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ISBN 978-3-945627-15-0
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Die medientechnische Revolution ist gelaufen: Nach
unzähligen Spekulationen, was ‚das Digitale‘ in Zukun
bringen werde, leben wir seit zwei Jahrzehnten in einer
Welt, in der kaum noch etwas ohne digitale Medien funk-
tioniert. Die fünfzehn Essays des Buches behandeln zen-
trale Themen und Herausforderungen digitaler Kulturen
und wie es zu ihnen kam.
NACH DER REVOLUTION
Timon Beyes, Jörg Metelmann, Claus Pias (Hg.)
NACH DER
REVOLUTION
Ein Brevier digitaler Kulturen
TIMON BEYES, JÖRG METELMANN, CLAUS PIAS (HRSG.)
MIT BEITRÄGEN VON
Clemens Apprich I Götz Bachmann I Andreas Bernard
Armin Beverungen I Timon Beyes I Paula Bialski
Manuela Bojadžijev I Mercedes Bunz
Jörg Metelmann I Claus Pias I Aleksandra Przegalinska
J. Jesse Ramírez I Ramón Reichert I Nishant Shah
Harald Welzer
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NACH DER
REVOLUTION
Ein Brevier digitaler Kulturen
NACH DER
REVOLUTION
TIMON BEYES, JÖRG METELMANN, CLAUS PIAS (HRSG.)
Ein Brevier digitaler Kulturen
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Wir sind drin. Zur Gegenwart digitaler Kulturen
TIMON BEYES, JÖRG METELMANN, CLAUS PIAS
bewegen
Digitale Migration – MANUELA BOJADŽIJEV
darstellen
Selfies – JÖRG METELMANN
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Profil – ANDREAS BERNARD
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Algorithmisches Management – ARMIN BEVERUNGEN
erzählen
Silicon Valley – GÖTZ BACHMANN
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Paranoia – CLEMENS APPRICH
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Simulation – CLAUS PIAS
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Internet der Dinge – MERCEDES BUNZ
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Kritik – J. JESSE RAMÍREZ
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Organisation – TIMON BEYES
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Entwickler – PAULA BIALSKI
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Interface – NISHANT SHAH
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Neurotracking – ALEKSANDRA PRZEGALINSKA
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Big Data – RAMÓN REICHERT
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Demokratie – HARALD WELZER
Autorinnen und Autoren
Duisburger Dialoge der Haniel Stiung
Inhalt 103
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EINLEITUNG
Wer erinnert sich noch an die AOL-Werbung und Boris
Beckers verblüfftes „Bin ich da schon drin oder was?“. Das
war 1999, und seitdem haben sich die Verhältnisse umge-
kehrt: „Drin“ zu sein, also vernetzt, online und jederzeit er-
reichbar, ist heute der Normalzustand. Unsere Erfahrung
und Wahrnehmung ist mittlerweile so selbstverständlich in
kontinuierlich operierende Kommunikationsumwelten ein-
gebettet, dass uns dieser Umstand nur noch auffällt, wenn es
ausnahmsweise mal keinen Empfang gibt. „Draußen“ zu sein,
also entnetzt, offline und nicht erreichbar, ist heute der Aus-
nahmefall und verlangt nun umgekehrt eine aktive Leistung:
das Ausschalten, die Installation von Netzwerk- Blockern,
das Rausfahren an die wenigen Orte ohne Netzempfang oder
gar das Einchecken in die „Digital Detox“-Klinik – eine Heil-
anstalt digitaler Kulturen, deren Existenz vor Kurzem noch
sinnlos erschienen wäre.
Diese Entwicklung lässt sich nicht trennen vom Aufstieg
der Plattformen wie Facebook (2004), YouTube (2005), Air-
bnb (2008), Uber (2009) oder Instagram (2010), mit denen
Interaktion und Zusammenarbeit, Mobilität und Konsum,
Bildung und Vergnügen, Protest und Profit neue Formen an-
genommen haben. Und sie geht einher mit neuen Praktiken
der Selbstpräsentation, des Kuratierens des eigenen Profils
Wir sind drin.
Zur Gegenwart digitaler Kulturen
TIMON BEYES, JÖRG METELMANN, CLAUS PIAS
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EINLEITUNG
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EINLEITUNG
gien eine maßgebliche Rolle zukommt, geht es nicht allein
um die jeweilige Digitalisierung einzelner Wissens- und Le-
bensbereiche – als ginge es darum, Schulen ans Netz zu brin-
gen oder mittelständische Betriebe zu digitalisieren. Dies
sind vielmehr Symptome eines umfassenderen, einschnei-
denden Wandels hin zu „digitalen Kulturen“. Der Begriff der
digitalen Kulturen verweist auf ein komplexes Wechselspiel
von Medientechnologie und kultureller Formung der Welt,
aus dem neue, originäre Qualitäten eines soziotechnisch ge-
prägten Lebens hervorgehen. Dabei bezeichnet das Digitale
den technologischen Kontext der ununterbrochenen Prozes-
se des Zählens, Indizierens und Verknüpfens beziehungs-
weise Manipulierens von Daten und der daran geknüpften
Hardware- und Software-Infrastrukturen. Der Kulturbegriff
hingegen lenkt den Blick auf die Vielfalt prosaischer Lebens-
formen und Handlungspraktiken, die gesellschaftliches Le-
ben prägen. Entscheidend ist nun, die Verwobenheit und
Wechselwirkung von digitalen Medientechnologien und kul-
turellen Lebensformen ernst zu nehmen.
In diesem Sinne haben sich nicht nur die Formen der
Verarbeitung, Speicherung und Übertragung von Daten
grundlegend gewandelt, sondern auch die an sie geknüpf-
ten menschlichen Handlungsweisen und Sozialformen. Um
diese Entstehung genuin neuer Qualitäten eines soziotech-
nisch geprägten Lebens zu verstehen, braucht es vielleicht
Beobachter wie den 87-jährigen Philosophen Michel Ser-
res, der im kalifornischen Stanford staunend die „Däume-
linchen“ und „Däumlinge“ beobachtet. Für ihn gehören sie
„nicht mehr der gleichen Gemeinschaft“ an; sie „wohnen
nicht mehr im selben Raum“; sie „haben nicht mehr den glei-
chen Körper und nicht mehr den gleichen Lebenswandel“;
in sozialen Netzwerken, der Selbstvermessung und Selbst-
verbesserung bis in den Schlaf und bis hin zum „Quantified
Self“, das seine Körperströme kontinuierlich aufzeichnet
und veröffentlicht, transparent und vergleichbar macht.
Gleichzeitig hat beispielsweise die Snowden/NSA-Affäre ein
Ausmaß datenbasierter Intransparenz, Geheimhaltung und
Macht vor Augen geführt, das auf eine neue Qualität datenba-
sierter Überwachung, Kontrolle und Manipulation verweist.
Es wäre ein Leichtes, Beispiel an Beispiel zu reihen. Doch
mag diese impressionistische Liste genügen, um Titel, The-
ma und Dringlichkeit dieses Buches zu verdeutlichen. Wir
befinden uns „nach der Revolution“ in dem Sinne, dass di-
gitale Technologien mittlerweile in alle Lebensbereiche un-
serer Gegenwart eingewoben sind – und diese verändern.
Damit dreht sich die Blickrichtung: Es geht nicht mehr (wie
seit den 1960er-Jahren) darum, über eine noch „kommende
Digitalisierung“ nachzudenken, sondern den bereits statt-
gefundenen technologisch-kulturellen Wandel in den Blick
zu nehmen. Digitale Technologien sind heute allgegenwär-
tig, selbstverständlich und zu einem guten Teil unsichtbar.
Grundlegende lebensweltliche Erfahrungen, soziale Milieus,
Prozesse gesellschaftlicher Ordnung und Organisation, die
meisten beruflichen Praktiken sowie Gestaltungsprozesse
beinahe jeglicher Art sind heute von medientechnologischer
Digitalität durchwirkt. Die einst florierenden Spekulationen,
was „das Digitale“ in Zukunft alles bringen werde, sind mit-
hin einer Situation gewichen, in der wie selbstverständlich
kaum etwas mehr ohne digitale Medientechnologien läuft.
Hier nur von „Digitalisierung“ zu sprechen verfehlt die
Dynamik, dass das, was digitalisiert wird, vorher nicht ein-
fach „analog“ gegeben war. Denn obwohl Medientechnolo-
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EINLEITUNG
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EINLEITUNG
und sie sind „nicht länger Bewohner derselben Zeit“, „haben
nicht mehr die gleiche Genealogie“ (Serres 2013, 10–15). Ser-
res’ teils vergnügte Beobachtung und Reflexion seiner neuen
Umwelt ist nicht nur ein wunderbares Beispiel für das the-
oretische Staunen und die forscherische Neugier, die diese
Verhältnisse einfordern. Sie macht auch deutlich, dass man
das Verständnis dessen, was wir hier digitale Kulturen nen-
nen, nicht allein ihren Programmierern, Unternehmern und
Gestaltern überlassen kann, genauso wenig wie den düsteren
Abgesängen einer Kulturkritik, wie sie unter den Vorzeichen
einer nun digital unterfütterten Gesellschaft und Ökonomie
aus den Feuilletons und in Bestsellern erklingen.
Mit Serres gehen wir also davon aus, dass wir nach der
Revolution und daher mitten in einer „jener seltenen histo-
rischen Transformationen“ stehen, „die so breit und so un-
übersehbar ist, daß kaum ein Blick sie schon in ihrem gan-
zen Ausmaß zu überschauen vermag“ (Serres 2013, 18). Eben
weil ihr ganzes Ausmaß noch nicht abzusehen ist und weil es
keine Zeugen von Epochenumbrüchen gibt, sind die Kultur-
wissenschaften gefragt, genauer hinzuschauen, um die er-
kennbaren Umbrüche zumindest verständlicher, lesbar und
somit auch verhandelbar zu machen. Mit Hans Blumenberg
gesprochen, ist es unter diesen Bedingungen notwendig,
„den Zugang zur Sache von Vorentscheidungen freizuhalten
[und mittels eines] Pluralismus der Aspekte und der metho-
dischen Ansätze […] das Potential der Fragen auszuschöp-
fen“ (Blumenberg 2009, 73).
Die fünfzehn in diesem Buch versammelten Essays ent-
werfen einen solchen „Pluralismus der Aspekte“ digitaler
Kulturen. Die Autorinnen und Autoren stammen entspre-
chend aus Medien- und Kulturwissenschaft, Soziologie,
Organisations- und Managementforschung, Ethnologie,
Sozialpsychologie und Kulturgeschichte. Sie stehen somit
für einen kulturwissenschaftlichen „Pluralismus der me-
thodischen Ansätze“, der sich von Vorentscheidungen à la
Technikutopismus oder -skeptizismus fernhält, auch wenn
sich einzelne Beiträge vor Stellungnahmen nicht scheuen.
Die Liste der Begriffe und Ansätze ist keinesfalls umfassend
oder abschließend, kann und will es auch gar nicht sein. Al-
lerdings versucht sie, das „Potential der Fragen“ zumindest
zu demonstrieren, das die Transformation hin zu digitalen
Kulturen aufwirft.
Das Buch ist an die Form eines „Breviers“ angelehnt. Sei-
ne kurzen, pointierten Beiträge ermöglichen, so hoffen wir,
genauso zugängliche wie zur Spekulation anregende Blicke
auf die kulturellen Wandlungsprozesse, die sich auf unter-
schiedlichen gesellschaftlichen Ebenen durch und mit me-
dientechnologischer Digitalität abspielen. Als Ordnungs-
prinzip haben wir jedem Text ein Verb vorangestellt und die
Beiträge entlang dieser Verben alphabetisch sortiert – von
„bewegen“ bis „zerstören“. Zum einen soll dieses Vorgehen
die Offenheit, Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit der
Veränderungsprozesse nach der medientechnologischen
Revolution betonen. Zum anderen kann das – in digitalen
Kulturen vielleicht etwas voreilig als Auslaufmodell bezeich-
nete– Medium des Buches auf diese Weise einen Reflexions-
raum aufspannen, der relevante Zugänge gleichberechtigt
und nicht-hierarchisch nebeneinanderstellt. Mit welchem
Verb zu lesen begonnen wird, bleibt der Leserin und dem Le-
ser überlassen.
Abschließend gilt es zu danken. Das Buch ist im Kon-
text des an den europäischen Wirtschaftsuniversitäten von
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EINLEITUNG
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EINLEITUNG
St.Gallen und Kopenhagen angesiedelten European Haniel
Program entstanden. Das von der Duisburger Haniel Stif-
tung ermöglichte Programm erlaubt es, Themen wie „Digi-
tale Kulturen“ in der Lehre zu setzen, gemeinsam mit Studie-
renden zu bearbeiten und mit eingeladenen Forscherinnen
und Forschern zu diskutieren. Wir möchten daher dem
Team der Haniel Stiftung – ihrem Geschäftsführer Dr. Ru-
pert Antes sowie Anna-Lena Winkler, Cornelia Gietler und
Iris Schleyken– sehr herzlich für die Ermöglichung des Eu-
ropean Haniel Program und des vorliegenden Buches dan-
ken. Das Semesterprogramm zu „Digitale Kulturen“ wurde
in Zusammenarbeit mit dem Centre for Digital Cultures der
Leuphana Universität Lüneburg durchgeführt, wie man auch
der Liste der Autorinnen und Autoren entnehmen kann.
Gruß und Dankeschön gehen daher an die Lüneburger Kol-
leginnen und Kollegen für Input, Ko-Lehre und Mitarbeit am
Buch. Der Großteil der hier versammelten Texte wurde in
erster Fassung im gleichnamigen Workshop im April 2017 in
St.Gallen zur Diskussion gestellt. Wir bedanken uns bei den
Autorinnen und Autoren für die Debatten und Beiträge!
Und nicht zuletzt gilt unser Dank Sabrina Helmer (Univer-
sität St.Gallen) für die Organisation des Workshops und der
Seminare in St.Gallen, Nelly Y. Pinkrah (Leuphana Universi-
tät Lüneburg) für die organisatorische Unterstützung bei der
Entstehung dieses Buches, Sara Morais für die Übersetzun-
gen der englischsprachigen Texte von Paula Bialski, Merce-
des Bunz, Aleksandra Przegalinska, J. Jesse Ramírez und
Nishant Shah sowie Dr. Katrin Weiden für das Lektorat. Für
die sehr angenehme Zusammenarbeit danken wir auf Seiten
von Tempus Corporate (Zeit Verlag) Yvonne Baumgärtel und
Dr. Joachim Schüring.
LITERATUR
— Blumenberg, H. (2009). Geistesgeschichte der Technik. Frankfurt am
Main: Suhrkamp.
— Serres, M. (2013). Erfindet euch neu! – Eine Liebeserklärung an die ver-
netzte Generation. Berlin: Suhrkamp.
bewegen
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MANUELA BOJADŽIJEV
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DIGITALE MIGRATION
Digitalisierung wird mit vielen Forschungsfeldern in Zusam-
menhang gebracht, aber kaum mit Migration. Gehen wir da-
von aus, dass Digitalisierung alle Bereiche von Arbeit und Le-
ben betrifft, dann sicher auch, wie gegenwärtig und zukünftig
Bevölkerungen mobilisiert werden. Dieser Text prüft in drei
exemplarischen Annäherungen, wie sich Migration und das,
was wir darunter verstehen (werden), verändert.
Migration ist ein eher neues Wort. Ein- und Auswanderung
waren die lange gültigen Ausdrücke für Bevölkerungsbe-
wegungen. Kommen und Gehen beschrieb die dazugehö-
rige Mobilitätspraxis, die man sich als vorübergehend und
als Ausnahme zur Sesshaftigkeit vorstellte. Man verließ ein
Land und ging in ein anderes. Man hinterließ eine Kultur und
begründete eine neue – nicht selten eine nun als gemischt
gedachte. Man suchte Arbeit und fand eine andere. Migra-
tion sieht hingegen von der in eine Richtung verlaufenden
Vorstellung eines von Irgendwo nach Irgendwohin ab. Der
Begriff öffnet den Blick für die heute vervielfältigten For-
men menschlicher Mobilität: Episodisch für eine Firma im
Ausland arbeiten? Ein Jahr „Work & Travel“ nach dem Abi
Digitale Migration
MANUELA BOJADŽIJEV
und vor dem Studium? Einem Krieg entfliehen und in einem
Lager stranden? Trotz Harvard-Studium in Nairobi leben?
Transfer eines Kickers von einem Weltfußballclub in den
nächsten? Das Alter an der Ägäis oder der Algarve verbrin-
gen? Mal schnell zur Ausstellungseröffnung nach Venedig
reisen? Familie in Ibiza, Job in der City of London? Arbeit und
Leben sind heute von mobilen Praxen durchdrungen, die nah
und fern oder hier und dort neu zusammensetzen.
Nichts davon bestünde auch nur annähernd ohne die Di-
gitalisierung unseres Alltags. Digitalisierung bedingt, produ-
ziert und strukturiert die Weisen unserer Mobilität. Was uns
hält ebenso wie es uns forttreibt, ist digital vermittelt. Keine
Mittelmeerüberfahrt ohne die Bilder des anderen Lebens –
ob in der Form eines Luxusliners, eines Schlauchboots oder
als Transport von Waren, die auf Containerschiffen per GPS
die Häfen erreichen. Keine Wohnungs- oder Studiumssu-
che im Ausland ohne eine Vermittlungs-Plattform, die das
„Matching“ vornimmt. Keine Reise ohne E-Ticket. Keine
Partnersuche ohne Datingplattform. Keine Familie ohne täg-
lichen Kontakt über videotaugliche Endgeräte. Keine Geld-
transfers ohne sichere Verbindung. Keine Ausstellung von
Reisedokumenten und kein Grenzübertritt ohne digital ge-
stützte Sicherheitskontrollen und Datensysteme.
Der Zusammenhang von Digitalisierung und Migration
beziehungsweise Mobilitätspraktiken ist eminent. Wie aber
Migration heute mit Digitalisierung zusammenhängt, darü-
ber wissen wir noch zu wenig. Exemplarisch greife ich drei
Felder heraus, die zeigen, wie neue Forschungsperspektiven
auf diesen Komplex entwickelt werden: wie sich über digi-
tale Netzwerke unsere Vorstellung von Migration verändert;
wie es zukünftig um Mobilität bestellt sein wird, wenn diese
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MANUELA BOJADŽIJEV
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DIGITALE MIGRATION
zunehmend „virtuell“ verläuft; und wie die Veränderungen
durch digitale und digitalisierte Arbeit neue Szenarien von
Migration vorstellbar machen.
Wie wir uns Migration vorstellen
Es ist der 2. September 2015. In den digitalen Medien er-
scheint das Bild des dreijährigen Aylan Kurdi, der wie sein
Bruder, seine Mutter und weitere Passagiere desselben
Schlauchboots auf dem Weg übers Mittelmeer ertrunken ist.
Auf dem Bild sieht man den syrisch-kurdischen Jungen, am
Strand liegend, mit dem Gesicht nach unten. So aufgefunden,
wird er in der Nähe des Türkischen Badeortes Bodrum von
der Journalistin Nilüfer Demir fotografiert. Sie stellt das Bild
online. Die Verbreitung des Bildes ist beispiellos für die Ge-
schichte der Flucht. Wie reist das Bild von der Türkischen
Küste in weniger als 12 Stunden und über 30.000 Tweets auf
fast 20 Millionen Bildschirme? Was lehrt uns eine digitale
Analyse dieser Ereignisse?
Die online verfügbare Analyse „The Iconic Image on So-
cial Media“ hat sich des Ereignisses angenommen (vgl. Vis/
Goriunova 2015). Die multidimensionale digitale Analyse
der Tweets ergibt, dass die Ausbreitung des Bildes von der
Türkei in den frühen Morgenstunden des Tages über Spa-
nien und Griechenland in den Nahen Osten führt; das Foto
erreicht dann, gegen Mittag, einen Mitarbeiter von Human
Rights Watch in Genf. Von hier wird die Streuung global – es
geht nach Malaysia, Großbritannien, in die USA, nach Aus-
tralien und Indien. Worauf ab dem frühen Nachmittag nicht
mehr nur einzelne Journalisten, sondern Medien die Verbrei-
tung übernehmen – das Bild erhält nun Interpretationen, die
Ethik seiner Verbreitung wird debattiert, Migrationspolitik
diskutiert.
Die Analyse zeigt überdies einen Wandel des Diskurses.
Während bis zur Bekanntmachung des Bildes die Begrif-
fe „migrants“ und „refugees“ in Twitter-Nachrichten in der
Häufigkeit gleichaufliegen, wird nun vermehrt „refugees“
getweetet. Mit einem relevanten Bedeutungswechsel: Ein
Migrant ist jemand, der die Wahl hat und vermeintlich „frei-
willig“ reist. Dagegen ist ein Geflüchteter gezwungen, ein
Land zu verlassen, um zu überleben. Die globale Skalierung
der bildbasierten Verbreitung und ihre Geschwindigkeit de-
monstriert dabei, welch mächtiger Katalysator Twitter ist.
Zudem zeigt die Überprüfung der Google-Suchdaten das
Suchvolumen in den Tagen ab der Verbreitung des Bildes. So
befand sich Deutschland nach 24 Stunden nach Österreich
und Schweden auf Platz 3. Die Suchdatenanalyse kann die
Fragen, die zum Fall Aylan Kurdi an verschiedenen Orten der
Welt zu dem Ereignis gestellt werden, in einen Rang einrei-
hen. Suchbegriffe können dabei variiert und die globale, regi-
onale, nationale und sogar die städtische Ebene vergleichbar
machen. Wir erfahren, dass in Afghanistan, dem Iran und
in Syrien die Anfragen zur Migration nach Deutschland am
höchsten sind. In Deutschland wiederum wollte man wissen,
wie den Geflüchteten geholfen werden kann und worin der
Unterschied zwischen Flüchtenden und Migranten besteht.
Die Unterstützung von Geflüchteten wurde zum weltweit am
meisten gesuchten Thema. Auch der Tweet #refugeeswel-
come geht parallel zu #Aylan Kurdi viral.
Sein Bild bringt der verzweifelten Zwangslage der
Flüchtenden eine bis dato unvergleichbare Sichtbarkeit.
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MANUELA BOJADŽIJEV
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DIGITALE MIGRATION
Eine Welle der globalen Sympathie, aber auch sehr starke
persönliche Reaktionen mobilisieren die Zivilgesellschaft
dazu, Unterstützungsnetzwerke zu organisieren, Lobbyar-
beit zu betreiben, und zwingen an vielen Orten und vor allem
in Europa Regierungen zu Antworten.
Nur wenige Bilder, die die Misere der Flucht darstellen, ha-
ben diese Wirkung. Man könnte sogar sagen, dass dieses Bild
die Kapazität hat, „gesehen zu werden“ – auch von denen, die
sich vormals nicht für die Fragen von Flucht und Migration
interessiert haben. Es macht uns auf diese Weise aufmerk-
sam gegenüber den Formen der Sichtbarkeit, und wie durch
ein Bild die Entpersonalisierung der bildlichen Repräsen-
tation von Migration über Zahlen, Grafiken und Pfeile tem-
porär beendet werden kann. Menschen beginnen sich für
die Umstände zu interessieren, unter denen andere mobil
werden (müssen). Es konfrontiert uns damit, dass das Teilen
solcher Bilder ein menschlicher Aspekt sozialer Netzwerke
bleibt, weil kein Algorithmus allein das Bild in den Umlauf
gebracht hätte.
Die Analyse solcher Bilder und ihrer Verbreitung beruht
damit auf neuen Bedingungen, visuellen, technischen, ge-
sellschaftlichen wie auch politischen, in denen Migration
sich manifestiert und dargestellt wird. Die Analyse dieser
Bedingungen, die durch die digitalen Infrastrukturen der so-
zialen Medien informiert und geformt werden – ihre Funk-
tionalität, die damit verbundenen Praktiken und Dynami-
ken–, kann durchaus beeinflussen, wie wir zukünftig mit
den visuell-politischen und gesellschaftlich-affektiven Re-
gimen umgehen, in denen Migration heute leider nur selten
sachlich verhandelt wird. Eine Ikonographie der Migration
kommt heute nicht ohne ein Verständnis ihrer Digitalisie-
rung und ihrer digitalen Verbreitung aus. Sie trägt dazu bei,
welche Haltung wir einer Bewegung gegenüber einnehmen,
die inzwischen 65 Millionen Menschen weltweit – und das al-
lein auf der Flucht – erfasst hat.
Wie wir „virtuell“ migrieren
Nicht nur die Repräsentation von Bevölkerungsbewegun-
gen in Bild und Text erfordert unter digitalen Bedingungen
neue Analysen. Die Untersuchungen des Zusammenhangs
von Migration und Digitalisierung machen zudem deutlich,
dass nicht nur jene, die wir als Migrantinnen und Migranten
bezeichnen, sondern dass wir alle inzwischen „unterwegs“
sind– wenn auch nur im Internet und vom eigenen Bild-
schirm aus. Sie zeigen auch, dass wir neue Formen der digita-
len Kooperation leben und welche Auswirkungen das auf un-
sere Bürgerrechte hat. Bürgerrechte regeln die politischen,
sozialen und zivilen Rechte und Pflichten und machen aus
uns Rechtspersonen eines bestimmten, souveränen Staates.
Sie beinhalten viele Ausnahmen, die unseren Status selbst in
einem Land durchaus heterogen verteilen. Wir wissen zum
Beispiel, dass Ausländer zu sein sehr viele rechtliche Bedin-
gungen bedeuten kann („befristet“ und „unbefristet“ ist dabei
nur die einfachste Unterscheidung). Aber was passiert, wenn
sich „Inländer“ im Internet bewegen? Welche Rechtsansprü-
che haben wir dann? Ändern diese sich, wenn wir uns selbst
nicht bewegen? Wer garantiert sie? Werden wir im Internet
alle Migranten oder Teil einer grenzenlosen Sphäre?
Im Gegensatz zu Bürgerrechten auf der Grundlage der
gebräuchlichen Unterscheidung von ius sanguinis und ius
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MANUELA BOJADŽIJEV
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DIGITALE MIGRATION
soli hat der Kultur- und Medienwissenschaftler John Che-
ney-Lippold den Begriff des ius algoritmi geprägt (vgl. Che-
ney-Lippold 2016). Etwas düster in der Ausführung, geht es
ihm darum, neue Formen von Bürgerrechten zu bezeichnen,
deren Operationsmodus auf Identifikation, Kategorisierung
und Kontrolle beruht. Darin unterscheiden sie sich zunächst
nicht von den staatsbasierten Rechtsformen. Das „algorith-
mische Recht“ verweist aber auf die zunehmende Verwen-
dung von Software, die darüber entscheidet, welche Rechte
jemandem gewährt werden oder nicht – und wie über diese
Person verfügt oder nicht verfügt werden kann.
Das Besondere an diesen algorithmischen Bürgerrech-
ten ist gar nicht, dass sie für uns weitgehend opak bleiben.
Selbst wenn wir besser in der Lage wären, über die physische
Infrastruktur des Internets Bescheid zu wissen, blieben die
Rechte in Bewegung. Wir sind das Objekt unterschiedlicher
Rechte in unterschiedlichen Momenten unserer Bewegung
im Netz.
Aber nicht nur die düstere Seite macht die Veränderun-
gen deutlich. Utopisches tritt heraus. Zugehörigkeit verbin-
det sich auf neue Weise mit Zuordnung. Die Bewegungen
im Internet demonstrieren unsere gesellschaftlichen und
politischen Bezüge durch die Verteilung des alltäglichen
Onlineverhaltens. Neue Cloudsoftware kommt ins Angebot,
die Nutzer beschützen soll, ob gegen Spionage oder Über-
wachung. Allerdings macht die Frage der Bürgerrechte uns
deutlich, welche enormen Verschiebungen auf uns zukom-
men: Die Sammlung, Aufbewahrung und Verwendung perso-
nenbezogener Daten lag lange Zeit in den Händen souverä-
ner Staaten. Das konstante Manöver zwischen virtueller und
physischer Bewegung verändert dies und stellt damit die
Frage nach unseren eigenen Souveränitätsrechten neu. Und
damit, unter welchen Bedingungen wir alle uns bewegen.
Wie wir Migration durch digitale Arbeit produzieren
Digitale Arbeit und Industrie 4.0 zeigen schon lange, wie wir
auf neue Weise zusammenarbeiten. Die gemeinsame Arbeit
kann im selben Gebäude stattfinden oder auf anderen Seiten
der Welt. Da Arbeit historisch stets ein Movens für Bevölke-
rungsbewegungen darstellte, werden wir uns fragen müssen,
wie die durch Digitalisierung veränderte Arbeit unsere Mo-
bilitätspraktiken verändern wird (vgl. Altenried/Bojadžijev
2017). Wird es nicht mehr darauf ankommen, in einem be-
stimmten Land zu leben, um leichter Arbeit zu finden? Wird
es darauf ankommen, an einem Ort zu sein, der eine sichere
Verbindung zum Internet gewährleistet? Wie steht es dann
mit den Arbeitsrechten? Und wie verbinden diese sich mit
Mobilitätsrechten? Und wenn vieles automatisiert wird, kön-
nen wir dann weniger arbeiten und anders unterwegs sein?
Der Anthropologe Aneesh Aneesh spricht im Zusammen-
hang von Crowdwork, das heißt der Auslagerung traditionell
geschäftsinterner Teilaufgaben an eine Gruppe einzelner
Dritter über das Internet, von „virtueller Migration“ (vgl.
Aneesh 2006) – gerade weil man über das Internet vernetzt
einen Job in Deutschland übernehmen kann, aber zum Bei-
spiel in Venezuela lebt. Dabei verbindet sich unternehmer-
seitig mit Crowdwork die Aussicht, die Geschwindigkeit,
Qualität, Flexibilität, Skalierbarkeit und Vielfalt der Arbeit
bei verringerten Kosten zu erhöhen. Projekte, die Kenntnisse
aus verschiedenen Disziplinen erfordern, die in verschiede-
23
MANUELA BOJADŽIJEV
22
DIGITALE MIGRATION
nen Unternehmen angesiedelt oder freiberuflich ausgeführt
werden, lassen sich ebenso zusammenstellen, wie „micro-
tasks“, also kleinteilige, redundante und ohne große Anler-
nung auszuführende Arbeiten, die man in einem Teil der
Erde ausführen lässt, wo Arbeitskraft billig ist. Aber nicht
nur dort. Auch Menschen, die aufgrund von Pflegetätigkei-
ten, Kinderbetreuung oder etwa als Studierende flexible
Zeitaufteilungen haben, werden hier tätig. Digitale Arbeit
findet neue Orte und schafft neue Verbindungen. Auch wie
unsere privaten Haushalte sich über Räume hinweg organi-
sieren, weil einer hier und die andere dort arbeitet, entzieht
sich fast gänzlich erstrittenen, konventionellen und ritua-
lisierten Formen. Es verändert sich also nicht nur, wie wir
zusammenarbeiten, sondern auch wie wir zusammenleben.
Damit gehen Herausforderungen an die Organisation von
Arbeit und Leben einher: wie wir uns über Räume und Gren-
zen hinweg für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen und
uns gegen unterschiedliche Bezahlung trotz gleicher Arbeit,
aber an verschiedenen Orten, richten. Vor allem scheint es,
dass diese Rechte nicht mehr nur territorial vergeben wer-
den können, wenn Arbeit sich nicht mehr nur an einem klar
definierten Ort befindet, sondern sich bewegt und zwischen
Orten stattfindet. Werden wir so alle Arbeitsmigranten?
Die Zukun von Migration
Der hier zitierte Begriff der „virtuellen Migration“ mag zu-
nächst befremdlich klingen, weil damit Menschen gemeint
sind, die für eine andere Firma woanders arbeiten, ohne
selbst zu migrieren. Er fordert unser Verständnis von Migra-
tion heraus. Nun hat Migration als eine grenzüberschreiten-
de Praxis immer schon nationale Rahmungen staatlicher
Souveränität verunsichert, genauso wie disziplinäre For-
schung, die sich auf diese Rahmung einlässt und sie repro-
duziert. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass die
Figur der Migranten zwar hilft, Migration aus der Perspekti-
ve nationaler Staaten zu verstehen, und hier vor allem jener,
die Migranten aufnehmen. Doch wie die drei Annäherungen
an das Verhältnis von Digitalisierung und Migration gezeigt
haben, können wir für die Zukunft der Migration davon aus-
gehen, dass viele neue Figuren auftreten.
LITERATUR
— Altenried, M. & Bojadžijev, M. (2017): Virtual Migration, Racism and
the Multiplication of Labour. spheres. Journal for Digital Cultures, Nr. 4.
Verfügbar unter http://spheres-journal.org/
— Aneesh, A. (2006). Virtual Migration: The Programming of Globalization.
Durham, NC: Duke University Press.
— Cheney-Lippold, J. (2016): Jus Algoritmi: How the National Securitiy
Agency Remade Citizenship. International Journal of Communication, Vol.
10, 1721–1742.
— Vis, F. & Goriunova, O. (2015). The Iconic Image on Social Media: A Rapid
Research Response to the Death of Aylan Kurdi. Verfügbar unter https://
research.gold.ac.uk/14624/1/KURDI%20REPORT.pdf [25.7.2017].
darstellen
27
JÖRG METELMANN
26
SELFIES
Selfies sind ein prominentes Symbol der digitalen Revo-
lution– sie haben im Verbund mit den Social Media die Art,
mit sich selbst medial umzugehen, grundlegend verändert.
Der Beitrag skizziert einige wichtige Zugänge zum Selfie und
deutet die „Selbstchen“ abschließend als Vorboten einer neu-
en Subjektivität, die ich alter-rithmisch nenne: Bestimmt von
Algorithmen und quantifizierten anderen wird Selbstsein als
inhaltlich leere Beziehungsform konfiguriert.
Venedig, Santa Lucia, Endstation. Ist man durch die Bahn-
hofshalle gelaufen und auf den Vorplatz getreten, öffnet sich
eine Welt: der Kanal, die Vaporetti, die Gondeln, Kirchen und
Palazzi. So viel Einzigartigkeit, so viel Kultur, so viele Ge-
schichten. Will man eintauchen in die Gassen auf dem Weg
zu den großen Sehenswürdigkeiten, geht es links, dann wie-
der rechts über die Ponte degli Scalzi, vorbei an Burger King
in die Calle Lunga, dann wieder links auf dem Trampelpfad
Richtung Rialto-Brücke. Und spätestens hier, an der Ponte
de la Bergama, stockt es, denn es ist Selfie-Zeit. Ein Lächeln
für die Welt in meinen Händen, im Hintergrund erstmals das
‚richtige‘ Venedig-Flair mit dem kleinen Kanal (in Venedig
JÖRG METELMANN
Selfies
„rio“ genannt), der schmalen Brücke, dem engen Laufweg
am Fondamenta del Rio Marin. Alle posieren, meist allein
oder als „Ussie“ mit mehreren, zeigen neben dem Smiley ihre
Muskeln, Dekolletés, Hunde, mal mit Sonnenbrille, mal ohne,
mal mit einem Arm aufgenommen oder mit dem Selfie-Stick,
den man eben noch auf der Ponte degli Scalzi gekauft hat.
Bild gemacht, okay – what’s next?
Es ist nicht allzu ketzerisch zu behaupten, dass man den
Großteil der zu Stoßzeiten täglich 150.000 Touristen, die sich
durch die Lagunenstadt schieben, an dieser Stelle bereits
wieder zu Bahn, Parkhaus oder Kreuzschiff zurückschicken
könnte – das Venedig-Selfie ist geteilt, das Selbstchen war da,
ergo sum, doch die großartige Welt ist verschwunden, Bild
gewordene Kulisse, austauschbar. Rialto, San Marco, großer
Kanal – egal. Nicht umsonst konnte die holländische Kunst-
studentin Zilla van den Born mit ihrem „Fakebooking“, bei
dem sie mit in der eigenen Wohnung nachgestellten Urlaubs-
selfies aus Laos, Kambodscha und Thailand über Wochen ihr
nächstes Umfeld täuschte, so viel Erfolg haben.
Pathologischer Narzissmus?
Solche eher kulturkritischen Eindrücke, wie auch ich sie bei
einem längeren Aufenthalt in Venedig hatte, gehören seit
Anbeginn – also seit Einführung des iPhone vor gut zehn
Jahren – zentral zum Selfie-Diskurs. Für viele ist die dauern-
de Ego-Knipserei der perfekte Ausdruck einer narzisstisch
nicht nur geprägten, sondern deformierten Gesellschaft:
Schau! Mich! An! Ich bin hier, ich bin da, ich bin, weil ich
im Bilde bin. Daher hat man eben keine Zeit mehr, mal ohne
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JÖRG METELMANN
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SELFIES
Location-Scout-Blick um sich zu schauen, zum Beispiel auch
auf die Menschen um einen herum. Klingt bekannt.
Mit etwas diagnostischerem Blick kann man sich aber
zunächst die naheliegende Frage stellen, wie sich das Han-
dy-Selbstporträt einerseits zur langen Tradition des künstle-
rischen Selbstbildnisses verhält, das für die westliche Kultur
des Individualismus spätestens seit der Renaissance ent-
scheidend ist.
Andererseits muss man unbedingt sehen, dass das Bild
nicht oder zumindest meistens nicht für den Eigenbedarf
konserviert, sondern mit anderen über die einschlägigen
Plattformen der Social Media geteilt wird, oft unmittelbar
nach dem Schießen des Fotos. Wie verändert diese beson-
dere digitale Praxis den Status der Bilder? Und mit wessen
Blick sind sie gemacht?
Tradition des Selbstporträts
Die Welt verschwindet, das Selbstchen kommt – aber was
genau kommt dabei zum Ausdruck? Blickt man zur Beant-
wortung in die Kunstgeschichte, so lassen sich (mindestens)
zwei Positionen ausmachen. Eine eher affirmative Lesart wie
die des Kunstkritikers Jerry Saltz markiert angesichts von
Parmigianinos „Selbstbildnis im Konvexspiegel“ (1523/24)
einige Traditionslinien: „das aus einem bizarren Winkel auf-
genommene Gesicht, der verlängerte Arm, die perspektivi-
sche Verkürzung, die Unordnung der Komposition, die große
Nähe zum Gegenstand“ (vgl. Saltz 2014). Weniger Augen-
merk schenkt er dabei dem Spiegel, der aber gerade in der
Vorstellung der frühen Neuzeit Wahrheit und Lüge in einem
verband. Jean-Luc Nancy hat dazu am Beispiel von Johannes
Gumpps berühmtem „Selbstporträt“ (1646) den Unterschied
zwischen zwei Arten von Ähnlichkeit dargelegt: Man sehe
einerseits die mechanisch-optische des Spiegelbildes und
andererseits die imaginär-reflexive des Porträts (vgl. Nancy
2015). Auf der linken Bildhälfte tauscht Gumpp seinen für
uns unsichtbaren Blick mit dem für uns sichtbaren Spiegel-
bild, auf der rechten Bildhälfte lässt er das Gesicht im Port-
rät als gemalte Maske aus dem Bild heraus auf uns blicken.
Dabei gibt er auch eine allegorische Wertung ab, denn links
positioniert er die Katze als Bild für die listige Täuschung,
rechts den Hund als Symbol für die Treue.
Dieser Wertung folgt auch Nancy, denn für ihn ist die-
ses Spiegelbild – le reflet – vom Narzissmus imprägniert.
Das Porträt hingegen eröffne in der Abwesenheit des Spie-
gel-Gesichts die Möglichkeit, sich selbst als einem anderen
im Formungsakt ähnlich zu werden. Die Produktion von
Nicht-Spiegel-Ähnlichkeit ist für Nancy die conditio sine qua
non, jenseits der bloßen Abbildung, der Täuschung und des
Narzissmus ein Selbst zu formen, das auf anderes als das
schon Sichtbare zielt und mehr als das Bekannte offenbart.
Wenn man mit Nancy denkt, dann können Selfies nur die
täuschende Ich-Maske zeigen, denn die Person ist ja – dank
nach vorne wie nach hinten aufnehmender Doppelkamera
seit dem iPhone 4 – immer im narzisstischen Spiegel prä-
sent. Obwohl die Person uns anblickt beziehungsweise sich
uns mit ihrem Gesicht zeigt, bleiben wir immer in der Ähn-
lichkeit der Spiegelung, in der Präsenz des Gesichts als Mo-
ment-Maske hängen und können im Bild kein anderes, ‚wah-
reres‘ Ich erblicken. Dem stimmt auch Jerry Saltz zu, der bei
aller Parallelität im Selfie keinen Ewigkeitsanspruch wie im
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JÖRG METELMANN
30
SELFIES
klassischen Künstlerselbstbildnis erkennen kann. Lebt Letz-
teres „aus der Spannung von fremdem Interesse an einer
außergewöhnlichen oder als außergewöhnlich vorgestellten
Person und deren programmatischen Selbstinszenierung“
(Pfisterer/von Rosen 2005, 23), wie die Kunsthistoriker Ul-
rich Pfisterer und Valeska von Rosen festhalten, so könnte
man allenfalls Promi-Selfies (wie das von Saltz interpre-
tierte Kim-Kardashian-Selbstbild mit Hintern und Brust)
vielleicht in diesen Traditionsrahmen stellen. Für den Nor-
malo-Smartphone-Selfie-Knipser gilt wohl hingegen: Ich bin
nicht besonders, daher muss ich programmatisch eine au-
ßergewöhnliche Selbstinszenierung verfolgen, aus Gründen
der Aufmerksamkeitsökonomie.
Das „erschöpe Selbst“ vergessen?
Selfies als Massenphänomen zeigen also kein Selbst im Sin-
ne einer „außergewöhnlichen Person“. Was aber zeigt sich
dann?
Kurz nach dem lange erwarteten Ruhm mit dem Ede-
ka-Clip „Supergeil“ hat der Berliner Künstler Friedrich Liech-
tenstein 2014 das Büchlein Selfie Man veröffentlicht, das er
mit einer bemerkenswerten Einschätzung beginnt: „Selfies
sind Eskapismus als Antwort auf das Sichvergessen.“ Liech-
tenstein ruft den Zusammenhang von Authentizität und
Wahrheit auf, negiert dann jedoch deren Relevanz für die
Selfie-Kultur. Das Selfie ist für Liechtenstein keine Bearbei-
tung des Selbst, keine Identitätspolitik, sondern gerade eine
Technik, sich nicht mehr mit dem Selbst als bestimmte Enti-
tät, als Essenz, auseinandersetzen zu müssen – wobei in der
zitierten Formulierung (wohl bewusst) offengelassen wird,
wie individuell oder kollektiv das Sichvergessen ist.
Das Selbstchen als affirmative Unterwanderung des als
Druck empfundenen Anspruchs, man selbst, ein Selbst sein
zu müssen? Das passt ‚ins Bild‘ der westlichen Kulturen als
Ansammlung von „erschöpften Selbsten“ (vgl. Ehrenberg
2004), die allesamt keine Lust und keine Kraft mehr haben,
sich dem hoch normierten, kontroversen Drill der unabläs-
sigen Selbst-Modellierung auszusetzen. Stattdessen lieber
Bildchen produzieren, Selbstchen machen, eben entspanntes
Selbst-Management – das aber gleichwohl eben immer noch
publiziert werden will, sogar als Buch. Wie immer eskapis-
tisch, auch Liechtenstein bestätigt die Anforderung, noch die
eigene Post-Identität performativ managen zu müssen.
Zwischenfazit: Die Welt ist verschwunden, das Selbstchen
ist da, es zeigt als Spiegelbild aber weder ein Selbst noch kann
es dies zeigen, weil das positionierbare „Self“ vom „Selfing“ als
Prozess und medialem Spektakel abgelöst wurde. Für wen?
Das Begehren der Bilder
Der britische Kunsthistoriker Daniel Rubinstein betont wie
viele Interpreten, dass das Selfie vor allem zum Teilen und
nicht für die Analyse gemacht sei, weshalb man auf das Selfie
auch nicht die übliche semiotische Toolbox anwenden kön-
ne. Es gehe überhaupt nicht um den Inhalt, etwa um das Six-
Pack oder den Busen eines Stars wie Kardashian. Das, was
im Selfie geteilt werde, sei die Differenz selbst, die im riesi-
gen Archiv von sich selbst ähnlichen Selfies sichtbar werde.
Die richtige Frage zu seinem Verständnis sei daher nicht
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JÖRG METELMANN
32
SELFIES
„Was stellt das Selfie dar?“, sondern „Wo ist es?“ (Rubinstein
2015, 176). Denn nur diese zweite Frage öffne den Horizont
für die Selfie-Kultur als virtuelles Feld von Selbst-Ähnlich-
keiten, die zugleich ständig mutieren und sich doch dauernd
replizieren.
Ich glaube nicht, dass man das Selfie nicht semiotisch
analysieren kann, ich denke aber wie Rubinstein, dass man
es jenseits klarer Subjekt-Objekt-Kategorien produktiver
denn als Untergang des Abendlandes betrachten kann. Sel-
fies scheinen mir in diesem Sinne ein gutes Beispiel für die
Theorie von W. J. T. Mitchell zu sein, der in seinem Buch Das
Leben der Bilder dafür plädiert hat, die Bilder nicht mehr
interpretieren zu wollen. Es gehe nicht darum, in den Bil-
dern den eigenen Wunsch, den Gehalt oder die Mitteilung
verstehen zu wollen, zu personifizieren. Vielmehr sei die
Untersuchung der Relation zum Bild jenseits klar verteilter
Subjekt-Objekt-Rollen vorzunehmen. Der eingängige Slogan
dafür ist, „Bilder weniger begreiflich, weniger transparent zu
machen“ (Mitchell 2008, 69). Was aber heißt das? Sie weniger
als durchsichtiges Medium zu verstehen, durch das etwas
sichtbar wird. Eine solche Methode folgt laut Mitchell zwei
grundlegenden Operationen. Erstens bedürfe es der Zustim-
mung zur „konstitutiven Fiktion von Bildern als ‚belebte‘
Wesen, Quasi-Akteuren und Pseudo-Personen“, statt sie als
Gegenstände zu sehen; zweitens gehe es um die Auslegung
von Bildern als „Subalterne, deren Körper mit dem Stigma
der Differenz gekennzeichnet sind und die im sozialen Feld
menschlicher Visualität sowohl als ‚Vermittler‘ als auch als
Sündenbock dienen“ (Mitchell 2008, 66).
Betrachtet man die Selfie-Bilder so, in einer, mit Mitchell
gesprochen, „nicht-transparenten Lesart“, jenseits der Suche
nach einem fixen Selbst, dann verweisen die Bilder aufein-
ander als subaltern in Differenz zu diesem fixen Selbst. Das
ist auch die Aussage des „Selfie Man“ Liechtenstein, der vom
negativ konnotierten Eskapismus als Konsequenz aus dem
Wunsch spricht, sich nicht mit sich selbst als Identität zu
befassen, sondern sich aus dem Gefühl der Selbstsorge her-
aus völlig subjektiv der Welt im Selfie zu überlassen und auf
diese Weise auch ein wenig Stabilität zu finden. So wie Mil-
liarden andere Menschen auch, die genau darin gleich und
wiederum different sind.
Ich ist die anderen
Es sind die anderen Nutzer der Social Media, nicht meine
Freunde im alten Wortsinne (Kumpel aus der Straße, dem
Viertel, der Schule et cetera), die meine Selfies ansehen und
mein Bildverhalten steuern: Es sei die Auswirkung des Glo-
balismus auf die Kultur, dass nicht mehr der Mitmensch,
sondern die Mitwelt Aufmerksamkeit erzwinge, schreibt
Nadja Geer (vgl. Geer 2016, 133). Hier trifft Responsibilisie-
rung (die eigene Verantwortung für das persönliche Auftre-
ten) auf Maschine, genauer: vernetzte Maschinen. Daraus
resultieren visuelle Codes, die zwar einen emanzipativen
Do-it-yourself-Ausgangspunkt haben, aber über die grundle-
gende Konnektivität des Internets immer auch „in digitalen
Medienkulturen verortet werden und innerhalb der Ökono-
mien der digitalen Vernetzung vermittels der Clicks, Likes,
Tags und Comments mit den Kulturtechniken des Benen-
nens, Sammelns, Auswertens und Zählens verknüpft sind“
(Reichert 2015, 89). Diese Einbettung in Foren schafft eine
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JÖRG METELMANN
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SELFIES
Form von Transparenz, die normierend wirkt: Die beliebtes-
ten Selfies – oft die der Prominenten, der „Außergewöhnli-
chen“ – werden als Vorbilder genommen und produzieren so
Anpassungsleistungen bei den Normalo-Usern, die sich auf
dieses Bild hin projizieren wollen. Der soziale Konformitäts-
druck, früher ein lokales Phänomen mit Rückzugsräumen,
ist ubiquitär geworden.
Alter-rithmische Subjektivität
Das Ich überlässt sich der Welt und dem Urteil der anderen.
Was erfährt man dann eigentlich über einen Menschen, wenn
man seine vielen Selfies betrachtet, die aus verschiedensten
Versatzstücken und narrativen Mustern bestehen? Das Sel-
fie-Selbst könnte alles – oder eben nichts sein. Diese Leere
des Selbst, im Verbund mit der Leere der Welt, dem seriell-
selbstähnlichen Lächeln für den Blick und das Wohlgefal-
len der numerisch anderen, die einander durch Algorithmen
zugeordnet sind: Das wäre, so mein begrifflicher Vorschlag,
in Abwandlung von „algorithmisch“ als alter-rithmische
Subjektivität zu fassen (von lat. „alter“: andere/r). Bestimmt
von Algorithmen (Sharing-Plattformen) und quantifizierten
anderen (Likes et cetera) wird Selbstsein als inhaltlich leere
Beziehungsform konfiguriert.
So verstanden deutet das Selfie weniger in die Vergangen-
heit als vielmehr in die Zukunft, in der Subjekt-Sein vor allem
heißen könnte, als Relation nicht nur durch Medien als sol-
che bestimmt zu werden, sondern durch die quantifizierten
(im Gegensatz zu intersubjektiv-präsenten) anderen. Beide
Aspekte sind an sich nicht neu: Wir wissen um das medien-
technische Apriori von jedem Selbstsein seit den Arbeiten
von Friedrich Kittler und leben von Geburt an mit dem An-
passungsdruck sozialer Umwelten (Familie, Freunde, Cli-
quen, Kollegen et cetera.). Neu ist die technische Verbindung
dieser beiden Wirkkräfte über die Plattformen der Social Me-
dia, die so den „Rückkanal“ (vgl. FAZ 2015) erobern, mittels
dessen das Ich als Big-Data-Effekt und „Massenoriginal“ (vgl.
Metelmann 2016) erscheint.
LITERATUR
— Ehrenberg, A. (2004). Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in
der Gegenwart. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
— Geer, N. (2016): Selfing versus Posing. POP. Kultur und Kritik, Heft 8,
124–134.
— Frankfurter Allgemeine Zeitung (2.7.2015): Jaron Lanier im Gespräch:
War um w ol lt i hr u ns ere n Qu at sc h? Verfügbar unter http://www.faz.net/
aktuell/feuilleton/debatten/die-digital-debatte/internet-vordenker-ja-
ron-lanier-im-gespraech-13679623-p4.html [28.6.2017].
— Liechtenstein, F. (2014). SELFIE MAN. #DerTagIstDein-Freund. Mün-
chen: Blumenbar.
— Metelmann, J. (2016): Pop und die Ökonomie des Massenoriginals. Zur
symbolischen Form der Globalisierung. POP. Kultur und Kritik, Heft 8,
135–149.
— Mitchell, W. J. T. (2008): Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen
Kultur. München: Beck.
— Nancy, J.-L. (2015). Das andere Porträt. Zürich: diaphanes.
— Pfisterer, U. & von Rosen, V. (2005). Vorwort: Der Künstler als Kunst-
werk. In Dies. (Hrsg.), Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom
Mittelalter bis zur Gegenwart (S. 11–23). Stuttgart: Reclam.
— Reichert, R. (2015): Selfie Culture. Kollektives Bildhandeln 2.0. POP.
Kultur und Kritik, Heft 7, 86–96.
— Rubinstein, D. (2015): The Gift of the Selfie. In A. Bieber (Hrsg.), Ego Up-
date – Zukunft der digitalen Identität (S. 162–176). Düsseldorf: Walther
König.
— Saltz, J. (2014). Art at Arm’s Length: A History of the Selfie. Verfügbar
unter http://www.vulture.com/2014/01/history-of-the-selfie.html
[12.06.2017].
disziplinieren
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ANDREAS BERNARD
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PROFIL
Auffällig viele Verfahren der Selbstdarstellung und Selbster-
kenntnis in der digitalen Kultur – die ,Profile‘ der Sozialen
Medien, die Ortungsfunktionen auf dem Smartphone, die Kör-
pervermessungen der ,Quantified Self‘-Bewegung – gehen auf
Methoden zurück, die in der Kriminologie, Psychologie oder
Psychiatrie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erdacht wor-
den sind. Der Text versucht diese irritierende Genealogie am
Beispiel des ‚Profil‘-Formats nachzuzeichnen.
Wer noch vor einem Vierteljahrhundert die Schule oder die
Universität besucht hat, wird sich erinnern, wie begrenzt
damals die Optionen gewesen sind, die eigene Person, die
eigenen Vorlieben und Überzeugungen öffentlich darzustel-
len – ein Sticker auf dem Revers der Jacke, ein paar Zeilen
unter dem Foto in der Abiturzeitung, eine kostspielige, nur
einen Tag lang erhältliche Bekanntschaftsannonce in der
Tageszeitung. Dieser minimale Radius an Publizität für alle,
die nicht über den konstanten Zugang zu den Massenmedien
verfügten, war noch Anfang der 1990er-Jahre unveränderli-
che Wirklichkeit – und doch wirkt diese Zeit heute wie eine
weit entfernte, fremd gewordene Epoche.
ANDREAS BERNARD
Profil
In Windeseile hat sich eine flächendeckende digitale Kultur
herausgebildet, deren Repräsentationsweisen von Subjekti-
vität eine auffällige wissensgeschichtliche Gemeinsamkeit
teilen: Denn die Verfahren heutiger Selbstdarstellung und
Selbsterkenntnis – die ,Profile‘ der Sozialen Medien, die viel-
fältig genutzten Ortungsfunktionen auf dem Smartphone
oder die Körpervermessungen der ,Quantified Self‘-Bewe-
gung – gehen allesamt auf Methoden zurück, die in der Kri-
minologie, Psychologie oder Psychiatrie seit dem Ende des
19. Jahrhunderts erdacht worden sind. Techniken der Daten-
erfassung, die lange Zeit für polizeiliche oder wissenschaft-
liche Autoritäten reserviert waren, um den Zugriff auf einen
auffälligen Personenkreis zu sichern, betreffen heute jeden
Nutzer eines Smartphones oder Sozialen Netzwerks.
Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Kate-
gorie des ,Profils‘. Für den Austausch innerhalb der Sozialen
Netzwerke spielt dieses Element bekanntlich die zentrale
Rolle. Das Profil der Mitglieder von LinkedIn, Instagram oder
Facebook – der Ort, an dem sie ihre S elbstb eschre ibung verfas-
sen, an dem persönliche Daten, Texte, Fotos und Videos ver-
sammelt sind – ist der Knotenpunkt der Interaktion. Bereits die
frühesten Forschungen über Soziale Medien, wie etwa die ein-
flussreichen Aufsätze von Danah Boyd ab dem Jahr 2002, ha-
ben das ,Profil‘ deshalb in den Mittelpunkt der Analyse gestellt.
Den Autoren eines Profils,die gleichzeitig dessen Gegenstand
sind, wird dabei ein hohes Maß an Souveränität zugesprochen.
Boyd bezeichnet die Praxis dieser Selbstgestaltung in ihren
Aufsätzen häufig als „Identitätsperformance“, und sie betont,
dass diese schöpferische, produktive Bewegung „das Profil von
einer statischen Repräsentation des Selbst in ein kommunika-
tives Instrument verwandelt hat“ (Boyd/Donath 2004, 72).
41
ANDREAS BERNARD
40
PROFIL
Und doch darf man bei all dem nicht vergessen: Bis vor 20
oder 25 Jahren waren nur Serienmörder oder Wahnsinnige
Gegenstand eines ,Profils‘. Diese Wissensform, dieses Raster
der Menschenbeschreibung hat im letzten Vierteljahrhun-
dert eine ebenso rasante wie tief greifende Umwandlung
erlebt. In seiner Bedeutung als „kurze, anschauliche Biogra-
phie, die die wichtigsten Charaktermerkmale eines Subjekts
umreißt“, wie es das Webster’s Dictionary von der 1968er-Auf-
lage an definiert, hat die Bezeichnung eine verhältnismäßig
junge Geschichte (deutschsprachige Enzyklopädien nehmen
diese Definition noch später auf). Das Wort ,Profil‘ wird ab
der Frühen Neuzeit zunächst im architektonischen und geo-
logischen Kontext gebraucht und meint den Umriss von Ge-
bäuden oder Gebirgen; im 18. Jahrhundert etabliert sich dann
auch die Bedeutung als Seitenansicht des Gesichts. Das ,Pro-
fil‘ im Sinne eines tabellarischen oder schematischen Ab-
risses, der Auskunft über einen Menschen gibt, scheint bis
ins frühe 20. Jahrhundert unbekannt zu sein. Wenn der Ein-
druck nicht täuscht, kommt das Wort in den Humanwissen-
schaften zum ersten Mal als Fachbegriff der Psychotechnik
auf, in den Untersuchungen des russischen Psychiaters Gri-
gorij Rossolimo, der im Jahr 1910 eine Abhandlung mit dem
Titel Das psychologische Profil veröffentlicht.
Rossolimo entwirft in dieser Studie, die nach dem Krieg
auch auf Deutsch erscheint und in den zwanziger Jahren von
Fachkollegen wie Karl Bartsch oder Fritz Giese aufgegriffen
wird, ein Testverfahren für Kinder ab sieben Jahren, um ver-
schiedene Begabungen – Konzentrationsspanne, Gedächt-
nisleistung oder Assoziationsvermögen – auf einer Skala
von eins bis zehn zu messen. Am Ende dieser Testverfahren,
so Rossolimo, können alle „Punkte der Tabelle miteinander
verbunden werden, wodurch man eine Kurve der Entwick-
lungshöhe aller einzelnen Vorgänge enthält, nämlich ein de-
tailliertes psychologisches Profil“ (Rossolimo 1910/1926, 8).
Diese Messwerte werden in Russland vor allem dazu benutzt,
um verhaltensauffällige Kinder einer adäquaten Schulart zu-
zuweisen.
Das Erkenntnisinteresse des ,Profils‘ besteht also von
Anfang an darin, einer prüfenden, wertenden Instanz Auf-
schluss über die Identität und das Verhalten abweichender
Subjekte zu geben. Der Leipziger Heilpädagoge Karl Bartsch,
der die Interpretationen der Messverfahren Rossolimos zu-
spitzt und den Kreis seiner jungen Untersuchungspersonen
„Psychopathen“ nennt, schreibt einmal über einen schwer
erziehbaren Schüler mit langer Problembiografie: „Wer kann
ihn verstehen, ohne sein psychologisches Profil zu kennen?“
(Bartsch 1922/1926, 60).
Um 1930 verliert sich zunächst die Spur des ,psychologi-
schen Profils‘ im Sinne der Psychotechnik, doch der Begriff
taucht bald darauf in einem neuen Wissenskontext auf, der
ihm dann im späten 20. Jahrhundert umfassende Popularität
verschaffen wird. Um die Aufklärung ungelöster Kriminal-
fälle voranzutreiben – vor allem solcher, hinter denen man
einen Wiederholungstäter vermutet –, kommt es nach dem
Zweiten Weltkrieg in den USA zunehmend zu Kooperatio-
nen zwischen Kriminalisten und Psychoanalytikern. So wie
die konventionelle Polizeiarbeit materielle Spuren am Tat-
ort auswertet, um sich über Fingerabdrücke oder verstreute
Projektile der Identität des Täters zu nähern, beginnt sich die
kriminalpsychologische Perspektive auch auf die immateri-
ellen, affektiven Spuren zu konzentrieren, die er hinterlässt,
auf die Frage, wie sich Hass, Angst, Zorn, Liebesbedürftigkeit
43
ANDREAS BERNARD
42
PROFIL
oder andere Eruptionen seines Innenlebens in den Schau-
platz des Verbrechens einzeichnen. Diese kriminalpsycho-
logische Ballistik hat schon in den fünfziger Jahren Anteil
an der Aufklärung spektakulärer Serienverbrechen, doch als
,psychiatrisches Profil‘ wird die Methode offenbar erst 1962,
in einem Aufsatz des Psychoanalytikers Louis Gold über no-
torische Brandstifter, zum ersten Mal bezeichnet.
Eine große Differenz kennzeichnet das ,psychiatrische
Profil‘ der Kriminalistik im Vergleich zum früheren Ge-
brauch des Begriffs in der angewandten Psychologie: Nun
sind es unbekannte Personen, die mithilfe dieses Wissens-
formats identifiziert werden sollen; an die Stelle der Prüfung
tritt die Fahndung. In ihrer Frühphase vertraut die neue Er-
mittlungstechnik noch auf die charismatischen, ins Schama-
nenhafte gehenden Intuitionen einzelner Kriminalpsycholo-
gen wie James Brussel. Erst am Ende der 1970er-Jahre wird
die Erstellung von ,Täterprofilen‘, wie sie nun heißen, mit
programmatischer Sorgfalt entwickelt, und zwar im Umfeld
einer neu gegründeten Abteilung des FBI mit dem Namen
,Behavioral Science Unit‘. „Wenn die Verbrecher immer raf-
finierter vorgehen“, so schreiben Richard Ault und James
Reese in ihrem grundlegenden Aufsatz über die neue Metho-
de in der hauseigenen Monatszeitschrift FBI Law Enforce-
ment Bulletin, „muss Gleiches auch für die Ermittlungswerk-
zeuge des Polizeibeamten gelten. Eines dieser Werkzeuge ist
die psychologische Analyse des Verbrechers – das Profiling“
(Ault/Reese 1980, 22–25).
Der Erkenntnisauftrag des ,Profils‘ liegt Ault und Reese
zufolge darin, an den verheerenden Schauplätzen unge-
klärter Sexualmorde oder Brandstiftungen bestimmte
Verhaltensmuster und Motive des Täters zu entziffern.
Vom Zustand des Tatorts schließen die Ermittler auf eine
eher organisierte oder desorganisierte Vorgehensweise des
Täters, und von dieser Grunddifferenz aus versuchen sie die
Identität des Unbekannten mehr und mehr einzukreisen.
Die Ambition, in einer Verbrechensserie individuelle men-
tale Spuren zu destillieren, ist dabei unabdingbar an die
Krankheit des Täters gebunden. Ault und Reese betonen in
ihrem Aufsatz, es sei „von höchster Bedeutung, dass diese
Ermittlungstechnik auf Kapitalverbrechen begrenzt wird,
bei denen jedes erkennbare Motiv zunächst fehlt und ge-
nügend Anzeichen belegen, dass wir es mit einem psycho-
pathischen Täter zu tun haben“ (Ault/Reese 1980, 25). ,Pro-
file‘ werden also nur dort erstellt, wo kein evidenter Sinn
aus dem Verbrechen spricht; sie sollen an den chaotischen
Schauplätzen der Tat jene Rationalität und Vergleichbarkeit
sichtbar machen, die das entrückte Wüten des Täters zu-
nächst verstellt hat.
Was eine kurze Begriffsgeschichte des ,Profils‘ also sofort
verdeutlicht, ist der Umstand, dass dieses Format ein knap-
pes Jahrhundert lang Individuen in einer Prüfungs- oder
Fahndungssituation beschrieben hat. Mit der Etablierung
der digitalen Kultur im letzten Vierteljahrhundert geht eine
massive Neubestimmung und Ausweitung des Verfahrens
einher. Autor und Gegenstand fallen in den zeitgenössi-
schen ,Profilen‘ zusammen, und wo es von Rossolimos Intel-
ligenztests bis zu den Fahndungsmethoden des FBI um die
Erfassung abweichenden Verhaltens ging, liegt die Aufgabe
heutiger Profile meistens darin, die besondere Attraktivität,
Kompetenz oder soziale Eingebundenheit der dargestellten
Person herauszustreichen. Wie ist es zu dieser Verschiebung
gekommen?
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ANDREAS BERNARD
44
PROFIL
Mitte der 1990er-Jahre, als die Vernetzung und Interaktion
von Computergeräten, ein Vierteljahrhundert lang einem
überschaubaren Kreis von amerikanischen Militärangehöri-
gen und Hackern vorbehalten, zur weltumspannenden Kom-
munikationsform namens Internet wird, verändern sich die
technologischen Bedingungen zur Herstellung von Öffent-
lichkeit fundamental. Das rasante Wachstum des ,World
Wide Web‘ und kommerzielle Webbrowser wie Netscape
stellen für jeden Nutzer die Möglichkeit bereit, die eigene
Person auch ohne die aufwendigen Produktionsmittel der
Massenmedien publik zu machen. In dieser neuen Sphäre di-
gitaler Öffentlichkeit tauchen auch die ersten Spuren selbst-
verfasster Profile auf. Die Seite Match.com etwa, heute von
knapp 30 Millionen registrierten Mitgliedern genutzt, nimmt
Anfang 1995 als erste Online-Dating-Plattform überhaupt
den Betrieb auf. Auf der frühesten Version der Website steht
bereits die Aufforderung: „Werde Mitglied, indem du dein
Profil erstellst“, und in einer Werbeanzeige des Unterneh-
mens von 1996 heißt es: „Match.com – voller bezaubernder
Profile der Mitglieder“1.
Knapp zwei Jahre nach der Markteinführung von Match.
com, im Januar 1997, stellt der Jurist Andrew Weinreich in
Manhattan seine Idee zu einer Website namens SixDegrees.
com vor. Nicht die Vermittlung potenzieller Liebespartner
ist das Ziel dieser Seite, sondern der Aufbau eines Netzwerks
von Freunden und Bekannten. SixDegrees, bis 2001 aktiv,
war ein Online-Netzwerk, das zeitweise 100 Mitarbeiter und
dreieinhalb Millionen Nutzer verzeichnete, aufgrund der
langsamen, immobilen Internetverbindung Ende der neun-
ziger Jahre und der Beschränkung der verfügbaren Daten
auf Text aber keine durchschlagende Aufmerksamkeit her-
vorrief – anders als die 2002 und 2003 gegründeten Plattfor-
men Friendster und Myspace, deren Nutzer zunehmend über
Breitband-Internet und Digitalkameras verfügten, mit denen
die weltumspannende Erfolgsgeschichte der Sozialen Medi-
en beginnt.
Im Zentrum der SixDegrees-Website steht bereits das
,Profil‘ der Nutzer. Wenn die Assoziation mit diesem Format
heute in erster Linie die Milliarden von Selbstbeschreibun-
gen auf den Facebook-, LinkedIn- oder Instagram-Accounts
meint, dann lässt sich in der Idee zu SixDegrees.com eine
Art Prototyp erkennen. Minutiös ausgearbeitet ist dieser
Prototyp in einer Patentschrift mit dem Titel „Method and
Apparatus for Constructing a Networking Database and
System“, die Weinreich und seine Mitarbeiter zeitgleich mit
der Freischaltung der SixDegrees-Website einreichten. Wel-
che Bedeutung der Kategorie des ,Profils‘ in dieser Schrift
zukommt, lässt sich daran erkennen, dass das patentierte
Computerprogramm die Registrierung eines neuen Nut-
zers, wie es heißt, vom Ausfüllen „einiger vorgeschriebener
Elemente“ im Profil abhängig macht. Diese umfassen unter
anderem „Wohnort, Beruf und Geschlecht“. Ohne diese Ver-
vollständigung sind die Funktionen des Netzwerks, das Hin-
zufügen von ,Freunden‘ oder die Suche nach Personen mit
bestimmten Eigenschaften, nicht möglich. An anderer Stelle
der Patentschrift, im Abschnitt ,Persönliches Profil bearbei-
ten‘, wird noch einmal betont, dass ein neues Mitglied des
Netzwerks „verschiedene Informationen im Profil hinterle-
gen soll, zum Beispiel E-Mail-Adresse(n), Nachname, Vor-
name, Künstlername, Beruf, Wohnort, Hobbies, besondere
Fähigkeiten, Fachkompetenzen und so weiter“. Die Fülle der
Informationen über jeden Nutzer hat mit dem angestrebten
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ANDREAS BERNARD
46
PROFIL
Geschäftsmodell von SixDegrees.com zu tun, das darin be-
steht, „den Mitgliedern einen kostenfreien E-Mail-Dienst im
Austausch gegen ein Profil zu bieten, das ihre Vorlieben be-
schreibt“. Jeder Nutzer von SixDegrees soll künftig persona-
lisierte, individuell zugeschnittene Werbung auf seiner Seite
zu sehen bekommen (vgl. Weinreich 1997, Abschnitte 10, 18
und 1).
Was in diesem Urprogramm der Sozialen Medien 1997 also
,Profil‘ heißt, ist die Währung, die dem Betreiber künftig pro-
fitablen Handel ermöglichen soll. Kostenfrei kann der Dienst
nur deshalb angeboten werden, weil jeder Nutzer beiläufig
mit einem selbstverfassten biografischen Abriss bezahlt, der
potenziellen Anzeigenkunden ein bis dahin ungekanntes
Wissen über die Lebensumstände ihrer Adressaten erlaubt.
Von Beginn an sind ,Profile‘ in der Geschichte der Sozialen
Medien daher zweierlei: für die Mitglieder ein frei bespiel-
bares Format der Selbstdarstellung, für das Unternehmen
ein lukratives Reservoir, das eine Fülle von Daten über echte
Menschen, echte Konsumenten enthält.
Heute, zwanzig Jahre nach dem Aufkommen der Sozialen
Medien und der endgültigen Etablierung der Bewerbungs-
literatur, ist das ,Profil‘ eine so unwidersprochene wie om-
nipräsente Subjektivierungsform. Diese Erfolgsgeschichte
überdeckt jedoch den Umstand, dass sich das Format nicht
nur als humanwissenschaftliches Normierungs- und Diszi-
plinierungsinstrument herausgebildet hat, sondern dass es
zweifellos auch bis heute, parallel zum Siegeszug der selbst-
erstellten Profile, weiterhin und mehr denn je im Sinne der
Fremdbeschreibung und Fremdsteuerung wirksam ist. Den
neuen Subjektivierungseffekten des Profils steht eine viel-
gestaltige Tendenz entgegen, die Individuen zum Objekt
standardisierter und vernetzbarer Datenerfassung macht.
Begriffe wie ,Benutzerprofil‘, ,Persönlichkeitsprofil‘ oder
,Kundenprofil‘ meinen eben nicht allein die aktiv und freiwil-
lig zur Verfügung gestellten Daten des Benutzers, sondern
genauso auch die von Unternehmen, Behörden oder Agentu-
ren weitgehend unbemerkt erstellten Daten über den Benut-
zer: eine Erhebungspraxis, die weitaus älter ist als die junge
Geschichte selbstgestalteter Profile. Es gehört zu den großen
Paradoxien der digitalen Kultur, dass in einer Zeit der um-
fassenden Fremdsteuerung persönlicher Daten die Rhetorik
der Selbststeuerung ihre größten Erfolge feiert.
ANMERKUNGEN
1 Vgl. die Abbildung der ersten Match.com-Seite von 1995 auf dailymail.
co.uk/sciencetech/article-3324447/I-trying-right-person-marry-Match-
com-founder-reveals-inspiration-online-dating-site-goes-public.html
sowie die frühe Werbeannonce des Unternehmens aufkremen.com/
wp-content/uploads/files/019_WEBSIGHT_09-96_MATCH_AD.PDF.
LITERATUR
— Ault, R. & Reese, J. (1980): A Psychological Assessment of Crime: Profi-
ling. FBI Law Enforcement Bulletin, Jg. 49, 22–25.
— Bartsch, K. (1922/1926). Das psychologische Profil und seine Auswertung
für die Heilpädagogik. Ein Beitrag zur Erforschung der psychischen
Funktionen des normalen und anormalen Kindes. Halle a. d. Saale:
Marhold.
— Boyd, D. (2004). Friendster and Publicly Articulated Social Networks.
Verfügbar unter http://danah.org/papers/HICSS2006.pdfdanah.org/
papers/CHI2004Friendster.pdf [15.6.2017].
— Boyd, D. & Donath, J. (2004): Public Displays of Connection. BT Techno-
logy Journal, Jg. 22, 71–82.
— Boyd, D. & Heer, J. (2006). Profiles as Conversation: Networked Identity
Performance on Friendster. Verfügbar unter http://danah.org/papers/
4948
PROFIL
HICSS2006.pdf [15.6.2017].
— Gold, L. (1962): The Psychiatric Profile of the Firesetter. Journal of
Forensic Sciences, Jg. 7, 404–417.
— Rossolimo, G. (1910/1926). Das Psychologische Profil und andere ex-
perimentell-psychologische, individuale und kollektive Methoden zur
Prüfung der Psychomechanik bei Erwachsenen und Kindern. Halle a. d.
Saale: Marhold.
— Weinreich, A. (1997). Method and Apparatus for Constructing a Net-
working Database and System. United States Patent No. US 6.175.831.
Verfügbar unter http://google.com/patents/US6175831 [15.6.2017].
entscheiden
53
ARMIN BEVERUNGEN
52
ALGORITHMISCHES MANAGEMENT
Im algorithmischen Management, in dem Algorithmen als Teil
von vernetzten Computersystemen Managementaufgaben in
Organisationen übernehmen, werden Exekutivmacht und Re-
chenkraft neu verschaltet. Wie entwickeln sich dadurch Orga-
nisation und Management, und wie wird Handlungsmacht in
digitalen Kulturen verteilt?
„Code is executable because it embodies
the power of the executive.“
Wendy Chun1
Mit der Durchdringung von Kulturen durch Digitalisierung
verändern sich viele Bereiche des alltäglichen Lebens, darun-
ter auch der der Organisation. Die Verteilung und Anwendung
von vernetzter Computerisierung stellt die Grenzen von Or-
ganisation infrage und die Organisation ohne Organisationen
in Aussicht: Temporär Gleichgesinnte können sich potenziell
über digitale Netzwerke verschalten und durch selbst-orga-
nisierende Ad-hoc-Zusammenkünfte ihre Ziele ohne institu-
tionalisierte Organisation entscheiden und erreichen.
ARMIN BEVERUNGEN
Algorithmisches Management
Gleichzeitig machen sich bestehende Organisationen wie
Unternehmen oder staatliche und nicht-staatliche Instituti-
onen vernetzte Computerisierung zunutze. Unterstützt wer-
den sie dabei insbesondere von einer Entwicklungs- und Be-
ratungsindustrie, die Angebote von Cloud-Infrastruktur bis
Software-Architektur erstellt und vermarktet. Eine zentrale
und zentralisierende Rolle spielen dabei „Enterprise-Resour-
ce-Planning“-Systeme (ERP), die zum Ziel haben, sämtliche
Bereiche und Prozesse von Organisationen abzubilden und
so sichtbar, steuerbar und potenziell programmierbar zu
machen. Organisation wird dadurch algorithmisch, dass or-
ganisatorische Abläufe algorithmisch konzipiert und kodiert
werden, das heißt bestimmte Handlungsabläufe in Compu-
tercode gespiegelt und somit potenziell durch verteilte Re-
chenkraft steuerbar werden.
Dabei wird der Algorithmus zu einer Figur des Manage-
ments, und Handlungsmacht wird zwischen Managern und
Algorithmen beziehungsweise den vernetzten Computersys-
temen, für die sie stehen, neu verteilt und verschaltet. Wie
verändern sich Organisation und Management in dieser Neu-
verteilung von Exekutivmacht und Rechenkraft?
In den Sitzungssälen der Aufsichtsräte und Vorstände
treffen heute Exekutivmacht und Rechenkraft aufeinan-
der. ERP-Systeme, entwickelt von Software-Unternehmen
wie SAP oder Oracle, werden so weiterentwickelt, dass sie
den „Entscheidern“, denen die Produkte verkauft werden,
deutlich mehr Informationen an die Hand geben und somit
ihre Entscheidungen stützen. Nehmen wir zum Beispiel die
Vision von Hasso Plattner, dem Mitgründer der SAP, die die
Entwicklung von SAP’s „Digital Boardroom“ treibt (siehe
Abb. 1).
55
ARMIN BEVERUNGEN
54
ALGORITHMISCHES MANAGEMENT
In Plattners Vision eines „Management Meeting of the Fu-
ture“ sitzen Führungspersonal wie der Chief Executive Officer
und der Chief Financial Officer nicht zufällig mittig vor einer
Reihe Bildschirme, über die auch andere Führungskräfte aus
Produktion, Marketing und Strategie dem Meeting zugeschal-
tet werden, und auf denen nebenbei allerlei (hauptsächlich
finanzielle) Daten dargestellt und visualisiert werden. Dabei
werden die Bildschirme in der Umsetzung des Digital Board-
room zu Touch-Bildschirmen, wodurch die Daten angesteu-
ert, durchsucht, befragt und manipuliert werden können.
Das System stützt sich dabei auf ein neues, sogenanntes
„post-relationales“ Datenbanksystem (genannt HANA), in
dem Echtzeit-Daten relativ unstrukturiert in der Cloud ge-
speichert und für eine Echtzeit-Analyse zur Verfügung ge-
stellt werden. Dabei sollen alle Daten eines Unternehmens in
einer Datenbank vereint und so für Abfragen beliebig kombi-
nierbar werden, während neue Datenanalyse- und Simulati-
onsverfahren wie „Predictive Analytics“Zukunftsszenarien
berechenbar machen.
Der Digital Boardroom stellt somit den Gipfel der Anwendun-
gen dieser neueren ERP-Systeme dar, in dem die Exekutiv-
macht von Führungspersonal durch vernetzte Rechenkraft
gestützt und somit datengesteuerte Entscheidungsprozesse
ermöglicht werden sollen. Der „Executive Manager“ wird so
als allwissend und allmächtig dargestellt; seine Exekutiv-
macht wird durch Rechenkraft gestützt und verstärkt.
Kybernetische Vorgeschichte
Auch wenn diese Visionen von computergestützter Entschei-
dungs- und Handlungsmacht erst heute umsetzbar schei-
nen, verweisen sie auf eine jahrzehntelange Geschichte der
Faszination für Computer in Management und Organisation,
die wir mindestens auf die Zeit der Kybernetik nach Ende des
Zweiten Weltkriegs und auf Figuren wie Herbert Simon und
Stafford Beer zurückführen können.
Denn auch die Vision einer Fähigkeit, „die Geschichte zu
verstehen, die Zukunft vorherzusagen und die sofortige Aus-
führung herbeizuführen“, wie sie in einem Werbefilm der
SAP zum Digital Boardroom beschrieben wird, aktualisiert
die kybernetische Vorstellung selbstregulierender, rekur-
siver Systeme, die über eine Analyse historischer Daten die
Zukunft berechnen, sich auf sie einstellen und sie beeinflus-
sen können.
Nehmen wir das „Projekt Cybersyn“ von Anfang der
1970er-Jahre als ein Beispiel dieser kybernetischen Vorge-
schichte: ein Projekt zur computerisierten Regulierung der
unter Salvador Allende teilweise verstaatlichten chileni-
schen Wirtschaft, das unter Mitarbeit von Stafford Beer als
Abb. 1: Vision des „Management Meeting of the Future“ von Hasso Plattner2
57
ARMIN BEVERUNGEN
56
ALGORITHMISCHES MANAGEMENT
Hauptarchitekt und Vertreter der Management-Kybernetik
geprägt wurde. Das Bild des „Opsroom“ (siehe Abb. 2) von
Cybersyn, einem hektagonalen Raum, in dem Führungskräf-
te auf sieben Drehstühlen mit Bedienelementen vor einer
Reihe von Bildschirmen mit aktuellen Wirtschaftsdaten
Platz nehmen können, lässt Parallelen zum Digital Board-
room erkennen.
Auch hier stehen die „Entscheider“ im Mittelpunkt, genau-
so wie visualisierte Echtzeit-Daten, die hier allerdings unter
anderem aufgrund der limitierten Rechenkraft der Groß-
rechner der frühen 1970er-Jahre und dem Telex-System, das
zur Datenübermittlung genutzt wurde, wesentlich weniger
detailliert sind und verspätet eintreffen.3
Der Vergleich zwischen digitalisiertem Sitzungssaal und
kybernetischem Betriebsraum macht allerdings einige we-
sentliche Unterschiede sichtbar. Vor allem wird deutlich, wie
sehr der heutige digitale Boardroom nicht nur bei SAP von
der Vorstellung eines Managerialismus geprägt wird – im
markanten Unterschied zum Projekt Cybersyn und zu kyber-
netischen Visionen von Management allgemein.
So hat zum Beispiel Herbert Simon schon im Jahr 1960
darauf spekuliert, dass bereits 1985 Maschinen und nicht
Menschen Unternehmen managen können und menschliche
Manager sich hauptsächlich nur noch mit Systemdenken be-
fassen.4 Stafford Beer träumte sogar zeitweise davon, dass
Pflanzen oder Tiere als biologische Computer Unternehmen
managen und somit in dieser Funktion Menschen komplett
ersetzen könnten.5
Das Projekt Cybersyn, das in seinem Design wesentlich an
Stafford Beers „viable system model“ angelehnt ist, geht auf
realistischere Weise zumindest davon aus, dass die Hand-
lungsmacht des Führungspersonals nur auf den Plan gerufen
werden muss, wenn Krisen oder systematische Fehlfunktio-
nen passieren; ansonsten sollte sich das System auf niedrige-
ren Ebenen selbst regulieren. Die im „Opsroom“ vertretene
Führungsebene bleibt also für das wirtschaftliche System
als oberste Regulierungsebene zentral, aber genau deswegen
von alltäglichen, regulären Abläufen isoliert.
Dagegen wird die Handlungsmacht von höheren Mana-
gern in neueren ERP-Systemen nicht infrage gestellt – im Ge-
genteil: Es werden Anwendungen wie der Digital Boardroom
genau dazu entwickelt und vermarktet, die Handlungsmacht
des Executive Managements durch Echtzeit-Datenanalyse
zu unterstützen. Dabei sind diese Daten zwar gefiltert und
zusammengefasst, die Manager haben aber jederzeit Zugriff
selbst auf die kleinteiligsten Datensätze und somit Einblick
in die kleinsten und für systematische oder strategische Fra-
gen unwesentlichen Aspekte der Organisation.Abb. 2: „Operations Room“ des Projekt Cybersyn. Quelle: Wikipedia
59
ARMIN BEVERUNGEN
58
ALGORITHMISCHES MANAGEMENT
Demnach scheint hier die Symbiose zwischen Computercode
und Exekutivmacht, auf die Wendy Chun im einleitenden Zi-
tat verweist, realisiert zu sein. Allerdings handelt es sich um
ein bloß eingeschränktes Verhältnis zwischen verteilter Re-
chenkraft und Exekutivmacht, denn der Digital Boardroom
ermöglicht nur ein passives Verhältnis von Management
zum Computersystem. Zwar erlaubt der Digital Boardroom
Datenanalyse und die Simulation von Zukunftsszenarien;
auch dürfen einzelne Datensätze manipuliert werden. Doch
letzten Endes ist das System ein Reporting-Tool, in dem Da-
ten für Entscheidungsprozesse zur Verfügung gestellt wer-
den, getroffene Entscheidungen aber nicht direkt durch das
System umgesetzt werden können.
Während im „Opsroom“ von Cybersyn Steuerelemente in
die Armlehnen der Drehstühle eingebaut waren, mit denen
Anweisungen direkt an andere Positionen im System wei-
tegegeben werden sollten, erzeugt der Digital Boardroom
einen zwar technisch mit Big Data aufgerüsteten Raum, der
aber selbst nicht an das System rückgekoppelt ist. Für die
Umsetzung von Entscheidungen und deren Kontrolle, also
deren Rückkopplung an die Organisationsvorgänge, müssen
andere technische Systeme aktiviert oder zumindest andere
Anwendungen des ERP-Systems aufgerufen werden.
Die Singularität des manageriellen Entscheidungsraums,
der durch den Digital Boardroom erzeugt wird, wird somit
sichtbar. Die datengesteuerte oder sogar datengetriebene
Entscheidung von Führungskräften wird hervorgehoben
und dabei als ihre bedeutendste, beinahe einzige Aufgabe
etabliert, die trotz der Anbindung an verteilte Rechenkraft
in einer Art Vakuum stattfindet. Für die Umsetzung der Ent-
scheidungen sind andere zuständig und nötig.
Entschiedener Spielraum
Gleichzeitig erscheint dieser Entscheidungsraum in sei-
ner Struktur extrem begrenzt. Denn die Analyse- und Si-
mulationskapazitäten des Systems nehmen der Entschei-
dung entscheidenden Spielraum. Wie zum Beispiel Heinz
von Foerster schon festgestellt hat, können nur die Fragen,
die prinzipiell unentscheidbar sind, entschieden werden –
denn sonst wären sie bereits entschieden.6 Hier trennt sich
im Digital Board room das, was durch das Computersystem
berechenbar und somit im Rahmen von Statistik und Wahr-
scheinlichkeit entscheidbar wird, und das, was eben nicht
entscheidbar ist und somit von Führungskräften entschie-
den werden muss.
Dabei ist schon vorab entschieden, dass Rechenkraft dazu
verwendet wird, Entscheidungen zu treffen beziehungs-
weise Entscheidungen durch Daten so vorzubereiten und
herzurichten, dass sie praktisch schon gefallen sind. Zwar
geht es hier nicht um eine Ethik, die Unentscheidbarkeit und
Unkalkulierbarkeit zur Voraussetzung von ethischer Ent-
scheidung macht. Doch die „Strategie“, die gerade im Digital
Boardroom zu suchen ist, nimmt für sich selbst in Anspruch,
eben genau den Spielraum zu besetzen und zu gestalten, für
den „Intuition“ oder andere hochdotierte, teils mystisch er-
scheinende Fähigkeiten notwendig sind, die über bloße Be-
rechenbarkeit hinausgehen.
Wenn nun Strategie immer schon einen bestimmten Grad
an Besonderheit und Ausnahme für sich beansprucht, dann
wird besonders deutlich, dass Strategie im Digital Board-
room zur Ausnahme wird: eben weil die verteilte Rechenkraft
einen sehr engen, berechnenden Rahmen setzt. Die strate-
61
ARMIN BEVERUNGEN
60
ALGORITHMISCHES MANAGEMENT
gische Entscheidung erzeugt hingegen einen Ausnahmezu-
stand, der paradigmatisch für Exekutivmacht steht, wie die
politische Theorie nach Carl Schmitt lehrt – Exekutivmacht,
die sich hier auch gegen Rechenkraft wehrt und bewährt.
Andererseits wird Exekutivmacht, im Sinne von ausfüh-
render Macht, nicht im Digital Boardroom gebündelt, sondern
im ERP-System verteilt und somit an verteilte Rechenkraft
delegiert. Denn auch wenn die Rückkopplung der Führungs-
ebene an das System zumindest im Digital Board room nicht
gegeben ist, beinhalten ERP-Systeme wie die von SAP und
Oracle eine Reihe von Modulen, durch die Entscheidungen in
praktisch allen Bereichen von Unternehmen wie Marketing
oder Logistik umgesetzt werden können. Dabei wird auch
Entscheidungsmacht an das System delegiert, die sich mit
den Einzelheiten von organisatorischen Abläufen befasst.
So können zum Beispiel Algorithmen im Customer-Rela-
tionship-Management-Modul darüber entscheiden, welche
Kunden ein Callcenter-Agent wann und wie kontaktiert, mit
welchen Angeboten und so weiter. Oder Algorithmen bestim-
men im Logistikzentrum darüber, wann Mitarbeiter welche
Aufträge wie bearbeiten und welche Routen durch das Wa-
renlager und welche Auslieferungswege zu nehmen sind.
Hier wird nicht nur algorithmisch entschieden, sondern
Anweisungen werden auch an menschliche Arbeiter mit
technischen Mitteln überbracht – zum Beispiel über Voice-
Picking-Technologien im Ohr der „Picker“ im Warenlager,
die gleichzeitig mit Technologien wie RFID oder GPS, die Be-
wegungen von Menschen und Dingen verfolgen, kontrolliert
und überwacht werden.
Die Automatisierung und insbesondere der Ersatz von
menschlicher Arbeit durch Maschinen und Roboter macht
deutlich, wie viel Handlungs- und Entscheidungsmacht diese
Systeme entwickeln. Dabei ist die Handlungs- und Entschei-
dungsmacht von Algorithmen in der Regel durch vorgegebene
Parameter eingegrenzt und somit zumindest grob von Desig-
nern, Programmierern, Beratern und Managern vorgegeben.
Jedoch sind algorithmische Systeme schon jetzt, und noch
deutlicher in der Anwendung von „machine learning“ und
anderen Formen künstlicher Intelligenz, von emergenten Dy-
namiken geprägt, die Entscheidungen treffen und Ergebnis-
se erzeugen, die nicht von einem Menschen präjudiziert sein
müssen. In der Summe sind diese Dynamiken nicht immer
vorhersehbar, und somit stellen sie eine ordentliche Abgren-
zung zwischen Entscheidung und Umsetzung, strategischer
Exekutivmacht und operationaler Rechenkraft infrage.
Verteilte Handlungsmacht
In digitalen Kulturen werden Organisation und Manage-
ment im Zusammenspiel mit verteilter Rechenkraft neu
verhandelt. Die Zurichtung und Anwendung verteilter Re-
chenkraft, wie sie insbesondere in neueren ERP-Systemen
zu beobachten ist, bringt das Verhältnis von Exekutivmacht
und Rechenkraft ins Wanken. Während gerade Big Data und
auf neueren Datenbanksystemen basierende Analyse- und
Simulationsverfahren eine datengestützte Entscheidungs-
macht hervorrufen, wird der Entscheidungsspielraum von
Führungskräften systematisch eingeschränkt, indem Exeku-
tivmacht in algorithmischen Systemen verteilt wird.
Dabei wird menschliches Management hervorgehoben
und gleichzeitig streitig gemacht. Noch deutlicher wird diese
63
ARMIN BEVERUNGEN
62
ALGORITHMISCHES MANAGEMENT
ANMERKUNGEN
1 Chun 2016, S. 83.
2 Plattner/Zeier 2014, S. 9.
3 Zu Cybersyn siehe Medina 2011.
4 Vgl. Simon 1960.
5 Dazu Pickering 2010, S. 231–234.
6 Dieses Zitat wird diskutiert in der Einleitung von Conradi/Hoof/Nohr
2016, S. 14.
7 Zum Algorithmus als Vorstandsmitglied siehe https://www.golem.
de/news/kuenstliche-intelligenz-unternehmen-waehlt-compu-
ter-in-den-vorstand-1405-106507.html. Zur algorithmischen Steuerung
von Investmentfonds siehe https://www.wired.com/2016/01/the-ri-
se-of-the-artificially-intelligent-hedge-fund/.
LITERATUR
— Chun, W. H. C. (2016). Updating to Remain the Same: Habitual New
Media. Cambridge, Mass.: The MIT Press.
— Conradi, T., Hoof, F. & Nohr, Rolf F. (2016). Medien der Entscheidung.
Münster: LIT Verlag.
— Medina, E. (2011). The Cybernetic Revolutionaries: Technology and
Politics in Allende’s Chile. Cambridge, Mass.: The MIT Press.
— Pickering, A. (2010). The Cybernetic Brain: Sketches of Another Future.
Chicago: The University of Chicago Press.
— Plattner, H. & Zeier, A. (2014). In-Memory Data Management: An Inflec-
tion Point for Enterprise Applications. Berlin: Springer.
— Rossiter, N. (2016). Software, Infrastructure, Labor: A Media Theory of
Logistical Nightmares. New York: Routledge.
— Seyfert, R. & Roberge, J. (2017). Algorithmuskulturen. Über die rech-
nerische Konstruktion der Wirklichkeit. Bielefeld: transcript.
— Simon, H. (1960). The Corporation: Will It Be Managed by Machines?
In M. Anshen & G. L. Bach (Hrsg.), Management and Corporations, 1985.
New York: McGraw-Hill.
Entwicklung zum Beispiel, wenn Algorithmen in die Vor-
stände von Unternehmen berufen werden wie der Algo-
rithmus „VITAL“ bei der Investmentfirma Deep Knowledge
Ventures oder Investment-Fonds vollkommen automatisch
durch Algorithmen gesteuert werden sollen.7 Auch anhand
von Crowdworking-Plattformen wie Clickworker oder dem
Fahrten-Vermittler Uber wird sichtbar, dass mittleres Ma-
nagement teilweise komplett von plattformbasierten, algo-
rithmischen Systemen ausgeführt werden kann.
Durch algorithmische Systeme werden also Exekutiv-
macht und Rechenkraft neu und anders verteilt. Auch wenn
ein Managerialismus die Ausarbeitung dieser Systeme prägt,
wird die Praxis des Managements auf allen Ebenen poten-
ziell infrage gestellt und somit auch die Organisation in ih-
rer Struktur. So verleiten die Möglichkeiten verteilter und
vernetzter Rechenkraft jetzt schon zu Visionen von Orga-
nisation, in der Organisationen selbst redundant werden
und entweder eine technische Verschaltung menschlicher
Koordination neuen Handlungsspielraum bietet oder aber
algorithmische Systeme selbst Eigendynamiken entwi-
ckeln, die menschlich nur noch schwer begreifbar sind. Zwi-
schen diesen beiden Szenarien, die Extreme gegenwärtiger
Ausprägungen des algorithmischen Managements aufzei-
gen, ist die Organisation in digitalen Kulturen zu suchen.
erzählen
67
GÖTZ BACHMANN
66
SILICON VALLEY
Das Silicon Valley erschafft sich selbst in Mythen. Einer die-
ser wirkmächtigen Mythen ist der Mythos vom Neuanfang.
Er findet sich nicht nur im Selbstverständnis vieler Start-ups,
sondern auch in technischen Systemen, in hier imaginierten
Zukünften und in der Konstruktion der eigenen Geschichte.
Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Software-Ingeni-
euren flaniere ich an einem sonnigen Juninachmittag im Jahr
2017 durch die East Bay Municipal Utility District Wastewater
Treatment Plant in Oakland. Ich bin Teil eines nachmittäg-
lichen Betriebsausflugs in eine Kläranlage. Unsere Gruppe
besteht aus Ingenieuren, die in der Tradition von berühm-
ten Forschergruppen wie denen von Doug Engelbart und
Alan Kay in einem Labor daran arbeiten, den Computer neu
zu erfinden. Die Stimmung ist gehoben, denn nichts erfreut
Ingenieursherzen so sehr wie wohl funktionierende Infra-
struktur. Während wir etwas über die Verfahren lernen, die
dafür sorgen, dass die Exkremente der fast neun Millionen
Anwohner die San Francisco Bay nicht vertrüben, versinke
ich in abseitige Gedanken. Grund hierfür sind nicht nur die
Substanzen und Gerüche vor mir, sondern auch ein Anblick
GÖTZ BACHMANN
Silicon Valley
in der Ferne. Weithin sichtbar reckt sich dort jenseits der
Bay in der City von San Francisco der neue Salesforce Tower
auf, der bereits jetzt, kurz vor der Fertigstellung, alle Ban-
kentürme der Skyline überragt. Seinen Namen hat der Sa-
lesforce Tower von einem Ableger der Firma Oracle, der sein
Geld mit Kundendatenverwaltung, Datenzentren und Cloud
Computing verdient. Während ich noch darüber nachden-
ke, warum mich der Anblick des Salesforce Towers hier an
diesem Ort so eigenartig berührt, ist unsere Gruppe an den
Faultürmen vorbeimarschiert und in einem kleinen Gebäude
ohne Dach angelangt. Hier wird Faulgas abgefackelt, in me-
terhohen Flammen von großer Reinheit. Impulsiv sage ich
zu dem Ingenieur neben mir, der wie ich hypnotisiert in die
Flammen starrt: „This whole thing really is like Silicon Val-
ley.“ Er schaut sich zu mir um, lacht und sagt einfach: „Yep!“
Das Silicon Valley ist so banal wie es mythisch ist. Seinen
Mythen aufzusitzen wäre ebenso ein Fehler, wie die Kraft
seiner Mythen zu unterschätzen. Mythen konstituieren das
Valley. Bereits der Moment seiner Benennung geht mit der
Stabilisierung eines Mythos einher. Im Jahr 1971 bezeichnet
der Journalist Don Hoefler, Hauptautor einer lokalen Wirt-
schafts-Wochenzeitung namens Electronic News, in einer Ar-
tikelserie zur Geschichte der boomenden Halbleiter-Indust-
rie in der südlichen Bay Area diese Gegend zum ersten Mal
in gedruckter Form als „Silicon Valley U.S.A.“. „For the story
really begins before Christmas eve, on Dec. 23, 1947“ (Hoefler
1971, 1): Wer so beginnt, spinnt eine Geschichte, die damals
in der lokalen Halbleiter-Industrie weit verbreitet ist. Es ist
die Geschichte vom Ur-Vater Shockley, der sich aus den Bell
Labs an der Ostküste in die sonnigen Gefilde an der Westküs-
te aufmacht, um hier das Ur-Labor Shockley Semiconductor
69
GÖTZ BACHMANN
68
SILICON VALLEY
Laboratory zu gründen. Doch Ur-Vater Shockley ist noch vom
autoritären Ostküsten-Habitus geprägt, und so werden acht
der für ihn arbeitenden jungen Ingenieure zu den „Treache-
rous Eight“. Gemeinsam gründen sie die Ur-Firma Fairchild
Semiconductors und bringen dort den integrierten Schalt-
kreis zur Marktreife, womit sie das Ur-Gesetz der Industrie
in Gang setzen, und zwar das Mooresche der sich regelmäßig
verdoppelnden Dichte dieser Schaltkreise. Fairchild Semi-
conductors wiederfährt derweil gleiches wie vormals dem
Shockley Semiconductor Laboratory: Wieder gründen sich
Spin-Offs aus, Fairchildren genannt, von denen eines Intel
ist. Und auch die wackeren Ingenieure bleiben nicht müßig,
sondern erfinden den marktreifen Mikroprozessor, womit
wir im Jahr 1971 angelangt sind und mithin in der Gegenwart
des Benennungsmoments.
Dieser bis heute immer wieder gerne erzählte Mythos ist
gewiss nicht falsch. Er erklärt ein damals wirkmächtiges
Netzwerk aus Firmen, Ingenieuren, Investoren, Technolo-
gien und Märkten aus einem historischen Ur-Knall heraus,
der sich durchaus zugetragen hat. Ebenso klar ist aber auch,
dass hier nur eine mögliche Geschichte erzählt wird. Andere
Geschichten könnten beispielsweise in der lokalen und teil-
weise sozialistisch und kooperativ geprägten Zulieferer-In-
dustrie für Radio-Enthusiasten der 1920er-Jahre beginnen
oder mit der Förderung des akademisch-militärisch-indus-
triellen Komplexes an der Universität Stanford (vgl. Lecuyer
2006). Wieder andere Geschichten handeln von den kalifor-
nischen Hippie-Subkulturen mit ihren kybernetischen Un-
terströmungen (vgl. Turner 2006). Oder von den Geschäften
mit den heißen Kriegen im Kalten, von billigen Arbeitskräf-
ten und Wellen von Arbeitsmigranten mit Ingenieurskom-
petenz. Oder von relativ guten Lebensbedingungen und der
liberalen Luft, erklärlich unter anderem durch den Nachhall
der vergleichsweise starken und relativ inklusiven Gewerk-
schaftsbewegung in der Bay Area in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts. Die Geschichte vom Ur-Vater Shockley
ist also eine unter vielen. Zu Papier gebracht wurde sie
von einem ehemaligen Lohnschreiber Fairchilds für die zu
Fairchild gehörenden Electronic News zum Zeitpunkt des
sichtbar werdenden Erfolg vo Intel. Nicht unwahrscheinlich
ist also, dass es hier zunächst auch darum geht, das zu die-
sem Zeitpunkt bereits früh alternde Unternehmen Fairchild
Semiconductors am Ruhm des neuen Stars Intel teilhaben zu
lassen, denn schließlich sind es die persönlichen Kontinuitä-
ten der Spin-Offs, die beide teilen.
Warum aber stabilisiert sich der Name „Silicon Valley“ in
der Folge für ein nordkalifornisches Unternehmenscluster in
der Elektronik- und Softwarebranche sowie für eine Region
von unklarer Größe – klassischerweise der nördliche Teil des
Santa Clara Valleys und der südliche Teil der San Francisco
Peninsula, inzwischen allerdings auch bestimmte Stadtteile
von San Francisco und weitere Städte im Norden und Osten
dieses Gebietes? Nun, irgendeinen Namen muss die nordka-
lifornische Verdichtung von Ingenieurskompetenz, (Risiko-)
Kapital und infrastruktureller Steuermacht ja haben. Die
Referenz auf der Halbleiter-Industrie stellt aber auch einen
Kult des disruptiven Ingenieur-Entrepreneurs und damit
eine spezifische Verschmelzung libertärer Markt- und Tech-
nikgläubigkeit auf Dauer (vgl. Barbrook/Cameron 1995). Und
tatsächlich blüht auch heute noch manchmal jenes Ingeni-
eurs-Entrepreneurship wieder auf (auch wenn eine weitere
Mär, und zwar die von Jobs und Wozniak, uns daran erinnert,
71
GÖTZ BACHMANN
70
SILICON VALLEY
dass der Januskopf des Ingenieur-Entrepreneurs oft nicht
nur auf einem Köper sitzt). Die mich besonders interessie-
rende Antwort bezieht allerdings auch die Kraft des Mythos
ein: Verweist nicht die Geschichte der Hoeflerschen Ver-
wandlung eines vorher nur von ein paar Besuchern verwen-
deten Scherznamens in den Namen einer Industrieregion
selbst genau auf die Kraft der Selbsterfindung, die auch in
den Beschreibungen der Arbeitsweisen des Silicon Valleys so
wichtig ist?
Diese Kraft der Selbsterfindung jedenfalls ist das Thema
eines weiteren Silicon-Valley-Mythologems. Es ist dies das
Bootstrapping, also die Selbsterhebung durch das Ziehen an
den eigenen Schnürsenkeln. Die physikalische Unmöglichkeit
eines solchen Akts hindert nicht daran, dass im Silicon Val-
ley nicht nur Betriebssysteme booten (letzteres ist de facto ein
eher prosaischer Akt des schrittweise Hochfahrens mittels
einer speziellen Software), sondern auch Start-ups den An-
spruch erheben, sich selbst zu bootstrappen. Vor allem aber
geht es im Bootstrappen um Inventionen, die danach stre-
ben, so radikal zu sein, dass sie sich erst selbst schrittweise
und rekursiv ermöglichen müssen. Die Formel hierfür liefert
eine weitere mythische nordkalifornische Figur im Jahr 1968.
Nachdem der Ingenieur Doug Engelbart in der „Mother of all
Demos“ die Verwandlung des Computers in ein digitales Me-
dium vorgeführt hatte, steuert er im Anschluss eine Erklä-
rung ex post für just den Forschungsprozess bei, der all dies
ermöglicht habe: Was in ihrem Lab in Palo Alto in den letzten
fünf Jahren geschah, sei das Resultat eines „interesting (recur-
sive) assignment of developing tools and techniques to make
it more effective at carrying out its assignment“ (Engelbart/
English 1968, 396) gewesen. Die rekursive Aufgabenstellung
der Herstellung von Werkzeugen für die Aufgabenstellung der
Herstellung von Werkzeugen und so weiter sei, so die beiden,
des Bootstrapping-Rätsels Lösung (vgl. Bardini 2000).
Unschwer zu erkennen ist, dass es sich auch hier wieder
um einen Mythos handelt, wenn auch wiederum um einen,
der viele Körnchen Wahrheit enthält, darunter auch das,
dass Ingenieure ihre „tools and techniques“ tatsächlich oft
nicht zuletzt für sich selbst bauen. Dass das Mythologem
des Bootstrappens aber im Silicon Valley eine solche Kraft
entfaltet, ist damit noch nicht erklärt. Hierzu braucht es
den Blick auf das Zusammenspiel mit den anderen bereits
erwähnten Mythologemen: das sogenannte Mooresche Ge-
setz und der Ingenieurs-Entrepreneur. Die damit entstehen-
de und vorangetriebene Mythologie handelt vom iterierten
Neu-Schaffen neuer Systeme, angetrieben von Ingenieuren
und expandierender Technik und Kapital. In gewisser Weise
steht dieser Mythologem-Komplex komplementär zu einem
anderen großen Mythologem-Komplex des Digitalen, der
sich um die Rechenmaschine rankt, die alles umfasst, was
errechenbar ist, und daher immer schon „Turing-complete“
ist. Während der um Turing-Vollständigkeit rankende Kom-
plex die Geschichte gewissermaßen auf techniktheoretische
Weise beendet, mutiert Geschichte in den Geschichten, die
uns das Silicon Valley über sich selbst erzählt, in eine Iterati-
on von Neubeginnen und damit in eine Abfolge von als je an-
ders als ihre jeweilige Gegenwart gedachten Zukünften. Die
Vermutung liegt nahe, dass es sich dabei in der Tat um einen
recht kalifornischen Traum handelt, während Träume von
Turing-Vollständigkeit oder von störungsfreier Kommunika-
tion eher in Europa und an der US-amerikanischen Ostküs-
te zu verorten sind – allerdings wäre eine solche sicherlich
73
GÖTZ BACHMANN
72
SILICON VALLEY
etwas großflächige Diagnose dann weiter zu verkomplizie-
ren, so unter anderem um die durchaus auch in Europa zu
verortenden politischen und religiösen Tiefenschichten der
Mythologien des Neubeginns.
Dass es sich hier um Neubeginne im Plural handelt, ver-
weist jedenfalls bereits darauf, dass es sich nicht um einen
wirklichen Neubeginn handeln kann. Soviel Neubeginn, wie
das Silicon Valley für sich reklamiert, kann es gar nicht geben.
Weder spricht viel dafür, dass sich Engelbarts Träume einer
auf neue Höhen gehobenen Intelligenz einlösen, noch schaf-
fen Start-ups üblicherweise wirklich Neues (wäre es wirklich
neu, fände es im Zweifel keinen Investor). Vielmehr kommt
es hier zu partiellen Rekonfigurationen, und diese brauchen
immer Wiederholungen, Milieus, Arbeit, Infrastrukturen, Po-
litik ... – all das, was im Mythem des Bootstrappens gerne ver-
gessen wird. Mehr noch: Selbst wenn wir für einen Moment
akzeptieren, dass mit Start-ups Neubeginne einhergingen,
wäre damit nur ein sehr kleiner Teil des Silicon Valleys abge-
deckt. De facto arbeiten die meisten Ingenieure in biederen
Unternehmensjobs – die Geschichten in den Bars zu später
Stunde darüber, was es heißt, bei Google oder Apple zu arbei-
ten, ähneln dann meist doch eher den Geschichten der Mit-
arbeiter des Wasserwirtschaftsamts in Aschaffenburg denn
Abenteuern am bleeding edge der Technologieentwicklung.
Und dennoch bleibt die Mythologie des Neubeginns kraftvoll,
und nach wie vor grassiert im Silicon Valley die Sehnsucht
nach der nächsten ‚skalierbaren‘ Idee, die, einmal losgelas-
sen, sich selbst entfaltend die Welt erobert.
Man darf sich diesen mythischen Raum daher vielleicht
vorstellen wie das Kinderzimmer eines werdenden Ingeni-
eurs: Vollgestellt mit vergangenen Ingenieurs-Taten, müssen
diese Konstruktionen eingerissen werden, damit neue entste-
hen können, auch wenn diese dann doch fast immer nur aus
den gleichen Bauklötzchen bestehen. Nur die radikalsten der
Ingenieure geben sich nicht damit ab, dass es sich hier immer
wieder um die gleichen Bauklötzchen handelt. Zu dieser klei-
nen Minderheit gehören die Mitglieder der Gruppe, mit denen
ich in der eingangs beschriebenen Szene die Kläranlage von
Oakland besuche. Wer wie sie daran arbeitet, eine völlig neue
Form dessen zu entwickeln, was Computing als digitales Me-
dium sein könnte, dessen Einverständnis mit meiner impul-
siv geäußerten Gleichsetzung der Faulgas-Flamme der Klär-
anlage mit dem Silicon Valley als Ganzem wird mit einiger
Wahrscheinlichkeit auf eine „interne“ Silicon-Valley-Feind-
lichkeit verweisen, die in avancierten Ingenieurskreisen des
Silicon Valleys oft zu finden ist. Die Exkremente stünden
hier also für die mediokren technischen Ideen und dumpfen
Niederungen der Start-up- und Unternehmens-Landschaft
und die Flamme für das reine Geldmachen, das zumindest
diese Ingenieure verachten. Demgegenüber steht ihre ande-
re, gewissermaßen fundamentalistischere Exegese des Boot-
strapping-Mythologems, in der Technologie dazu da ist, der
Menschheit einen fundamentalen Neustart zu ermöglichen.
Übertragen auf die Kläranlage stünde die Flamme dann für
ihre Suche nach fundamental anderen Medien, die klarere
Formen des Verstehens und gelungenere Formen des Mitei-
nanders ermöglichen. Damit bilden diese Ingenieure eine Va-
riante der radikaleren Versionen der Suche nach Neubegin-
nen. Andere Ingenieure, die ich treffe, suchen zum Beispiel
nach dem nächsten, viel radikaleren Internet, nach reinerer
Rationalität oder nach der Singularity, also den Bootstrap-
ping-Moment einer sich exponenziell selbst verbessernden
75
GÖTZ BACHMANN
74
SILICON VALLEY
künstlichen Intelligenz. Es sind auch solche Flammen, die
das Silicon Valley immer wieder hervorbringt.
Wir, das heißt der Rest der Welt, lassen uns bezirzen von
den Mythen, die im Silicon Valley entstehen. Die Macht, die
das Silicon Valley damit über uns hat, hat durchaus Namen,
Konten, Adressen. Es sind die Adressen von Oracle, Cisco, In-
tel, Alphabet, Apple, Facebook, Nvidia, Netflix, PayPal, Uber,
Juniper, Applied Materials, Adobe, Hewlett Packard und HP,
eBay oder EA. Etwas schwieriger zu finden sind die Adressen
der Investoren, die riesige Summen von Risikokapital ein-
bringen, das teils im Silicon Valley selbst und teils in ande-
ren Industriezweigen extrahiert wird, um nun als Spielgeld
im Wettgeschäft auf die Skalierbarkeit technischer Systeme
eingesetzt zu werden. Die Wirtschafts-, Organisations- und
Vernetzungsweisen des Silicon Valley Way halten die Regi
-
onalentwickler und Berater weltweit in Atem. Zivilgesell-
schaftliche Organisationen wie Wikipedia, Mozilla oder die
Electronic Frontier Foundation werden ebenso aus dem Sili-
con Valley heraus gesteuert wie die Hard- und Software-Ver-
bünde und Datenbanken von Apple, Google, Oracle, Facebook
und Salesforce und Arenen der digitalen Öffentlichkeiten
wie Facebook, Instagram, WhatsApp, reddit, Twitter, Slack,
Slashdot und Hacker News. Und so übernehmen wir seine
technischen Moden – so wie im Augenblick Virtual Reality
und Machine Learning – genauso wie seine Subjektivitätsfor-
men, Organisationsweisen, technischen Produkte und aus
dem Silicon Valley heraus gesteuerten Plattformen. Indem
wir dies tun, behalten die Mythen des Silicon Valleys recht.
Doch solange, wie das Silicon Valley eine Art Meta-Haupt-
stadt unserer digitalen Kulturen bleibt, wäre ein Abwenden
noch falscher: Wer sich abwendet, will oft nur eine neue Welt
schaffen, ohne zu bedenken, in welcher Welt er dies tut. Und
wer dies versucht, der geht dem Silicon-Valley-Mythologem
des radikalen Neubeginns nun wirklich auf den Leim. Statt-
dessen gilt es das, was uns zumindest teilweise regiert, zu
untersuchen, und zwar in den Flammen des Silicon Valleys
ebenso wie in seinen Belebtschlammbecken.
Dieser Text ist nicht zuletzt aus Gesprächen mit Wolfgang
Hagen und Paula Bialski heraus entstanden – allfällige Un-
gereimtheiten hingegen gehen selbstverständlich auf das
Konto des Autors.
LITERATUR
— Barbrook, R. & Cameron, A. (1995): The California Ideology. Mute Maga-
zine, 1/3, 1.9.1995.
— Bardini, T. (2000). Bootstrapping: Douglas Engelbart, Coevolution, and
the Origins of Personal Computing. Stanford: Stanford University Press.
— Engelbart, D. C. & English, W. K. (1968). A Research Center for Aug-
menting Human Intellect.In AFIPS Conference Proceedings of the 1968
Fall Joint Computer Conference (S. 395–410). San Francisco: The Thomp-
son Book Company.
— Hoelfer, D. (1971): Silicon Valley, USA. Electronic News, 11.1.1971. New
York City: Fairchild Publications.
— Lecuyer, C. (2006). Making Silicon Valley: Engineering Culture Innova-
tion and Industrial Growth 1930–1970. Cambridge, Mass.: The MIT Press.
— Turner, F. (2006). From Counterculture to Cyberculture – Stewart Brand
the Whole Earth Network and the Rise of Digital Utopianism. Chicago:
University of Chicago Press.
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79
CLEMENS APPRICH
78
PARANOIA
Paranoia ist nicht nur in der Psychologie ein viel diskutierter
Begriff. Auch in der Medientheorie übt sie eine ungebrochene
Faszination aus, zumal der mediale Raum durch Misstrau-
en und Verdacht gekennzeichnet ist. Ausgehend vom Fall
Schreber wird die Paranoiaforschung grob umrissen, um
Rückschlüsse auf den heutigen Medienalltag zu ziehen. Eine
paranoide Erkenntnisweise kann dabei helfen, implizite Vor-
stellungen in unserer soziotechnischen Realität offenzulegen
und so das Menschliche in einer zunehmend technifizierten
Welt besser in den Blick zu bekommen.
Deutschlands berühmtester Paranoiker, Daniel Paul Schre-
ber, beschrieb in seinen Memoiren eine neben der gewöhn-
lichen menschlichen Sprache existierende „Nervensprache,
deren sich der gesunde Mensch in der Regel nicht bewußt
wird. [...] Der Gebrauch dieser Nervensprache hängt unter
normalen (weltordnungsmäßigen) Verhältnissen natürlich
nur von dem Willen desjenigen Menschen ab, um dessen Ner-
ven es sich handelt; kein Mensch kann an und für sich einen
anderen Menschen zwingen, sich dieser Nervensprache zu
bedienen. Bei mir ist nun aber seit [...] meiner Nervenkrank-
CLEMENS APPRICH
Paranoia
heit der Fall eingetreten, daß meine Nerven von außen her
und zwar unaufhörlich ohne jeden Unterlaß in Bewegung ge-
setzt werden“ (Schreber 2003, 34). Schreber, Sohn des Leipzi-
ger Arztes und fragwürdigen Pädagogen Moritz Schreber, er-
litt einen psychotischen Schub, nachdem er im Juni 1893 zum
Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts in Dresden nomi-
niert worden war. Mit einundfünfzig noch recht jung für ein
derartig wichtiges Amt, schien er, wie dies oft bei seelischen
Krisen der Fall, von der Aufgabe regelrecht erdrückt, was
sich in einer wochenlangen Schlaflosigkeit mit zunehmen-
den Wahnvorstellungen niederschlug. Nach einem misslun-
genen Selbstmordversuch wurde er in die Nervenklinik der
Universität Leipzig eingeliefert. Der behandelnde Arzt, Paul
Emil Flechsig, der Schreber bereits acht Jahre zuvor wegen
Hypochondrie in Behandlung hatte, diagnostizierte eine
schwerwiegende dementia paranoides und wies seinen Pati-
enten in die Heilanstalt Coswig ein, von wo aus er 1894 in das
Sanatorium Sonnstein bei Pirna überstellt wurde. Dort ver-
fasste Schreber die Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken,
die er kurz nach seiner Entlassung Ende 1902 als Privatdruck
veröffentlichte. Knapp sieben Jahre später war es kein Gerin-
gerer als Sigmund Freud, der die autobiografische Schrift le-
sen und ihr in den „Psychoanalytischen Bemerkungen über
einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia
(Dementia paranoides)“ zu weltweitem Ruhm verhelfen soll-
te (vgl. Freud 1997).
Die 1911, dem Todesjahr Schrebers, erschienenen Bemer-
kungen bilden den Anfang einer langen Interpretationskette
der Paranoia, die von Freud über Canetti, Niederland, Klein
und Lacan, Deleuze und Guattari bis hin zu Friedrich Kitt-
ler reicht. Letzterer, der gemeinhin als Begründer der deut-
81
CLEMENS APPRICH
80
PARANOIA
schen Medienwissenschaft gilt, nimmt eine besondere Posi-
tion in dieser Debatte ein, da er Freuds Idee des psychischen
Apparats ernst nimmt und medientheoretisch gegen diesen
wendet.
So stellt Kittler die diskursive Beziehung von Flechsig,
Schreber und Freud her, die gleichsam ein „Nachrichtennetz-
werk“ zwischen diesen Personen spannt (vgl. Kittler 2013).
Gleich zu Beginn der Denkwürdigkeiten adressiert Schreber
seinen Arzt in einem offenen Brief. Flechsig solle eingeste-
hen, dass er ihn nicht therapiert, sondern „zum Versuchsob-
jekte für wissenschaftliche Experimente“ (Schreber 2003, IX)
gemacht habe. Der Paranoiker erhofft sich damit, den Vater
der Neuroanatomie für seine Sache zu gewinnen, nämlich
ein für alle Mal zu beweisen, dass er nerven- und eben nicht
geisteskrank sei. Er geht in dieser Sache sogar so weit, seinen
Körper für weitere medizinische Beobachtungen zur Verfü-
gung zu stellen. Da aber eine Gehirnsektion notwendigerwei-
se seinen Tod bedeutet hätte, schreibt Schreber sein eigenes,
krank gewordenes Nervensystem gleichsam auf, damit es
von Flechsig untersucht werden kann. Der Clou von Kittlers
Interpretation besteht nun darin, dass er es nicht einfach
dabei belässt, das Schreber’sche „Aufschreibesystem“ als
endogenes Wahnphänomen nachzuzeichnen, sondern da-
rin Flechsigs hirnphysiologischen Materialismus selbst am
Werke sieht. Der Umstand, dass Schreber als vermeintlich
Irrer von der Gesellschaft aus- und in das von Flechsig mitbe-
gründete Anstaltssystem eingeschlossen wurde, ermöglich-
te es ihm, den psychiatrischen Diskurs seiner Zeit minutiös
aufzuzeichnen. Es handelt sich, laut Kittler, bei Schrebers
Paranoia also nicht primär um einen endopsychischen, auf
den Vaterkomplex zurückführbaren Wahn, sondern um die
Wiederholung eben jenes Neurologenwissens, das der Arzt
dem Patienten mittels „Nervensprache“ weiterreichte und
das schließlich Eingang in die psychologisch-medizinische
Paranoiaforschung fand.
Was Kittler allerdings in der Betrachtung des „Nachrich-
tennetzes Flechsig/Schreber/Freud“ auslässt, ist die noch
viel grundlegendere Beobachtung, dass auch der psychia-
trische Diskurs und damit Schrebers Aufschreibesystem
nicht im ideologisch luftleeren Raum operierten. So hat Eric
Santner in seinem Buch My Own Private Germany dargelegt,
inwieweit die Anfänge der modernen Psychiatrie, also der
Annahme, dass seelische Erkrankungen auf Erkrankungen
des Gehirns zurückzuführen sind, in eine Zeit fallen, die ganz
grundlegend von biologistischen Erklärungsmustern durch-
setzt war (vgl. Santner 1998). Mit der im deutschen Kaiser-
reich aufkommenden „Völkischen Bewegung“ kam es um die
Jahrhundertwende zu einem Wiedererstarken des Antise-
mitismus und Antislawismus, der sich in der Idee von den
„minderwertigen Völkern“ im Osten Europas ausdrückte.
Der Rassismus vermischte sich wiederum mit einem nicht
minder kruden Sexismus. In seiner 1903 veröffentlichten
Schrift Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes
vertritt Paul Julius Möbius, Nervenarzt und ehemaliger As-
sistent an der Universität Leipzig, wie sein Kollege Flech-
sig eine biologische Ausrichtung der Psychiatrie, die sich
in einem nur halbherzig versteckten Frauenhass zeigt (vgl.
Möbius 1903). So mag es aus einer erweiterten Kittler’schen
Perspektive nicht verwundern, dass sich eines der zentralen
Motive in Schrebers Wahn um seine voranschreitende Ver-
luderung drehte. Der schreibende Patient legt eindrücklich
dar, wie er sich allmählich in eine Frau verwandelt, um mit
83
CLEMENS APPRICH
82
PARANOIA
dem zu ihm sprechenden (Ärzte-)Gott eine sexuelle Bezie-
hung eingehen zu können.
Für Freud, der Schreber liest, der wiederum den psych-
iatrischen Diskurs seiner Zeit liest, bietet die Paranoia des
Senatspräsidenten a. D. eine unverhoffte Möglichkeit, seine
Sexualitätstheorie anhand eines konkreten Beispiels zu be-
stätigen. Dies geht so weit, dass der Wiener Arzt verwun-
dert die grundlegende Übereinstimmung zwischen seiner
Theorie und dem Schreber’schen Wahn feststellt; und gleich
hinzufügt, dass Erstere bereits vor Kenntnisnahme des Zwei-
teren entstanden ist, um einen möglichen Plagiatsverdacht
gar nicht erst aufkommen zu lassen. Freud interpretiert
Schrebers Verweiblichungsphantasie als Ausdruck seiner
verdrängten Homosexualität, die er wiederum als Beweis für
eine sich in der Psychose manifestierenden Kastrationsangst
sieht. Durch die Beschränkung des Falls auf seine ödipale
Struktur, übersieht er aber dessen Komplexität. So ist die Pa-
ranoia Schrebers durchdrungen von einer antisemitischen
Rhetorik, zumal ihn die schleichende Entmannung, gemäß
den antisemitischen Vorurteilen der Zeit, zu einem „ewigen
Juden“ werden ließ (vgl. Schreber 2003, 38 ff.). Das Judentum
als verweiblichte und degenerierte Form des männlich eu-
ropäischen Geistes ist eine um 1900 wiederkehrende Figur,
wie sie beispielsweise vom Wiener Antisemiten und Miso-
gynisten Otto Weininger in Geschlecht und Charakter kulti-
viert wurde (vgl. Weininger 1920). Freud, der Weininger gut
kannte, versuchte daher seine noch junge psychoanalytische
Schule gegen antisemitische Angriffe zu verteidigen, indem
er diese, wie Eric Santner betont, an eben jener europäischen
Männlichkeit ausrichtete. Sein Ziel, die Psychoanalyse zu ei-
ner Naturwissenschaft vom Menschen zu machen, schlägt
zwar nicht in dieselbe biologistische Kerbe wie seine Kol-
legen Flechsig und Möbius, stellt aber den Versuch dar, die
männliche Heterosexualität als kulturellen Standard zu set-
zen, von der aus Schrebers Wahn lediglich als homosexuelle
Wunschfantasie erscheinen kann.
Die Paranoia, beziehungsweise der Diskurs über Para-
noia, liefert einen möglichen Ansatz, um die impliziten An-
nahmen unserer Gesellschaft offenzulegen. Der Paranoiker
überaffirmiert das soziale Substrat, das „normalerweise“
verborgen bleibt, in der paranoiden Wahnvorstellung aber
zum Vorschein kommt. Dies schließt, wie Schrebers Nerven-
sprache zeigt, die technologischen Medien mit ein. So erin-
nern die „göttlichen Strahlen“ (Schreber 2003, 34), die sich
über „ungeheure Entfernungen“ hinweg mit dem Leipziger
Nervensystem in Verbindung zu setzen wussten, nicht zu-
letzt an Radiowellen, mithilfe derer 1903 erstmals eine öf-
fentliche transatlantische Funkkommunikation gelang. Im
Schreber’schen Wahn spiegeln sich also nicht nur der An-
tisemitismus, Sexismus und Rassismus, sondern auch die
technologischen Entdeckungen jener Zeit wider. Damit legt
er, wie Wolfgang Hagen schreibt, ein frühes und äußerst prä-
zises Zeugnis davon ab, „was es heißt in den Medien zu sein“
(vgl. Hagen 2003). Schrebers Paranoia mag daher auch Auf-
schluss über unsere Gegenwart geben. Dem verhinderten Se-
natspräsidenten gleich, leben wir nämlich ebenfalls in einer
Zeit der epistemologischen Spannung, die durch einen me-
dialen Umbruch ausgelöst wurde. Der Vertrauensverlust in
etablierte Medienformate bildet da nur eine Seite einer tiefer
liegenden Krise, hinter der sich das Unbehagen gegenüber
unserer soziotechnischen Realität verbirgt. Soziale Medien
spiegeln eben nicht nur die lange erhoffte Demokratisie-
85
CLEMENS APPRICH
84
PARANOIA
rung der Kommunikation wider, sondern ebenso die in die-
ser Kommunikation enthaltenen menschlichen Abgründe.
Bestes Beispiel ist der im März 2016 von Microsoft ins Leben
gerufene Twitter-Bot Tay, der nach nur 24 Stunden wegen
antisemitischer, homophober, rassistischer und sexistischer
Tweets wieder vom Netz genommen wurde. Die Idee hinter
Tay war, eine Künstliche Intelligenz (KI) zu bauen, die selbst-
ständig lernen sollte, wie ein Mensch auf Twitter zu kommu-
nizieren. Tays Trainingsset waren also andere User des Kurz-
nachrichtendienstes, die den Bot dazu brachten Sätze wie „I
fucking hate feminists and they should all die and burn in
hell“ oder „Hitler was right I hate the jews“ zu wiederholen.
Und wie das Leipziger Aufschreibesystem schrieb das Künst-
lich Neuronale Netzwerk (KNN) fleißig mit und sponn seine
Hassbotschaften kontinuierlich weiter.
Was sich hier zeigt ist der Zusammenbruch symbolischer
Effizienz, die eine wesentliche Bedingung der Möglichkeit
von Kommunikation darstellt. Durch die zunehmende Frag-
mentierung und Personalisierung unserer medialen Realität
wird es immer schwieriger, einen gemeinsamen Referenz-
raum aufrechtzuerhalten. Im Fall von Tay führte dies zu ei-
nem infiniten Regress, da kollektive Regeln im Umgang mit
maschineller Intelligenz fehlen. Allerdings stellt sich die Fra-
ge, ob es sich dabei um einen unaufhaltsamen Niedergang,
wie von einigen Kulturpessimisten behauptet, oder um die
Symptome einer Neukonstitution kommunikativer Prozesse
handelt. Im Übergang von Massenmedien zu sozialen Medien
verschieben sich zentrale Mechanismen der Informationsge-
winnung, was nicht zuletzt Einfluss darauf hat, wie wir die
Welt und damit uns selbst wahrnehmen. Algorithmische Fil-
ter, etwa Facebooks Newsfeed oder Googles Hummingbird,
tragen dazu bei, dass wir nur noch das zu sehen bekommen,
was zuvor als unsere Präferenz ausgemacht wurde. Mit den
digitalen Medien befinden wir uns in einem Imaginären der
Partizipation, in einer Welt der individuellen Empfehlungs-
systeme, die eine kollektive Erfahrung unmöglich macht.
Um aus den Echokammern und Filterblasen auszubrechen,
gilt es den paranoiden Moment unserer Zeit produktiv zu
machen: So handelt es sich bei der Paranoia um eine „infor-
mation-processing technique“ (Chun 2008, 257), die uns da-
bei helfen kann, digitale Technologien selbst in den Blick zu
nehmen und einer kritischen Neubewertung zu unterziehen.
Hinter der Vorstellung von Künstlicher Intelligenz und einer
durch Technologie reibungslos funktionierenden Welt steckt
nämlich oft der allzumenschliche Wunsch, eine „finale“ Lö-
sung gesellschaftlicher Probleme zu finden. Selbstfahrende
Autos, pflegende Roboter oder die smarte Stadt verschieben
bestehende soziale Probleme allerdings nur in den techni-
schen Bereich. Anstatt das Paradox der gleichzeitigen Ver-
einzelung und Kollektivierung des Menschen im Technologi-
schen aufzulösen, könnten wir uns an Schreber ein Beispiel
nehmen. Mithilfe der ihm zur Verfügung stehenden Mittel,
kommunikativ, technisch oder schlicht imaginiert, versuch-
te er die für ihn aus den Fugen geratene Welt wiederherzu-
stellen. Er zog sich nicht einfach zurück, sondern nahm die
Mühe auf sich, sich zu erklären. Sein Wahn beinhaltete also
letztlich die Hoffnung, mit dem Anderen in eine bedeutungs-
volle Beziehung zu treten. Vielleicht sollten wir dies beach-
ten, wenn wir in Zukunft miteinander kommunizieren – auch
und gerade wenn es sich um einen Twitter-Bot handelt.
8786
PARANOIA
LITERATUR
— Chun, W. H. K. (2008). Control and Freedom. Power and Paranoia in the
Age of Fiber Optics. Cambridge/Mass.: The MIT Press.
— Freud, S. (1997). Psychoanalytische Bemerkungen über einen auto-
biographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides).
In Ders., Gesammelte Werke, Band VIII (S. 95–169). Frankfurt am Main:
Fischer.
— Hagen, W. (2003). „Warum Sagen Sie’s nicht laut?“. Das Radio und
Schrebers „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“. Schreber-
Colloquium, Universität Basel. Verfügbar unter http://www.whagen.
de/vortraege/SchreberCollBasel2003/vortrag.htm [21.7.2017].
— Kittler, F. A. (2013). Flechsig/Schreber/Freud. Ein Nachrichtennetz-
werk der Jahrhundertwende. In Ders., Die Wahrheit der technischen
Welt (S. 76–90). Berlin: Suhrkamp.
— Möbius, P. J. (1903). Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes.
Halle a. d. S.: Verlag von Carl Marhold.
— Santner, E. (1998). My Own Private Germany. Princeton: Princeton
University Press.
— Schreber, D. (2003). Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Berlin:
Kadmos.
— Weininger, O. (1920). Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle
Untersuchung. Wien/Leipzig: Braumüller.
forschen
91
CLAUS PIAS
90
SIMULATION
In digitalen Kulturen bestimmen Computersimulationen die
Lage der Wissenschaften. Durch sie und mit ihnen sind ein
neues Wissen, ein veränderter Problemhaushalt und ein an-
deres Wissenschaftsverständnis in die Welt gekommen. Da-
durch entstehen grundlegend andere Orientierungsmöglich-
keiten und -notwendigkeiten in der Welt, die zugleich nach
neuen Formen der Kritik verlangen.
I.
In Computersimulationen entstehendes Wissen greift heute –
etwa in Form von ökologischen, medizinischen, ökonomi-
schen oder technischen Abwägungen und Entscheidungen,
die auf diesem Wissen beruhen – tief in unseren Lebensalltag
ein. Neue wissenschaftliche Probleme und damit verbunde-
ne Forschungsfelder entstehen und formieren sich erst, wo
ebendiese Probleme ohne Computersimulation kaum oder
gar nicht behandelbar und wo Forschung oder Entwick-
lung ohne digitale Medientechnik undurchführbar gewesen
wären. Und zuletzt ist auf der Ebene des Wissenschaftsver-
CLAUS PIAS
Simulation
ständnisses zu beobachten, dass die tradierten Verhältnisse
von Theorie und Experiment sich grundlegend verschoben
haben. Aus sogenannten „Mode-1“-Wissenschaften, die sich
lange Zeit an der experimentellen und mathematischen
Mechanik Newtons als Kriterium für Wissenschaftlichkeit
schlechthin orientierten, sind zusehends System-„Ver hal-
tens wis sen schaf ten“ geworden, die (milde ausgedrückt) An-
lass zu kontroversen „gesellschaftlichen Thematisierungs-
möglichkeiten“ (vgl. Esposito 2007) geben.
Computersimulationen transformieren jedoch nicht nur
ganze Experimentalkulturen in den Natur- und Technikwis-
senschaften. Sie imprägnieren als eine neue Art von Kultur-
technik auch die „Weltbilder“ und politischen Handlungsräu-
me globalisierter Gesellschaften – sichtbar etwa im Kontext
komplexer Krisenszenarien wie Klimawandel, Epidemiologie
oder Finanzmarktdynamiken. Mit Computersimulationen hat
sich seit 1945 ein kulturtechnisches Verfahren entwickelt, das
grundlegend andere Orientierungsmöglichkeiten und -not-
wendigkeiten in der Welt mit sich bringt.
Bereits 1967 hatte der Computerpionier Joseph C. R. Lick-
lider daher vermutet, dass Computersimulation sich als ein
epochales Ereignis in der Geschichte der Wissenschaften
herausstellen werde, dessen Bedeutung der Einführung des
Buchdrucks ebenbürtig sei.
Die medien- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen
der 1980er- und 1990er-Jahre – also der Blütezeit „Neuer Me-
dien“ – haben sich allerdings unter dem Stichwort „Simulati-
on“ zumeist mit fotorealistischer Computergrafik und inter-
aktiver „Virtual Reality“ beschäftigt. Oder sie haben als Topos
einer Krise der Repräsentation die Ununterscheidbarkeit
von Simulation und ‚Wirklichkeit‘ im Sinne einer melancho-
93
CLAUS PIAS
92
SIMULATION
lischen Kulturkritik beklagt und davon unangetastete Resi-
duen des Realen aufzuspüren versucht – allerdings zumeist
ohne dabei die platonistische Denktradition von Sein und
Schein selbst infrage zu stellen. Eine gegenstandsbezogene
Auseinandersetzung mit konkreten Fällen wissenschaftli-
cher Computersimulation, die dies ermöglicht hätte, blieb
daher lange Zeit ihr blinder Fleck, zumal der Begriff „Simu-
lation“ damit zunächst einmal verbraucht war.
Erst heute scheint uns evident, wie sehr die Veränderung
der Wissenschaften hin zu digitalen Forschungskulturen
das Ergebnis eines eminent medienhistorischen Umbruchs
ist. Denn digitale Medien entwickeln einen Eigensinn, sie ge-
nerieren und bearbeiten zugleich Probleme, die zuvor oft we-
der analytisch noch experimentell zugänglich waren, sie ent-
wickeln originäre Lösungsverfahren in einer „trading zone“
(vgl. Galison 1996) zwischen oder neben den disziplinären
Wissensgebieten und eigentümliche Arbeits- und Darstel-
lungsweisen, die nicht mehr in andere Medien rückübersetzt
werden können. Dadurch markieren sie eine mediale Zäsur.
Diese vollzieht sich im Rahmen von Hard- und Softwareent-
wicklung, von wechselnden Verfahren der Modellierung und
Parametrisierung, von neuen Weisen der Datengenerierung,
-verarbeitung und -vi su ali sie rung, die zugleich Motor und
Möglichkeitsbedingung der Herausbildung von digitalen
Wissens- und Forschungskulturen sind.
Solche medialen Wissensformen werden jedoch selbst
erst in Problemumgebungen hervorgebracht, die sie alsdann
zu untersuchen beanspruchen. Denn einerseits erzeugen
Computersimulationen Zukünfte, die sie zugleich definie-
ren und operationalisieren: Zuspitzungen wie Klimakata-
strophe, Peak Oil, Super-GAU oder MAD (Mutually Assured
Destruction) entstehen erst in Situationen, in denen Com-
putersimulationen ein Denken des Undenkbaren in einem
Fächer beliebiger Szenarien zwischen wünschenswerten, zu
vermeidenden oder völlig abstrusen Zukünften gewähren.
Und andererseits skizzieren Computersimulationen immer
schon gegenwärtige Lösungs- und Verhaltensoptionen für
eben jene Krisen und Katastrophen, die sie selbst erst for-
mulierbar gemacht haben. Sie gewinnen ihren originären
Maßstab damit oft nicht an ‚realen‘ Ereignissen, sondern an
deren Vermeidung. Computersimulationen gleichen dabei
nicht nur anderweitig fehlende kognitive Sicherheiten aus,
sondern sind zugleich auch an neuen Wahrnehmungswei-
sen und Wirklichkeitskonstruktionen beteiligt. Sie interve-
nieren maßgeblich dort, wo Problemstellungen überhaupt
erst definiert, wo Interventionsoptionen diskutiert oder wo
neue Arten politischer Steuerungs- beziehungsweise Regie-
rungskunst verhandelt werden.
Der heute alltägliche Erfolg (oder Misserfolg) von zum Teil
ausschließlich in Computersimulationen gewonnenem (und
dabei stets schon ‚angewandtem‘) Wissen wurde dabei von
Beginn (das heißt von der Wasserstoffbombe) an von einer
neuen erkenntnistheoretischen Bescheidenheit begleitet.
Gemäß dieser gilt schon als ‚verstanden‘, was in seinem blo-
ßen Funktionieren erfolgreich modellier- und simulierbar
ist. In diesem Sinne wurde die hier diagnostizierte, gegen-
wärtige „Epoche der Simulation“ bereits als eine Zeit der
„Neuen Sophistik“ (Stengers 1997, 209) charakterisiert.
95
CLAUS PIAS
94
SIMULATION
II.
Dies lässt sich beispielhaft an der Klimaforschung verdeut-
lichen. Das hier durch Computersimulation entstehende
Wissen wird von den betroffenen Forscher/innen und In-
stitutionen selbst als „Szenario“ begriffen, das heißt als sys-
tematisches Bündel von Gedankenexperimenten und mögli-
chen Narrativen ohne belastbare Prognosekompetenz.
Modellierungsannahmen aus der Gründerzeit der nume-
rischen Meteorologie um 1900 und Konzepte aus den System
Dynamics der 1960er werden additiv um Aspekte erweitert,
die zwar als relevant vermutet werden, jedoch nicht grund-
legend verstanden sind, gleichwohl aber durch artifizielle Pa-
rametrisierung bearbeit- und handhabbar gemacht werden
(vgl. Edwards 2010). Zugleich sind nur wenige andere Anwen-
dungsdomänen derart abhängig von Hard- und Software, das
heißt einerseits von beobachtbaren Qualitätssprüngen durch
schiere Rechenleistung, andererseits aber von einer Software-
geschichte, die den blinden Fleck der Klimaforschung bildet.
Die schlecht oder gar nicht dokumentierten Millionen Zeilen
von Code verkörpern archäologische Schichten wissenschaft-
lichen Denkens, die aus gutem Grund nicht berührt oder um-
geschrieben, sondern nur erweitert, global standardisiert und
zertifiziert werden. Zuletzt erweist sich Klimaforschung als
essenziell abhängig von Verfahren der Visualisierung, und
zwar sowohl in wissenschaftsinterner Hinsicht zur Konsti-
tution ihrer Gegenstände durch Modellierungen als auch wis-
senschaftsextern durch die bildrhetorische Qualität der Ver-
mittlung ihrer Szenarien. Diese drei Bereiche führen zu dem
Grundproblem, dass auf Basis von fiktiven Szenarien, histo-
risch kontingenten Modellen und Bildern, von Hardwareent-
wicklungen und von Standardisierungen abhängender Validi-
tät globale Entscheidungen getroffen werden.
Daher ist die Klimafrage nicht nur ein wissenschaftspoli-
tisches, sondern auch ein medientechnisches und epistemo-
logisches Problem. Es geht weniger darum, was zu tun ist, als
darum, was gewusst werden kann. Dazu dienen drei Thesen
zur spezifischen Wissensform von Computersimulationen
(vgl. Pias 2011).
Erstens trennt sich in Computersimulationen die Perfor-
manz des Modells von der Genauigkeit der Berechnung. Der
Wissenschaftsphilosoph Johannes Lenhard hat diesen Punkt
an „Arakawas computational trick“ herausgearbeitet. Nach-
dem es 1955 gelungen war, ein umfassendes Modell der Atmo-
sphärendynamik zu implementieren, zeigte sich, dass diese
Dynamik nur wenige Wochen simulierter Zeit stabil blieb,
bis sich die Strömungsmuster in Chaos auflösten. Daraufhin
wurden zunächst Rundungsfehler für die Instabilität der Si-
mulationsmodelle verantwortlich gemacht. Akio Arakawa
wählte jedoch 1966 einen überraschend anderen Weg, indem
er von der Erhaltung kinetischer Energie in der Atmosphäre
ausging, obwohl diese nicht erhalten, sondern (etwa durch
Reibung in Wärme) umgesetzt wird. Zugespitzt gesagt heißt
dies, dass eine Simulation durch Annahmen ‚realistischer‘
werden kann, die auf einer theoretisch gesicherten Ebene
‚unrealistisch‘ sind. Computersimulationen verzeichnen hier
einen irritierenden Realismusgewinn durch die Vermehrung
fiktiver Elemente, innerhalb derer die Verbindung zwischen
der gelingenden Imitation von Systemverhalten und dem
physikalischen Wissen über dieses System brüchig wird.
Dies verweist zweitens darauf, dass es in Computersimula-
tionen weniger um Gesetze als um Regeln geht. (Darin drückt
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CLAUS PIAS
96
SIMULATION
sich vielleicht ihre Nähe zum Spiel aus.) Während Vilhelm
Bjerknes um 1900 noch einige grundlegende physikalische
Gesetze ausreichend schienen, zeigte sich schon wenig spä-
ter bei Lewis Fry Richardson, dass diese ein System wie das
Wetter nur erschütternd unvollständig beschreiben und gab
Anlass zu zahllosen Heuristiken. Simulationen leben in die-
sem Sinne von einer Balance: Angesichts der Komplexität der
Systeme, deren Verhalten sie imitieren, müssen sie reduzie-
ren und abstrahieren, gegenüber dem Reduktionismus von
Gesetzen und (erhofften) „first principles“ jedoch müssen sie
anreichern und konkretisieren. Die Wissenschaftshistorike-
rin Isabelle Stengers hat diesen Vorgang eine „anekdotische
Komplexion“ (Stengers 1997, 210) genannt. In der Klima-
forschung drückt sich dies insbesondere in der Parametri-
sierung aus, bei der es um den operationalen Umgang mit
Nichtwissen geht – beispielsweise über den Zusammenhang
von Aerosolen, Verschattung, Kondensation, Lebensdauer
und Reflexionseigenschaften von Wolken. Eine erfolgreiche
Parametrisierung erfordert ein Verständnis der Phänome-
ne, die parametrisiert werden, das oft nicht gegeben ist. Die
Regel erweist sich dabei als Form, in der etwas (strengge-
nommen) Nichtverstandenes trotzdem behandelbar ist. Als
„Verhaltenswissenschaft“ hat die Klimaforschung dabei mit
erheblichen Skalierungsproblemen zu ringen, denn Regeln,
die vielleicht innerhalb einer Größenordnung gelten, müssen
deshalb noch lange nicht für eine andere funktionieren.
Dies lässt drittens darauf schließen, dass es in Computersi-
mulationen nicht um Beweise, sondern um die Demonstrati-
on von Adäquatheit geht. Das betrifft zunächst die grundsätz-
liche Frage, was Simulationsdurchläufe eigentlich beweisen.
Selbst wenn die physikalischen Gesetze bekannt sind, sind
ihre Implikationen in komplexen Systemen nicht vorhersag-
bar, und auch ein deterministisches Modell kann auf kleinste
Störungen und winzige Veränderungen chaotisch und nicht-
linear reagieren. Die Entfaltung in der Laufzeit ist daher für
Simulationen essenziell. Lässt sich anhand von Durchläufen
einer ausreichend validierten Simulation demonstrieren,
dass sie das Verhalten eines Systems hinsichtlich bestimm-
ter Aspekte adäquat imitiert, ist damit jedoch im klassischen
Sinne noch nichts bewiesen. Konkurrierende Simulations-
modelle können, womöglich unter Zuhilfenahme ganz an-
derer Regeln, das Gleiche auf verschiedenen Wegen leisten.
Dies hängt, wie im Fall des Klimas, damit zusammen, dass
Phänomene simuliert werden, die weder analytisch noch
experimentell zugänglich sind. Die Adäquatheit eines ein-
zelnen Modells wiederum kann nicht bewiesen, sondern nur
demonstriert werden. Darüber hinaus wiederholt sich die
Frage nach Adäquatheit oder Beweisbarkeit auch innerhalb
der Simulation. Dass etwa eine approximierte Lösung (spe-
ziell durch die probeweise Erhöhung der Auflösung) sich an
die ‚Wirklichkeit‘ annähert, ist nicht beweisbar. Der Diskreti-
sierungstest ist, wie der Name sagt, kein Beweis, sondern nur
ein praktischer Test auf Stetigkeit und Konvergenz.
III.
In Analogie zum philosophischen Konstruktivismus (vgl.
Glasersfeld 1992) könnte man behaupten, dass Computersi-
mulationen sich von der Notwendigkeit eines emphatischen
Bezugs auf eine objektive Wirklichkeit emanzipiert haben.
Sie erweisen ihre Richtigkeit vielmehr durch ihr Funktio-
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CLAUS PIAS
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SIMULATION
nieren, das heißt in einer Art paradoxem Cartesianismus,
der gerade deshalb so gut funktioniert, weil er im Vollzug
zugleich alle Reduktionen cartesianischer Art kassiert. Com-
putersimulationen sind provisorische Erkenntnisstrategien,
die in einen Anwendungshorizont eingebettet sind.
Mehr noch: Die Pluralisierung von Wirklichkeiten, wie
sie der philosophische Konstruktivismus – nicht zuletzt aus
ethischen Gründen – forderte, ist im Wissenschaftsverständ-
nis der Computersimulation bereits technisch eingelöst
und in vollem Betrieb. Deswegen ist auch verschiedentlich
bemerkt worden, dass es gewisse Ähnlichkeiten zwischen
fiktionalen Werken und Modellen gebe. Im Zuge dieser Plu-
ralisierung entsteht eine Bandbreite von Meinungen, die in
der Klimaforschung zu einmaligen Koordinationsleistungen
geführt hat, um unter diesen Bedingungen noch wissen-
schaftliche Geltungsansprüche legitimieren zu können. Im
Rahmen einer weltweiten Standardisierung und Zertifizie-
rung der Forschungsorganisation unterscheidet das Intergo-
vernmental Panel on Climate Change (IPCC) daher nicht, ob
ein Szenario wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher ist,
sondern stellt Modellrechnungen für verschiedene Szenari-
en in einen Zusammenhang.
Wenn hier versucht wurde, sich den epistemologischen
Besonderheiten von Computersimulationen unter Begriffen
wie Performanz, Regel und Adäquatheit zu nähern, ist damit
noch wenig über die kulturtheoretischen und wissenschafts-
kritischen Konsequenzen einer „Epoche der Computersimu-
lation“ gesagt.
Einerseits scheinen gerade Klima-Computersimulatio-
nen die für die Moderne konstitutive soziale Konstruktion
von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft grundlegend zu
modifizieren. Die Distanz zwischen Erfahrung und Erwar-
tung, aus der heraus nach Reinhard Kosellek die Gegenwart
zum Austragungsort einer „offenen Zukunft“ werden konn-
te, wurde und wird hier restrukturiert. Denn gleichwohl
Erwartungen weiterhin das soziale und politische Handeln
antreiben, sind sie von der Semantik einer offenen Zukunft
mittlerweile weit entfernt und haben sich einem real oder
scheinbar Machbaren und seinen Risiken zugewandt, das
durch Computersimulationen erst kalkuliert und vorgelegt
wird. In Anlehnung an den Historiker Christian Geulen kann
man daher heute von einer Umkehrung der Metaphorik von
Erwartungsraum und Erfahrungshorizont sprechen: Wir le-
ben inmitten vielfältigster Erwartungen und warten auf Er-
fahrungen.
Darum ist andererseits die an die spezifische Realität der
Simulation anschließende politische Diskussion ein vermin-
tes Gebiet, denn durch den Verweis auf eine ungesicherte
Methodologie, einen unzureichenden Forschungsstand oder
den „Konstruktivismus“ der Computersimulation insgesamt
lässt sich noch das plausibelste Argument entkräften. Zu-
gleich wird Gegenaufklärung geradezu reflexartig auf Seiten
des Konservatismus vermutet – etwa wenn von der Erdölin-
dustrie finanzierte Gegenszenarien als Folge der globalen Er-
wärmung blühende Landschaften malen. Bruno Latour hat
dieser aporetischen Situation gegenwärtiger Wissenschafts-
kritik einen Essay gewidmet, der nicht ohne Grund mit Be-
obachtungen zur Klimadiskussion anhebt und die sich auf-
drängenden Fragen expliziert: „Warum fällt es mir so schwer
auszusprechen, dass die globale Erwärmung ein Faktum ist,
ob man will oder nicht? Warum kann ich nicht einfach sa-
gen, dass die Debatte abgeschlossen ist? Oder mich damit
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SIMULATION
Contexts, and Power (S. 118–157). Stanford: Stanford University Press.
— Glasersfeld von, E. (1992). Wissen, Sprache und Wirklichkeit: Arbeiten
zum radikalen Konstruktivismus. Braunschweig: Vieweg Verlag.
— Latour, B. (2007). Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von
Belang. Zürich: diaphanes.
— Pias, C. (2011): On the Epistemology of Computer Simulation.
Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 3 (2011), 29–54.
— Stengers, I. (1997). Die Erfindung der modernen Wissenschaften.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
beruhigen, dass bad guys nun einmal jede Waffe benutzen,
deren sie habhaft werden können – ob nun die altbekannte
Tatsache, wenn es ihnen so passt, oder die soziale Konstruk-
tion?“ (Latour 2007, 11).
Vielleicht rührt das von Latour bemerkte Elend der Kritik
weniger aus einer Enteignung kritischer Begriffe als aus ei-
ner Veränderung der Gegenstände. Der Versuch, Wahrheits-
ansprüche radikal zu historisieren, Evidenzen zu dekonstru-
ieren und die Fiktionalität des Faktischen aufzuweisen, hat
sich hauptsächlich an klassischen „Mode 1“-Wissenschaften
erprobt. Computersimulationen sind jedoch, so man diesen
Ausdruck benutzen will, „postmoderne“ Wissenschaften
und gehören insofern der gleichen Wissensordnung wie
der Konstruktivismus selbst an, der an ihnen stumpf wird.
Sie operieren (wie angedeutet wurde) selbstbewusst damit,
dass ihr Wissen immer schon mit einem hypothetischen In-
dex versehen ist, bekennen sich zu ihrer Fiktionalität, posi-
tionieren sich in einem Bezugsrahmen, thematisieren ihre
Performanz, wissen um ihre problematische Genese und
spezifizieren ihre begrenzte Geltung. Insofern sind – nach
der Revolution –die kritischen Optionen von gestern zu den
Betriebsbedingungen von heute geworden. Dass es für diese
neuer Formen der Kritik bedarf, steht außer Frage.
LITERATUR
— Edwards, P. N. (2010). A Vast Machine. Computer Models, Climate Data,
and the Politics of Global Warming. Cambridge, Mass.: The MIT Press.
— Esposito, E. (2007). Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt
am Main: Suhrkamp.
— Galison, P. (1996). Computer simulations and the trading zone. In P.
Galison & D. J. Stump (Hrsg.), The Disunity of Science. Boundaries,
handeln
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MERCEDES BUNZ
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INTERNET DER DINGE
Nicht mehr nur Computer, sondern auch Dinge sind heutzu-
tage an das Internet angeschlossen. Ausgerüstet mit einem
Sensor und angeschlossen an den Datenverkehr des Internets,
lernen die Dinge, die Welt um sie herum wahrzunehmen, zu
sprechen und zu sehen. Was bedeutet das?
Die Dinge ändern sich. Im Augenblick sind sie beispielsweise
nicht mehr nur in materieller, sondern auch in konzeptueller
Hinsicht interessant. Seit wenigen Jahren nehmen sie näm-
lich eine neue Rolle ein, mit der sie die schon immer schwie-
rige philosophische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt
weiter verkomplizieren. Mit Sensoren und Daten ausgestat-
tet, haben unsere Dinge eine gewisse Autonomie von uns er-
langt. Sie wollen in Bezug auf uns, auf ihre vermeintlichen
Subjekte, nicht mehr einfach nur Objekt sein. Wie wir haben
sie begonnen zu sprechen. Mit dem Internet verbunden und
durch Daten informiert, finden wir sie mit einer neuen Ei-
genschaft versehen: Sie können agieren. Dieses Agieren ist
nicht komplett neu, hat aber durch das Internet der Dinge
an Sichtbarkeit gewonnen. Im Englischen bezeichnet man es
als agency: eine milde, nicht-autarke Form von Handlungs-
MERCEDES BUNZ
Internet der Dinge
macht. Natürlich ist agency in Bezug auf Dinge eine Qualität,
die uns wohlbekannt ist, bisher haben wir sie jedoch meist in
Kunstwerken gesucht und gefunden. Wir nähern uns Kunst-
werken mit der Erwartung, dass sie uns etwas zu sagen ha-
ben. Und nun konsultieren wir auch unsere Dinge zu Hause.
Das Agieren der Dinge
Wenn unsere Dinge zu uns sprechen, sagen sie meist Trivia-
les. Mein Staubsauger informiert mich, dass er feststeckt und
dass ich „Roomba an einen neuen Standort versetzen“ soll.
Auf meinem Handy klagt Apples Siri, dass es mit den Lampen
kommuniziert, einige aber nicht antworten. Und mein Google
Home warnt mich vor einem Stau auf dem Weg zur Arbeit.
Solche Gespräche sind banal. Der Fakt, dass durch solch ein
Sprechen mit unseren Dingen sich die Rolle der Dinge selbst
verschiebt, ist es nicht.
Dass Dinge ihre eigenen Intentionen haben, wurde schon
immer vermutet. Niemand anderes als Heidegger selbst hat
uns darüber aufgeklärt. In seinem Vortrag „Das Ding“, den
er an der Bayerischen Akademie der Schönen Künste hielt,
spürte er dem damals noch stummen Agieren der Dinge
nach, wobei er sich tief in den mannigfaltigen Dimensionen
eines Krugs verlor. Bereits damals bemerkte er, dass es ein
gewisses Agieren der Dinge gibt, und auch über Heidegger
hinaus gibt es in philosophischen Diskussionen eine lange
Tradition, die Dinge als unabhängig definiert. Ein Ding, wie
Heidegger es formulierte, steht „in sich“ (Heidegger 2000,
169). Dinge sind Artefakte, gemacht oder genutzt von Men-
schen; zugleich aber zeigen sie den „Selbststand eines Selb-
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MERCEDES BUNZ
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INTERNET DER DINGE
ständigen“ (Heidegger 2000, 168). Diese Selbstständigkeit
wird jedoch unterbrochen, wenn Dinge vernetzt werden.
Eine Entwicklung, über die Heidegger sicherlich entsetzt
wäre, denn vernetzte Dinge sind nicht mehr selbstständig.
Sie werden konstant aktualisiert und verarbeiten kontinu-
ierlich Daten. Durch ihre Vernetzung sind die mitdenkende
Uhr, das selbstfahrende Auto und der herumdüsende Staub-
sauger zu Produkt-Versionen geworden. Anstatt ein fertigge-
stelltes Produkt zu sein, entwickeln sie sich immer weiter.
Das ist aber noch nicht alles. Denn vernetzte Dinge gehören,
wie der französische Philosoph Gilbert Simondon bemerk-
te, damit auch zu einer neuen, eigenen Kategorie. Indem sie
in unsere heutige „Netzwerkrealität“ eintreten, erlangen sie
nämlich neue Fähigkeiten. Sie verfolgen und verarbeiten
nicht nur Information, sondern agieren auch: Sie lernen bei-
spielsweise zu sprechen und zu sehen.
Gewohnheit und Bequemlichkeit
Der Anschluss der ersten Dinge, die mit dem Internet ver-
netzt wurden, basierte übrigens auf der uns Menschen eige-
nen Bequemlichkeit, welche eben auch die Entwicklung des
Internets der Dinge anstieß. Ende 1991 programmierten In-
formatiker der Universität Cambridge ein Skript, das Bilder
einer ausgedienten Videokamera zeigte. Die Kamera filmte
die Kaffeemaschine und zeigte so an, ob noch frischgebrüh-
ter Kaffee übrig war. Vom eigenen Computerbildschirm aus
konnte man ohne Aufzustehen herausfinden, ob der Kaffee-
behälter neben dem sogenannten Trojan Room Computer-
labor noch voll war, und es sich also lohnte, all die Treppen
hochzusteigen. Zunächst war das Kaffee-Bild nur innerhalb
des lokalen Netzwerks der Universität sichtbar; mit der Ein-
führung des ersten grafischen Browsers Mosaic im Jahre
1993 wurde die Überwachung des Kaffeebehälters dann je-
dem Webnutzer im Internet möglich. Das Netz hatte seine
erste Webcam. Die Neuheit, aber auch die Banalität des Bil-
des brachte über die Jahre Millionen von Nutzern dazu, mal
virtuell vorbeizuschauen. Als die so berühmte Krups-Kaffe-
emaschine Jahre später auf eBay versteigert wurde, war die
deutsche Nachrichtenagentur Der Spiegel bereit, eine erheb-
liche Summe für sie zu zahlen, 10.452,70 Mark. Heute ist die
Trojan-Kaffeemaschine ein historisches Ausstellungsstück
im deutschen Heinz Nixdorf MuseumsForum in Paderborn.
Von Beginn an kann man also sehen, dass das Internet der
Dinge in gewisser Weise durch menschliche Faulheit zustan-
de kam, was ja bis heute der Antrieb vieler neuer Entwicklun-
gen ist. Denn es ist die Gewohnheit, wie Wendy Chun gezeigt
hat, durch die sich neue Medien in unserem Leben einnisten
(vgl. Chun 2016). Daher versuchen Technologieunterneh-
men, ihre Dienstleistungen zu komfortablen Gewohnheiten
zu machen, die wir nicht missen wollen. Selbst wenn dies
bedeutet, mehr persönliche Daten zu teilen, oder zu wissen,
dass unsere hilfreichen kleinen Heimassistenten wie Apples
Siri oder Amazons Alexa stets zuhören. Immer angeschaltet,
bringen sie die Überwachung von sozialen Medien auf ein
neues Level und verursachen neue Invasionen in die Privat-
sphäre. Die scheint nun nur natürlich: Damit Dinge beginnen
können zu sprechen, müssen sie natürlich erst mal zuhören.
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INTERNET DER DINGE
Das Trainieren digitaler Kommunikation
Ganz so weit sind wir mit dem Sprechen allerdings noch
nicht. Im Moment versuchen die Dinge immer noch ange-
strengt, uns zu verstehen. Wie bei den Menschen scheint
auch bei den Dingen im Augenblick zu gelten, dass Kom-
munikation in der Realität meist bedeutet, misszuverste-
hen, was eigentlich gesagt wurde. Zudem bieten sie eine oft
überflüssige Hilfe an, die vom Twitteraccount @internetofs-
hit gut dokumentiert wurde: Es gibt eine Weinflasche mit
WLAN-Verbindung. Es gibt einen internetaktivierten Kü-
chentreteimer. Es gibt eine Kerze, deren Flamme sich per
App auf dem Mobiltelefon an- oder ausmachen lässt. Es gibt
ein Sofa mit einer App. Und natürlich gibt es eine Smart-Ma-
tratze, mit Körperschallsensor ausgestattet, welche als Gerät
vermarktet wird, das Seitensprünge feststellt und geheime
Nachrichten sendet, wenn jemand die Matratze zu einer
unerwarteten Tageszeit benutzt. Überflüssige Albernheiten
wie diese, über die wir uns gerne lustig machen, werden aber
nur so lange albern bleiben, wie die Dinge ihre digitale Kom-
munikation noch üben. Denn wenn das Internet der Dinge
einmal in wenigen Jahren gut in unseren Alltag eingepasst
ist, wird uns ihre (und damit auch unsere) Vernetzung nicht
mehr auffallen.
In der Tat scheint sich unsere Erwartungshaltung gegen-
über unseren datenverarbeitenden Dingen schon jetzt ver-
ändert zu haben. Weil wir nun schon seit Jahren unsere pri-
vaten Informationen weitergeben, scheinen wir Menschen
nämlich zu erwarten, dass die Dinge im Gegenzug dafür die
Situationen genau verstehen, in denen sie uns auffinden.
Immer öfter werden deshalb Produkte dafür verantwortlich
gemacht, wenn ihre Algorithmen die Situation des Nutzers
missverstehen. Auf Twitter beschweren sich Nutzer dann
darüber, nachts von Google Maps durch einen einsamen
Park geschickt zu werden. Nur halbwegs belustigt haben
Eltern Videos hochgeladen, wie Alexa beginnt, einen Porno-
sender für das Kind abzuspielen, weil es die Bitte, den Song
„Twinkle, Twinkle, Little Star“ zu spielen, als „Tickle Tickle“
verstand. Und sich über Werbeplatzierungen lustig zu ma-
chen, die durch Empfehlungsalgorithmen zu epischen Fehl-
schlägen geführt haben, ist nun fast schon ein traditionelles
Genre; etwa wenn neben dem Bericht über ein Restaurant,
in dem 250 Menschen eine Lebensmittelvergiftung erlitten,
eine Werbung mit Coupon für ein Gratis-Dinner in eben die-
sem Restaurant platziert wird.
Die Funktion der Dinge
Das alles wird bald aufhören. Viel zu schnell werden unsere
Dinge reibungslos funktionieren und aufhören, die ihnen ei-
gene Dingheit durch Irritationen zur Schau zu stellen. Durch
mehr und bessere Daten informiert, werden sie zu personali-
sierten Dingen, die perfekt funktionieren. Und damit werden
unsere Dinge sich verändert haben. Dies muss nicht unbe-
dingt eine Verschlechterung bedeuten, wenn wir beginnen,
uns für die Funktionsweise dieser Dinge zu interessieren und
uns eine Vorstellung davon machen, was wir von eben diesen
nun vernetzen Dingen überhaupt wollen. Hightech-Entwick-
lungen müssen nicht zwangsläufig zur Profitmaximierung
genutzt werden. Wie der englische Theoretiker Nick Srnicek
ausgeführt hat, könnten sie auch einer postkapitalistischen
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MERCEDES BUNZ
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INTERNET DER DINGE
Ökonomie dienen, die fähig ist, eine utopische Welt ohne Ar-
beit zu unterstützen. Viel zu oft wird unsere zeitgenössische
Technologie kapitalistischer Interessen beschuldigt, die ihr
nicht eigen sind, sich in ihr aber allzu gut verstecken.
Das Smartphone ist hier beispielsweise ein interessanter
Fall. Mittlerweile ein Mehrzweckcomputer, der nur noch sel-
ten als Telefon genutzt wird, simuliert es auch viele andere
Geräte: einen Fernsehbildschirm, eine Zeitung, ein Buch,
eine Landkarte oder einen E-Mail-Posteingang. Um diese
Funktionen zu unterstützen, sind Smartphones mit dem In-
ternet verbunden und enthalten eine Menge Sensoren, die
ja ein zentraler Aspekt des Internets der Dinge sind. Es sind
jedoch weder das vernetzte Smartphone noch seine Senso-
ren daran schuld, dass wir es für notwendig halten, auch am
Wochenende E-Mails zu beantworten und für den Arbeit-
geber verfügbar zu sein, wie der italienische Philosoph Bifo
Berardi es behauptet. Stattdessen wird die Transformation
unserer Freizeit von einem sehr menschlichen Vorgesetz-
ten vorangetrieben, der von seinen Mitarbeitern ständige
Verfügbarkeit verlangt. Einige Unternehmen haben daher
Regeln aufgestellt, die E-Mails nach Beendigung der Arbeits-
zeit verbieten. In der Tat könnte das Mobiltelefon hier auch
ganz anders, als emanzipatorische Waffe, interpretiert wer-
den. Es erlaubt einem, aus der Entfernung für einen Pflege-
bedürftigen da zu sein – einen guten Freund, ein Kind, einen
alternden Elternteil. Und aus dieser Perspektive vereinfacht
es die Arbeit sozialer Verfügbarkeit, eine Rolle, die in dieser
Welt noch meist von Frauen getragen wird. Wie Donna Ha-
raway einst sagte: „Technology is not neutral. We’re inside of
what we make, and it’s inside of us. We’re living in a world of
connections – and it matters which ones get made and un-
made“ (zit. nach Kunzru 1997). Da Technologie politischer
Raum ist, sollte eine bewusste Nutzung dieses Raumes und
eine gewisse technische Einsicht zum Selbstverständnis zu-
künftiger Bürger werden. Denn in der Technologie sind un-
terschiedliche Arten der Anwendung und Aneignung immer
möglich und uns allen zugänglich. Dies ist auch beim Inter-
net der Dinge der Fall. Für welche emanzipatorischen Ent-
wicklungen könnten wir also das Internet der Dinge in jedem
unserer Lebens- und Arbeitsgebiete nutzen?
Die Gleichheit der Dinge
Selbst wenn wir in das Funktionieren der Dinge eingreifen
können und sollen – etwas an der zunehmenden Vernetzung
unserer Dinge bleibt beunruhigend. Bestimmen lässt sich
diese Beunruhigung aus philosophischer Perspektive: Wenn
personalisierte Dinge individuell auf bestimmte Situationen
antworten, ist eine Gleichheit der Dinge nicht mehr gege-
ben. Durch ihren spezifischen Standort oder ihre spezifische
Nutzung informiert, wird die Individualität der Dinge stär-
ker und ihre Serialität verblasst. Dies ist besorgniserregend–
denn nach Hannah Arendt war es eben ihre Serialität und
Beständigkeit, welche Gleichheit in unserer Welt verankerte
(vgl. Arendt 1994, 28). Unsere Dinge überdauern und überle-
ben uns und stabilisieren damit unsere menschliche Welt,
indem sie beständiger und dauerhafter sind als wir. Sie geht
sogar noch weiter: Dass wir uns vor den gleichen Dingen
befinden, war ihr ebenfalls wichtig. Dieser Punkt erscheint
banal– selbstverständlich nutzen wir alle einen Stuhl auf
gleiche Weise, um darauf zu sitzen. Aber für sie ist es genau
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INTERNET DER DINGE
dieser Aspekt, der unsere Welt stabilisiert, weil die „Weltdin-
ge die Aufgabe (haben) menschliches Leben zu stabilisieren“,
indem sie den Menschen „eine menschliche Selbigkeit dar-
bieten, eine Identität, die sich daraus herleitet, daß der glei-
che Stuhl und der gleiche Tisch den jeden Tag veränderten
Menschen mit gleichbleibender Vertrautheit entgegenste-
hen. [...] Was der Subjektivität des Menschen entgegensteht
[...] ist die Objektivität, die Gegenständlichkeit der von ihm
selbst hergestellten Welt.“ (Arendt 1994, 125)
Und genau das hat sich durch das Internet der Dinge ver-
ändert – unsere Dinge bleiben nicht mehr die gleichen. Statt
einer ‚Selbigkeit‘ sind unsere Dinge nun personalisiert. In-
formiert durch ihre spezifischen Standorte oder ihre spe-
zifische Nutzung, wird ihre Individualität stärker und ihre
Serialität ebbt ab – jene Serialität, die laut Arendt in unse-
rer Welt eine Dimension der Gleichheit herstellte. Diese ist
nun nicht mehr der Fall. Auch wenn Stühle noch nicht per-
sonalisiert sind, positionieren sich zumindest Autositze be-
reits automatisch, je nachdem, welcher Nutzer beim Öffnen
der Fahrertür identifiziert wird. Immer häufiger stehen wir
nicht mehr den gleichen Dingen gegenüber, stattdessen be-
gegnet jeder von uns nun einem personalisierten Ding. Wird
die Objektivität, welche Arendt an die Gleichheit der Dinge
koppelte, schwinden, jetzt, wo wir in einer Welt personali-
sierter Dinge leben? Ist es reiner Zufall, dass der Aufstieg von
Fake News zur gleichen Zeit geschieht wie der Durchbruch
des Internets der Dinge? Arendts Denken einer Verbindung
zwischen unseren Dingen und Objektivität mag weit herge-
holt klingen, aber nur, bis wir uns fragen, ob Fake News nur
durch Zufall zeitgleich als mächtiges Element unseres Dis-
kurses erschienen sind. Wie sie bemerkte: „Wenn diese Sel-
bigkeit der Gegenstände sich auflöst und nicht mehr wahr-
nehmbar ist, so wird keine Gleichheit der ‚Menschennatur‘
… verhindern können, daß die gemeinsame Welt selbst in
Stücke geht“ (Arendt 1994, 57). Von unseren personalisierten
Dingen lernen wir, was das wichtigste Kriterium ist: in unse-
re persönliche Welt zu passen. Vor dem Hintergrund der sich
anpassenden, personalisierten Dinge erscheint der Gedanke
von personalisierten Nachrichten weniger irritierend. Den-
noch, es gibt Hoffnung. Die digitalen Plattformen, die wir be-
wohnen, mögen genau die Filterbubbles sein, welche unsere
Vorstädte schon immer waren. Doch genau wie die Vorstäd-
te sind digitale Blasen porös.