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„Erfahrungsbericht einer Sound Art Performance von The Haxan Cloak“ ist ein Auszug aus
der Masterarbeit: „Drone – Von Möglichkeitssinn bis Sinn(es)verlust – Spielarten ästheti-
scher Erfahrung in Gegenwart sonischer Materialität“ von Luise Wolf, angefertigt im Studi-
engang Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin
Sonosphäre
Erfahrungsbericht einer Sound Art Performance von
The Haxan Cloak
Es folgt der letzte Act des Abends: The Haxan Cloak. Die Lichter gehen aus. Bühne
und DJ-Pult sind in tief-schwarzen Samt gehüllt. An den Instrumenten, matt-
metallischen Kästen, reflektiert kein Licht. Minutenlang ist es still und dunkel in
dem flachen Containerraum bis sich die Silhouette eines schwarzen Kapuzenum-
hangs abzeichnet. Niemand applaudiert. Ich frage mich, ob diese Stille zur Perfor-
mance gehört.
Dann, langsam und wie aus weiter Ferne erklingt etwas, ein eigenartiges, bedroh-
lich-tiefes Dröhnen wird lauter, ein Rumoren, ein unheimliches Stöhnen geht auf
und ab, wird mal Rauschen, mal Grollen. Weitere unerklärliche Klänge und Geräu-
sche wie Klicken, Pulsieren oder Zucken erscheinen wie Emanationen dieses Dröh-
nens, schälen sich langsam aus der Sonosphäre. Sie fliehen mal in hohen Bögen steil
hinaus und verklingen mit einem Schleier weißen Rauschens, oder fallen schwer
und abrupt in die sonore Masse zurück, kreisen im Raum. Ich höre und spüre, wie
sich der Sound bewegt, seine Gravitationen, sein Umströmen in Zeit und Raum.
„Der Schall hat keine verborgene Seite. Er ist ganz davor, dahinter und draußen,
drinnen, drunter und drüber, allseits.“1 Ich ahne, dass die Musik überall jenseits
meiner Sinne weitergeht, dass sie weiterklingt, Andere(s) affiziert, wie ein ‚Wesen‘,2
das in seiner Gänze unteilbar und unberechenbar ist.
Was höre ich da? Vielleicht höre ich eine stark verlangsamte, tiefe Synthesizer-
Melodie oder das Dröhnen einer Bassgitarre? Vielleicht sind da sich um viertel Töne
1 Jean-Luc Nancy (2010): Zum Gehör. S.
22.
2 Gilles Deleuze und Félix Guattari (1992): Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus.
S.
354.
2
verändernde Höhen, vielleicht sind es Überlagerungen einer Vielzahl von Frequen-
zen, von denen ich mal den höheren, mal den tieferen aufmerksamer zuhöre. Strei-
cher, Knacken, Percussions und hektisches Ticken; immer mehr Sounds mischen
sich ein, jetzt lauter und plötzlicher. Manchmal erschrecke ich. Der Sound baut sich
auf zu einem einzigen Wabern; dicht, füllig und tief – Rauschen‚ ‚Sound itself‘, ‚Mu-
sik-Musik‘.3 Sie klingt so unwirklich und ist doch real gegenwärtig und diese Tatsa-
che macht mich staunen. Ich lausche noch tiefer dahinein.
Einzelne Sounds treffen den Körper unvermittelt und gerichtet, andere schwellen
dynamisch an und ab. Ich spüre, wie Klänge an mir und in mir wi(e)derklingen, sich
mit ‚ausgezeichneten Punkten‘4 meines Körpers so intensiv verbinden, dass ich
mich in mir verliere. Mein Körper – eine Blackbox? Wie fühlt sich der Magen an, wie
die Nieren, die Augen von innen und die Flüssigkeiten hinter der Stirn? Die Klänge
durchspannen meinen Körper wie Elektrizität. Tiefe Frequenzen bringen die dichten,
schwerfälligen Massen im Körper zum Schwingen. Die Höhen resonieren mit den
steifen, den feinen und flüssigen Teilen des Körpers. Ich werde bewegt. Ich bewege
mich. Ich spüre, wie mein Körper gegen Klang hält, wie er für sich selbst steht, wie
er wie von selbst sogar auf unhörbare Resonanzen mit einer eigenen Bewegung rea-
giert. Ich werde mir fasslich
– innerlich, äußerlich. Ich höre mir selbst beim Hören
zu, beim Lauschen, Hinhören, Zuhören, immer wieder Aufhorchen. Ich ertaste im-
mer mehr subtile Regungen und Reibungen in den Echokammern meines Körpers,
orte den Einfallswinkel des Schalls, drehe mich zur Welle.
Diese Musik hat keine feste Form, spielt keine Gesten vor; sie ist eine rauschende
Gestalt, ein Geschehen ständig wechselnder Texturen und Timbres, ein komplexes
Bewegungsmuster. Im Chorus und in den Überlagerungen stehender Wellen wird sie
unglaublich fasslich und materiell, fast schmerzhaft physisch. Das Denken, das Kon-
ventionelle zieht sich in solchen Momenten zurück. Berührungen des Schalls, Ge-
fühle und Gedanken-Werden verschwimmen. Doch ein Bewusstsein stellt sich mir
ein – nein – vielmehr ein Dasein, das mir unbekannt war. Wenn der bodenlose Bass
und die Sirenen meinen Körper durchfahren, werde ich ganz Klang. Ich bin der Leib
der Musik. Ich bin eine Welle, meine Zellen beben im Rhythmus ihrer Perioden.
Mein Leib ist die Raumkörperantwort des Sounds. Ich kann mehr fühlen, ein Spüren
3 Diedrich Diederichsen (2002): Sexbeat. S.
133.
4 Gilles Deleuze (1992): Differenz und Wiederholung. S.
41.
3
an den Grenzen der Wahrnehmung ist das, das vormals ‚unspürbare Kräfte‘5 der
materiellen Welt berührt. Dies Spüren füllt die ganze Dauer des Hörens aus, die eine
Zeit ohne Umwege ist. Im Bewegtwerden komme ich ganz zur Ruhe, als ob sich alles
Sosein, all das Funktionieren und Maskenhafte der Welt zurückgezogen hätte für
diesen Moment der reinen Präsenz und der bloßen Möglichkeit abstrakter Bedeu-
tung.
Dann verdichtet sich die Sonosphäre zu einem Tosen, unglaublich laut, hoch,
mittig und tief gleichermaßen, schwer und leicht, hart und weich. Unterhalb von 20
Hertz verändert sich die Wahrnehmung von Hören in Spüren. Der Sound drückt sich
in den Körper hinein, die Ohren, die Brust, die Bauchdecke und Organe. Raum und
Zeit werden träge. Die Kehle schwillt an und der Kopf wird hart und schwer. Das
Atmen fällt schwer. Jede Bewegung strengt an. Einfahrende Bässe erschüttern mich,
ergreifen mich von innen und schütteln und schlagen. Ergriffenwerden. Absorption.
Verstummen …
Allschwärze und gleißendes Stroboskoplicht wechseln im Millisekunden-Takt ei-
nes gewaltigen Basses, der keinen Anfang und kein Ende hat. Im Lichtdonner sind
nur Silhouetten mir naher Körper erkennbar, bewegungslos wie meiner. Der Sound
hetzt und verschleppt und verwirbelt alle noch bestehenden Linien und Knoten-
punkte der Orientierung. Ich verliere meine feste Form. Der Klang und ich, wir sind
eine ‚Umklammerung‘, ein ‚Ineinander‘, das ‚nur mehr aus Energien‘ besteht6 – In-
terferenz.
Dann, nach und nach, zerstreuen die brachialen Sounds in alle Richtungen, ebben
ab und wandern ziellos, ohne festen Rhythmus, in einen weiten Raum. Weißer, süß-
lich duftender, kühler Pheromon-Nebel stößt in den Raum. Ich sehe offene Münder
wie meinen, die Arme und Beine leicht aufgespannt; Körper, die nicht Widerstand
sein mochten, sondern Membran, Hallraum, Zwischenraum und Ventil. Der Körper
hat sich verklanglicht und fühlt sich nun, da der Druck sinkt, flüssig und weich an,
kehrt in seine Ruhelage zurück.
Ein stampfender Bass teilt die haltlose Sonosphäre in Zeiteinheiten. Aus dem
Klanggemisch sticht ein geisterhaft-hoher Ton, der eine einfache Melodie entwi-
ckelt. Ich kann ihr zuhören – endlich – der Musik folgen, ihren Sinn vernehmen und
5 Gilles Deleuze und Félix Guattari (2000): Was ist Philosophie? S.
216.
6 Gilles Deleuze & Félix Guattari (2000): Was ist Philosophie? S.
197.
4
möchte, dass sie weitererzählt. Noch lausche ich am Rande ihres klingenden Flüs-
terns, das noch wie der Hauch vor dem Wort ist. Ich fasse langsam wieder klare Ge-
danken. Die Melodie bleibt zwischen Dur und Moll im Zweifel, doch zieht beständig
ihre Schritte durch die höheren Schichten des Klangraums und ich fühle wieder die
Möglichkeit von Stille, Anfang und Ende, den festen Boden unter meinen Füßen, von
Jetzt und Nachher, wenn dieser Moment Vergangenheit ist. Es stimmt ein Cello mit
ein und mich auf die Welt, die ich kannte und nun anders erlebe – leibhaftiger,
wirklicher. Meine Nackenhaare stellen sich auf bei der zierlichen Berührung eines
Bratschentons. Streicher und Percussion rascheln und vibrieren jetzt immer
schneller und dünner, bis nichts mehr übrig bleibt, bis nur mehr ihre letzten Atem-
züge im Schlagen des Basses widerhallen – ein Bass, dessen mannigfaltiger Gestal-
ten ich mich jetzt entsinnen kann. Sein letzter Schlag klingt noch lange aus, Sekun-
den, Minuten vielleicht. Und ich höre darin die Räume der letzten Minuten oder
Stunden widerhallen und die weite, offene Sphäre aller Räume. Stille.
Stille ist eigentlich ein Rauschen.
Literatur
Deleuze, Gilles (1992): Differenz und Wiederholung. München: Fink.
Deleuze, Gilles und Guattari, Félix (1992): Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend
Plateaus. Berlin: Merve.
Deleuze, Gilles und Guattari, Félix (2000): Was ist Philosophie? Frankfurt a. M.:
Suhrkamp.
Diederichsen, Diedrich (2012): Sexbeat. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Nancy, Jean-Luc (2010): Zum Gehör. Zürich und Berlin: Diaphanes.