Content uploaded by Joachim Broecher
Author content
All content in this area was uploaded by Joachim Broecher on Aug 13, 2019
Content may be subject to copyright.
Zugänge zu sonderpädagogischen und sozialpädagogischen Themen über Cultural Mapping:
Der Film »Räuber Kneißl« (2008) >
Joachim Bröcher >
Abteilung Pädagogik und Didaktik zur Förderung der emotionalen und sozialen Entwicklung
Europa-Universität Flensburg, Institut für Sonderpädagogik
Kann eine Verfilmung zum Leben des bayrischen Räubers Ma-
thias Kneißl von sonderpädagogischer und sozialpädagogischer
Relevanz sein? Ja, sie kann, und die erneute Verfilmung des hi-
storischen Stoffes von Marcus H. Rosenmüller, auf der Basis des
Drehbuchs von Christian Lerch, stellt die Bedeutung von Film-
produktionen für die Bildungs- und Sozialwissenschaften erneut
unter Beweis. Natürlich muss klar sein, dass ein solcher Film
auslegt und variiert, er kann und will niemals eine wissenschaft-
liche Dokumentation der historischen Ereignisse sein, aber ein
solcher Film trainiert die Vorstellungskraft, wie die Dinge sich
zugetragen haben könnten. Auf die dann und wann eingestreuten
komödienhaften Elemente hätte sicher verzichtet werden kön-
nen. Was ist die Story? Mathias Kneißl, vorzüglich gespielt und
authentisch verkörpert durch Maximilian Brückner, wurde 1875
in eine kriminelle, in einer Mühle im Dachauer Hinterland le-
bende Familie hineingeboren, war von 1893 bis 1899 inhaftiert
und wurde 1902 auf der Guillotine hingerichtet. Der Film be-
ginnt mit einer Szene wo Pfarrer und Gendarm auf den verlassen
wirkenden Hof kommen. Einer von ihnen ruft: »Wenn ihr nicht
in die Schule geht, dann werdet ihr eingesperrt!« Einer der Jun-
gen schießt aus dem Verborgenen mit einer Steinschleuder auf
den Gendarmen, der Pfarrer rät zum Rückzug. Der Vater bringt
ein Gewehr mit nach Hause und drückt es seinen Jungs in die
Hand, diese üben sogleich das Schießen, für die gemeinsame
Wilderei. Nachdem Vater und Mutter die Kultgegenstände aus
einer nahegelegenen Kirche geraubt haben, wird der Vater mit
Messkelch und Kreuz im Rucksack von der Polizei gestellt und
kommt bei seinem Fluchtversuch durch Sturz in den Mühlengra-
ben und zusätzliche Hiebe der Gendarmen zu Tode. Die Söhne
schauen entsetzt mit ihren blonden Schöpfen oben aus dem Fen-
ster zu. Die Mutter wird für einige Monate wegen Hehlerei ein-
gesperrt. Die Jungs treiben die Tante vom Hof, die sich küm-
mern wollte. Die vier Kinder sind sich nun selbst überlassen. Sie
gehen auf die Jagd und stehlen Hühner, einmal in Frauenklei-
dern, werden vom Bauern und dessen Söhnen erwischt und zur
Abschreckung auf den Misthaufen geworfen, und mit dem Ruf
»Saububen« davongejagt, man regelt das unter sich, ohne die
Gendarmerie einzubinden. Mathias betätigt sich als Metzger, wir
sehen ihn mit blutverschmierten Armen. Als die Gendarmen
schließlich kommen, um die beiden Jungen und die zwei Mäd-
chen in die Hände der staatlichen Fürsorge zu geben, verstecken
sich diese auf dem Dachboden. Bruder Alois schießt auf die Po-
lizisten, als diese nach oben kommen und verletzt sie schwer.
Die beiden Brüder entkommen zunächst, verstecken ihre Waffen
im Wald, werden dann doch gefasst und ins Gefängnis gebracht.
Alois bekommt 15 Jahre, Mathias sechs. Der Bruder stirbt wäh-
rend der Haftzeit an Tuberkulose. Mathias findet nach seiner
Entlassung Arbeit bei einem Schreiner, will ein anständiges Le-
ben führen, und gemeinsam mit seiner geliebten Cousine Ma-
thilde Danner, gespielt von Brigitte Hobmeier, nach Amerika
auswandern. Er verliert die Arbeit wieder, teils weil er so auf-
brausend ist und sich auch sehr provokativ verhält, teils weil we-
gen seiner Vergangenheit gegen ihn gearbeitet wird, insbesonde-
re von dem damals durch Schüsse verletzten Gedarmen. Weil
ihm niemand mehr Arbeit gibt, und auch keine sonstige soziale
Sicherung existiert, lässt er sich erneut auf Raubzüge ein. Bei ei-
nem Festnahmeversuch erschießt er zwei Polizisten. Er wird nun
gesucht, versteckt sich in einer alten Scheune, draußen in der
Landschaft. Über seinen ehemaligen Schreinerskollegen gelingt
es, Mathilde zu ihm zu bringen. Die Tante ist es, die den Gen-
darmen seinen Aufenthaltsort verrät, um an die ausgesetzte Be-
lohnung von 1000 Mark zu kommen (In Wahrheit war es jedoch
die Cousine selbst, die ihn verriet.) Kneißl hat teils die Sympa-
thie der einfachen Leute, weil er dreist und keck der Obrigkeit
auf der Nase herumtanzt, sodass sie ihn zwar einerseits fürchten,
andererseits ihm auch helfen, sich zu verstecken. 150 Polizisten
belagern schließlich die Scheune, wo er sich oben im Heu ver-
steckt hält, und schießen. Kneißl wird getroffen, schwer verletzt
wird er überrumpelt, abtransportiert, operiert, er überlebt, um
ihm dann den Prozess zu machen.Vorher eine emotionale Szene
in der Gefängniszelle, mit seiner Mutter, gespielt von Maria
Furtwängler, nachdem die Nachricht gekommen ist, dass sein
Gnadengesuch abgelehnt worden ist. Ein Film über die Entste-
hung von dissozialen und delinquenten Verhaltensweisen, aber
auch über den Zusammenhang von Familie, sozialer Schicht,
fehlenden Aufstiegschancen, über die Unmöglichkeit, aus dem
Bodensatz der Gesellschaft herauszukommen. Die sozialen Sy-
steme dieser Zeit boten noch keine Resozialisierungsmaßnah-
men, keine sozialpädagogische Begleitung, keine Sozialarbeit
etc. Nach innen hält diese Familie fest zusammen, das heißt die
emotionalen Bindungen zwischen Eltern und Kindern und Ge-
schwistern sind überaus eng, doch die Umwelt draußen wird als
feindselig und ausbeutend erlebt und konstruiert, also muss man
sich von dort, notfalls mit Gewalt, nehmen was man zum Über-
leben braucht. Dass der regelmäßige Schulbesuch zu einem so-
zialen Aufstieg über Bildung führen kann, können sich diese El-
tern und folglich auch die Kinder nicht vorstellen. Man hätte
Mathias Kneißl die Chance zum ersehnten Neuanfang in Ameri-
ka gewünscht. Aber wäre Mathias dort, in dem rauhen gesell-
schaftlichen Klima, nicht wieder auf die schiefe Bahn gekom-
men? Wodurch wird also das Verhalten geprägt, durch die sozia-
len Umstände oder ist es der Charakter, oder ein Ineinander von
beidem? War Kneißl wirklich eine Art bayrischer Robin Hood,
also ein Sozialrebell, oder war er doch nur ein gewöhnlicher
Krimineller? Ja es gab den Haß der einfachen Leute, der Tage-
löhner, der Handwerker, Kleinbauern auf die Obrigkeit, den
Prinzregenten, daher die Sympathie und die Unterstützung, die
Mathias Kneißl erfuhr, er revanchierte sich mit der Lieferung
von Wildbret. Doch schon die Mutter, eine geborene Pascolini,
entstammte einer Räuberfamilie. Als Mathias 1899 das Gefäng-
nis verlässt, sieht er verwandelt und gereift aus, mit blondem
Schnauzbart. Das Wiedersehen mit der Familie in einer ärmli-
chen Stadtwohnung ist überschwenglich, die Mutter spielt auf
dem Schifferklavier, alle trinken Schnaps, es wird gelacht und
getanzt, Mathias und die Cousine schlafen miteinander auf dem
Küchenboden, nachdem die Tante im Schnapsdusel am Küchen-
tisch eingeschlafen ist. Alle laufen hier in den durch die soziale
Herkunft vorgezeichneten Bahnen. Die Familie am Totenbett
der Schwester, die Gendarmen Mathias auf der Spur, die Mutter
stellt sich ihnen ein letztes Mal in den Weg, sodass er fliehen
kann. Vor dem dramatischen Finale gibt es zwei Szenen die vol-
ler Aufbruch sind: Mathias ist seinen Häschern ein letztes Mal
entkommen, im Jauchewagen untergetaucht, wir sehen ihn
nackt, zitternd, als der Bauer ihn mit Wasser übergießt, als wür-
de er ihn taufen, den Dreck seiner Vergangenheit von ihm abwa-
schen. Mathias nun am frühen Morgen mit Koffer in der Hand,
im langen Mantel aus Schafsfell, mit Hut, Mathilde an der
Hand, von der Scheune kommend, Geld für die Überfahrt nach
Amerika ist jetzt da, von den jüngsten Raubzügen, allein die
Hundertschaft an Gendarmen lauert im Gebüsch. Man muss
diese Szene verlangsamen, um sie tatsächlich in ihrer Tiefe zu
erfassen, die Filmbilder eins nach dem anderen ansehen, die
Gesichter der beiden, die eigentlich alles vor sich haben könn-
ten, sich vorstellen, sie schafften es bis nach Bremerhaven, auf
eines der Auswandererschiffe und sie überquerten den Atlantik
und sie gingen in New York an Land und verlören sich dann in
den Weiten des Mittleren Westens... wären da nicht die Umstän-
de, die dem entgegenstehen. Diese soziale und familiäre Her-
kunft war ein chancenloser Käfig, aus dem es kein Entkommen
gab, dafür aber einen frühen Tod auf der Guillotine.