum Aufwand
einer solchen Kompetenzkarriere? Es gibt also eine arbeitsmarktspezische Ange-
bots- und eine Nachfrageseite, die beide eine wichtige Rolle dabei spielen können,
ob sich Studierende motiviert sehen, Artenkenntnis in einer bestimmten systemati-
schen Gruppe oder als universelle Generalist*innen (die genauso gebraucht werden!)
teils langwierig und aufwendig anzueignen.
Auch unabhängig vom Arbeitsmarkt spielen Angebot und Nachfrage in Bezug auf die
individuellen Karriereentscheidungen eine Rolle. Der Begriff „Karriere“ wird hier im Sin-
ne einer individuellen Expertise-Biographie gebraucht. Dabei gehören zum „Angebot“
263DNT-JOURNAL 2019
Junges Forum
Erosion der Artenkenntnis – Aktuelle Entwicklungen seit dem letzten DNT
Aspekte wie: Wie leicht ist es für interessierte Neulinge, aufgeschlossene Mentor*in-
nen zu nden, um von „alten Hasen“ zu lernen? Welche Anreize und Motivationen
erfahren junge Menschen durch Schule und Hochschule, welche Bildungsangebote
gibt es konkret wirklich und wie zugänglich sind sie? Bietet unsere Landschaft über-
haupt noch den Zugang zu Artenkenntnis oder muss weit gereist werden, um selte-
ne heimische Arten zu sehen? Wie steht es mit der sozialen Wertschätzung? Auf der
Nachfrageseite stehen Aspekte wie die Verstetigung der eigenen persönlichen Mo-
tivation zur Investition von ggf. materiellem Aufwand und Lebenszeit, den heutigen
vielfältigen Möglichkeiten und Versuchungen in der Freizeitgestaltung sowie die At-
traktivität einer Artenkenntnis-Karriere und ihre individuell bewertete „Modernität“,
sofern dies ein Entscheidungskriterium ist.
Was bislang weitgehend fehlt, ist das Begreifen und Kommunizieren von Artenkennt-
nis als Schlüsselkompetenz – sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch in seiner ge-
sellschaftspolitischen Bedeutung und Relevanz für die Zukunftsfähigkeit unserer
Gesellschaft.
3 Neue Trends und neue Medien
Doch ist alles wirklich so negativ? Haben nicht gerade die Wildkräuterkunde, die Jagd
und die Ornithologie in letzter Zeit wieder richtig Zulauf? Zeigen die Statistiken über
ausverkaufte Wildkräuterseminare, Nutzerzahlen auf www.ornitho.de und nicht zu-
letzt auch Bücher wie #UrbanBirding von David Lindo (2018), dass Naturkunde und
Naturbeobachtung wieder „voll im Trend“ sind? Auch Plattformen wie naturgucker.
de wachsen und bauen sowohl ihre Online-, als auch Oine-Angebote aus. Jeden
Monat erscheint eine neue Smartphone-App, die es auch Einsteiger*innen sehr leicht
macht, die Natur vor der Tür mittels „Wischen“ und Bilderkennungsalgorithmen „im
Nullkommanix“ zu bestimmen und, wenn es gut läuft, die Beobachtung mit anderen
zu teilen. Die Naturkunde ist also auch im Zeitalter der Digitalisierung angekommen.
Diese „Trends“ sind sehr erfreulich, denn sie schaffen einerseits Akzeptanz und Ver-
ständnis für Natur, Naturschutz und Biodiversität. Andererseits gehen sie schlicht mit
der Zeit. Allerdings sind zwei Aspekte bedenkenswert: Es handelt sich bei den besag-
ten Angeboten in aller Regel um sehr niedrigschwellige Tools und Communitys, die
gerade auch Menschen, die selbst keine naturwissenschaftliche akademische Lauf-
bahn absolviert haben, einen leichten Einstieg in die Naturkunde ermöglichen. Sie
entsprechen zunehmend den Kommunikations- und Medienstandards der heutigen
264DNT-JOURNAL 2019
Junges Forum
Erosion der Artenkenntnis – Aktuelle Entwicklungen seit dem letzten DNT
Zeit und sind hier und da sogar selbst innovativ. So stehen mit Portalen wie dem
Euro Bird Portal (www.eurobirdportal.org) Erkenntniswege offen, die vor Jahren noch
nicht denkbar schienen, und das ermöglicht und getragen durch selbstbestimmtes
Ehrenamt und semikoordiniertes Citizen Science. Die Rolle der neuen Medien bei der
tatsächlichen Vermittlung von Artenkenntnis und -wissen ist allerdings oft noch un-
klar und wird derzeit erforscht, so z. B. im Rahmen des App-Projektes „Naturblick“
(naturblick.naturkundemuseum.berlin) am Museum für Naturkunde Berlin (vgl. auch
Sturm et al. 2018).
Man sollte sich nicht verleiten lassen, zu glauben, mit diesen technischen Neuerun-
gen wäre das „Nachwuchsproblem“ absehbar gelöst. Denn die behandelten Arten-
gruppen (Wildkräuter, Vögel, „Wild“) sind in der Regel die einfach zu erlernenden. Es
ist erfreulich, dass die Ornithologie möglicherweise die einzige Artengruppe ohne
ein nennenswertes „Nachwuchsproblem“ ist. Schwieriger gestaltet sich das mit den
Verheißungen der digitalen Technologien z. B. in der Entomologie: Einen Rüsselkäfer
oder eine Wildbiene jedoch wird man seriös nicht per Foto bestimmen (geschweige
denn im Gelände nden) können, sondern nur mittels Erfahrung oder persönlicher An-
leitung, Präparation und teils mühsamer Bestimmungsarbeit. Allerdings sind heute
hochauösende digitale Stapelfotos möglich, die früher undenkbar schienen. Selbst
in der Ornithologie erfolgt die Bildung i.d.R. nicht nur autodidaktisch oder medial ver-
mittelt, sondern häug mit einleitender Hilfestellung durch Mentor*innen, Freundes-
kreis oder Familie.
Man kann auch in der Artenkenntnis den Vergleich mit dem Sport bemühen, wo ge-
sagt wird, dass der „Spitzensport“ aus dem „Breitensport“ entsteht, im zweiteren wer-
den die „Talente“ möglichst früh entdeckt und dann gezielt gefördert, anders gesagt:
ohne Breiten- kein Spitzensport. Was heißt das für die vielen niedrigschwelligen Bil-
dungsangebote und modern-medialen Hilfestellungen im Bereich der Naturkunde?
Sie sind wichtig, aber ohne einen ächendeckenden und kontinuierlichen Überbau in
Richtung Spezialisierung und tiefergehender Expertise in die Vielzahl der Artengrup-
pen werden sie vielleicht nicht viel mehr als triviales Wissen produzieren und die Ero-
sion der Artenkenntnis nicht stoppen.
4 Die Landesebene ist der Weg zu Lösungen
Was daher die Ausbildung und Förderung von Artenkenner*innen in Schulen,
Hochschulen, Naturschutzinstitutionen, Behörden, usw. angeht, benötigen wir
265DNT-JOURNAL 2019
Junges Forum
Erosion der Artenkenntnis – Aktuelle Entwicklungen seit dem letzten DNT
weitergehende Lösungsansätze. Diese liegen offensichtlich auf der Landesebene, wo
sich in Deutschland sowohl die Bildungs-, als auch die Naturschutzpolitik abspielt.
Bundesinstitutionen können gute Ideen allerdings nur fördernd und nicht steuernd
unterstützen. Gleichzeitig agieren sehr viele Vereine, Verbände und Fachgesellschaf-
ten mit Artenkenntnis und regionalem Artenwissen im Portfolio auf Landesebene.
Auf diesem Level gibt es die meisten Anknüpfungspunkte für Kooperationen und
Projektentwicklung in (semi-)ehrenamtlichen Strukturen. Die „Rekrutierung“ von an-
gehenden Artenkenner*innen erfolgt am häugsten „vor Ort“, hier könnten also auch
die Lösungen ansetzen.
Das Phänomen der Erosion der Artenkenntnis lässt sich auf Bundeslandebene fest-
stellen. Anfang 2017 fand deshalb zum ersten Mal im Bildungszentrum für Natur-
schutz Umwelt und ländliche Räume des Landes Schleswig-Holstein (BNUR) ein
Ganztagesseminar auf Landesebene statt. Eingeladen waren Akteure aus Politik &
Verwaltung, Bildung & Forschung, Naturschutzpraxis und Planung, sowie natürlich
aus Ehrenamt und Fachvereinigungen. Über die allgemeine Thematik hinaus wurde
das Phänomen der „Erosion“ aus diesen verschiedenen Perspektiven und aus der
Sicht von Schleswig-Holstein erörtert (Meinecke 2017b). Die politische und Verwal-
tungsebene stellte klar heraus, dass die staatlichen Aufgaben ohne fundierte Arten-
kenntnis in Beruf und Ehrenamt nicht erfüllbar sind. Artenkenntnis wird künftig sogar
wieder stärker nachgefragt werden (z. B. Neobiota, Insektensterben). Aus schuli-
scher und hochschulischer Sicht wird es zunehmend schwerer, Artenkenntnisse hin-
reichend zu vermitteln. Den oft ehrenamtlich getragenen Vereinen und Verbänden,
die einerseits Artenkenner*innen vernetzen, aber auch gemeinsam regionales Arten-
wissen (Daten) schaffen, kommt in Zukunft wohl eine viel wichtigere Rolle zu, als
bisher.
In vielen Bundesländern bieten die landeseigenen Bildungsakademien (in SH: BNUR)
bereits jährlich Bestimmungs- und ähnliche Kurse zu wechselnden Artengruppen an.
Diese sind zumindest in Schleswig-Holstein sehr gut besucht und oft ausgebucht,
allerdings ist es relativ schwer, Arten-Expert*innen als Referent*innen zu gewinnen.
Und zwar nicht wegen geringen Interessen seitens der Wissensträger*innen, son-
dern weil diese oft beruich oder ehrenamtlich schon stark beansprucht sind (A.
Benett-Sturies, mdl. Mitt.). Es sind wohl schlicht zu wenige, die den „Job machen“
können. Die hohe Teilnehmernachfrage ist hingegen sehr erfreulich, wobei auch hier
viele motivierte Interessierte an ein beruiches Weiterbildungslimit gelangen (v.a.
zeitliches Budget) und ein größeres Angebot gar nicht wahrnehmen können (ebd.).
266DNT-JOURNAL 2019
Junges Forum
Erosion der Artenkenntnis – Aktuelle Entwicklungen seit dem letzten DNT
Die Zielgruppe wird außerdem noch gar nicht vollständig erreicht. Solche Anfänger-
kurse eignen sich i.d.R. für einen Einstieg in eine Artengruppe oder eine Auffrischung,
aber eher nicht für eine Fortsetzung und Verstetigung von Kenntnissen. Dafür werden
Interessensnetzwerke ehrenamtlicher oder beruicher Art benötigt, die am ehesten
über Fachvereine und -verbände organisiert werden können. In solchen Strukturen
liegt Erfahrung und Expertise vor, ist vermittelbar und abrufbar und kann gezielt an
die nächste „Generation“ tradiert werden.
5 Probleme bei der Problembewältigung
Doch an diesem Punkt hapert es vielerorts leider noch. Auf der Handlungsebene der
ehrenamtlich organisierten Fachvereine und -verbände mangelt es bisweilen erheb-
lich an Kooperation und Koordination in puncto „Nachwuchsmanagement“. Damit
nicht überall ein kleines „Rad“ neu erfunden werden muss, sondern auch übergeord-
net strategisch agiert werden kann, werden u.U. neue Netzwerke, gezielter Austausch
und z.T. auch neue Finanzierungsquellen benötigt. Zu oft fällt es Fachgesellschaften
noch schwer, mit ihrer eigenen Außenwirkung neue potentielle Mitglieder anzuspre-
chen. Abhilfe kann hier dadurch geschaffen werden, die Öffentlichkeits- und Medien-
arbeit zumindest in Teilen in „junge Hände“ zu geben.
Eine häuge Schwierigkeit im Diskurs stellt die Abgrenzung wichtiger Begriffe dar.
Dazu gehören Artenkenntnis/Artenkenner, Taxonomie, Citizen Science oder BNE. An
und für sich liegen Denitionen für diese Begriffe vor, in der Praxis ist das Verständ-
nis aber oft verschwommen. Das erschwert eine gezielte, analytische und strategi-
sche Begegnung mit der „Erosion der Artenkenntnis“ (ein ebensolcher Begriff?). Zu
unterscheiden ist vor allem auch zwischen Expertise und Engagement. Nicht alle
Mitglieder eines geobotanischen Vereins sind gleichermaßen Expert*innen oder
gleichermaßen im Verein engagiert. Hier besteht die Herausforderung darin, die ver-
fügbaren ehrenamtlichen Potentiale und Ressourcen geschickt einzusetzen und zu
kombinieren, z. B. den Expert*innen, die ihr Wissen weitergeben wollen und (wie lan-
ge noch?) können, organisatorisch „den Rücken freizuhalten“.
6 Mögliche Lösungsansätze und konkrete Projekte
Eine Komponente strategischer Auseinandersetzung mit der Förderung von Arten-
kenntnis ist das Klassizieren von Kompetenzen und analog auch von Bildungsan-
geboten. Die Arbeitsgruppe „Bildung Artenkenntnis“ der Schweizer Fachgesellschaft
267DNT-JOURNAL 2019
Junges Forum
Erosion der Artenkenntnis – Aktuelle Entwicklungen seit dem letzten DNT
Swiss Systematics Society (SSS) hat ein „Bildungsmodell“ für die Aus- und Weiter-
bildung von Artenkenner*innen entwickelt (www.artenspezialisten.ch, sanu 2016).
Dieses ist fünfstug und reicht von Sensibilisierung, Einführung, Grundausbildung
und Weiterbildung zum Spezialisten bis zur Weiterbildung zum Experten. Die Schwei-
zer sanu future learning ag (2016) hat anhand dieses Modells die existierenden Bil-
dungsangebote zu Artenkenntnis in der Schweiz ermittelt, strukturiert und Lücken
aufgezeigt. Auch die Botanical Society of Britain & Ireland (BSBI) agiert mit einem
siebenstugen Stufenmodell, das aber eher der Selbsteinschätzung bzw. Zertizie-
rung dient und an dessen Kompetenzniveaus Befähigungen für bestimmte Projekte
und Aufgaben gekoppelt sein können (www.bsbi.org/eld-skills).
Für Bildungsträger in Deutschland (dazu gehören auch die Vereine) kann das inso-
fern ein interessantes Vorbild sein, als dass sich so Wochenendkurse und Exkursio-
nen gezielter ausrichten, anbieten und aufeinander aufbauen lassen. Auch könnten
sich die Mitglieder einer Community so selbst gezielter weiterbilden. Geländearbeit,
Habitatkenntnis und Standortkunde sind andere Kompetenzen als Präparation und
Determination am Binokular. Dies im Hinterkopf behaltend können systematisch und
modular Curricula entwickelt werden.
Es nden außerhalb der etablierten regionalen bzw. nationalen Fachvereine und -ver-
bände auch zunehmend Versuche zur Vernetzung von Artenkenner*innen statt. Ne-
ben Beispielen wie www.naturgucker.de, www.lepiforum.de oder www.pilzforum.eu
ist das „Netzwerk Artenkenntnis“ (www.netzwerk-artenkenntnis.de) ein jüngeres Bei-
spiel hierfür. Von Studierenden entworfen und der DBU gefördert, versucht dieses
Projekt, eine deutschlandweite Plattform zur Vermittlung von Artenkenner*innen
und solchen, die es werden wollen, aufzubauen. Denn ein Ergebnis nach Befragun-
gen und der Beobachtung unter „jungen“ Leuten, wie auch solchen, die mitten im Le-
ben stehen, ist, dass es nicht unbedingt an Personen mangelt, die ernsthaft daran
interessiert sind, ihre Artenkenntnisse gezielt und systematisch zu erweitern (z. B.
vorläuge Umfrageergebnisse des „Netzwerk Artenkenntnis“).
Dies bekommen auch jüngere Initiativen wie die Jungen Botaniker*innen Schles-
wig-Holstein (JuBos SH, www.ag-geobotanik.de/junge-botaniker.html) zu spüren.
Am Rande eines Sondertreffens der AG Geobotanik in Schleswig-Holstein und Ham-
burg e.V. zum Thema „Erosion der Artenkenntnis“ und dessen Relevanz für den lan-
desweiten Botanikverein gründeten eine Hand voll Studierender, Promovierender
und Berufsanfänger*innen im Januar 2017 diese Gruppe. Seither gibt es ganzjährig
1–2 Exkursionen im Monat, die für alle interessierten jungen Menschen offen sind
268DNT-JOURNAL 2019
Junges Forum
Erosion der Artenkenntnis – Aktuelle Entwicklungen seit dem letzten DNT
und insofern eine programmatische Ergänzung zum Veranstaltungsangebot des
„Muttervereins“ darstellt, als dass diese im Stil eigeninitiativ-partizipatorischer Ent-
deckungs- und Bestimmungsexkursionen gehalten sind. Dieses Exkursionsformat
ist einerseits sehr gefragt, wird aber andererseits von vielen Vereinen kaum ange-
boten. Gleichzeitig stellt diese Gruppe durch den Austausch und das Netzwerk mit
Gleichaltrigen eine möglichst niedrigschwellige Einstiegsmöglichkeit in das Thema
Botanik dar, wobei natürlich auch für die Mitgliedschaft im Landesverein geworben
wird. Solch eine Gruppe kann eine sehr interessante Eigendynamik entfalten und
gleichzeitig ein wichtiger „Schutzraum“ sein, wo „dumme“ Fragen gestellt werden
können und (Noch-)Nichtwissen preisgegeben werden kann, ohne dass Lehrperso-
nen, Vorgesetzte oder potentielle Arbeitgeber*innen anwesend sind. Innerhalb von
zwei Jahren sind ca. 100 junge Menschen aus ganz Schleswig-Holstein dieser Grup-
pe beigetreten (Mitglieder im Mailverteiler). Die AG Geobotanik erwägt nun sogar die
Erweiterung ihres Vorstandes u.a. zum Zwecke der Förderung und Einbindung der
JuBos in die geobotanische Szene des Landes. Analog zu den JuBos haben sich un-
ter dem Dach der Faunistisch-Ökologischen Arbeitsgemeinschaft e.V. (FÖAG, www.
foeag.de/arbeitskreise/juzo) auch die Jungen Zoolog*innen (JuZos) mit ähnlichem
Erfolg gegründet.
Beide Angebote tragen zukünftig hoffentlich erheblich zur Neugewinnung von ange-
henden Artenkenner*innen für Schleswig-Holstein bei. Individuelle Kompetenzkarri-
eren können durch solche Gruppen initiiert, befördert und verstetigt werden, jedoch
gelangen sie wahrscheinlich über ein gewisses „Niveau“ nicht hinaus. Es werden
dann zusätzlich Autodidaktik, erfahrenere Mentor*innen und weiterführende Netz-
werke bzw. Communitys gebraucht. Ein Beispiel hierfür ist die Ende 2016 gegründe-
te AG Stechimmen Schleswig-Holstein (www.foeag.de/arbeitskreise/stechimmen).
Anlass war eine Anfrage des Landes Schleswig-Holstein an die zwei (immerhin?) ein-
zigen Stechimmenkenner zur Neufassung einer längst überfälligen Roten Liste. Aus
persönlichem Zeit- und allgemeinem Datenmangel kann diese aber derzeit nicht seri-
ös erarbeitet werden. Andere Expert*innen stehen nicht zur Verfügung. Die daraufhin
gegründete AG Stechimmen unter dem Dach der FÖAG, mit dem Ziel der Ausbildung
von neuen Stechimmen-Kenner*innen und zur Erforschung der Stechimmenfauna
des Landes, versucht nun, durch Exkursionen, Bestimmungskurse und gemeinsame
Projektarbeit mittelfristig neue Expertise im Land aufzubauen. Das zuständige Mi-
nisterium (MELUND) stellt seit 2018 in geringem Umfang Mittel zur Erfassung und
Aufbereitung von Altdaten aus Sammlungsbeständen, sowie für kleinere Kartierungs-
projekte zur Verfügung.
269DNT-JOURNAL 2019
Junges Forum
Erosion der Artenkenntnis – Aktuelle Entwicklungen seit dem letzten DNT
Meistens fallen öffentliche Finanzierungen für Rote Listen, Atlasprojekte oder die
Ausbildung von Artenkenner*innen jedoch bescheiden aus, wenn es sie überhaupt
gibt. Sie sind in der Regel projektgebunden und nicht institutionell, also zeitlich und
sachlich beschränkt. Für manche Projekte eignet sich alternativ eine Finanzierung
z. B. über die Umweltlotterie Bingo!, Förderprogramme des Bundes (BfN) oder die
Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU). Allerdings ist oft ein Eigenanteil zu erbrin-
gen, Antragsverfahren sind sehr aufwendig oder Projekte fallen zu klein aus (z. B.
Bachelor- oder Masterarbeiten), als dass sie antragswürdig erscheinen. Für solche
Fälle gibt es in Schleswig-Holstein seit 2018 zwei Fonds, die bei der Stiftung Natur
im Norden (www.nano-stiftung.de) angesiedelt wurden. Der Fauna-SH-Fonds (in Ko-
operation mit der FÖAG) sowie der Artenkenner-Fonds sind mit bislang noch gerin-
gen Verbrauchsvermögen ausgestattet, die auf Antrag zur Konanzierung kleinerer
Projekte oder zur Aufbringung von Eigenanteilen in Anspruch genommen werden
können. Beide Fonds sind natürlich auf Spenden und Zustiftungen angewiesen und
sollen mittel- bis langfristig Expertiseförderung erleichtern.
7 Schlussfolgerungen
Akteure in Bildung, Forschung und Naturschutz in all seinen Facetten, die sich für die
Förderung von Artenkenntnis engagieren wollen, sollten „Artenkenntnis“ differenziert
und strukturiert betrachten und das Thema strategisch sowie in Kooperation und Ab-
sprache mit anderen Akteuren angehen. Für die meisten Akteure scheint die Landes-
ebene die zu sein, auf welcher am meisten erreicht werden kann. Die Bedeutung der
Fachgesellschaften, -vereine und -verbände in dieser Thematik nimmt zu. Dabei ist
ausreichend „Nachwuchs“ vorhanden, es gibt aber vielerorts noch Dezite bei An-
geboten, Formaten und Netzwerken (bzw. Community). Eine Analyse von Angebot
und Bedarf der Aus- und Weiterbildungsangebote kann dabei helfen, „Lücken“ syste-
matisch zu füllen und kontinuierliche Kompetenzkarrieren zu ermöglichen. Den Ak-
teuren (Expert*innen und Engagierte) sollte dabei möglichst strukturell, strategisch
und nanziell der Rücken gestärkt werden. Außerdem müssen wirtschaftliche Anrei-
ze für Artenkenntnis besser werden. Artenkenntnis sollte daher von allen Akteuren
nach innen und außen konsequent als moderne und notwendige Schlüsselkompe-
tenz kommuniziert werden, die dringend benötigt wird, um viele gesellschaftspoliti-
sche Aufgaben heute und in der Zukunft zu erfüllen.
270DNT-JOURNAL 2019
Junges Forum
Erosion der Artenkenntnis – Aktuelle Entwicklungen seit dem letzten DNT
Quellen / Literatur
BMU, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2007): Nationale
Strategie zur biologischen Vielfalt. Kabinettsbeschluss vom 7. November 2007.
BMUB, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (2015):
Naturschutz-Offensive 2020. Für biologische Vielfalt!
Frobel, K. u. H. Schlumprecht (2016): Erosion der Artenkenner. Ergebnisse einer Befragung
und notwendige Reaktionen. In: Naturschutz und Landschaftspflege, 48 (4): 105–113.
Frobel, K. (2017): Naturtalente gesucht – Konsequenzen aus der Studie zur Erosion junger
Artenkennerinnen und -kenner. In: DNT Journal, 2017: 213–215.
Kuhlmann, M. (2015): Expertise in decline. In: Nature, 521: S58.
Lindo, D. (2018): #Urban Birding. Kosmos Verlag, Stuttgart.
Meinecke, P. (2017a): Wie weiter mit den jungen Artenkennerinnen und Artenkennern? –
Eine Offensive für die Nachwuchsarbeit. In: DNT Journal, 2017: 219–232.
Meinecke, P. (2017b): „Erosion der Artenkenntnis“ – ein Thema in Schleswig-Holstein? In:
MELUND, Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisie-
rung des Landes Schleswig-Holstein (2017): Jahresbericht 2017 zur biologischen Vielfalt.
Jagd und Artenschutz. Online verfügbar unter https://www.schleswig-holstein.de/DE/Fa-
chinhalte/A/artenschutz/as_07_Jahresbericht.html
Sanu future learning ag (2016): Analyse der Bildungsangebote und des Bedarfs bezüglich
Artenkenntnissen in der Schweiz. Online verfügbar unter https://www.sanu.ch/uploads/
downloads/16NGMAAS_Bericht_Analyse_V6.pdf
Sturm, U., Moormann, A. u. A. Faber (2018): Mobile learning in environmental citizen scien-
ce: An initial survey of current practice in Germany. it - Information Technology, 60 (1):
3–9. doi:10.1515/itit-2017-0021
Wissenschaftsladen Bonn (2017): Chance Artenkenntnis. WILA Arbeitsmarkt, 25 (4): IV–
VIII. Online verfügbar unter https://www.wila-arbeitsmarkt.de/blog/2017/05/02/artenken-
ner/.
WWF Deutschland (2017): Angebot der Naturschutzausbildung an deutschen Hochschu-
len. Ein Leitfaden für Studieninteressierte. Online verfügbar unter: https://www.hs-anhalt.
de/leadmin/Dateien/FB1/Studiengaenge/NLP/WWF-Information-Angebot-der-Natur-
schutzausbildung-an-deutschen-Hochschulen-Ein-Leitfaden-fuer-Studieninteressierte.pdf
271DNT-JOURNAL 2019
Junges Forum
Erosion der Artenkenntnis – Aktuelle Entwicklungen seit dem letzten DNT
Kontakt
Philipp Meinecke
philipp.meinecke@ausgleichsagentur.de
ResearchGate has not been able to resolve any citations for this publication.
Conference Paper
Full-text available
Mit dem Rückgang der Biodiversität geht auch die „Erosion der Artenkenntnis“ einher. Es gibt immer weniger Kenner von Flora und Fauna. Das betrifft v.a. Naturschutzakteure, Bildungsträger, naturkundliche Vereine und verbände. Das Problem ist nicht neu und mehrfach empirisch belegt. Dennoch sind kaum Trendwenden in Sicht. Regionale Akteure können konkret zu einer Nachwuchsoffensive beitragen. Dabei sind Strategien sinnvoll, die die Erkenntnisse der Interessens- und Expertise-forschung mit neuen Formaten und institutionsübergreifenden Kooperationen verbinden. URL: http://www.deutscher-naturschutztag.de/fileadmin/user_upload/DNT_Journal_2017/DNTJournal2017_Digital.pdf
Article
Full-text available
Article
Citizen science is a growing approach in science and the opportunities of new technologies and learning are considered more and more. We give an overview of the current practice of mobile learning in Germany by conducting an explorative survey among environmental citizen science projects using mobile apps. This study supports the idea that education is relevant in citizen science, and apps affect the learning experience of participants. However, several obstacles were identified that need to be considered, to be able to fully exploit the benefits of mobile learning in citizen science. Full Text: https://www.museumfuernaturkunde.berlin/sites/default/files/pdf.pdf
Article
A standardised survey of 70 species experts (i.e. persons with expert knowledge of species) revealed a loss of 21 % of such species experts over the last 20 years. According to the knowledge of the interviewees only 7.6 % of the current species experts are younger than 30 years. This means a serious aging of this group and a lack of junior staff. 90 % of the respondents assessed this deficit as very problematic for the future of nature conservation. The study revealed the motivation by the father as a decisive factor for the development of species knowledge, and it identified two relevant phases for the beginning of these skills, i.e. early beginners at the age of 13.5 years and late beginners, aged 22.5 years on an average. According to the interviewees the main reasons are changing leisure activities of young people, a lack of near-natural surroundings at parents' home, insufficient species knowledge of teachers and lacking offers oriented to nature conservation at the universities. The erosion of species experts should be recognized as a serious comprehensive problem for future nature conservation. The study describes some approaches to solution. All of them will require interdisciplinary collaboration and a targeted assignment of financial means for model projects.
  • Bundesministerium Bmu
  • Für Umwelt
BMU, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2007): Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt. Kabinettsbeschluss vom 7. November 2007.
Naturtalente gesucht -Konsequenzen aus der Studie zur Erosion junger Artenkennerinnen und -kenner
  • K Frobel
Frobel, K. (2017): Naturtalente gesucht -Konsequenzen aus der Studie zur Erosion junger Artenkennerinnen und -kenner. In: DNT Journal, 2017: 213-215.
  • P Meinecke
Meinecke, P. (2017b): "Erosion der Artenkenntnis" -ein Thema in Schleswig-Holstein? In: MELUND, Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung des Landes Schleswig-Holstein (2017): Jahresbericht 2017 zur biologischen Vielfalt. Jagd und Artenschutz. Online verfügbar unter https://www.schleswig-holstein.de/DE/Fachinhalte/A/artenschutz/as_07_Jahresbericht.html
  • Wissenschaftsladen Bonn
Wissenschaftsladen Bonn (2017): Chance Artenkenntnis. WILA Arbeitsmarkt, 25 (4): IV-VIII. Online verfügbar unter https://www.wila-arbeitsmarkt.de/blog/2017/05/02/artenkenner/.
Angebot der Naturschutzausbildung an deutschen Hochschulen. Ein Leitfaden für Studieninteressierte
  • Wwf Deutschland
WWF Deutschland (2017): Angebot der Naturschutzausbildung an deutschen Hochschulen. Ein Leitfaden für Studieninteressierte. Online verfügbar unter: https://www.hs-anhalt. de/fileadmin/Dateien/FB1/Studiengaenge/NLP/WWF-Information-Angebot-der-Naturschutzausbildung-an-deutschen-Hochschulen-Ein-Leitfaden-fuer-Studieninteressierte.pdf Philipp Meinecke philipp.meinecke@ausgleichsagentur.de