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EDITORIAL
https://doi.org/10.1007/s00451-019-00342-z
Forum Psychoanal (2019) 35:113–116
Zur Psychoanalyse des Alterns und Sterbens
Timo Storck
© Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
Der Animationsfilm Coco – Lebendiger als das Leben! (USA, 2017, Regisseur
L. Unkrich, Produktion Walt Disney Pictures/Pixar Animation Studios) thematisiert
den mexikanischen Día de Muertos, den Tag der Toten (von der UNESCO als imma-
terielles Kultur-Erbe der Menschheit anerkannt). Der 12-jährige Protagonist Miguel
folgt seiner Leidenschaft für die Musik und gerät auf der Suche nach der Identität
seines verschwundenen Ururgroßvaters ins Reich der Toten. In der Erzählung ist
es den Verstorbenen an einem Tag im Jahr möglich, ihre lebenden Verwandten zu
besuchen: sofern diese am Tag der Toten ein Foto von ihnen aufstellen. Bei wem
das nicht der Fall ist, der darf die Ausgangskontrolle aus dem Reich der Toten nicht
passieren. Dort wiederum existieren die Toten nur so lange, wie jemand unter den
Lebenden sich an sie erinnern kann. Ein Teil der Geschichte besteht nun darin, dass
Miguel dafür zu sorgen versucht, dass a) sein Ururgroßvater Hector von seiner noch
lebenden Tochter Coco, Miguels Urgroßmutter, nicht vergessen und dass b) dessen
Bild in liebevoller Erinnerung aufgestellt wird.
Der Film thematisiert ästhetisch und narrativ in beeindruckender und bewegender
Weise die Auseinandersetzung mit Entwicklung, Erinnerung und Endlichkeit. Es
geht darum, wie die Toten in der Erinnerung weiterleben (und um die Grenzen
dessen, wie eine emotionale Verbindung über das Ende des Lebens hinaus bestehen
bleiben kann), aber auch um das Ende des Lebens (in Form der Figur der Coco, die
am Ende im Anschluss an ein Wiedererwecken ihrer Lebenserinnerungen aus dem
Leben scheiden kann).
Diese Einführung in das Schwerpunktthema „Altern und Sterben“ setzt sich, wie
die folgenden Beiträge, mit einem Teilbereich des Themas auseinander (für eine
geistesgeschichtliche Verortung der Bedeutung des Todes für die Psychotherapie:
Prof. Dr. T. Storck ()
Psychologische Hochschule Berlin, Am Köllnischen Park 2, 10179 Berlin, Deutschland
E-Mail: t.storck@psychologische-hochschule.de
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Vogel 2012). Es geht im Weiteren um Altern, Sterben und Tod unter der Pers-
pektive der Endlichkeit und der Auseinandersetzung damit aus psychoanalytischer
Sicht. Aus der Freud’schen bzw. psychoanalytischen „Thanatologie“ (Eissler 1978
[1955]) wird mit dem Aspekt des Todes als Erlebnisinhalt ein wesentlicher Teil her-
ausgegriffen; dem gegenüber steht der Aspekt eines triebhaften oder sonstigen im
Menschen wirkenden Motivs im Hintergrund. Allerdings bedarf der leicht dahinge-
sagte Ausdruck „Tod als Erlebnisinhalt“ einiger kurzer Erläuterungen: Freud vertritt
den konzeptuellen Standpunkt der eigenen Unsterblichkeit im Unbewussten. Auch
kann zu Recht eingewandt werden, dass wir vom (eigenen) Tod nichts wissen kön-
nen, eine Erlebnisperspektive steht uns schlicht nicht offen (der Tod kann nicht er-
lebt werden), noch nicht einmal thanatoempathisch, denn anders als im Film Coco
können wir uns nicht mit Verstorbenen über das Leben nach dem Tod austauschen.
Allerdings werden Tod oder Endlichkeit sehr wohl Gegenstand unseres inneren Er-
lebens, wenn wir uns damit beschäftigen, Fantasien dazu nachgehen oder etwas dazu
fühlen – dies wird in einer „Psychologie des Todes“ (Eissler 1978 [1955]) betrachtet.
Coco ist als Einzug des Todes in die „familienfreundliche“ Unterhaltungskultur
zu sehen (immerhin ohne Altersfreigabe-Beschränkung!). Dabei ging es dem Fa-
milienkino in der Umgehung des „realen Todes“ (Hinze 2008) lange Zeit wie der
Psychoanalyse, der es traditionell offenkundig mehr um den „kleinen Tod“ als um
den großen gegangen ist, mehr um (tabuisierte) Sexualität als um Endlichkeit – der
Tod war als Thema nicht gern gesehen, auch wenn er als „fact of life“ immer mal
wieder benannt worden ist (Money-Kyrle 1971). Freud hat sich bekanntermaßen
persönlich eher übermäßig mit dem eigenen Tod beschäftigt, und die Realität des
Todes beherrschte „zunehmend auch sein persönliches Dasein mit kaum vorstellba-
rer Unbarmherzigkeit“ (Whitebook 2017, S. 345). Hinsichtlich der Theoriebildung
allerdings hat – bezeichnenderweise? – unter den Dramen Sophokles’ Ödipus Rex
eindeutig mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen als Ödipus auf Kolonos, und noch
randständiger ist Antigone zu verorten (wenn auch Lacans Konzeption des „zweiten
Todes“ herauszustellen ist; Lacan 1996 [1959/60]).
Zwar thematisiert Freud (1920g) ab 1920 beständig den Todestrieb, bei dem es,
biologische Bezüge eingeklammert, um die Kraft einer Entbindung oder Destrukti-
vität geht, die dem erotisch-bindenden Moment entgegensteht, doch bleibt die Kon-
zeption der Sterblichkeit als Element des Psychischen allenfalls angedeutet. Freud
(1915b, S. 341) schreibt in Zeitgemäßes über Krieg und Tod (ein Text, der auf einem
Vortrag mit dem Titel „Wir und der Tod“ beruht; Freud 1915i): „Im Unbewußten
sei [sic] jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt“. Er geht von einer
(gattungsgeschichtlich eingebetteten) Verleugnung des eigenen Todes aus (wobei
der Krieg an dieser rüttele). Denn: „Unser Unbewußtes glaubt nicht an den eigenen
Tod, es gebärdet sich wie unsterblich“ (Freud 1915b, S. 350). Anders als etwa für
Melanie Klein ist die Todesangst für Freud hier „etwas Sekundäres“, das er sich
v.a. als Erwartung von Strafe vorstellt (und so ist die Verbindung zwischen Todes-
und Kastrationsangst zu verstehen, auf die er wiederholt Bezug nimmt), nicht als
ein eigenes Motiv, das die Auseinandersetzung mit Sterblichkeit oder Vergänglich-
keit ausdrückte. Durch Freuds Argumentation zieht sich durch, dass der eigene To d
eine besondere Bedeutung im psychischen Erleben haben muss: Wir werden zwar
(wenn man so will: eher abstrakt) an die Tatsache des Todes erinnert, im Krieg oder
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durch den Verlust eines nahestehenden Menschen. Das Unbewusste ist „gegen die
Vorstellung des eigenen Todes“ allerdings „unzugänglich“ (Freud 1915b, S. 354).
Erst einige Jahre später, mit Einführung der Todestrieb-Konzeption, betrachtet Freud
den Tod als etwas, das mit einem eigenständigen Prinzip zu tun hat: „Das Ziel allen
Lebens ist der Tod“, schreibt er nun (Freud 1920g, S. 40).
Im weiteren Verlauf der psychoanalytischen Theorieentwicklung finden wir den
Tod (Todestrieb) in Konzeptionen der kleinianischen Richtung und dies zwar an
prominenter Stelle (als Entwicklungsmotor, in Allianz mit Angst, Aggression und
unbewusster Fantasie), jedoch selten selbst als Element der bewussten und unbe-
wussten Vorstellungswelt. Als wegweisende Arbeiten sind Der sterbende Patient
von Eissler (1978 [1955]) aus dem Jahr 1955 und einzelne Arbeiten de M’Uzans
zu nennen (gesammelt in de M’Uzan 2014), der sich mit der libidinösen Dynamik
des Lebensendes auseinandersetzt und hier das „Phänomen einer Libidoexpansion“
im Zuge der Trauerarbeit beschreibt (M’Uzan 1996, S. 227), als „letzte[.] Bezie-
hungserfahrung“ oder „letzte Dyade“ in Form einer „Arbeit am Übergang“ (M’Uzan
1977, S. 77). In jüngerer Vergangenheit haben Arbeiten zum Altern (und zum Teil
zur Alternspsychotherapie) eine breit geführte Auseinandersetzung mit der „leeren
Couch“ (Junkers 2013; Quinodoz 2012 [2008]), also mit der Begrenztheit der Arbeit
als Analytiker angestoßen. Wie das Familienkino hat mittlerweile auch die Psycho-
analyse erkannt, wie viele drängende Fragen sich an das Thema Altern und Sterben
anheften (besonders Grieser 2018).
Diesen widmen sich die Beiträge des vorliegenden Schwerpunkthefts. Zunächst
legt Jürgen Grieser etwas vor, das man als „Entwicklungspsychologie des Todes“
bezeichnen kann, wenn er die psychische Beschäftigung mit dem Tod über die
verschiedenen Lebensalter beleuchtet. Das führt ihn zur Diskussion verschiedener
Weisen der Beschäftigung mit der Sterblichkeit – unter der Perspektive der Tri-
angulierung, des Verhältnisses von Libido und Narzissmus und der Transzendenz.
Gabriele Junkers widmet sich allgemeinen Fragen zum Altern und hebt dabei die
Bedeutung des Körpers hervor. Sie kann zeigen, dass das Verhältnis zwischen Selbst
und Körper im Alter eine Krise erfährt. Der alternde Körper/Leib meldet sich ver-
mehrt als biologischer Körper – in Krankheit, Begrenzungen, limitierten Möglich-
keiten und Funktionen. Es bedarf einer Wiederaneignung der eigenen Leiblichkeit
im Alter statt einer Spaltung in „fit im Kopf“ auf der einen und eine altersbeding-
te „somatische Werkzeugstörung“ auf der anderen Seite. Jakob Müller und Cécile
Loetz legen ein Modell psychoanalytisch orientierter Sterbebegleitung vor und wid-
men sich, basierend auf den Ergebnissen einer Studie zur Bindungsrepräsentation
in der Palliativarbeit, der Paradoxie von Trost oder Hoffnung in der Gesprächsfüh-
rung mit Sterbenden: Was ist tröstlich, ohne zu „vertrösten“? Welche Hoffnung kann
die analytische Arbeit in Aussicht stellen, wenn auf eine Weise der Ausgang der
Behandlung und des Lebens fest- und bevorsteht? Schließlich diskutiert Michael
Ermann die Rolle des Alters für den Psychoanalytiker und entwirft Gedanken zu
einer „psychoanalytischen Altersidentität“, in der das Anerkennen von Grenzen, der
Blick auf das Erreichte und das Betrauern des Vergangenen oder Nicht-Erreichten
eine Rolle spielen. Steht auf der einen Seite die Gefahr unerkannter Eigenübertra-
gungen, so ist auf der anderen das Ziel einer „Altersweisheit“ zu sehen, deren Kern
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darin besteht, neben einem Reichtum an Erfahrung auch die Tatsache von Grenzen
und der eigenen Endlichkeit anzuerkennen.
Interessenkonflikt T. Storck gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Literatur
Eissler KR (1978) Der sterbende Patient. Zur Psychologie des Todes. frommann-holzboog, Stuttgart
Freud S (1915b) Zeitgemäßes über Krieg und Tod. GW X, S 323–355
Freud S (1915i) Wir und der Tod. Psyche - Z Psychoanal 45:132–142
Freud S (1920g) Jenseits des Lustprinzips. GW XIII, S 1–69
Grieser J (2018) Der Tod und das Leben. Vergänglichkeit als Chance zur Entwicklung von Lebendigkeit.
Psychosozial, Gießen
Hinze E (2008) Sterben, Endlichkeit und Tod. Psychother Alter 5(2)
Junkers G (Hrsg) (2013) Die leere Couch. Der Abschied von der Arbeit als Psychoanalytiker. Psychosozial,
Gießen
Lacan J (1996) Das Seminar. Buch VII. Die Ethik der Psychoanalyse. Quadriga, Weinheim, Berlin
Money-Kyrle R (1971) The aim of psychoanalysis. Int J Psychoanal 52:103–106
de M’Uzan M (1977) Die Arbeit am Übergang. In: de M’Uzan M (Hrsg) Depersonalisation und Kreativität.
Psychosozial, Gießen, S 75–91
de M’Uzan M (1996) Der Tod gesteht nie. In: de M’Uzan M (Hrsg), Identität und Tod. Psychosozial,
Gießen, S 223–239
de M’Uzan M (2014) Identität und Tod. Psychosozial, Gießen
Quinodoz D (2012) Älterwerden. Eine Entdeckungsreise, 2. Aufl. Psychosozial, Gießen
Vogel RT (2012) Todesthemen in der Psychotherapie. Kohlhammer, Stuttgart
Whitebook J (2017) Freud: Sein Leben und Denken. Klett-Cotta, Stuttgart
Prof. Dr. Timo Storck Diplom-Psychologe, psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker
(DPV/DGPT/IPA), Professor für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Psychologischen
Hochschule Berlin. Forschungsschwerpunkte: psychoanalytische Psychosomatik, Theorie und Praxis der
Fallbesprechung in der stationären Psychotherapie, psychoanalytische Grundkonzepte, Verstehen in der
Psychotherapie, Filmpsychoanalyse, konzeptvergleichende Psychotherapieforschung.
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