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Zugänge zu inklusions– und sonderpädagogischen Themen über Cultural Mapping:
Der Fernsehfilm »Der kalte Himmel« (2011) >
Joachim Bröcher >
Abteilung Pädagogik und Didaktik zur Förderung der emotionalen und sozialen Entwicklung
Europa-Universität Flensburg, Institut für Sonderpädagogik
Oftmals sind es Spielfilme, die größeren Bevölkerungsgruppen
Themen nahebringen. Der auf einem Drehbuch von Andrea Stoll
basierende, vom Regisseur Johannes Fabrick gedrehte, zweiteilige
Fernsehfilm (ca. 180 min) wurde 2011 erstmalig gezeigt. Im Zent-
rum des Geschehens: Ein Junge, der in einem ländlichen, bäuerli-
chen, katholischen Milieu in Bayern aufwächst, in den 1960er Jah-
ren und der der Norm nicht entspricht. Felix Moosbacher (Eric und
Marc Hermann) liebt es mit ausgebreiteten Armen durch die vom
Vater und Großvater bewirtschafteten Hopfenfelder zu laufen, wie
ein Vogel, oder er freut sich an den in Glasscherben sich brechen-
den Lichtstrahlen, die sich auch noch bewegen, weil sich draußen
eine Maschine dreht. Aber er läuft auch, ohne zu wissen, was er
tut, vor einen fahrenden Lastwagen und bringt sich in Gefahr, in-
dem er selbst große landwirtschaftliche Maschinen anschaltet,
wenn sonst niemand in der Nähe ist. Er interessiert sich sehr für
Zahlen und fürs Rechnen und vermittelt so den Eindruck einer
durchaus hohen Begabung, unabhängig von den Besonderheiten.
Als er eingeschult wird, steigert sich das, was die Familie bisher
mit dem Kind erlebt hat, zu einer ganz neuen Dramatik. Das ärztli-
che und schulische Personal ist zwar bemüht, aber reichlich über-
fordert. Die Situation eskaliert. Der Junge gilt als nicht beschulbar.
Die Familie gerät immer mehr unter Druck. Paul, der Vater
(Marcus Mittermeier) wird von seiner mit im Haus lebenden Mut-
ter kritisiert, weil seine Erziehungsmethoden zu weich und nach-
giebig seien gegenüber dem Kind. Die Großmutter faltet dem Jun-
gen bei Tisch gewaltsam die Hände und sagt: »Wer nicht beten
kann braucht auch nicht zu essen.« Alex (Natascha Paulik), die aus
Berlin in die benachbarte Kleinstadt gekommene Kantorin, sie hört
Rockmusik in ihrem VW-Bus, trägt rotgefärbtes Haar und einen
Schafsfellmantel, im Stil der 1968er, wird zwar vom patriarcha-
lisch orientierten Pfarrer in dieser Position als Frau nicht geschätzt,
wird aber für Marie Moosbacher (Christine Neubauer), Felix‘ Mut-
ter, zur transformationsfördernden Schlüsselfigur. Alex bringt Ent-
wicklungsimpulse dadurch, dass sie einen positiven Blick auf Felix
einnimmt und zugleich auf eine diagnostische Abklärung seiner
Probleme drängt und Marie im Rahmen der kirchlichen Chorarbeit
in ihrer Freude am Gesang fördert und ihr dadurch mehr Selbst-
wertgefühl und zugleich eine künstlerische Ausdrucksmöglichkeit
verschafft. Das Ganze gipfelt freilich in der Szene als Marie wäh-
rend der Messe die »Maria im Dornwald« als Solo singt, während
Felix die Münzen aus dem Sammelkörbchen in den Mittelgang
wirft, sodass sie rollen und klirren. Marie fährt mit Alex nach
München und gerät dort in die Mühlen einer orthodoxen, zuschrei-
benden und etikettierenden Psychiatrie. Morgens in der Münchner
Pension wäscht Marie das durchnässte Bettlaken des Sohnes. Am
Ende wird Felix in einem Hörsaal vorgeführt wie ein hochverstör-
tes Wesen, zu wissenschaftlichen Demonstrationszwecken, ohne
jedes Interesse und ohne jede Empathie für seine tatsächliche inne-
re Welt. Immerhin einige Studenten bemerken, dass Felix, nach-
dem er aus dem Rollstuhl geklettert ist, mit Kreide lauter Primzah-
len auf den Boden gemalt hat. Für den Professor der Psychiatrie
handelt es sich jedoch einfach um eine vorpubertäre Schizophre-
nie. Durch eine rabiate, übergriffige Diagnostik wird der Junge erst
recht in Unruhe versetzt und muss dann zwangsweise ruhiggestellt
werden. Nur mit Mühe kann Marie ihr Kind aus diesem Apparat
wieder herausholen. Alex macht Marie nun mit Dr. Cromer (Tim
Bergmann), einem jungen idealistischen Kinder– und Jugendpsy-
chiater, mit dem sie befreundet ist, bekannt. Dieser hält sich gerade
in München auf, um an einem psychiatrischen Kongress teilzuneh-
men. Auch in dem Café, wo sie sich treffen, eskaliert die Situation,
weil Felix die konventionellen Verhaltenserwartungen nicht erfül-
len kann. Doch Dr. Cromer lässt sich davon nicht beirren und wen-
det sich dem Kind auf Augenhöhe zu. Nur, dass er aufgrund von
rechtlichen Regelungen in Bayern keine Behandlung durchführen
kann. Er empfiehlt Marie daher mit dem Jungen nach Berlin zu
kommen. Dies erscheint zunächst als außerhalb der Möglichkei-
ten, doch am Ende fährt Marie mit Felix nach Berlin und bleibt
dort mehrere Monate. Es ist schön zu sehen, wie unerschütterlich
Marie an ihr Kind glaubt und wie sich der junge Psychiater, den
das auch beeindruckt, dann engagiert, trotz der institutionellen
Rahmenbedingungen, die nicht immer förderlich sind. Er nähert
sich der Welt des Kindes an, über das Hantieren mit Glasmurmeln,
Hölzern und anderen Materialien baut er eine Brücke zum Kind
und kann so die Eigenaktivität und schließlich auch die Kommuni-
kationsbereitschaft des Jungen wecken. Schrittweise erkennt er,
wie die innere Welt des Kindes aufgebaut ist. Für Marie wird das
Ganze indes zu einer großen Belastungsprobe. Um die Behand-
lungskosten aufzubringen, muss sie abends bis tief in die Nacht als
Kellnerin arbeiten. Sie wird von der Zimmerwirtin herausgewor-
fen als Felix eines abends wach wird und anfängt zu schreien und
nicht wieder aufhört, bis dass die Mutter endlich zurückkommt.
Zu der Zeit wurde offenbar eine psychiatrische Behandlung noch
nicht von den Krankenkassen übernommen, und Paul, ihr Mann,
hat einen sehr hohen Kredit aufgenommen, um eine neue Maschi-
ne für die Hopfenernte zu finanzieren und steht wirtschaftlich mit
dem Rücken zur Wand, als die Brauerei, die sein Hauptabnehmer
ist, den vereinbarten Preis für die Ernte nicht zahlt. Vor dem Hin-
tergrund war er auch gegen die Fahrt nach Berlin, aus Sorge, die
Rechnungen nicht bezahlen zu können. Am Ende zieht Marie in
die Wohngemeinschaft, in der auch Alex lebt. Unter den freien,
experimentellen Bedingungen er 68er Bewegung, baut Felix Kon-
takt mit den anderen Kindern auf und kommuniziert zwar auf sei-
ne eigene Weise, wirkt aber erstmalig integriert. Für Marie beginnt
sich in der freien Berliner Luft auch die Welt zu öffnen. Weit weg
nun die Versuche der Schwiegermutter mit Pfarrer und Weihrauch-
fass eine Art Teufelsaustreibung an dem Kind zu versuchen. Im
durch die 1968er bewegten Berlin darf eben jeder »anders« sein.
Dr. Cromer hat inzwischen mit der etablierten, orthodoxen Psychi-
atrie vollständig gebrochen und sich auch von seiner bisherigen
Freundin getrennt, der Tochter eines bekannten und etablierten
Psychiaters, über die er sicherlich hätte Karriere machen können,
in genau dem wissenschaftlichen Apparat, den er nun überwinden
und verändern will. Dr. Cromer arbeitet empathisch verstehend,
notiert akribisch seine Beobachtungen auf Karteikarten, denkt viel
über Felix nach und berät sich auch mit einem älteren, erfahrenen
Kollegen. Vielleicht wird der filmische Bogen ein wenig über-
spannt, als Alex im Uni-Hörsaal Klavier spielt und Felix mit der
Kreide in der Hand in enormem Tempo die Musik in Zahlen über-
setzt, an der Tafel. Doch das ist eben die Filmwelt, sie arbeitet mit
Zuspitzungen und eingängigen Bildern. Ebenso müssen Marie und
Dr. Cromer, so schön die Szene ja ist, nach all dem, was sie ge-
meinsam mit Felix durchgestanden haben, in der freien Atmosphä-
re der Berliner WG, sich auch einmal in die Arme nehmen und ge-
meinsam fallenlassen. Paul, als er schließlich nach Berlin kommt,
weil er die Situation in Bayern, ohne Marie, nicht mehr erträgt und
auch die beiden anderen Kinder der Familie leiden, weil sie ihre
Mutter nicht mehr haben, und er dann am verhalten bewegten Ab-
schied zwischen Marie und Dr. Cromer den emotionalen Tiefgang
des ganzen Berliner Aufenthalts erahnt, akzeptiert es immerhin,
schweigend, auch verstehend, wie man meint, und nimmt Frau
und Kind zurück mit auf den bayrischen Hof. Auch Paul hat in der
Berliner WG übernachtet und gesehen, wie offen dort gelebt wird.
Er hat einen schnellen Transformationsprozess durchlebt, man
freut sich daran. Nur könnten die Wissenschaften in der nächsten
Zeit nun noch damit aufhören, einem Menschen Etiketten, wie
hier »Asperger-Autismus«, zuzuschreiben. Es ginge ja auch ohne.