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„Erkühne Dich, weise zu sein!“ Grundrisse einer Gemeinsinn-Ökonomie

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Abstract

Die Klimastreiks junger Menschen zeigen, wie Theorie und Praxis gegeneinander ausgespielt zu werden drohen. Diese Kluft zu überwinden, ist Kernanliegen der jungen Cusanus Hochschule, die alle Autor*innen dieses Beitrags aufbauen und mitgestalten. Mit ihrem neuen Konzept der Gemeinsinn-Ökonomie zeigen sie, wie gerade die Befähigung zum reflektierten Gemeinsinn fundamental für die Neugestaltung der Wirtschaft ist.
Essay
Gesellschaft Wirtschaft Politik (GWP) 68. Jahrg., Heft 2/2019, S. 243-250 www.budrich-journals.de
https://doi.org/10.3224/gwp.v68i2.11
„Erkühne Dich, weise zu sein!“
Grundrisse einer Gemeinsinn-Ökonomie
Silja Graupe, Reinhard Loske, Walter O. Ötsch
Im Rahmen der „Fridays for future“-Bewegung streiken Millionen junger Menschen
rund um die Welt. Die meisten von ihnen verweigern den Schulunterricht; andere
bleiben den Universitäten fern. Was die jungen Menschen nach wie vor auf die Stra-
ßen treibt, ist die realistische Empfindung, dass wissenschaftlicher Erkenntnis rund
um den Klimawandel keine angemessenen Taten folgen. Politisches und tägliches
Handeln vermögen nicht Schritt zu halten. Diese Kluft zu überwinden, ist Kernanlie-
gen der jungen Cusanus Hochschule, die alle Autor*innen dieses Beitrags aufbauen
und mitgestalten.
Mit dem Konzept der Gemeinsinn-Ökonomie suchen wir den grundlegenden
Punkt für ein wirklich neues Denken und Handeln zu treffen. Von Ökonomen viel zi-
tiert ist die Aussage von Adam Smith, es käme in der modernen Wirtschaft nicht
mehr darauf an, vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers zu erwarten,
was wir zur Ernährung brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen
wahrnehmen. Wir hätten uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe zu
wenden. Der Gemeinsinn, der befähigt, das eigene Wollen und die eigenen Bedürfnis-
sen auf andere auszurichten, wird so aus der Praxis der Wirtschaft als allenfalls roman-
tische, prinzipiell aber nutzlose Fähigkeit verbannt. Aus dieser Verbannung möchten
wir ihn befreien.
Richtig ist, dass Smith selbst allenfalls auf eine rein deskriptive Aussage über wirt-
schaftliche Veränderungen seiner Zeit abzielte. 1 Dennoch hat sich daraus mit der Zeit
Silja Graupe
Mitbegründerin der Cusanus Hochschule,
Professorin für Ökonomie und Philosophie und
Leiterin des Instituts für Ökonomie
Reinhard Loske
Präsident der Cusanus Hochschule, Professor für
Nachhaltigkeit und Gesellschaftsgestaltung
Walter O. Ötsch
Mitbegründer der Cusanus Hochschule und
Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte
244 Silja Graupe, Reinhard Loske, Walter O. Ötsch
insbesondere im Neoliberalismus eine Vorannahme über das prinzipielle Nicht-
Wissen-Können, ja Nicht-Wissen-Sollen von Meinungen, Haltungen und Wissensbe-
ständen anderer Menschen gebildet. So beharrt etwa Friedrich August von Hayek da-
rauf, dass Wissen in der heutigen Wirtschaft radikal verteilt sei und es sich um eine
„Anmaßung des Wissens“ handele, überhaupt Kenntnis von den allgemeinen Voraus-
setzungen ebenso wie Folgen des eigenen wirtschaftlichen Handelns erlangen zu wol-
len. Milton Friedman, Kollege Hayeks an der Chicago School of Economics, erhebt diese
Unmöglichkeit sogar zu einer moralischen Forderung. Es sei die Pflicht gerade von
Unternehmen, nichts anderes zu tun, als ihre Profite auf Basis individueller Kalküle zu
maximieren. Die Idee des Gemeinsinns wurde damit aus der Ökonomie als Wissen-
schaft getilgt, was wiederum Auswirkungen auf die Praxis hat: Moralfragen werden in
der heutigen Ausbildung von Ökonom*innen in der Regel nicht mehr aufgeworfen
und so kommt die Fähigkeit zu ihrer Reflexion in der Wirtschaft mehr und mehr ab-
handen.
Für uns ist eine Gemeinsinn-Ökonomie eine Wirtschaft, in der ihre Subjekte diese
kognitiven wie moralischen Grenzen aufsprengen. Hierfür geht es darum, Formen
und Möglichkeiten zu schaffen, die Einbettung von eigenen und fremden wirtschaftli-
chen Handlungen in soziale und ökologische nicht nur zu verstehen, sondern auch ak-
tiv und gemeinsam mit anderen zu gestalten. Was ist damit gemeint? Der ökonomisch
rational handelnde Akteur als Idealbild der Neoklassik ist ein Meister darin, zwischen
gegebenen Alternativen zu wählen, das macht seine Freiheit aus. Was er aber nicht
vermag, ist, die Regeln, nach denen er diese Wahl trifft, zu reflektieren, geschweige
denn zu verändern. Nach Hayek werden die ökonomischen Regeln lediglich unbe-
wusst und damit quasi-automatisch befolgt; der „Ordnung“ selbst hingegen wird ein
„Überbewusstsein“ unterlegt und sie damit aller menschlichen Reflexion und Gestalt-
barkeit entzogen.2 Wirtschaftliche Akteure sollen auf Kräfte vertrauen, die ihre indivi-
duellen Handlungen koordinieren, und dieses Vertrauen soll schlicht blind sein, da be-
reits das bloße Erkennen dieser Kräfte unmöglich erscheint. Konkret heißt dies: Weil
die Ordnung der Wirtschaft heute wesentlich durch das System der Preise gebildet
wird, soll sich jeder in bloßer Demut gegenüber den Preissignalen üben und ansons-
ten lediglich auf gut Glück darauf hoffen, dass sich daraus ein vorzugswürdiges Gan-
zes ergeben werde.
Gewiss mögen damit viele Aspekte der heutigen Wirtschaft adäquat charakterisiert
sein. Auch etwa die Leitidee der Konsumentensouveränität baut darauf, dass wirt-
schaftliche Akteure allein durch die Wahl der „richtigen“ (etwa fairen oder ökologi-
schen) Produkte zu einer Veränderung der Welt beitragen könnten. Und die Idee der
gesellschaftlichen Steuerung durch Anreize setzt darauf, dass die Produzenten dieser
Produkte ihrerseits bloß blind auf Preissignale reagieren, und es allenfalls im „Daten-
kranz“ der Wirtschaft, d.h. in anderen gesellschaftlichen Bereichen, möglich ist, kol-
lektiv gewünschte Resultate des Wirtschaftens zu antizipieren (etwa im Umwelt- und
Klimaschutz) und diese sodann in Preissignale zu übersetzen. Auch wenn wir diese
äußere Form der Begrenzung wirtschaftlichen Eigensinns unter den heutigen wirt-
schaftlichen Umständen außerordentlich wichtig finden – keineswegs sind wir hier na-
„Erkühne Dich, weise zu sein!“ 245
iv!3 –, so braucht es dazu dennoch dringend Alternativen: Es braucht eine Wiederbe-
lebung und Stärkung moralischer Innovationskraft inmitten der Wirtschaft!
Erscheint dem Menschen die Ordnung der Wirtschaft einfach nur als gegeben, so
droht seinem Eigen- oder Privatsinn, wie Friedrich Schiller formuliert, ein bloßer
„Kaltsinn“ entgegenzustehen, der ihn Gesetze nur empfangen oder gar hassen und
hintergehen lässt, da „ihn das Gefühl für deren Richtigkeit und Sinnhaftigkeit nir-
gends findet“.4 Oder er erträgt eben – so fügen wir hier über Schiller hinausgehend an
– die „Sachzwänge“ des Marktes mit stoischem Gleichmut, als ob sie einer unab-
wendbaren Naturkatastrophe gleichkämen. Die Allmachtsgefühle des Eigensinns
(„jeder ist seines Glückes Schmied!“) drohen so stets in Gefühle absoluter Ohnmacht
des Kaltsinns („ich kann eh nichts machen!“) umzuschlagen und umgekehrt, ohne
dass eine mittlere Position zwischen diesen Extremen gefunden werden könnte.
Genau um dieses Auffinden geht es uns nun. Hierfür ist, um nochmals mit Schil-
ler zu sprechen, eine „echte Geselligkeit“ zu entwickeln, durch die der Mensch „im-
mer fähig ist, sich in das Zentrum des Ganzen zu versetzen und sein Individuum zur
Gattung zu steigern“. Kurz gesagt, gehen wir mit Vertretern der Aufklärung davon
aus, dass diese Entwicklung ihren Ausgang in einem intuitiven Gemeinsinn nehmen
kann, der allen Menschen eigen ist. Während dieser in einer auf Privatsinn und Kalt-
sinn getrimmten Wirtschaft den Menschen aber abtrainiert und allenfalls als naives
Gutmenschentum müde belächelt wird, steht im Fokus einer Gemeinsinn-Ökonomie,
diesen intuitiven Gemeinsinn zu einem aufgeklärten und damit bewusst-gestalteri-
schen Gemeinsinn weiterzuentwickeln. Keineswegs ist damit nun wieder nur eine
neue Form eines „planerischen Verstands“ gemeint. Stattdessen geht es um etwas
grundsätzlich anderes: um die Befähigung zur Freiheit, sich die Regeln des Zusammen-
lebens gemeinsam zu schaffen.
Wie etwa die Forschung zu den Commons (d.h. der gemeinschaftlichen Verant-
wortung für Gemeingüter) zeigt, vermögen Menschen sehr wohl auch in wirtschaftli-
chen Bereichen ihren Eigensinn zu überwinden und stattdessen ein gemeinsames
Wissen im Umgang etwa mit natürlichen Ressourcen zu entwickeln und daraus Re-
geln ihres wirtschaftlichen Zusammenlebens zu begründen.5 Dabei geht diesem Pro-
zess gerade kein abstraktes Ideal voraus; auch wird hier den Menschen nichts von au-
ßen vorgeschrieben. Vielmehr liegt das genuin Andere darin, dass es sich um die dy-
namische Entwicklung einer gemeinsamen und geteilten Kultur handelt, in der Men-
schen gewissermaßen Spielzüge und Spielregeln ihrer gemeinsamen Aktivitäten zu-
gleich schöpferisch gestalten. Auf diese Weise muss es erst gar nicht zur „Tragik der
Allmende“ (Garret Hardin) kommen, und es müssen sich die vielen Individuen folg-
lich auch nicht mehr einem Abstrakten (sei es die „unsichtbare Hand des Marktes“
oder die „sichtbare Faust des Staates“) beugen, um Schaden durch den jeweils ande-
ren abzuwenden. Dies bedeutet selbstverständlich keine automatische Harmonie,
wohl aber die soziale Fähigkeit zum Austragen von Konflikten und das Eingehen von
Kompromissen zum Wohle aller.
Doch kann ein solcher Gemeinsinn nicht allenfalls für sog. kleine Gemeinschaften
taugen? Schwelgen wir hier nicht einfach, wie Hayek vermuten würde, in den von der
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Stammesgesellschaft ererbten Gefühlen? Diese Fragen sind ernst zu nehmen. Wäre es
doch absurd, auf die planetarischen Herausforderungen der Gegenwart insbesondere
angesichts der drohenden Klimakatastrophe mit einer reinen Rückbesinnung auf die
Gestaltung bloß kleiner wirtschaftlicher Einheiten zu reagieren. Die Verbindung von
Nationalismus und wirtschaftlichem Protektionismus, wie sie heute wieder verstärkt
gesucht wird, zeigt hier in aller Deutlichkeit das Problem auf. Doch ist nun keines-
wegs umgekehrt das Kind mit dem Bade auszuschütten. Stattdessen ist die Idee der
Subsidiarität stark zu machen: Die Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Ge-
staltungskraft wirtschaftlicher Handlungen sollte zunächst primär bei kleineren Ein-
heiten liegen, sich darin aber keineswegs erschöpfen. Sobald sich Probleme im Klei-
nen nicht mehr lösen lassen, sollten sich Akteure ihrer Einbettung in größere Zu-
sammenhänge schrittweise bewusst werden dürfen und diese zusammen mit anderen
Gemeinschaften, die diese Probleme ebenfalls angehen, gestalten können. Dies
schließt die Fähigkeit ein, eben nicht nur mit den Nahestehenden, sondern auch mit
den zunächst Fremden umzugehen. Ein wahrer Gemeinsinn, so meinen wir, verlangt
einen globalen Blick und eine globale Vision vom menschlichen Miteinander im Sinne
eines „guten Lebens für alle“.
Dazu müssen auch die strukturellen Zusammenhänge der globalen Wirtschaft und
ihrer Machtstrukturen erkannt werden. Was es braucht, ist, nicht nur das herrschende
Bild vom Menschen, sondern auch das herrschende Bild vom System der Wirtschaft
in seinen Tiefenstrukturen und Grundannahmen explizit in den Blick zu nehmen und
klar die Systemmängel des Kapitalismus wie die schwerwiegenden ökologischen Prob-
leme zu analysieren. Verbindet sich dies mit der Fähigkeit zur Imagination positiver
Zukunft (imagined futures im Sinne Jens Beckerts), so kann daraus nicht nur Kritik,
sondern genuin neue Gestaltungskraft gerade auch auf politischer Ebene erwachsen.6
Es sollte hier deutlich werden, wie wir uns mit dem Begriff der Gemeinsinn-
Ökonomie etwa von der Commons-based Economy, der solidarischen Ökonomie
oder der Gemeinwohlökonomie nicht strikt abzugrenzen, sondern sie in eine umfas-
sendere Bewegung der Einbettung wirtschaftlichen Handelns in die Weltgesellschaft
sowie die Natur aufzunehmen suchen. Droht damit aber nicht die Gefahr, sich am
Ende zum größtmöglichen Moralapostel aufzuschwingen, der nun gar noch zu wissen
vorgibt, was für eine Gesellschaft im planetarischen Ausmaße gut und richtig ist? Dies
ist nicht unser Anliegen. Denn mit dem Begriff des Gemeinsinns ist nun gerade kein
vorgegebenes Ideal bezeichnet. Eher ist er ein „Spürsinn“.7 Mit ihm lassen sich weder
ein vorgegebenes Ziel noch eine fixe Vorstellung von Gesellschaft (etwa im Sinne ei-
ner Postwachstumsgesellschaft) markieren. Vielmehr wurde der Gemeinsinn quer
durch die Geschichte der Philosophie stets als genuin kreativer Sinn gesehen, der
Menschen zu einer wahrlich lebenspraktischen Urteilskraft inmitten ihrer jeweilig ei-
genen Lebensumstände verhilft. Nicht also darum geht es, ihn mit bloßen Vorschrif-
ten, Regeln und Verboten in Zusammenhang zu bringen, wenngleich solche im Falle
der Gefahrenabwehr vonnöten sein können. Stattdessen verstehen wir unter der Ge-
meinsinn-Ökonomie eine Wirtschaft, in der die ebenso praktische wie reflektierte Le-
bensklugheit der Menschen entfesselt ist.
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Leitet man den Gemeinsinn aus der bereits von Aristoteles charakterisierten Wis-
sensform der phronesis (Klugheit) ab, die eine besondere Fähigkeit zur Orientierung
eigenen und fremden Handelns darstellt, so wird deutlich, dass er gerade kein Ziel au-
ßerhalb von sich selbst kennen und ihm ein solches schon gar nicht vorgegeben wer-
den kann. Der Gemeinsinn lässt uns immer wieder mit anderen und für andere nach
dem gemeinsam Möglichen suchen. Mit dem Begriff der Gemeinsinn-Ökonomie lässt
sich folglich kein Ergebnis bezeichnen, sondern ein dynamischer Prozess. Bezugneh-
mend auf Michael Sandel lässt sich sagen: Während jede rationale Entscheidung uns
fragen lässt, was wir möchten, lässt uns der Gemeinsinn fragen, welchen Weg wir
einschlagen wollen. Und dabei entsteht dieser Weg, wie ein altes chinesisches Sprich-
wort sagt, gleichsam im Gehen. Dabei ist er bereits Ziel an sich – und als solches ein
ständig neues Wagnis.
Dies meint nun wieder nicht, einer bloßen Beliebigkeit, einem anything goes das
Wort zu reden. Denn unzweifelhaft ist der Gemeinsinn kein willkürlicher, sondern ein
moralischer Sinn. Doch ist dies in einer spezifischen Art und Weise der Fall, die sich
eng an den Kerngedanken der Aufklärung bindet: Unter „Moral“ lassen sich zunächst
umfassend alle innergesellschaftlichen Handlungsvorgaben verstehen, die, ob gut oder
schlecht, von Menschen schlicht befolgt werden, seien dies informelle Erwartungen,
Konventionen, mit sozialen Sanktionen verbundene Regeln oder rechtlich festge-
schriebene Verbote. Nicht nur der Neoliberalismus, sondern auch weite Teile der
Verhaltensökonomie und der Kognitionswissenschaften gehen davon aus, dass diese
Befolgung weitgehend unbewusst erfolgt und damit der Reflexion entzogen ist. Der
große Teil unseres individuellen Denkens und Handelns soll wie automatisch auf so-
zial vermittelten Normen, Werten und Grundannahmen beruhen, die unterhalb des
Radars unserer Aufmerksamkeit nicht nur bestimmen, was wir in der Objektwelt wäh-
len, sondern auch, wie wir uns als Individuen begreifen, wie wir fühlen und was wir zu
erreichen suchen. Dabei soll es sich überwiegend um kognitive und imaginative Struk-
turen handeln, wie etwa die moderne Debatte um das Framing zeigt.
Natürlich leugnen wir die Einbettung individuellen Denkens und Handelns in so-
ziale Kontexte (allen voran der Sprache) nicht. Was wir aber ablehnen, ist die Vorstel-
lung, dass Moral ein für alle Mal im Unbewussten zu verbleiben habe. Stattdessen
halten wir an der Kernidee der Aufklärung fest, dass Menschen sich reflexiv ins Ver-
hältnis zu den Normen ihrer Gruppe, ihrer Gesellschaft oder Kultur verhalten kön-
nen, um diese aktiv zu bestätigen oder aber umzugestalten. Im Grunde gilt hier die al-
te Einsicht des Aristoteles: Als Menschen gehört es zu unseren ureigenen Fähigkeiten,
wahrzunehmen, dass und wie wir wahrnehmen. Genau dies gilt auch und gerade im
kognitiv-imaginären Bereich. Als Menschen verfügen wir über die Freiheit, unsere
Aufmerksamkeit gewissermaßen auf die gemeinsamen Instrumente der Weltwahr-
nehmung zu richten und diese schöpferisch auszugestalten. In einer Gemeinsinn-
Ökonomie nun ist diese Freiheit zumindest auf dreifache Weise zu bestärken. Erstens
geht es darum, sie in genuin nicht-ökonomischen Bereichen (wie etwa der Medizin,
der Bildung oder der Kunst) gegen die unbewusste Übernahme ökonomischer Vor-
stellungsbilder und Grundannahmen im Sinne einer Gegenstrategie zur Ökonomisie-
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rung stark zu machen. Zweitens geht es darum, die Freiheit dort zu fördern, wo die
Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns geschaffen werden. Drittens – und
dies scheint uns der wohl wichtigste Punkt zu sein – ist diese Freiheit in der Wirt-
schaft selbst zur Geltung zu bringen. Um den Mut der Menschen, den ureigenen Vo-
raussetzungsboden ihrer wirtschaftlichen Gewohnheiten verstehen zu lernen, um in
dieser Tiefe Formen und Möglichkeiten der Neugestaltung offenbar werden zu las-
sen.8
Uns ist wohl bewusst, dass gerade die moderne Verhaltensökonomie ebenso wie
der Neoliberalismus die Umbildung dieses Sockels des Denkens nur in der „Freiheit“
einer kleinen Elite sieht, die dessen Gestalt erkennen und gleichsam unter dem Radar
der Aufmerksamkeit der Masse durch Propaganda, PR, Public Spin und Markentech-
nik umformen kann.9 Doch genau hiervon grenzen wir uns scharf ab. Statt der Idee
der Beeinflussung rücken wir die Idee der Befähigung in den Mittelpunkt: Es sind in
der Wirtschaft Räume einer Meinungserarbeitungsfreiheit zu bewahren bzw. über-
haupt erst zu schaffen und Menschen zur eigenen Ausgestaltung und Inanspruch-
nahme dieser Räume zu ermutigen. Dies sehen wir auch und gerade als eine Aufgabe
neuer Formen der Wirtschaftspolitik. Wo immer möglich, nicht zum Guten zwingen,
sondern das Gute mutig selbst entdecken lassen und diesen Entdeckergeist nicht be-
strafen, könnte hier ein einfaches Motto lauten.
Ausdrücklich betonen wir, dass wir die Gemeinsinn-Ökonomie – in typischer
aufklärerischer Manier – wesentlich als ein Bildungsprojekt verstehen. Um dies ver-
ständlich zu machen, kehren wir an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu-
rück: Gerade macht die „Fridays for Future“-Bewegung wieder einmal deutlich, dass
sich vor allem junge Menschen für die Bewahrung eines für alle lebenswerten Plane-
ten einsetzen möchten. Doch klafft eine wie unüberwindlich erscheinende Lücke zwi-
schen (natur)wissenschaftlicher Erkenntnis und der Frage nach dem rechten mensch-
lichen Tun. Der intuitive Gemeinsinn („hier läuft etwas gehörig schief“) mag sich vor
allem im Bereich der Wirtschaft nicht zu einem handlungsverändernden reflexiven
Gemeinsinn auszubilden. Unsere Überzeugung ist, dass dies weder am Können noch
am Willen der jungen Menschen liegt, sondern dass es gerade die Aufgabe von uns
Ökonominnen und Ökonomen ist, hierfür Orte der Bildung zu schaffen. Doch kann
die nur gelingen, wenn wir unsere Wissenschaft selbst umfassend transformieren.
Diesen Beitrag beschließend, möchten wir diesbezüglich zumindest ein paar Andeu-
tungen machen.
Es ist schlicht zu konstatieren, dass im heutigen Mainstream der Wirtschaftswis-
senschaft der Gemeinsinn als Erkenntnisfähigkeit ebenso wenig Platz hat wie im
Hauptstrom der Wirtschaft. So gibt zwar etwa Kenneth Arrow, Nobelpreisträger der
Wirtschaftswissenschaften, in seiner Schrift Competitive Analysis (gemeinsam mit Frank
Hahn) zu: „The immediate common sense answer to the question ‘what will an econ-
omy motivated by individual greed and controlled by a very large number of different
agents look like?’ is probably ‘there will be chaos’”. Doch postuliert er sogleich als ei-
gentliches Ziel der Wirtschaftswissenschaft, exakt diesen kritischen Geist des Ge-
meinsinns zum Verstummen zu bringen. Seit ihrer Begründung im 18. Jahrhundert sei
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ihre zentrale Aufgabe gewesen, Menschen zu überzeugen, ihrem alltäglichen Verstand
nicht mehr zu trauen und ihn durch ein Wissen von Modellen zu ersetzen, in denen
aus Egoismus und Eigensinn stets Harmonie und Fortschritt erwachse. Tatsächlich ist
dies insbesondere in der Entwicklung der neoklassischen Theorie der Fall gewesen,
die jeglichen moralischen Sinn zugunsten eines mathematisch-formalen Verstandes
aus dem Bereich des Wissenschaftlichen in das rein Private verbannt hat (einen radi-
kalen Umschwung hat insbesondere Lionel Robbins vollzogen, der in seiner Bestim-
mung der Ökonomie – als Wissenschaft von der Allokation knapper Ressourcen –
das Moralische explizit wegdefiniert hat).
Auf diese Form der Verbannung verweist auch jüngste empirische Forschung der
Cusanus Hochschule: Viel junge Menschen beginnen das Studium der Volkswirt-
schaftslehre mit dem Willen, Welt tiefgründig zu verstehen und zu gestalten.10 Doch
finden sie sich während dieses Studiums einer nahezu unüberbrückbaren Kluft zwi-
schen Theorie und Praxis ausgesetzt, die diesem Willen in praktischer, epistemologi-
scher und moralischer Hinsicht fundamental entgegensteht. Grund hierfür ist, dass
die moderne Ökonomik vorwiegend nicht mehr auf die Ausbildung besagter phronesis,
ja noch nicht einmal mehr auf die techne im Sinne eines vertieften praktischen Herstel-
lungswissens, sondern allein auf die episteme, d.h. die Vermittlung rein theoretischen
Wissens setzt, das mit Hilfe mathematischer Gesetzmäßigkeit absolute Sicherheit und
unvergängliche Ewigkeit suggeriert, die aber nur für ein Leben in der Scheinwelt tau-
gen.
Auf diese Weise kann der intuitive Gemeinsinn junger Menschen sich nicht zu ei-
nem reflektierten Gemeinsinn entfalten. Bereits im Jahre 1753 macht Friedrich Chris-
toph Oetinger darauf aufmerksam, dass der Gemeinsinn eine „lebendige und durch-
dringende Wahrnehmung von Objekten, nämlich solchen, die der ganzen Menschheit
offensichtlich sind“, ist.11 Sein Wesensmerkmal ist, tiefer in den Alltag einzudringen,
als es uns in der Hektik des Alltags ansonsten möglich ist. Doch der ökonomische
Mainstream tötet diese Lebendigkeit ab. Mit Oetinger gesagt, handelt es sich hier um
eine Form der Verbildung, die Menschen zu „Stumpfsinnigen“ werden lässt.
Aufgabe einer wahrhaft aufgeklärten ökonomischen Wissenschaft kann dies nicht
sein. Stattdessen sollte sie sich in der Bildung um ein zumindest Dreifaches bemühen:
Erstens sollte sie zu einem pluralen, multiperspektivischen Wissenserwerb angesichts
der drängenden Probleme unserer Zeit befähigen und dabei Lernende unter die Ober-
fläche des scheinbar Selbstverständlichen vordringen lassen. Zweitens sollte sie Men-
schen zur philosophischen (Selbst)Reflexion einladen und befähigen, ihr Bewusstsein
als ökonomische Akteure im oben besagten moralischen Sinne zu bilden. Drittens
sollte sie im Sinne einer „negativen Pädagogik“ schädliche Einflüsse weghalten und
der Verbildung nicht länger Vorschub zu leisten, d.h. Vorurteile vermeiden bzw.
schon vorhandene beseitigen. Dazu gehören auch und gerade jene Vorurteile, die die
Wissenschaft selbst in die Welt setzt. In der Ökonomik zählen dazu etwa die Idee des
homo oeconomicus, die dem bloßen Privatsinn Vorschub leistet, und ebenso besagte Rede
vom vermeintlich Unbewussten der „spontanen Ordnung“ der Wirtschaft. Zentral ist
dabei die Aufklärung über die Rolle von unreflektiert geteilten Bildern, wie das „des
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Marktes“, die gerade die ökonomischen Lehrbücher unterschwellig transportieren.12
Sie bewusst zu machen, ist auch ein Weg, um eigene Vorurteile zu erkunden. Denn
gerade solche Vorurteile verhindern es, sich zu erkühnen, inmitten der Wirtschaft ein
Weiser zu sein. Nicht nur die jeden Freitag protestierenden Schülerinnen und Schüler
sowie Studierenden haben Besseres verdient.
Anmerkungen
1 Die Interpretation heutiger Ökonomen von Smith kann man mit guten Gründen bestreiten. Smith
sah den Menschen auch und gerade als moralisches Wesen. Vgl. Walter O. Ötsch: Imaginative
Grundlagen bei Adam Smith. Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 3/2016, S. 315-340.
2 Vgl. Kapitel 8 von Walter O. Ötsch: Mythos Markt. Mythos Neoklassik. Das Elend des Marktfun-
damentalismus, Metropolis Marburg 2019.
3 Reinhard Loske hat in seinem Buch „Politik der Zukunftsfähigkeit“ (S. Fischer, 2016) im Gegenteil
ausführlich beschrieben, dass ökonomische Anreizsysteme wie CO2-Steuern unter gegebenen wirt-
schaftlichen Rahmenbedingungen zwingend sind, um Klimaschutzziele überhaupt erreichen zu kön-
nen.
4 Friedrich Schiller: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Leipzig 1875, Brief VI. Auch
die Aussage „Erkühne Dich, weise zu sein“! im Titel dieses Beitrags stammt aus dieser Quelle. Sie ist
Schillers Übersetzung des „sapere aude!“ der Aufklärung.
5 Vgl. dazu Silke Helfrich und Davis Bollier: Frei, fair und lebendig - Die Macht der Commons, tran-
skript 2019. Silke Helfrich ist Absolventin der Cusanus Hochschule.
6 Wolfgang Sachs, Reinhard Loske, Manfred Linz (1998): Greening the North. A Post-Industral Blue-
print for Ecology and Equity, Zed Books, London.
7 Zu diesem Begriff und allgemein zum Begriffsgeschichte des Gemeinsinns vgl. Thomas Wanninger:
Bildung und Gemeinsinn. Norderstedt: Diplomica 1998.
8 Vgl. etwa Silja Graupe: Geld als Denkzwang? Auswege aus dem Gefängnis der Ökonomie. In: Karl-
Heinz Brodbeck und Silja Graupe (Hrsg): Geld! Welches Geld? Geld als Denkform. Marburg: Met-
roplis 2016, S. 121-152.
9 Vgl. etwa Walter Lippmann: Die Öffentliche Meinung. Eingeleitet und herausgegeben von Walter O.
Ötsch und Silja Graupe. Frankfurt/Main: Westend 2019 (englisches Original 1922).
10 Lukas Bäuerle, Stephan Pühringer, Walter Otto Ötsch: Ohne Effizienz geht es nicht. Ergebnisse ei-
ner qualitativ-empirischen Studie unter Studierenden der Volkswirtschaftslehre. FGW-Studie Neues
ökonomisches Denken Nr. 13. Düsseldorf: FGW 2019.
11 Friedrich Christoph Oetinger: Inquisitio in sensum commune et rationem. Tübingen 1753. Zitiert
nach Wanninger, aaO.
12 Silja Graupe: Beeinflussung und Manipulation in der ökonomischen Bildung. Hintergründe und Bei-
spiele. FGW-Studie Neues ökonomisches Denken Nr. 5. Düsseldorf: FGW 2017.
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