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Zugänge zu inklusionspädagogischen, sonderpädagogischen
und schulpädagogischen Themen über Cultural Mapping:
Der Film »Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« (1981) >
Joachim Bröcher >
Europa-Universität Flensburg
Die männlichen Jugendlichen trugen Hosen mit weiten Schlägen,
Schuhe mit erhöhten, aber breiten, Absätzen und langes Haar. Die
1970er Jahre propagierten in ihrer gegenkulturellen Welt des Pop
und Rock androgyne Männertypen, etwa verkörpert durch David
Bowie, wie wir ihn in dem Film »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«
in einem Konzertmitschnitt in Berlin sehen können. Doch so inno-
vativ die späten 1970er Jahre in ihrem experimentierfreudigen
Spiel mit Identitäten und in der Abkehr von den sozialen und kul-
turellen Traditionen der alten Bundesrepublik auch waren, so groß
waren auch die Spannungsfelder und Schwierigkeiten, die insbe-
sondere Kinder und Jugendliche mit problematischen soziokultu-
rellen Hintergründen zu bewältigen hatten. Hat der 1981 in die Ki-
nos gekommene Film »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« noch eine
aktuelle Bedeutung? Können wir auch für die Gegenwart noch et-
was daraus ableiten oder lernen? Hat dieser Film überhaupt eine
Bedeutung für die Sonder– und Inklusionspädagogik bzw. für die
Schul– und Sozialpädagogik der Gegenwart? Ja, denn dieser Film,
der letztlich auf den autobiographischen Aufzeichnungen einer Ju-
gendlichen mit dem Pseudonym »Christiane F.« basiert, lässt sich
auch heute noch im Sinne des Cultural Mapping als eine sozialkri-
tische, kulturgeographische Studie betrachten, die Ausschnitte aus
der West-Berliner Soziokultur der späten 1970er Jahr einfängt, ge-
nauer gesagt: aus den Teilen der West-Berliner Stadtgesellschaft,
die sich eher am Rande der bürgerlichen Gesellschaft bewegt ha-
ben und die in den Trabantenstädten, wie etwa in der Gropiusstadt,
lebten. Das Mädchen Christiane ist zunächst ganze 13 Jahre alt,
fast noch ein Kind, aber eben auch schon eine etwas frühreife Ju-
gendliche. Wie sie dann im Laufe des Films morgens, etwas blass
über der Geburtstagstorte mit den 14 Kerzen sitzt und diese aus-
pustet, neben ihr die Freundin Babs, die schon seit einiger Zeit auf
dem Kinderstrich am Bahnhof Zoo anschaffen geht, um ihren Be-
darf an Drogen finanzieren zu können. Sieben Freier in einer Stun-
de hat Babs an einem Tag geschafft und verfügt dadurch über
reichlich Geld. Später wird sie auf der Titelseite der BZ als erste
Berliner Drogentote abgelichtet werden. Christiane gerät nun nach
und nach immer weiter in diesen Sumpf aus Prostitution und Dro-
gen hinein. Noch ist »H« das große Mysterium und sie konsumiert
zunächst nur leichtere Drogen, zumeist in einer bestimmten Disko-
thek, die das Zentrum dieser Szene darstellt. Doch sie will mit ih-
rem Freund Detlef »auf einer Höhe sein«, wie sie es nennt. Das
Mädchen schlägt alle Warnungen der Peers vor Heroin in den
Wind. »Findick echt Scheiße wat de da machst«, sagt ihr der Be-
kannte, als sie sich auf der Toilette den ersten Schuss setzen will,
aber die Technik des Spritzens noch nicht richtig beherrscht. Am
Ende hilft er ihr doch. Das ist etwa in der Mitte des Films. Christi-
ane verteilt ihre Butterbrote am Bahnhof Zoo an die Jungs, die dort
anschaffen gehen, darunter Detlef, ihr Freund. Die Kamera zeigt S-
Bahnen und U-Bahnen, die sich durch das abweisend graue Meer
aus Hochhäusern bewegen, dunkle Tunnel und U-Bahn-Schächte.
Psychedelischer Sound. Von der Schule sieht man während des
ganzen Films nichts. Der Film behandelt die Schulwelt nicht als re-
levanten Ort, von dem positive Veränderungen oder Hilfestellun-
gen für die in Krisen befindlichen Jugendlichen ausgehen könnten.
Es wird impliziert, dass Schule und Lehrkräfte nicht wissen, wie es
um diese Jugendlichen in Krisen steht, und wenn sie es wüssten,
ohnehin nichts ändern könnten. Die Erwachsenen, etwa Christianes
getrennt lebende Eltern, sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als
dass sie wirklich Verantwortung für ihre Kinder übernehmen und
die Signale in deren Verhalten entschlüsseln könnten. Man möchte
die Mutter, bei der sie ja lebt, schütteln und ihr zurufen:
Schau
doch hin!
Und dem Vater, der sich gar nicht kümmert:
Übernimm
Verantwortung!
Christiane leiht sich die High Heels der Mutter
aus, um angeblich bei einer Freundin zu übernachten. In Wahrheit
tauchen die Teenager ins Nachtleben Berlins, in Peer– und Drogen-
welten ab. Die Zwangslage, über Prostitution an Geld kommen zu
müssen. Die Angst »auf Turkey« zu kommen, der Druck Geld auf-
treiben zu müssen. Die Sorge den anderen durch Sex mit Freiern
zu verletzen. Christiane peitscht »Stottermax« aus, gegen Geld, in
dessen Wohnung. Im Hintergrund flattern Vögel in einem Käfig.
Ein Bild, das auf den Zusammenhang von sexuellen Obsessionen,
Gefangensein in den eigenen Lebensverhältnissen und sexuell-
erotischen Erlebnismustern verweist. Am Ende sind sie alle gefan-
gen in ihren Lebenswelten, Mustern und Zwängen, egal ob Stri-
cher oder Freier. Es gibt keine Freiheit, wie auch die Vögel in der
Szene zwar wild flattern, in ihrem Käfig, aber niemals frei sein
werden. Dann Atzes Tod. An seiner Wand steht mit der Hand ge-
pinselt: »Can you dream about anything?« Sehnsucht nach einem
anderen Leben? Doch es gibt im Leben dieser Jugendlichen nie-
manden, der ihnen den Weg dorthin weisen könnte. Detlef und
Christiane fliehen bestürzt aus Atzes Wohnung. Erneut das Bild
der Vögel im Käfig, in Atzes Wohnung. Christiane gibt ihnen
Wasser, nimmt den Käfig aus der Wohnung des Toten mit, lässt
die Tiere später in der Stadt irgendwo stehen. Der natürliche
Kreislauf des Sorgens und Versorgens funktioniert hier nicht mehr.
Wer nie verlässlich gehalten wurde, kann einem anderen auch kei-
nen verlässlichen Halt geben, so scheint die Botschaft des Films
zu sein. Wenngleich es innerhalb der Peerwelt einige prosoziale,
wenn auch ambivalente, Verhaltensmuster zu geben scheint: »Den
nächsten Freier mache ich nur für Dich.« Die Szene, in der Chris-
tiane, die 50 D-Mark, die sie von der Mutter zum Geburtstag be-
kommen hat, mit zum Bahnhof Zoo nimmt, um dann Drogen für
sich und die Freunde davon zu kaufen: »Hier, meine Mutter hat
gemeint, ich soll mir was Schönes davon kaufen!« Warum braucht
das Mädchen soviel Halt seitens der Peers? Die Peers erscheinen
einerseits als überlebenswichtige neue Familie, doch die morali-
sche und praktische Unterstützung, die von ihnen ausgeht, geht
mit höchsten Risiken einher. In der Drogenszene an Rang zu ge-
winnen bedeutet zugleich, sich und das eigene Leben den aller-
größten Gefahren auszusetzen. Später gibt sich Christiane einen
Schuss im Bad der mütterlichen Wohnung, morgens vor der Schu-
le. Sie liegt fast bewusstlos auf dem Boden, innen vor der verrie-
gelten Tür. »Was machst Du so lange im Bad«, will die Mutter
nervös wissen. Sie muss zur Arbeit. Christiane schafft es noch, die
Tür zu öffnen. Endlich begreift die Mutter, hält das Kindergesicht
zwischen ihren Händen, und doch hält sie es nicht mit der nötigen
Konsequenz. Immerhin drängt die Mutter auf einen Entzug, zu-
sammen mit Detlef, in der eigenen Wohnung. Zusammengekauert
liegen die Jugendlichen im Bett, sie bibbern, zittern, schwitzen,
von Schmerzen geplagt, und betäuben sich mit Wein und Tablet-
ten. Detlef reißt vor lauter Verzweiflung die Tapeten von den
Wänden. Schicht für Schicht legt er frei. Ein suggestives Bild, das
auch zu biographischen Reflexionen, zur Analyse des Ineinanders
von soziokulturellem Umfeld einerseits und Lebensthemen und
Daseinsstrategien andererseits einlädt. Sie haben es erst mal ge-
schafft, vom Heroin wegzukommen, doch werden sie schon bald
rückfällig, Detlef zieht zu einem Freier, einmal nimmt er Christia-
ne dorthin mit, doch sie erträgt es nicht, wenn er im Nebenzimmer
mit dem Mann schläft. Sie geht nach nebenan und konfrontiert
ihn. »Was soll ich denn machen?« ruft er verzweifelt. Schließlich
schafft die Mutter ihre Tochter auf ein Dorf, weit weg von Berlin.
Hier gelingt es der Jugendlichen ein neues Leben zu beginnen.
Und in der Gegenwart? Jugendliche haben mehr Informationen
über die Risiken solcher Praktiken, der städtische Raum wird bes-
ser überwacht, Straßensozialarbeit und Schulsystem sind besser
vorbereitet, doch durch Digitalisierung und Globalisierung hat
sich Vieles in schwer zugängliche Bereiche verschoben. Art der
Drogen und Kontexte ihres Konsums haben sich verändert, die
seelischen Probleme dürften denen jener Zeit vergleichbar sein.