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Rödel, Laura [Hrsg.]; Simon, Toni [Hrsg.]
Inklusive Sprach(en)bildung. Ein interdisziplinärer Blick auf das Verhältnis
von Inklusion und Sprachbildung
Bad Heilbrunn : Verlag Julius Klinkhardt 2019, 154 S. - (Interdisziplinäre Beiträge zur
Inklusionsforschung)
Empfohlene Zitierung/ Suggested Citation:
Rödel, Laura [Hrsg.]; Simon, Toni [Hrsg.]: Inklusive Sprach(en)bildung. Ein interdisziplinärer Blick auf
das Verhältnis von Inklusion und Sprachbildung. Bad Heilbrunn : Verlag Julius Klinkhardt 2019, 154 S. -
(Interdisziplinäre Beiträge zur Inklusionsforschung) - URN: urn:nbn:de:0111-pedocs-174038
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Informationszentrum (IZ) Bildung
E-Mail: pedocs@dipf.de
Internet: www.pedocs.de
Interdisziplinäre Beiträge zur Inklusionsforschung
forschung
forschung
Inklusive Sprach(en)bildung
Ein interdisziplinärer Blick auf das Verhältnis
von Inklusion und Sprachbildung
Laura Rödel
To ni Simon
(Hrsg.)
978-3-7815-2321-0
9783781 523210
Bisherige Analysen und themenbezogene Diskussionen haben
einen Präzisierungsbedarf in Bezug auf die Bestimmung des Ver-
hältnisses von Inklusion und Sprachbildung als Querschnittsauf-
gaben der Lehrkräftebildung aufgezeigt und verdeutlicht, dass es
naheliegend erscheint, eine auf Inklusion zielende und sich inklu-
sionsorientiert verstehende Sprachbildung als interdisziplinäre
Aufgabe zu verstehen.
Diesem Gedankengang folgend stellen sich unter anderem die Fragen,
wo für eine solche Sprachbildung relevante Disziplinen Schnittstellen auf-
weisen (müssen) und wo bzw.inwiefern sie sich unterscheiden (müssen).
Mit dem vorliegenden Band werden Ergebnisse einer interdisziplinären
Arbeitstagung dokumentiert, die sich im Kern diesen Fragen widmete.
Im Rahmen der Beiträge nähern sich die Autor*innen anhand unter-
schiedlicher Problem- bzw.Fragestellungen einer Bestimmung des Ver-
hältnisses von Inklusion und Sprachbildung an. Dabei werden für eine
inklusionsorientierte Sprach(en)bildung relevante disziplinäre Grundlagen
bzw.Perspektiven zusammengefasst. Auf deren Basis werden erste
interdisziplinäre Auseinandersetzungen vorgenommen, mit denen Fragen
aufgeworfen werden, die für eine künftige Weiterführung der Verhältnis-
bestimmung von Inklusion und Sprachbildung bearbeitet werden sollten.
Interdisziplinäre Beiträge zur Inklusionsforschung
Die Herausgeberin und der Herausgeber
Laura Rödel, Dr., Jahrgang 1987, ist wissen-
schaftliche Mitarbeiterin an der Professional
School of Education der Humboldt-Universität
zu Berlin. Sie vertritt im Projekt FDQI-HU den
Arbeitsbereich Sprachbildung.
Toni Simon, Dr., Jahrgang 1984, ist Vertre-
tungsprofessor für Erziehungswissenschaft mit
dem Schwerpunkt Didaktik des Sachunterrichts
an der Universität Siegen und Mitglied des wis-
senschaftlichen Beirates des Projekts FDQI-HU.
Rödel / Simon (Hrsg.) Inklusive Sprach(en)bildung
Laura Rödel
Toni Simon
(Hrsg.)
Inklusive Sprach(en)bildung
Ein interdisziplinärer Blick auf das Verhältnis
von Inklusion und Sprachbildung
Verlag Julius Klinkhardt
Bad Heilbrunn • 2019
Dieser Titel wurde in das Programm des Verlages mittels eines Peer-Review-Verfahrens aufgenommen.
Für weitere Informationen siehe www.klinkhardt.de.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de.
2019.ig. © by Julius Klinkhardt.
Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung
des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,
Mikroverlmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Satz: Kay Fretwurst, Spreeau.
Grak Umschlagseite 1: © Toni Simon, Halle (Saale)/Siegen.
Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten.
Printed in Germany 2019.
Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem alterungsbeständigem Papier.
ISBN 978-3-7815-2321-0
Das diesem Buch zugrundeliegende Vorhaben wurde im Rahmen der gemeinsamen
„Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums
für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JA1620 gefördert.
Die Verantwortung für den Inhalt der Veröffentlichung liegt bei den Autor*innen.
Inhalt
Kristina Hackmann
Vorwort .......................................................................... 7
Laura Rödel und Toni Simon
Inklusive Sprach(en)bildung – Einführung in den Band .............................. 9
Laura Rödel, Julia Frohn
und
Vera Moser
Inklusive Sprachbildung im Kontext des Forschungsprojektes FDQI-HU .............. 14
Laura Rödel und Toni Simon
Inklusive Sprachbildung – Eine Einladung zum transdisziplinären Dialog .............. 24
Beate Lütke
Sprachsensibler Fachunterricht im Spiegel von Sprachbildung und Inklusion ........... 38
Malte Brinkmann
Humboldt revisited. Bildungstheoretische Überlegungen
zu einer inklusiven eorie der Sprach(en)bildung ................................... 49
Judith Riegert
Leichte Sprache im inklusiven Unterricht – Perspektiven für die Sprachbildung ........ 62
Claudia Becker
Inklusive Sprachbildung. Impulse aus der Gebärdensprach- und Audiopädagogik ....... 72
Ulrich Stitzinger
Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und Sprachtherapie inklusiv verortet .... 87
Michael Wahl
Unterstützte Kommunikation in der inklusiven Sprachbildung ....................... 102
Detlef Pech
Mit der Welt umgehen – Sachunterricht und seine Didaktik .......................... 112
Solveig Chilla
Exklusive oder inklusive Bildung durch Sprache?
Sprachpädagogisches Handeln als Perspektive für gesellschaliche Inklusion ........... 122
Constanze Saunders
Professionalisierung durch reexiv-forschende Unterrichtsentwicklung:
Ein Seminarmodell aus der Sprachbildung für die inklusionssensible Lehrkräebildung .... 132
Julia Frohn, Laura Rödel und Toni Simon
Das erste interdisziplinäre Symposium
„Zum Verhältnis von Inklusion und Sprachbildung“ ................................. 148
Verzeichnis der Autor*innen ....................................................... 153
Malte Brinkmann
Humboldt revisited.
Bildungstheoretische Überlegungen
zu einer inklusiven eorie der Sprach(en)bildung
Abstract
Der Beitrag versucht, bildungstheoretische Perspektiven im Anschluss an Humboldts Bildungs-
und Sprachtheorie zu einer inklusiven eorie der Sprach(en)bildung zu entwickeln. Sprache
wird bei Humboldt vom Sprechen her (und nicht von der Schri, vom Diskurs oder von der
Grammatik) verstanden, d. h. als expressives Medium, in dem der Mensch sich auch leiblich
ausdrückt. Sprach(en)bildung darf daher nicht auf gesprochene und geschriebene Sprache ver-
kürzt werden. Es gibt von Anfang an Sprachen im Plural. Es wird zunächst Humboldts Bestim-
mung von Bildung als Wechselwirkung und Veränderung bzw. Transformation des Selbst- und
Weltverhältnisses dargestellt, dann Sprach(en)bildung als Erlernen einer fremden Weltansicht
bestimmt und Sprechen als soziale, auf Entfremdung und Fremdheit basierende soziale Praxis
exponiert. Die leiblich basierte Struktur des Sprechens wird sodann als Vermittlung zwischen
Körper und Geist vorgestellt. In Anlehnung an und in kritischer Abgrenzung zu Humboldt
werden drei „bildungstheoretische Verschiebungen“ im aktuellen Diskurs der Allgemeinen
Erziehungswissenscha (Dezentrierung, Negativität, Verkörperung) zum Anlass genommen,
die Einsichten Humboldts kritisch aufzunehmen und bildungstheoretisch ausgewiesene Ziele
einer inklusiven Sprach(en)bildung in Wechselwirkungsverhältnissen auszuweisen.
1 Einleitung
Ich möchte im Folgenden aus einer bildungstheoretischen Perspektive Überlegungen zu einer
inklusiven eorie der Sprach(en)bildung anstellen. Ich versuche zwei esen zu belegen. Die
erste ese orientiert sich stark an Wilhelm von Humboldts Bildungs- und Sprachtheorie und
versucht, diese aus dem Horizont des aktuellen Diskurses der Allgemeinen Erziehungswissen-
scha und der bildungstheoretischen Humboldt-Forschung (vgl. Benner, 1995; Koller, 2003,
2012; Menze, 1965, 1978, 1980; Schütz, 1978; Tenorth, 1997) für Sprach(en)bildung und
Inklusion fruchtbar zu machen. Die zweite ese geht über Humboldt hinaus und versucht,
aktuelle Verschiebungen im bildungstheoretischen Diskurs hinsichtlich der Dezentrierung von
Subjekten und ihrer Verkörperungen aufzunehmen.
Meine erste ese lautet: Man braucht einen „übergeordneten Standpunkt“ (Humboldt,
1960b), um interdisziplinär und fachübergreifend in der Erziehungswissenscha theoretisch,
empirisch und praktisch zu handeln. Bildungstheorien können ein grundlagentheoretisches
Fundament für gemeinsames Handeln und Denken in der Pädagogik bieten. Bildungstheorien
sind angesiedelt zwischen Wirklichem und Möglichem, Empirischem und Spekulativem: In
Bezug auf Sprach(en)bildung kann man in bildungstheoretischer Perspektive nicht nur vom
50 |Malte Brinkmann
konkreten Sprechen als Sprachfähigkeit oder -kompetenz ausgehen (evtl. biologisch oder anth-
ropologisch-essentialistisch), sondern von einem Sprachvermögen, d. h. von der Möglichkeit des
Ausdrucks in und mit der Sprache (Humboldt, 1963). Sprache wird bei Humboldt bildungsthe-
oretisch vom Sprechen her (und nicht von der Schri, vom Diskurs oder von der Grammatik)
verstanden, d. h. als expressives Medium, in dem der Mensch sich ausdrückt. Bildungstheo-
retisch wird normativ zwischen Empirischem und Spekulativem, zwischen Potenzialität und
Aktivität, zwischen einem Sprachvermögen und einem Sprechenkönnen unterschieden. Das
heißt auch Menschen, die lautsprachlich nicht sprechen können, haben ein Sprachvermögen,
das sich nunmehr in einem anderen Ausdrucksfeld (z. B. Gebärdensprache) ausdrückt. Diese
anthropologisch-bildungstheoretische Voraussetzung stützt die ese von einem allgemeinen
Sprachvermögen: Die eine Sprache– als Vermögen zu sprechen und sich auszudrücken– ist zu
unterscheiden von den empirisch je unterschiedlich sich ausprägenden Sprachen: Gesprochene
Sprachen, Dialekte, Soziolekte, Gebärdensprachen, Körpersprachen, Sprachregister usw. Hie-
ran werde ich mit meinen Überlegungen zur Verkörperung und zum Sprechen als sozialer Praxis
anknüpfen und daran anschließend pädagogische und bildungstheoretische Ziele der Sprachen-
bildung formulieren.
Meine zweite ese lautet: Sprach(en)bildung darf nicht auf gesprochene und geschriebene
Sprache verkürzt werden. Sprache im Singular ist eine expressive Weise des Ausdrucks und der
Entäußerung, die sich leiblich vollzieht. Ich werde mit Humboldt– gegen die traditionellen
Interpretationen– zeigen, dass die Bedingung der Möglichkeit eines geistigen Vermögens (etwa
des Sprachvermögens) seine empirische Äußerung in der körperlichen und empirischen (erfah-
rungsmäßigen) Wirklichkeit ist. Die Entäußerung im Sprechen ermöglicht erst die Verinnerli-
chung von Welt und Weltansicht. Äußerungen und Entäußerungen sind leiblich dimensioniert,
sie sind nicht körpersprachlich (mimisch, gestisch) und sprachlich (Wörter, Laute etc.).
Ich werde zunächst Humboldts Bestimmung von Bildung als Wechselwirkung und Verände-
rung bzw. Transformation des Selbst- und Weltverhältnisses darstellen (2.1), dann Sprach(en)
bildung mit Humboldt als Erlernen einer fremden Weltansicht bestimmen (2.2) und Sprechen
als soziale, auf Entfremdung und Fremdheit basierende soziale Praxis exponieren (2.3). Schließ-
lich werde ich die leiblich-basierte Struktur des Sprechens als Vermittlung zwischen Körper und
Geist in Humboldts Sprachphilosophie vorstellen (2.4). Diese letzten Ausführungen deuten auf
aktuelle Probleme der allgemeinpädagogischen eoriebildung hin, die ich im dann folgenden
Kapitel beschreiben werde. Diese beziehen sich in Anlehnung an und in kritischer Abgrenzung
zu Humboldt auf die idealistischen, individualistischen und dualistischen Voraussetzungen von
eorien der Bildung. Ich werde drei „bildungstheoretische Verschiebungen“ benennen (3), die
sich mit den Begrien Dezentrierung und Negativität (3.1), Subjektivierung und Macht (3.2)
sowie Verkörperung (3.3) verbinden. Schließlich werde ich, daran anschließend, die Einsichten
Humboldts kritisch wieder aufnehmen und bildungstheoretisch ausgewiesene Ziele einer inklu-
siven Sprach(en)bildung in drei Wechselwirkungsverhältnissen ausweisen (4.).
2 Humboldt: Sprach- und Bildungstheorie
2.1 Bildung als Wechselwirkung und Transformation
Humboldt reagiert mit seiner Bildungstheorie auf den Wandel von der geschlossenen zur oe-
nen Gesellscha (vgl. Humboldt, 1960c). Die Grundlagen der Bildungstheorie Wilhelm von
Humboldts liegen in den Pluralitäts- und Kontingenzerfahrungen der Moderne. Alle über-
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Humboldt revisited
kommenen Bestimmungen des Menschen, sowohl individuelle wie allgemeine, sind hinfällig
geworden. Es gibt keinen universalen Maßstab von Bildung (vgl. Humboldt, 1960b, 234f.). Der
Mensch muss sich vielmehr seine Bestimmung selbst geben: Bildung ist damit zuerst Selbstver-
gewisserung und Selbstbildung.1 Der Mensch muss sich mithin Ziel und Sinn seines Lebens
selbst suchen. Er kann diese Aufgaben übernehmen, weil er bildsam ist, das heißt, er kann sich
Ziele geben und Welt aneignen, mit anderen Worten: sich bilden. Bildung ist damit prinzipiell
unabschließbar und oen, teleologisch unbestimmt (vgl. Benner, 2005).
Bildung ist nach Humboldt die „höchste und proportionirlichste“ Entfaltung aller menschli-
chen Kräe (Humboldt, 1960a, S. 64) unter der Voraussetzung, dass eine „Verknüpfung unse-
res Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ stattndet
(Humboldt, 1960b, S. 235f.). Wechselwirkung ist die Grundkategorie Humboldts dynamisier-
ten Mensch- und Weltbildes. Menschliche Spontaneität steht in Wechselwirkung mit Empfäng-
lichkeit bzw. Rezeptivität. Welt kann hier nicht Material menschlicher Willkür sein, sondern
ist selbst in sich Tätiges, Ursprüngliches, das allem menschlichen Wissen uneinholbar voraus-
gesetzt ist. „Auch der Mensch ist auf eine Welt außer sich“ angewiesen wie andere Lebewesen
(Humboldt, 1960b/1793, S. 233). Dazu soll der Mensch alle seine Kräe ausbilden. Bildung
ist nach Humboldt also auch Kräebildung mit dem Ziel der Ausbildung aller Kräe. Kräe
sind die geistigen, körperlichen und emotionalen Vermögen des Menschen wie Vernun, Ein-
bildungskra, Vorstellungskra, Urteilskra, körperlich-praktische Kra, Handlungskra.
Bildung ist so nur formal zu bestimmen; Inhalte und Stoe, Material können keine Ziele, nur
Mittel von Bildung sein.
Humboldt entwir in der nachgelassenen Schri „eorie der Bildung“ (Humboldt, 1960b,
S.234f.) eine dreifach gestue Struktur der Wechselwirkung von Mensch und Welt. Bildung ist
erstens Veräußerlichung von Kra. Kra braucht einen „Gegenstand zur Übung“. Ein Gedanke
braucht zweitens „Sto“ oder Inhalt zur „Ausprägung“ und der Mensch braucht drittens eine
„Welt außer sich, um fortdauern zu können“ (ebd.). Bildung ist also erstens Verinnerlichung von
Welt und verweist damit auf sein Selbstverhältnis. In dem denkenden Selbstverhältnis kann er
sich vor sich selbst bringen; sein Handeln ist „ein Versuch seines Willens, in sich frei und unab-
hängig zu werden“. Denken und Handeln kann er zweitens nur „vermöge eines Dritten“, das ist
Welt, „Nicht-Mensch“, weil er nur etwas denken und unter Bedingung von oder vermöge von
etwas Anderem handeln kann. Deshalb ist Bildung „soviel Welt als möglich zu ergreifen“ (ebd.).
Bildung wird drittens an einen idealen Begri von Menschheit (als Ausprägung aller Anlagen
aller Menschen) und an einen idealen Begri von Welt (als „alle nur denkbare Mannigfaltig-
keit“) gebunden (ebd.). Dieses Ideal ist keine überzeitlich und überräumliche Entität, sondern
eine regulative Idee, die Denken und Handeln leiten soll. Bildung ist regulative Idealisierung.
Ein Ideal ist eine „in der Erscheinung wurzelnde Idee“ (ebd.; vgl. Menze, 1965).
Kriterium der bildenden Wechselwirkung ist der Begri von Entfremdung. Weil sich der Mensch
bildend in die Welt entäußert und sich Welt aneignet, läu er Gefahr, sich „in dieser Entfrem-
dung zu verlieren“ (Humboldt, 1960b, S. 64f.). Bildung ist daher negativ bestimmt. Sie ist not-
wendige Entfremdung in und durch die Welt und zugleich Rückgang aus der Entfremdung. In
1 Die folgende Darstellung von Humboldts bildungstheoretischem Gedanken ist keine hermeneutische oder philo-
logische Auslegung der Werke Humboldts. Vielmehr werde ich nur einige wenige Aspekte seiner umfassenden Bil-
dungs- und Sprachtheorie aufgreifen und diese in einer problemgeschichtlichen Perspektive (Benner, 1995) aus einer
aktuellen Problemlage vorstellen. Dazu werde ich vor allem auf den bildungstheoretischen Diskurs der allgemeinen
Erziehungswissenscha zurückgreifen und versuchen, aus diesem Horizont grundlagentheoretische Perspektiven für
eine eorie der inklusiven Sprachenbildung zu generieren.
52 |Malte Brinkmann
diesem Rückgang konstituiert sich das autonome Individuum, indem es sich das Fremde bil-
dend aneignet und es damit zu einem Teil des Selbst werden lässt. Das autonome Individuum ist
somit Fundament und zugleich Ziel des Bildungsprozesses. Aber die Ent-Entfremdung ist nicht
grundsätzliche Auebung der Entfremdung. Denn bildend kann nur etwas wirken, was fremd
und unbekannt, ungewiss und unverfügbar ist, was den Menschen aus sich selbst herausführt. In
bloßer Identität mit sich selbst könnte sich der Mensch nicht bilden, könnte nicht nach seiner
Bestimmung fragen. In reiner Identität mit der Welt könnten keine Erfahrungen gemacht wer-
den (vgl. Benner, 2003, S. 104). Bildung ist also Neu-Erfahrung durch Aneignung von Welt und
zugleich fortschreitende Entfremdung in die Welt.
Bildung in diesem Sinne zielt also auf eine Veränderung und Transformation des Verhältnisses
zu sich und zur Welt (vgl. Koller, 2012). Dieses Selbst- und Weltverhältnis ist nach Humboldt
vor allem sprachlich dimensioniert. In Bezug auf Sprach(en)bildung kann man in bildungsthe-
oretischer Perspektive nicht nur vom konkreten Sprechen als Sprachfähigkeit oder -kompetenz
ausgehen (evtl. biologisch oder anthropologisch-essentialistisch), sondern von einem Sprach-
vermögen, d. h. von der Möglichkeit des Ausdrucks in und mit Sprachen (Humboldt, 1963).
2.2 Sprachenbildung als Erlernen einer fremden Weltansicht
Die bildende Wechselwirkung als Bildungsbewegung ist vornehmlich geprägt von und durch
Sprache. Sprache wird vom Sprechen her (und nicht von der Schri, vom Diskurs oder von der
Grammatik) verstanden. Sprache ist expressives Medium, in dem der Mensch sich ausdrückt. Es
gibt für die Menschen keine außersprachliche Position. Sprache ist ergon (als Sto und Material)
und zugleich energeia (Kra, Vollzug, Tätigkeit) (vgl. Menze, 1980, S.31). In jeder Sprache liegt
„eine eigentümliche Weltansicht“ (Humboldt, 1963, S. 433f.). In der sprachlichen Mitteilung
wird daher nicht nur etwas Bestehendes durch Sprache reproduziert und reaktualisiert; es kommt
auch etwas Individuelles – der Sprechenden, der Nation, der Ethnien – hinzu. Das Verhältnis des
Menschen zur Sprache ist dabei ambivalent, indem die „Gewalt des Menschen“ über die Sprache
der „Macht der Sprache“ über ihn entgegengestellt wird (Humboldt, 1963, S. 438f.).
„Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit. Keiner denkt bei dem Wort
gerade und genau das, was der andere, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein
Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort“ (ebd., S. 433). Es gibt also eine Dialektik zwi-
schen der „Macht der Sprache“, der jede*r Sprechende aufgrund grammatischer Regeln und
gesellschalicher Konventionen einerseits unterworfen ist. Andererseits kann sie*er aufgrund
ihrer*seiner individuellen „Schöpferkra“ eine „Gewalt“ über die Sprache ausüben und im Spre-
chen der Sprache eine individuelle Note geben – etwa in Stimmlage, Ausdruck, Stil und Arti-
kulation. Insofern ist Sprechen immer individuelle Reaktualisierung, in der die Sprache „ihre
letzte Bestimmtheit“ erlangt.
Humboldts Sprachtheorie ndet sich verdichtet in der Einleitung zu seinem Werk über das
Kawi, eine der Hochsprachen Javas, mit dem Titel Über die Verschiedenheit des menschlichen
Sprachbaus und ihren Einuss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (Humboldt,
1963, S. 368-756). Dort schreibt er:
„Die Erlernung einer fremden Sprache sollte daher die Gewinnung eines neuen Standpunktes in der
bisherigen Weltansicht seyn und ist es in der at bis auf einen gewissen Grad, da jede Sprache das ganze
Gewebe der Begrie und die Vorstellungsweise eines Teils der Menschheit enthält. Nur weil man in eine
fremde Sprache immer, mehr oder weniger, seine eigene Welt – ja, seine eigene Sprachansicht hinüber-
trägt, so wird dieser Erfolg nicht rein und vollständig empfunden“ (ebd., S. 432).
| 53
Humboldt revisited
Sprachenbildung bedeutet daher insbesondere das Erlernen „einer fremden Sprache als Gewin-
nung eines neuen Standpunktes in der bisherigen Weltansicht“ (Humboldt, 1963, S. 434) und
damit die Transformation der eigenen Welt- und Selbstverhältnisse. Der Mensch lernt damit
nicht nur einen neuen Sto (die fremde, d. h. eine andere Sprache im o. g. pluralen Sinne), son-
dern er erhält damit auch eine neue Weise des Welt- und Selbstzugangs. Die Gewinnung neuer
Standpunkte bzw. eines neuen Welt- und Selbstzugangs kann darüber hinaus nicht nur beim
Erlernen fremder Sprachen, sondern auch in der Bewusstwerdung des eigenen Sprachgebrauchs,
z. B. in Hinblick auf den bewussten Gebrauch unterschiedlicher Sprachregister, angenommen
werden. Sprachenlernen im Sinne Humboldts als Erwerb einer neuen Weltansicht hat daher
nicht nur für eine eorie der interkulturellen Bildung große Bedeutung (vgl. Koller, 2003).
Humboldts Bildungstheorie kann auch der Sprach(en)bildung im Kontext von Inklusion eine
bildungstheoretische Grundlage geben.
2.3 Sprechen als soziale Praxis: Entfremdung und Fremdheit
Die intersubjektive Dimension der Sprache als bildendem Medium und Ausdruck einer Welt-
ansicht kommt dann zum Tragen, wenn Humboldt seine Sprachphilosophie auf die empirische
Wirklichkeit bezieht.
„In der Erscheinung entwickelt sich jedoch die Sprache nur gesellschalich, und der Mensch versteht
sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprü hat. Denn die
Objectivität wird gesteigert, wenn das selbstgebildete Wort aus fremdem Munde widertönt“ (Hum-
boldt, 1963, S. 429).
Die Objektivierung der subjektiven Vorstellung gelingt nicht nur dadurch, dass das Subjekt sie
äußert. Sie gelingt auch und vor allem dadurch, dass die Vorstellung von einer*einem Ande-
ren ausgesprochen wird und durch sie*ihn zum Subjekt zurückkehrt. Selbst-Verstehen und
Fremd-Verstehen stehen also in einem Wechselwirkungsverhältnis. Im Fremd-Verstehen ereig-
net sich eine Entfremdung der subjektiven Objektivierungen. Gerade weil jede*r ihre*seine
eigene Sprache spricht und ihre*seine eigene Weltansicht artikuliert, ist „alles Verstehen […]
immer zugleich ein Nicht-Verstehen“ (ebd., S. 439). Gerade das Nicht-Verstehen ist also die
Bedingung der Möglichkeit von Verstehen (vgl. Koller, 2003, S. 524). Selbst-Verstehen wird
so nur über den Umweg des Fremd-Verstehens möglich – eine Perspektive, die insbesondere
in erziehungswissenschalichen Forschungen zu Inklusion wichtig ist (vgl. Dederich, 2007;
Burghardt et al. 2017; Stinkes, 2014). Oben wurde angedeutet, dass Entfremdung, Humboldt
zufolge, als Entäußerung in die Welt verstanden wird. Die bildende Wechselwirkung besteht
darin, dass der Rückgang aus der Entfremdung eine neue Erfahrung und Transformation des
Selbst- und Weltverhältnisses ermöglicht. Dieser Prozess als „einander ähnlich-machen“ basiert
auf der Unterschiedenheit von Mensch und Welt. Die Welt, das sind die anderen Menschen,
die Dinge und die Natur, sind also Andere und Anderes, in denen und mit denen wir uns ent-
fremden. Im Medium der Sprache kann ein Verstehen anderer und fremder Weltansichten statt-
nden, das auf Nicht-Identität und Nicht-Verstehen beruht. Die neuere Humboldt-Rezeption
(Mattig, 2012) zeigt, dass Humboldt nicht nur als Bildungstheoretiker, sondern auch als Bil-
dungsforscher gewirkt hat (Humboldt 1961). Es werden heute Bezüge zur ethnographischen,
ethnologischen, kultur-anthropologischen Bildungsforschung sichtbar. In der US-amerikani-
schen Sprachwissenscha und Anthropologie (vgl. Humboldt 1960d) – etwa schon bei Franz
Boas – ist es gerade der pluralisierende und dierenzierende Blick auf Kulturen und Sprache,
der mit Humboldt verbunden wird. „Aus bildungstheoretischer Perspektive ist zu bemerken,
54 |Malte Brinkmann
dass Bildung bei Humboldt eng mit der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen zusammen-
hängt. Die erziehungswissenschaliche Humboldt-Forschung hebt in diesem Zusammenhang
besonders seine sprachwissenschalichen Arbeiten hervor. Da jede Sprache nach Humboldt
eine eigene Weltansicht zum Ausdruck bringt, erschließen sich dem Subjekt durch das Erlernen
fremder Sprachen immer auch neue Denk- und Empndungsweisen“ (Mattig, 2012, S. 810).
Die Bildungsbewegung zwischen Personen und Kulturen kann also als eine Wechselwirkung
zwischen Weltansichten durch gegenseitige Entfremdung und Befremdung interpretiert wer-
den. Die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens von anderen Menschen ist daher die Die-
renz, d. h. Nicht-Identität und Nicht-Verstehen. Bezogen auf inklusive Sprachenbildung heißt
das, dass gerade die Fremdheit und Andersheit der*des Anderen die bildende Wechselwirkung
ermöglicht. Fremdheit und Andersheit als Entfremdung und Ent-Entfremdung sind so gesehen
die Voraussetzungen dafür, dass Bildung und Transformation möglich werden kann.
Die Perspektive auf Sozialität, Fremdheit und Andersheit wird allerdings bei Humboldt nur
angedeutet. Die vorgelegte Interpretation erfolgte aus der problemgeschichtlichen Perspektive
aktueller Fragen der Bildungstheorie, die unter Bedingungen von Inklusion diese Kategorien
grundlagentheoretisch einbeziehen muss. Bei Humboldt nden sich schon Ansätze hierzu. Sie
werden im Sinne bildungstheoretischer Verschiebungen vertie werden (vgl. 3.2).
2.4 Sprechen als Vermittlung zwischen Körper und Geist
Sprechen ist wie Hören, Schmecken und Fühlen eine leibliche Tätigkeit der Sinne. Zugleich
basiert Sprechen auf Symbolen, die auf „geistiger“ Abstraktion vom Sinnlichen und Natür-
lichem beruht. In der Sprache des 18. Jahrhunderts wird das Symbolische und Abstrakte als
Vorstellung bezeichnet, die sich der Geist im Denken gegenüberstellt – also vor-stellt. Die Vor-
stellungskra ermöglicht es nach Kant, dass sich Denken reexiv auf sich selbst beziehen kann:
das Denken des Denkens. Bei Humboldt hat die Vorstellungskra ihre Bedingung der Mög-
lichkeit nicht in der Vernun, sondern in der Sprache. In dieser vollzieht sich eine elementar-
leibliche Reexivität.
In der oben erwähnten Einleitung zu seinem Hauptwerk zur Sprachtheorie „Über die Verschie-
denheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einuss auf die geistige Entwicklung des Menschen-
geschlechts“ (Humboldt, 1963, S. 368-756) bemerkt Humboldt zum Verhältnis von Konkretion
und Abstraktion bzw. von Sinnlichkeit und Geistigkeit:
„Sprache ist das bildende Organ des Gedankens. Subjective ätigkeit bildet im Denken ein Object,
denn keine Gattung der Vorstellung kann als ein bloß empfangendes Beschauen eines schon vorhande-
nen Gegenstandes betrachtet werden. Die ätigkeit der Sinne muß sich mit der inneren Handlung des
Geistes synthetisch verbinden […]. Hierzu ist aber die Sprache unentbehrlich. Denn indem in ihr das
geistige Streben sich Bahn durch die Lücken bricht, kehrt das Erzeugniß desselben zum eigenen Ohr
zurück. Die Vorstellung wird also in wirklicher Objectivität hinüberversetzt, ohne darum der Subjecti-
vität entzogen zu werden. Dies vermag nur die Sprache“ (ebd., S. 428f.).
Im Sprechen ereignet sich also eine Verbindung zwischen Körperlichem und Geistigem. Diese
„Synthese“ kommt aufgrund der spezisch leiblichen Struktur im Sprechen zustande, dass das
Gesprochene zugleich gehört wird. Das „Geistige“, das im Gesprochenen im Medium der Sym-
bole entäußert wird und auf Vorstellungen beruht, wird in der Sprache empirisch, d. h. es tritt in
die Erfahrung und in die Zeit ein. Das Sprechen begründet eine elementare Reexivität zwischen
Subjektivität und Objektivität: Vom Mund zum Ohr und zurück zum Selbst. Das ‚Widertönen‘ der
Sprache ist also nicht nur sozial und intersubjektiv, sondern als Struktur schon leiblich angelegt. Es
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Humboldt revisited
beruht auf einer Wechselwirkung zwischen Entäußerung und Verinnerlichung. Die Entäußerung,
von der oben die Rede war, bedingt zugleich die Möglichkeit der intersubjektiven Verständigung als
auch die Möglichkeit der Reexivität des Menschen. Anders gesagt: Ohne Sprechen kann es kein
Denken geben. Beide sind aufgrund der leiblich-geistigen Wechselwirkung aufs Engste verbunden.
Denken ist also nicht Wirkung einer Geistigkeit, auch nicht Prozeduralisierung von Gedächtnis-
inhalten, wie es der Kognitivismus sieht (vgl. Brinkmann, 2012), sondern eine körperlich-geistige
Praxis, die das Sprechen auszeichnet und ohne die es gar nicht vorkommen kann.
Zusammenfassend: Die leiblich-empirische Verfasstheit des Menschen ist also die Bedingung
der Möglichkeit erstens für Sprechen, zweitens für Denken und drittens für Bildung, insofern
die leibliche „Vermittlung“ zwischen Mund und Ohr bzw. zwischen Hand und Auge2 zugleich
eine „Vermittlung“ zwischen Sinnlichkeit und Geistigkeit ist, die ein reexives Selbstverhältnis
bedingt. Dieses Selbstverhältnis ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass der Mensch sich in
Wechselwirkung zwischen Entäußerung und Verinnerlichung bilden und sich darin verändern
bzw. transformieren kann.
Aber auch der Gedanke der Verbindung von Geistigkeit und Leiblichkeit ist bei Humboldt nur
angedeutet und nur auf Sprache bzw. Sprechen bezogen. Eine eorie der Leiblichkeit fehlt bei
ihm ebenso wie Hinweise auf eine inklusive Bildung, die auch nicht-sprachliche, d. h. körper-
sprachliche Aspekte einzubeziehen vermag. Dieses Desiderat soll im Folgenden zusammen mit der
oben genannten Perspektive der Sozialität und Fremdheit genauer herausgearbeitet werden. Dazu
werde ich zunächst die aktuelle Kritik der Allgemeinen Erziehungswissenscha an Humboldt und
die daran anschließenden Möglichkeiten für eine eorie der inklusiven Bildung herausarbeiten.
3 Bildungstheoretische Verschiebungen
Im aktuellen Diskurs der Bildungs- und Erziehungstheorie wird Humboldt in drei Hinsichten kri-
tisiert. Zum einen wird Humboldt vorgehalten, er habe Sprechen und Sprache auf das autonome
Subjekt xiert. Damit wird einer subjektivistischen und individualistischen Bestimmung von Bil-
dung Vorschub geleistet und gesellschaliche Bedingungen und Voraussetzungen ausgeschlossen
(vgl. Koller, 2012). Zweitens verbindet sich mit dieser Bestimmung von Bildung eine Vorstellung
vom Subjekt, das als autonomer, selbstbestimmter Mittelpunkt Zentrum aller Tätigkeiten ist – ein
Gedanke, der ebenfalls in die Kritik geraten ist. Traditionelle Bildungstheorien, die Autonomie
und Emanzipation als Ziele ausweisen – etwa Klai (1996) –, können weder ihre historischen,
kolonialen, noch ihre machtförmigen, noch die leiblich-vulnerablen Fundamente von Bildung
und Erziehung angemessen erfassen. In aktuellen Bildungstheorien werden in Abgrenzung zu
diesen logozentrischen und monarchistischen Vorstellungen Dezentrierung und Negativität,
Macht, Fremdheit, Responsivität und die Vulnerabilität des Körpers in den Mittelpunkt gerückt
(siehe unten). Schließlich werden Bildungstheorien kritisiert, die leibliche und aisthetische, d. h.
auf sinnlicher Wahrnehmung basierende Lernprozesse marginalisieren und diese dem Prinzip der
Geistigkeit, der Vernun bzw. Rationalität unterordnen. Bildung könne nur vernünige, reexive
Verständigung über sich selbst und die Welt sein. Dieser Position folgen die meisten aktuellen
eorien der Bildung, meist mit deutlichem Bezug zu Humboldt. Auch hier sei wiederum auf
Klai (1996) verwiesen. Dabei gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Rezeptionen in der Bil-
2 Humboldt hatte Fragen der Audio- und Gebärdenpädagogik (noch) nicht im Blick. Gleichwohl lässt sich die Ergän-
zung legitimieren, da es nach der hier vorgelegten Lesart um eine leiblich strukturierte Vermittlungsfunktion zwi-
schen Körper und Geist geht.
56 |Malte Brinkmann
dungstheorie, seien sie hermeneutisch orientiert (vgl. Menze, 1965), praxeologisch (vgl. Benner,
2003), systemtheoretisch (vgl. Tenorth, 1997) oder diskurstheoretisch (vgl. Koller, 2012). In
diesen Bildungstheorien wird Bildung eine normative Höherwertigkeit im Vergleich zu Lernpro-
zessen zugeschrieben. Bildung wird als ereignishae und diskontinuierliche Transformation des
Mensch-Welt-Verhältnisses (vgl. Koller, 2012) bzw. als Wandel der Selbst-Identität (vgl. Marotzki
et al., 2006) ausgewiesen, auf kognitive Dimensionen beschränkt und normativ von „niederem“,
wiederholendem und routinisiertem (Hinzu-)Lernen abgegrenzt (vgl. Brinkmann, 2016). Über-
haupt existiert in der Bildungstheorie omals eine starre Entgegensetzung von Lernen einerseits
und Bildung andererseits (vgl. Koller, 2012) bzw. von Lernen erster Ordnung und Lernen zweiter
Ordnung (vgl. Koch, 2015). Damit fallen emotionale, leibliche und aisthetische Dimensionen
nicht unter die Kategorie Bildung. Empirisch können damit weder implizite und leibliche noch
kontinuierliche und wiederholende Bildungs- und Lernprozesse erfasst werden (vgl. Wiezorek,
2016). Für eine eorie der inklusiven Bildung sind aber gerade die leiblichen und aisthetischen,
d. h. nicht-sprachlichen und sozialen Dimensionen des Welt- und Selbstverhältnisses bedeutsam.
Die Herausforderung für eine aktuelle und zeitgemäße Bildungs- und Lerntheorie besteht also
darin, auch leibliche und nicht-sprachliche Lernformen bildungstheoretisch zu bestimmen und
für die erziehungswissenschaliche Forschung und inklusive eoriebildung fruchtbar zu machen.
Das Konzept der Verkörperung versucht dieses Desiderat zu füllen.
Phänomenologische eorien versuchen mit diesem Konzept gegen den eurozentrischen Logo-
zentrismus, die ‚Vernun des Leibes‘ als basale und primordiale Struktur des Selbstverhältnisses
zu rehabilitieren. Husserl und Merleau-Ponty zeigen, dass schon in der Selbstberührung eine
Dierenz zwischen Eigenem und Fremden aufscheint. In dieser manifestiert sich eine leibliche
Reexivität (vgl. Brinkmann, 2019b). Der Leib ist Medium der Erfahrung – einer protoreexi-
ven Erfahrung, die zunächst implizit, präverbal und präkognitiv ist. In der Dierenz zwischen
Eigenem und Fremden ist eine Reexivität angelegt, die ein Verhältnis zu sich, zu seinem Leib
und zu Anderen ermöglicht. Dieses äußert sich in Verkörperungen (siehe unten). Mit dieser
dierenztheoretischen Perspektive wird es möglich, die Reexivität des Leibes als basale Struk-
tur von Bildung, Lernen und Erziehen auszuweisen. Bildung ist daher weder ein ganzheitli-
cher Prozess, auch wenn diese romantische, reformpädagogische und kitschige Vorstellung in
pädagogischen Kreisen immer noch reproduziert wird (vgl. Reichenbach, 2003). Noch ist Bil-
dung ein Ausgleichsphänomen zwischen Kognitivem und Aisthetisch-Leiblichem: Vielmehr ist
gerade die Dierenz in der Erfahrung des Leibes zu sich und zu den Anderen das, was leibliche
und damit reexive Erfahrung erst ermöglicht. Damit werden Dezentrierung (statt Autono-
mie), Macht und Fremdheit (statt Emanzipation) sowie Verkörperung (statt logozentrischer
Vernun) zu zentralen Reexionskategorien der Bildungstheorie. Mit ihnen lassen sich Norma-
lisierungen im Namen einer ‚ganzheitlichen‘ Pädagogik ebenso kritisch aufdecken wie Kolonia-
lisierungen von vulnerablen Personen (vgl. Brinkmann, 2018a).
Mit diesen in der Postmoderne radikalisierten Transformationsgedanken und mit den sozial-
theoretischen und leibphänomenologischen Verschiebungen gehen im aktuellen bildungs-
theoretischen Diskurs drei folgenreiche Abgrenzungsbewegungen gegenüber traditionellen
Vorstellungen von Bildung und Erziehung einher.
3.1 Dezentrierung und Negativität
Zum einen sind die Ziele Emanzipation und Autonomie problematisch geworden. Statt „mon-
archistisch“ geleiteter Selbstvorstellungen wird von einem pluralistischen, dierenten und
dezentrierten Selbst ausgegangen (vgl. Reichenbach, 2001, S. 443), das wesentlich von Fremd-
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Humboldt revisited
heit und Andersheit bestimmt ist (vgl. Lippitz, 2007). Bildungstheorien müssen reektieren,
dass das Selbst weder seine Fundamente in einer allumfassenden, logozentrischen Vernun
noch in einer humanistischen Tradition oder seiner eurozentrischen Geschichte nden kann.
Emanzipation und Mündigkeit werden zu „Pathosformeln“ (Rieger-Ladich, 2002), Autonomie
zur Illusion (vgl. Meyer-Drawe, 1990). Bildung darf daher weder Andere und Fremde noch die
eigenen, pluralen und dierenten Teile des Selbst im Zeichen einer identizierenden Vernun
kolonisieren (vgl. Reichenbach, 2001, S. 443).
Traditionelle Bildungstheorien können – darin besteht weitgehend Einigkeit im Diskurs der
Bildungstheorie und -philosophie – die sozialen und gesellschalichen Grundlagen nicht ange-
messen erfassen (vgl. Brinkmann, 2016). So ndet momentan in der Erziehungswissenscha
eine Verschiebung von der individualtheoretischen zu einer sozialtheoretischen Orientierung
statt. Es wird davon ausgegangen, dass nicht nur voneinander oder vom Anderen etwas gelernt
wird, sondern auch vor Anderen etwas voneinander gelernt wird – auch wenn diese nur imagi-
när anwesend sind (vgl. Bedorf, 2010; Ricken, 2013). Macht, Anerkennung, Subjektivierung
und Andersheit werden zu wichtigen Begrien im Diskurs aktueller Bildungstheorie (vgl.
Brinkmann, 2016).
Bildung ist damit nicht mehr am Begri der Identität (im Sinne von Selbigkeit und Einheit-
lichkeit) zu denken. Stattdessen kommen Brüche, Irritationen und Enttäuschungen im Prozess
der Bildung und des Lernens in den Blick. Die widerständigen und passiven Aspekte werden in
neueren Lern- und Bildungstheorien unter dem Titel „negative Erfahrungen“ verhandelt. Sie
gelten als konstitutive Momente von Bildungs- und Lernprozessen. Negativität ist hier nicht
im landläugen Sinn als etwas Schlechtes, Lästiges oder Gefährliches zu verstehen. Durch
Irritationen, Enttäuschungen, Missverstehen, Scheitern und durch Fehler wird vielmehr ein
Suchen, Fragen, Probieren oder Forschen angeregt (vgl. Benner, 2005). Negative Erfahrungen
sind daher bedeutsame Anlässe für Lernen und Umlernen (vgl. Rödel, 2018). Ein nicht gelöstes
Problem, eine nicht beantwortete Frage, ein irritiertes Wundern und Staunen kann das schon
vorhandene „positive“ Wissen und Können herausfordern. Nach Buck (2019) kann es in der
negativen Erfahrung zu einer Umwendung und Umstrukturierung des Erfahrungshorizontes
und damit zu einer bildenden Erfahrung kommen. Als Krisenerfahrungen sind sie zudem ein
wichtiges Element in biographischen Bildungsprozessen, in denen Selbst- und Weltverhältnisse
transformiert werden (vgl. Koller, 2012).
3.2 Subjektivierungen: Macht, Anerkennung, Fremdheit, Responsivität
Zusammen mit der Kritik an den anthropologischen Grundlagen des traditionellen Bildungs-
konzepts wird zweitens Kritik an dessen individualistischen Fundamenten laut. Traditionelle
Bildungstheorien können – wie oben schon angedeutet – die leiblichen, sozialen und gesell-
schalichen Grundlagen nicht angemessen erfassen (vgl. Brinkmann, 2016). Das Konzept des
dezentrierten Subjekts lässt auch das Verhältnis von Individuum und Gemeinscha radikal
anders erscheinen. Das Subjekt wird nicht mehr wie in traditionellen Sozialisationstheorien der
Gesellscha gegenübergestellt und als Rollenträger identiziert. Vielmehr wird eingestanden,
dass das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst immer im Horizont des Sozialen stattndet. Von
den Anderen und dem Sozialen, von den Dritten und dem Dritten her, ergibt sich der Rah-
men, in dem das Subjekt nach sich selbst fragt, sich konstituiert und unter dessen Bedingun-
gen es wahrnimmt, handelt und urteilt. In den gesellschalichen Ansprüchen wird das Subjekt
konventionalisiert, normalisiert und subjektiviert. Zugleich aber geht es in diesen Konventi-
onalisierungen, Normalisierungen und Subjektivationen nicht auf. Es bleibt ein Moment der
58 |Malte Brinkmann
„Singularität“ (Ricken, 2013, S. 29), in der sich die Dierenz zwischen dem Individuum und
dem Sozialen als ein Zwischenraum anzeigt (vgl. Schäfer, 2012). Das Subjekt antwortet auf
Ansprüche und Normen des Sozialen, ohne dass diese Antworten vollständig in diesem auf-
gingen, ohne dass sich eine bruchlose „soziale Identität“ konstituierte. Gesucht wird in diesen
sozialtheoretischen Diskursen nicht nur nach neuen Konzepten, mittels derer sich die Erfah-
rungen des Subjekts im Horizont von Macht, Subjektivation, Anerkennung, Responsivität
beschreiben ließen, gesucht wird auch nach Konzepten, mittels derer sich das Soziale diesseits
des Gegensatzes von Gesellscha und Gemeinscha erfassen ließe. Dabei wird davon ausgegan-
gen, dass nicht nur voneinander oder vom Anderen etwas gelernt wird, sondern auch vor Ande-
ren etwas voneinander gelernt wird – auch wenn diese nur imaginär oder virtuell anwesend sind
(vgl. Brinkmann, 2016).
3.3 Verkörperungen
Im Zuge der verstärkten Forschungen zu Inklusion und Vulnerabilität (vgl. Dederich, 2007,
Burghardt et al., 2017) sowie im Bereich der frühkindlichen Bildung (Wiezorek, 2016) und
in der phänomenologischen Erziehungswissenscha (vgl. Brinkmann, 2018b) rücken zuneh-
mend leibliche Aspekte in den Erfahrungen des Lernens und der Erziehung in den Mittelpunkt.
Dazu wird omals auf die phänomenologische Philosophie und Pädagogik zurückgegrien, in
der ausgehend von Husserl der Leib als Weltorgan der Erfahrung qualiziert und Leib-Sein
von Körper-Haben unterschieden wird (vgl. Brinkmann, 2018b). Erfahren vollzieht sich im
und durch den Leib. Das leibliche Verhältnis ist prä-verbal und prä-kognitiv. Der Leib ist nicht
Gegenstand (also Ding oder Objekt) und auch nicht Zentrum des Ich. In der Nachfolge von
Husserl wird von Merleau-Ponty und Plessner der expressive Charakter des Leibes betont. Die-
ser wird in den kinästhetischen Empndungen (vgl. HUA IV, S. 146) und den kinästhetischen
Bewegungen (vgl. Merleau-Ponty, 1974, S. 168) manifest – in Mimik, Gestik, Haltung, in
Sprache sowie in Gefühlen wie Lachen und Weinen (vgl. Plessner, 1970). Diese Entäußerungen
materialisieren sich in der praktischen Verkörperung. Verkörperungen sind sichtbar, spürbar
und erfahrbar. Mit der Verkörperung lassen sich subjektive Entäußerungen in ihren nicht-
sprachlichen Dimensionen empirisch beschreibbar machen (vgl. Brinkmann, 2018a). Die Pers-
pektive auf Verkörperungen diesseits von Identität und Autonomie kann erstens als Grundlage
einer Bildungstheorie fungieren, in der der bis heute maßgebliche Dualismus zwischen Lernen
und Bildung vermieden werden kann. Mit Humboldt wird der reexive Charakter von Ent-
äußerung und Verinnerlichung aufgenommen und dieses Wechselwirkungsverhältnis auf den
ganzen Leib bezogen. Mit dieser Perspektive wird es für eine eorie der inklusiven Bildung
möglich, nicht-sprachliche Kommunikationsformen einzubeziehen und für eine eorie der
Sprach(en)bildung fruchtbar zu machen.
4 Wechselwirkungsverhältnisse in der Sprach(en)bildung
Trotz der m. E. berechtigten Kritik an Humboldts individualistischer Bildungstheorie und
ihrer anthropologisch-normativen Grundlagen (vgl. Koller, 2012) lassen sich in grundlagen-
theoretischer Perspektive für das Verhältnis von Bildung und Sprache wichtige Einsichten
ableiten: Entfremdung im Bildungsprozess und Nicht-Verstehen sind, wie gezeigt, bei Hum-
boldt wichtige Grundzüge. Die Entfremdung in der bildenden Wechselwirkung ist vielmehr
die apriorische Bedingung der Möglichkeit von subjektivem Verstehen als Selbst-Verstehen
| 59
Humboldt revisited
und objektivem Verstehen als Fremd-Verstehen, weil alle Vorstellungen zum einen durch die
Sinne und zum anderen durch Andere objektiviert werden müssen. Verstehen ist immer von
einer Dierenz begleitet, in der und mit der das Gesagte und Gedachte verfremdet wird. Das
Verstehen ist auf das Nicht-Verstehen geradezu angewiesen, weil es nicht in Identizierung,
Kolonisierung und Universalisierung umschlagen darf. Daher ist Sprachenbildung vorzüg-
lich auf die Mitteilung angewiesen, das heißt auf den je individuellen Austausch von Zweien
oder mehreren. In der Hinwendung zum Anderen und im Anspruch vom Anderen sowie im
Gegenanspruch des Anderen geschieht die Önung hin zum Fremden und damit das Durch-
brechen der Isolation des Subjekts. Nur so kann eine Erweiterung der Weltansicht gelingen.
Humboldts bildungstheoretische Grundlegung kann daher auch als Grundlage einer Spra-
chenbildung gelesen werden.
Wichtige Kategorien sind hierbei Wechselwirkung, intersubjektive Fremdheit und Sprachver-
mögen, d. h. die Möglichkeit des Ausdrucks in und mit der Sprache als Ausgangspunkte einer
eorie inklusiver Bildung (Humboldt, 1963). Damit kann es gelingen, einen „übergeordneten
Standpunkt“ (Humboldt, 1960b) zu bestimmen, der einen Ausgangspunkt für eine interdiszi-
plinär angelegte inklusive Sprach(en)bildungstheorie geben kann. Sprache ist so gesehen eine
soziale Praxis, die Praktiken, Sitten, Gebräuche und Weltansichten einschließt und zwischen
jenen eine We chselwirkung durch gegenseitige Entfremdung und Befremdung ermöglicht. Diese
Wechselwirkung ist sprachpraktisch gesehen eine zwischen Entäußerung und Verinnerlichung.
Sprechen begründet damit eine elementare Reexivität zwischen Subjektivität und Objektivität
bzw. zwischen Geistigkeit und Leiblichkeit: vom Mund zum Ohr bzw. von der Hand zum Auge
und zurück zum Selbst. Die Entäußerung ist damit nicht Wirkung einer Geistigkeit, sondern
eine körperlich-geistige Praxis, die das Sprechen auszeichnet und ohne die es gar nicht existieren
kann. Damit können sowohl kognitive Prozesse als auch motorische Bewegungen als reexive
Momente ausgewiesen werden (vgl. Brinkmann 2019a), etwa wenn diese in Gebärdensprache
aufgeführt werden. Diese Entäußerung ist dann zugleich die wechselseitige Voraussetzung von
gegenseitigem Verstehen unter Bedingungen von Nicht-Verstehen und Dierenz. Die Entäu-
ßerung ermöglicht also die Verinnerlichung von Welt und Weltansicht. Sie materialisiert sich
in der Verkörperung. Verkörperungen lassen sich als sprachliche und mimisch-gestische Äuße-
rungen und Entäußerungen bestimmen, sodass Sprach(en)bildung nicht auf gesprochene und
geschriebene Sprache verkürzt wird.
5 Schluss
Zusammenfassend lässt sich mit Humboldt und über diesen hinaus festhalten, dass Wechsel-
wirkungsverhältnisse in der Sprach(en)bildung erstens in einem grundlagentheoretischen Sinne
als Wechselwirkung bestimmt werden können, diese zweitens sozial als Wechselwirkung zwi-
schen Selbstverstehen und Fremdverstehen bestimmt werden können. Damit können dezen-
trierende, negative sowie machtförmige Aspekte im Kontext aktueller bildungstheoretischer
eorien einbezogen werden. Drittens ist diese Wechselwirkung als leibliche Wechselwirkung
zwischen Entäußerung und Verinnerlichung im Sinne einer Verkörperung zu bestimmen, sodass
auch nicht-sprachliche, aisthetische bzw. kinästhetische Kommunikationsformen einbezogen
und damit für eine grundlagentheoretische Bestimmung inklusiver Bildung fruchtbar gemacht
werden können. Unterschiedliche Sprachen basieren so gesehen auf einem Sprachvermögen als
Potenzialität von Bildung in allgemeinen, sozialen und leiblichen Dimensionen.
60 |Malte Brinkmann
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