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Abstract

Anja Wolkenhauer: [Ratio noctis]. Vorüberlegungen für eine Zeitgeschichte von Nacht und Schlaf in Rom, in: Römische Quartalsschrift für Christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 111, 2016 [erschienen 2017] 172-186. Abstract: Für eine Mentalitätsgeschichte von Nacht und Schlaf im antiken Rom ist es nötig, Kriterien für die Analyse von Zeitbestimmungen der Nacht in lateinischen Texten zu entwickeln, da neben der technischen Zeitmessung soziale Normen sowie die Beobachtung von Naturphänomenen die Zeitordnung im antiken und frühchristlichen Rom in weit größerem Umfang als heute prägen. Begriffsgeschichte, die Erschließung von Synchronismen und die Auswertung exemplarisch-normativer Texte eröffnen Wege, um die nächtliche Zeitdisziplin besser zu verstehen. Erste Ergebnisse bezeugen den Polyphasenschlaf und deuten auf eine positive Norm der Schlafaskese, eines frühen Nachtschlafes sowie eines ebenso frühen Beginns der Tagesarbeit hin. Vollständiger Text auf academia.edu
ISSN 0035-7812
IM AUFTRAG
des Priesterkollegs am Campo Santo Teutonico in Rom
und des Römischen Instituts der Görres-Gesellschaft
IN VERBINDUNG MIT
Thomas Brechenmacher,
Jutta Dresken-Weiland, Michael Durst, Bernd Engler
Rudolf Schieffer, Andreas Sohn und Günther Wassilowsky
HERAUSGEGEBEN VON
Dominik Burkard, Hans-Peter Fischer
und Stefan Heid
BAND 111, HEFT 3–4
2016
HERDER
ROM FREIBURG WIEN
Vorüberlegungen für eine
Zeitgeschichte von Nacht und Schlaf in Rom
Von ANJA WOLKENHAUER
Abstract: „Preliminary considerations for a time history of night and sleep in Rome“ – For a
history of mentality of night and sleep in ancient Rome, it is necessary to develop criteria for
the analysis of time determinations of the night in Latin texts, since in addition to the
technical time measurement social norms as well as the observation of natural phenomena
determine in the ancient and early Christian Rome time order in much larger scope as today.
History of terminology, analysis of synchronisms and the interpretation of exemplary nor-
mative texts open up ways to a better understanding of the night time discipline. First results
attest to the polyphasic sleep and point to a positive norm of sleep asceticism, an early night
sleep and an equally early onset of day work.
1. Einführung
Schlaf ist eine physiologische Notwendigkeit; Menschen müssen schlafen und
tun dies bevorzugt nachts. Mitteleuropäer schlafen heute in der Regel mono-
phasisch rund sieben Stunden pro Nacht, wobei der Schlafbeginn, bedingt durch
die ständige Verfügbarkeit von elektrischem Licht, unabhängig von den Jahres-
zeiten zwischen 23 und 24 Uhr liegt, während das Aufstehen regulär zwischen 6
und 7 Uhr morgens erfolgt, meistens mit Hilfe eines Weckers. Die zentrale
Schlafphase kann allerdings aus unterschiedlichsten Gründen bis weit in den
Tag hinein verschoben werden. Normative Konzepte hinsichtlich des Schlafver-
haltens werden heute von den Ansprüchen der Arbeitswelt einerseits, der medi-
zinischen Forschung andererseits bestimmt, d. h. die körperliche und geistige
Rekreation stehen im Vordergrund; andere Aspekte, etwa die Funktion des
Schlafs als Raum für Traum und prophetische Schau stehen weit dahinter zu-
rück.
Im Vergleich dazu war der Nacht- und Schlafrhythmus im antiken Rom weit
stärker vom Sonnengang geprägt1. Nächtliches Licht und nächtliche Arbeit wa-
ren die Ausnahme, nicht die Regel. Die Andersartigkeit der vormodernen Licht-
ökonomie muss Konsequenzen für die Strukturierung der Nacht und das Schlaf-
verhalten gehabt haben; dies im Einzelnen nachzuzeichnen ist jedoch
vergleichsweise schwierig. Fragen, die auf die verhaltensleitenden Einstellungen
und die zeitlichen Normen zielen, die mit dem Schlaf in der Antike verbunden
waren, sind z.B.: Wann war es angebracht zu schlafen? Wie lange sollte man
schlafen? Wann sollte man damit beginnen, wann aufhören? Wann konkurrierte
der Schlaf mit anderen Handlungen? Welche Rolle spielen zentrale soziale Ka-
1Abkürzungen: ThLL = Thesaurus Linguae Latinae. – Für eine breitere Darstellung und wei-
terführende Literatur verweise ich auf A. Wolkenhauer, Art. Schlaf, in: RAC (im Druck).
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau – www.herder.de
tegorien wie Ordnung, Individualität, Vorbild und Tradition bei der Bemessung
von Schlaf? Materielle Hinterlassenschaften (wie etwa Betten) sind in der
archäologischen Forschung zwar gut untersucht, bieten aber für die Frage nach
der Zeitstruktur des Schlafs keine Ansatzpunkte2. Die Technikgeschichte der
Zeitmessung hatte ihren Höhepunkt im späten 19. Jahrhundert, während die
Mentalitäts- und Sozialgeschichte der Zeit gerade für die Vormoderne noch
immer in den Anfängen steckt3. Forschungsgeschichtlich ist der Schlaf erst dort
zu einem veritablen Gegenstand wissenschaftlichen Interesses geworden, wo die
messenden Wissenschaften hinzutraten; dies gilt gelegentlich für die antike Me-
dizin, in großem Umfang erst für die neuzeitliche Schlafforschung, deren Arbeit
v.a. experimentell ausgerichtet ist: Alle Bereiche bieten nur wenige Anknüp-
fungspunkte für die historische Schlafforschung.
Vor allem aber stößt man auf zwei grundsätzliche Schwierigkeiten, die den
Umgang mit den oben skizzierten Fragestellungen erschweren: zum einen die
interne Orientierung und durch die Überlieferung hervorgebrachte Auswahl der
antiken Literatur, zum anderen das mangelnde Bewusstsein innerhalb der älteren
Forschung dafür, dass gesellschaftliche Zeitordnungen keine absoluten Werte
hervorbringen.
Die erste Herausforderung liegt darin, dass Aussagen über die zeitliche Struk-
tur von Schlaf und Nacht in den antiken Literaturen eher rar sind. Das hat
verschiedene Gründe. Wo Aussagen vorliegen, wird man allerdings faktuale
und fiktionale Texte gemeinsam bearbeiten können, da Zeitbestimmungen auch
in fiktionalen Texten in der Regel als Authentifizierungsinstrumente verwendet
werden und daher einem hohen Anspruch an Wahrscheinlichkeit unterliegen.
Gleichwohl ist der Umfang der geeigneten Texte nicht nur im Vergleich zu neu-
zeitlichen Befunden, sondern auch innerhalb der antiken Textcorpora eher ge-
ring, da die dominanten erzählenden Textsorten (Epos, historische Erzählfor-
men) den Tag als Regel und die Nacht nur als Ausnahme kennen, während
wissenschaftliche Fachtexte oder Selbstzeugnisse, die hier vielleicht ein Gegen-
gewicht bieten könnten, weitgehend fehlen. Wie bei allen mentalitätsgeschicht-
lichen Fragen stößt man zudem überall rasch an die kognitive Grenze der Selbst-
verständlichkeit. Das Normale ist nur selten berichtenswert und erst der
Normbruch erfährt Aufmerksamkeit4. Da es beim Schlafverhalten jedoch um
Vorüberlegungen für eine Zeitgeschichte von Nacht und Schlaf in Rom 173
2A. Anguissola, Intimità a Pompei. Riservatezza, condivisione e prestigio negli ambienti
ad alcova di Pompei (Berlin / New York 2010).
3Anregungen für die Zeitgeschichte der Nacht und des Schlafs bieten u.a. die Studien in
T. Wiedemann, K. Dowden (Hg.), Sleep (Bari 2003) (u. a. zum Mittagsschlaf); E. J. Scioli,
Ch. Walde (Hg.), Sub imagine somni. Nighttime Phenomena in Greco-Roman Culture
(Pisa 2010); A. Wolkenhauer, Zeitlose Orte. Überlegungen zur fragilen Zeitstruktur von
Höhle, Nacht und Paradies in der römischen Literatur, in: S. Freund u.a. (Hg.), Von Zeiten-
wenden und Zeitenenden (Stuttgart 2015) 75–93 (zur nox intempesta und dem überlangen
Schlaf). Eine grundlegende, methodisch reflektierte Studie aus dem Bereich der mittelalter-
lichen Geistes- und Mentalitätsgeschichte bietet B.-U. Hergemöller, Schlaflose Nächte.
Der Schlaf als metaphorische, moralische und metaphysische Größe im Mittelalter (Ham-
burg 2002).
4Das impliziert, dass auch Schlaflosigkeit stets mehr Aufmerksamkeit erfahren hat als der
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schwache Normen geht, die außerhalb der Judikative liegen, ist auch hier nur
eine schwache textliche Evidenz zu erwarten.
Die zweite Herausforderung liegt darin, die für die jeweilige Darstellung re-
levante Zeitordnung zu bestimmen, auf die die Zeitbestimmungen zu beziehen
sind. Nicht nur der erzähltheoretische Status, sondern auch die technischen
Gegebenheiten der Zeitmessung und mentalitätshistorische Kategorien wie das
Pünktlichkeitsdenken beeinflussen die an den Handlungsraum angelegte Zeit-
ordnung. In der römischen Antike war die Nacht nicht nur ein handlungs-,
sondern auch ein zeitarmer Raum: Ihre Zeit wurde nicht gemessen. Erst seit
der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts kamen Nachtuhren in Rom
auf. Sie wurden im ersten vorchristlichen Jahrhundert allmählich üblich, gehör-
ten aber nie zur Standardausstattung von Privaträumen. Wenn Cicero die Nacht-
stunden einzeln benennt, so dass man annehmen muss, er habe eine Wasseruhr
oder etwas Vergleichbares zur Verfügung gehabt, dann ist das eher eine betonte
Ausnahme als die Regel. Nur in wenigen sozialen Bereichen, in denen einzelne
Nachtphasen mit Funktionen jenseits des Schlafs versehen waren, gab es verläss-
liche nächtliche Zeitmarkierungen; dies gilt etwa für die militärische Nacht-
wache und, später, für das klösterliche Nachtgebet. Um es anschaulicher zu
machen: Die Bemerkung eines römischen Autors, jemand würde um drei Uhr
nachts aufstehen, ist in ihrem Aussagewert nicht nur dadurch bestimmt, ob es
sich um einen religiös-normativen Text oder eine dramatische Erzählung han-
delt, sondern verändert ihre Qualität auch und vor allem in Abhängigkeit davon,
zu welcher Jahreszeit, an welchem Ort, unter Verwendung welcher Zeitmess-
instrumente und unter Berücksichtigung welcher Konventionen sie formuliert
wurde, was dazu führt, dass sie nicht nur unerwartete semantische Zusatzmar-
kierungen von dramatischer Spannung bis hin zu intellektueller Abgeklärtheit
erhält, sondern auch fast alle Momente zwischen Mitternacht und Sonnenauf-
gang unserer heutigen Diktion bezeichnen kann. Die Zeitangabe ist alles andere
als eine statische Größe.
Die relative „Zeitarmut“ der Nacht wird dadurch verstärkt, dass die erhaltene
lateinische Literatur ihrer Anlage nach gleichsam „tagesorientiert“ ist. Diese
beiden Einschränkungen führen dazu, dass die folgenden Überlegungen vor
allem auf drei Textsorten bzw. Begriffsgruppen rekurrieren können:
1. auf die verschiedenen Bezeichnungen der Nachtphasen;
2. auf Selbstzeugnisse und Texte, in denen ein Individuum in seinen Alltags-
äußerungen berücksichtigt wird, d.h. nicht nur faktuale, sondern auch expli-
zit fiktionale Texte, in denen „das Alltägliche“ zum Gegenstand wird;
3. auf normative Texte, die Aussagen hinsichtlich der Nacht treffen; dies betrifft
v.a. die militärische und religiöse Sphäre.
174 Anja Wolkenhauer
Schlaf, siehe dazu z. B. die anregenden Studien von B. Croke, Justinian the „sleepless emper-
or“, in: G. Nathan, L. Garland (Hg.), Basileia. Essays on Imperium and Culture in Hon-
our of E. M. and M. J. Jeffreys (= Byzantina Australiensia 17) 103–108 und H. Bacht,
Agrypnia. Die Motive des Schlafentzugs im frühen Mönchtum, in: G. Pflug u.a. (Hg.),
Bibliothek – Buch – Geschichte, Festschrift K. Köster (Frankfurt a. M. 1977) 353–369.
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Alle drei Begriffsgruppen werden im Folgenden dazu herangezogen, die zeit-
liche Struktur von Nacht und Schlaf genauer zu bestimmen. Dabei geht es zuerst
um die begriffliche Erfassung der Nachtphasen und die damit verbundene Frage
nach ihrer Genauigkeit und semantischen Valenz. Dann schlage ich vor, dem
Problem der relativen nächtlichen Zeitbestimmung zusätzlich durch kleinskalige
Synchronismen zu begegnen, um die Genauigkeit zu erhöhen. In einem dritten
Schritt geht es um die Analyse exemplarischer Beschreibung hinsichtlich der
ihnen eingeschriebenen positiven Norm. Alle drei Schritte sind als Vorüber-
legungen für eine Mentalitätsgeschichte von Nacht und Schlaf in der römischen
Antike anzusehen; sie benennen daher mehr Schwierigkeiten, als sie beseitigen
können.
2. Die Bezeichnung der Nachtphasen
Wie in jeder Sprache, so existieren auch im Lateinischen zahlreiche Begriffe
für die Unterscheidung von Zeitphasen im Tagesgang, die auf unterschiedliche
kulturelle Kontexte verweisen. Zur Bezeichnung der Nachtphasen lassen sich
folgende Begriffe bzw. Ordnungssysteme unterscheiden5:
1. die Benennung einzelner Nachtphasen nach natürlichen Phänomenen, die
innerhalb einer gewissen Zeitspanne beobachtet werden können. Dazu gehö-
ren das Schwinden und die Rückkehr des Lichtes (crepusculum6,diluculum7)
die Bewegung der Gestirne, Abend- und Morgenstern (vesper, vesperugo,
iubar8) aber auch akustische Phänomene wie Hahnenschrei oder Vogel-
gezwitscher (gallicinium9, daneben auch gallorum oder pullorum cantus10).
Das Verfahren ist so alt, dass sein Anfang nirgends zur Debatte steht. Lukrez,
der oft auch das scheinbar Selbstverständliche festhält, erinnert in seiner Kul-
turentwicklungslehre daran, dass die Menschen den Tag-Nacht-Wechsel in
seinen charakteristischen Momenten schon immer beobachtet hätten und
dass aus dieser frühen Gewohnheit im Gegensatz zu Platons wirkmächtiger
These keine Urangst, sondern ein Grundvertrauen in die ratio caeli resultiert
habe11.
Vorüberlegungen für eine Zeitgeschichte von Nacht und Schlaf in Rom 175
5Längere Begriffslisten finden sich u.a. bei Varro ling. 6,2,6; Cens. 23,8–24,4; Isid. Etym.
5,31; Serv. In Aen. 3,268 und 3,587. Die meisten von ihnen finden sich im Zusammenhang
zitiert bei G. Barabino, Una nota sul lemma conticium di Nonio Marcello (Non. 62,20 M. =
87 L.), in: FuturAntico 2 (2005) 7–14. Eine wichtige gemeinsame Quelle für alle Listen stellte
vermutlich die verlorene Schrift De diebus innerhalb der varronischen Antiquitates rerum
humanarum dar.
6E. Lommatzsch, Art. crepusculum, in: ThLL 4 (1906–1909) 1175. Die Beispiele zeigen,
dass crepusculum nicht nur für die Abend- sondern gelegentlich auch für die Morgendämme-
rung verwendet wird (crepusculum matutinum).
7A. Gudeman, Art. diluculum, in: ThLL 5 (1909–1934) 1187 f.
8E. Baer, Art. iubar, in: ThLL 7 (1956–1979) 571–574.
9M. Leumann, Art. gallicinium, in: ThLL 6 (1925–1934) 1681.
10 H. Pöschel, Art. cantus, in: ThLL 3 (1906–1912) 292–295, hier 294.
11 Lucr. 5,972–981; dazu A. Wolkenhauer, Sonne und Mond, Kalender und Uhr. Studien
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2. die Benennung einzelner Phasen der Nacht nach allgemeinen kulturellen
Konventionen wie dem Lichtanmachen (prima face, prima lumina, luminibus
accensis)12 oder dem Schlafengehen (concubium)13. Dieser Bereich ist insge-
samt nur schwach vertreten, was methodisch darin begründet liegt, dass auf
der Sprachoberfläche kaum zu erkennen ist, wann eine kulturelle Praxis so
regelmäßig ausgeführt wird, dass sie von einer gewissen Sprechergruppe als
Zeitgeber genutzt werden kann. Man könnte auch das nächtliche Arbeiten bei
Lampenlicht (lucubratio)14 und das nächtliche Umherziehen (grassatio)15 hier
verorten. Beide fehlen allerdings in den antiken Listen der Nachtzeitbezeich-
nungen, vielleicht weil sie eher die Tätigkeit als eine definierte Zeitspanne
innerhalb der Nacht betonen.
3. die Aufteilung der Nacht in vier akustisch getrennte Abschnitte vom Abend
bis zum Morgengrauen, die aus dem militärischen Kontext kommt und dort
in der gesamten Untersuchungszeit üblich war, aber auch bei der Beschrei-
bung des Alltagslebens vorkommt und mit dem Beiklang des Militärischen
auch in anderen Kontexten bis hin zur Liebeselegie Verwendung findet16. Die
Nachtwachen werden als prima, secunda etc. bucina oder vigilia unter-
schieden17.
4. die Aufteilung in 12 gleichlange Stunden, gezählt ab Einbruch der Nacht als
prima, secunda etc. noctis hora. Diese Zählung war seit der Einführung der
176 Anja Wolkenhauer
zur Darstellung und poetischen Reflexion der Zeitordnung in der römischen Literatur (Ber-
lin 2011) 33–38.
12 Cens. 24,6: Post id sequitur tempus, quod dicimus luminibus accensis, antiqui prima face
dicebant. Prima face für die frühe Nacht findet sich etwa bei Apuleius, met. 2,10,7, bleibt aber
insgesamt selten. Die zweite, dritte, vierte usw. Fackel scheint sich gar nicht als Zeitangabe
etabliert zu haben. Es gibt eine Reihe sprachlich nahestehender Wendungen, die aber eben-
falls keine spezifische zeitliche Konnotation entwickeln. Dazu gehört das in christlichen
Texten häufige accensis lampadibus, das zwar selbstverständlich der Nacht und der Dunkel-
heit angehört, sich aber vor allem auf die Heilserwartung oder bes. auf das Gleichnis der
frommen und törichten Jungfrauen bezieht. Auch die häufige Wendung lumine accenso/
extincto entwickelt keine spezifische zeitliche Konnotation. G. Jachmann, Art. fax, in: ThLL
6 (1912–1926) 400–406, hier 402; W. Ehlers, Art. lumen, in: ThLL 7 (1956–1979) 1810–1823,
hier 1816.
13 Varro ling. 6,2,7; vgl. 7,4,78.
14 S. Lanciotti, Art. lucubratio, in: ThLL 7,2 (1956–1979) 1744 f. Dazu grundlegend J. Ker,
Nocturnal Writers in Imperial Rome. The Culture of Lucubratio, in: Classical Philology 99
(2004) 209–242.
15 Burckhardt, Art. grassatio, in: ThLL 6,2 (1925–1934) 2198.
16 Prop. Eleg. 4,4,63f. (Tarpeia).
17 Ihm, Art. bucina, in: ThLL 2 (1900–1906) 2231–2233, hier 2232. Caesar verwendet die vier
Wachen bei der Beschreibung nächtlicher Aktivitäten häufig; als militärische und allgemein-
gesellschaftliche Zeitgliederung erwähnt bei Censorinus, De die natali 23: Alii diem quadri-
pertito, sed et noctem idem dividebant, Idque similitudo testatur militaris usus, ubi dicitur
vigilia prima, item secunda et tertia et quarta. Mit anderen Zeitbestimmungen korreliert bei
Arnob. iun. Commentarii in Psalmos, PL 53,531C: Ergo prima custodia a vespere incipit;
secunda ad medium noctis attingit; tertia pullorum cantus transit; quarta vigilia matutina,
quae in ortum luminis adimpletur, in qua custodia matutina natum Dominum nostrum angeli
pastoribus nuntiarunt.
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Wasseruhr in Rom 159 v.Chr. technisch zu bewältigen und ist seit Cicero
auch literarisch nachweisbar, aber nicht dominant, ja noch nicht einmal be-
sonders häufig18.
5. die Aufteilung nach den christlichen Gebetsstunden, die Anfang und Ende
der Nachtruhe (completorium und laudes) sowie eine längere Wachphase in
der zweiten Nachthälfte hervorhebt (vigiliae). Die Stundenliturgie und ihre
Begrifflichkeit entwickelten sich seit dem 3. Jahrhundert; sie wurde im frühen
6. Jahrhundert in der regula Benedicti maßgeblich fixiert19.
6. Es gibt Bezeichnungen, die mit keiner sinnlichen Wahrnehmung und keinem
Referenzsystem erkennbar verknüpft sind. Hierher gehören die Begriffe me-
dia nox und nox intempesta20 ebenso wie der Begriff des conticinium21, das das
Fehlen aller Sinnesreize betont. Diese leere Mitte der Nacht, in der nach
Nietzsche die Zeit aufhört, entwickelt gelegentlich eine numinose Potenz22.
Die skizzierten Referenzsysteme existieren langfristig nebeneinander. Für wich-
tige Momente der Nacht – z.B. Anfang und Ende – gibt es daher bis zu fünf
konkurrierende Begriffe, die gleichzeitig verwendet, wenn auch gelegentlich nach
ihrer Häufigkeit, ihrer Bedeutung für den Alltagsgebrauch und ihren semanti-
schen Konnotationen unterschieden werden23. In welchem konkreten (uhrzeitli-
chen) Verhältnis vesper, hora prima noctis, prima bucina, crepusculum und com-
pletorium zueinander stehen, lässt sich kaum bestimmen, da sie unterschiedlichen
Chronotopen zugehören, deren semantisches Potential nicht übersehen werden
sollte24. Auch dort, wo die chronologische Fixierung im Vordergrund steht, bleibt
erst einmal nur festzuhalten, dass die Zeit der Abenddämmerung nicht weit
entfernt war vom Ende der Badezeit, vom Beginn oder Ende des Abendessens,
von Kneipenzügen, dem Ende der Kämpfe und dem Beginn der Nachtmärsche,
und dass auch Abend- und Nachtgebet in diese Stunden gehörten. Eine zumin-
Vorüberlegungen für eine Zeitgeschichte von Nacht und Schlaf in Rom 177
18 Dazu Wolkenhauer (Anm. 11) 101–122, bes. 117f.
19 R. Taft, The Liturgy of the Hours in East and West. The Origins of the Divine Office and
Its Meaning for Today (Collegeville/Minnesota 1986), bes. 5–11 und 191f. (über das Ver-
hältnis von Vigil, Nokturn und Laudes). Literarisch thematisiert werden sie zuerst bei Pru-
dentius und Ambrosius.
20 P. W. Nielsen, Art. intempestus, in: ThLL 7 (1934–1964) 2110; dazu Wolkenhauer
(Anm. 3) 85–91 mit weiteren Belegen.
21 Zur bereits in der Antike greifbaren Unsicherheit hinsichtlich der chronologischen Ver-
ortung des Begriffs siehe Barabino (Anm. 5).
22 Dazu Wolkenhauer (Anm. 3).
23 Cens. 24.
24 Als Chronotop bezeichne ich in Anlehnung an Bachtin die spezifische Korrelation von
Zeit und Ort, d.h. sowohl die einem Ort zugeschriebene Zeitordnung als auch den einer
Zeitangabe konventionell zugewiesenen Ort: Die Gliederung nach Naturphänomenen ge-
hört zum ländlichen Raum; die militärische Stundenordnung greift auch ins städtische und
ins christliche Milieu über, dessen Zeitordnung sich deutlich an derjenigen des Militärs ori-
entiert. Die numerische Stundenordnung gehört zur Stadt Rom und ihren bedeutenden Män-
nern; ihre (seltene) Übernahme in den ländlichen Raum markiert relevante semantische Brü-
che, denen nachzugehen sicher lohnenswert wäre (z. B. Calp. 5,60f., das Eindringen der
Arbeitswelt in die Idylle). – Bachtin berücksichtigt die soziale und technische Strukturierung
von Zeit nicht weiter. M. Bachtin, Chronotopos (Berlin 2008; Erstdruck Moskau 1975).
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dest etwas genauere Fixierung wird dann möglich, wenn verschiedene Zeit-
bestimmungen gemeinsam auftreten und in Relation zueinander gesetzt werden
können (Synchronismus, dazu s.u.).
Dem lateinischen Begriffsreichtum steht in den modernen Sprachen eine ge-
wisse Sprach- und Erfahrungsarmut, verbunden mit einer starken Orientierung
am normativen und unveränderlichen Stundenrhythmus entgegen. Die Ursache
für die für uns verblüffende Vielfalt der nächtlichen Zeitbestimmungen im La-
teinischen ist, so darf man vermuten, in der historischen Entwicklung der Zeit-
disziplin und ihrer sprachlichen Repräsentation in der lateinischen Sprache zu
finden: In relevanten Bereichen der römischen Gesellschaft – in der Landwirt-
schaft, der Seefahrt, beim Militär – existierten schon vor der Einführung der Uhr
und der Etablierung einer Stundenordnung in Rom unabhängige Zeitordnungen
für Tag und Nacht, die den jeweiligen Bedürfnissen genügten und durch die
Einführung der Wasseruhr daher nicht beeinträchtigt wurden. Ihre Begriffe dau-
erten fort. Zwischen dem um 450 v.Chr. entstandenen Zwölftafelgesetz, das
zuerst nur die beiden Grenzmomente ortus und occasus nannte, und der Einfüh-
rung einer öffentlichen Wasseruhr in Rom um 150 v.Chr., die die stundenweise
Erfassung der Nacht ermöglichte, liegen dreihundert Jahre Sprach- und Kultur-
entwicklung, in der Uhren (und damit auch die Stundenzählung) keine nennens-
werte Rolle spielten. Erst ab ca. 150 v.Chr. entwickelte sich die Stundenzählung
der Nacht mit Hilfe der Wasseruhr als ein zusätzliches, ergänzendes Verfahren
der Nachtgliederung. Noch später einsetzende Sonderordnungen wie die der
Kirche fügten wiederum neue Begriffe mit starker zeitlicher Konnotation hinzu
und gingen mit den etablierten Verfahren eklektisch um25. Um die begriffliche
Vielfalt für die Frage nach der Zeitordnung von Nacht und Schlaf nutzbar zu
machen, müssen weitere Verfahren der zeitlichen Spezifizierung hinzugewon-
nen werden.
3. Synchronismen als heuristische Hilfsmittel
Alle erwähnten Nachtzeitbezeichnungen finden sich in Texten der römischen
Antike, wenn auch in ganz unterschiedlicher Häufigkeit; bei den numerischen
Stundenangaben sind einige gar nicht belegt. Dieses Nebeneinander eröffnet,
wie oben angedeutet, die Möglichkeit, mit Hilfe von Synchronismen ein genaue-
res Verständnis der jeweiligen Zeitbestimmung zu erlangen. Unter Synchronis-
mus verstehe ich dabei jeden Versuch, Zeitangaben unterschiedlicher Referenz
zu kombinieren bzw. Zeitangaben aus dem einen in das andere Ordnungssystem
zu übersetzen. Derartige heuristische Verfahren sind aus der Chronologie, be-
sonders aus der Jahresrechnung, wohlbekannt; für das bessere Verständnis der
178 Anja Wolkenhauer
25 Die obigen Feststellungen beziehen sich auf die römische Alltagspraxis, so, wie sie in der
Literatur zum Gegenstand wird. Im wissenschaftlichen Bereich, v.a. in der Astronomie, war
die gleichlange Stunde vermutlich durch alle Zeiten unangefochten in Gebrauch, blieb aber
eine reine Recheneinheit.
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Tagesphasen ist ihr Potential m.W. bislang nicht genutzt worden. Im Hinblick
auf die Nachtphasen ermöglichen sie eine chronologische Orientierung, die al-
lerdings stets deutlich schwächer bleibt als bei der Jahreszählung, da hier eben
nicht zwei verschiedene Zahlen, sondern Beobachtungen, Konventionen etc. in
Korrelation gesetzt werden, d.h. Daten ganz unterschiedlicher Qualität und
Exaktheit. Gleichwohl bieten sie chronologische Hilfe und, wichtiger noch,
liefern Hinweise darauf, dass und wie ein Zeitordnungssystem mit Hilfe eines
anderen fixiert werden soll. Leider haben die wegweisenden chronologischen
Studien und Handbücher des 19. Jahrhunderts trotz ihres Materialreichtums
keine systematischen Übersichten erarbeitet26, so dass erste und unsystematische
Beispiele hier das Potential dieses Verfahrens verdeutlichen müssen:
Ein einfacher Synchronismus findet sich in der Regula Benedicti. Er hat das
Ziel, den Zeitpunkt der nächtlichen Gebetszeit (Vigil) genau zu bestimmen und
greift dafür auf verschiedene etablierte Zeitbestimmungen zurück:
Hiemis tempore, id est a kalendas Novembres usque in Pascha, iuxta considerationem
rationis, octava hora noctis surgendum est, ut modice amplius de media nocte pausetur et
iam digesti surgant.
(„Im Winter, d.h. von Anfang November bis Ostern, muss gemäß vernünftiger Über-
legung in der 8. Nachtstunde aufgestanden werden, so dass man etwas über die Mitternacht
hinaus geruht hat und schon verdaut hat, bevor man aufsteht.“)
Hinter diesem Satz steht nicht nur das Bemühen um das beständige Gebet,
sondern auch die Grundannahme, dass zu viel Schlaf schädlich bzw. nicht för-
derlich sei (Schlafaskese)27. Sie impliziert, dass man nachts nach erfolgter Erho-
lung und Verdauung (modice amplius pausetur, digesti) grundsätzlich aufstehen
könne, die Dauer des Schlafs also eher an die Verdauung als an die Dunkelheit
oder ein geistiges Ruhebedürfnis gebunden sei. Das nächtliche Gebet, die Vigil,
soll gemäß der Benediktsregel nach der 8. Nachtstunde stattfinden (octava hora
noctis surgendum est). Diese wird vom Sonnenuntergang her gezählt und liegt
daher, so wird das Selbstverständliche betont28,de media nocte, d.h. in der Zeit
nach Mitternacht. In dieser Phase der Nacht, vor Hahnenschrei und Dämme-
rung, sind die Träume wahr und kultische Handlungen haben hier schon von
alters her ihren Platz. Die regula synchronisiert die neue Zeitangabe (Vigil) mit
älteren Zeitbestimmungen der Nacht sowie der physiologischen Erfahrung, wo-
bei sie die Gebetszeit in einem kulturhistorisch bereits vorgeprägten Raum ver-
ortet. Dabei dient die Stundenmessung als leitendes Zeitordnungssystem, an
dem sich die unschärfere, aber kultisch relevante Zeitangabe de media nocte
ebenso wie die Beobachtung des menschlichen Verdauungsprozesses ausrichtet.
Vorüberlegungen für eine Zeitgeschichte von Nacht und Schlaf in Rom 179
26 Exemplarisch seien genannt: G. Bilfinger, Die antiken Stundenangaben (Stuttgart 1888);
F. K. Ginzel, Handbuch der mathematischen und technischen Chronologie 2. Zeitrechnung
der Juden, der Naturvölker, der Römer und Griechen (Leipzig 1911), bes. 163–170.
27 Dazu mit weiterer Literatur Wolkenhauer (Anm. 1).
28 Vielleicht steht hinter dieser Überdeutlichkeit das Bemühen der Diskussion um die unter-
schiedlichen denkbaren Tages- und Nachtanfänge auszuweichen, siehe dazu Gellius 3,2 (in
Auseinandersetzung mit Varro).
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Wie bei den ‚großen‘ Synchronismen der Jahresrechnung lässt sich auch bei
den Tageszeitangaben beobachten, dass viele Synchronismen nicht nur der zeit-
lichen Koordination dienen, sondern zusätzliche semantische Funktionen erfül-
len; die Zeitbestimmung kann sogar zugunsten anderer Aussageziele in den Hin-
tergrund treten oder verschleiert werden, so dass der Synchronismus sich bei
näherer Betrachtung als Heterochronismus erweist. Indem sie andere Ord-
nungssysteme als Referenz verwenden, eröffnen die Synchronismen zusätzliche
Bedeutungsebenen, wie ein Beispiel aus einer Rede Ciceros zeigen kann. Er ist
der erste, der in großem Umfang nächtliche Stundendatierungen verwendet und
besonders in den Reden ihr semantisches Potential voll ausnutzt. In seiner frü-
hen Rede Pro Sexto Roscio beschreibt er die Ermordung von Roscius pater und
die Überbringung der Todesnachricht mit folgenden Worten29:
cum post horam primam noctis [Roscius]occisus esset, primo diluculo nuntius hic Ameriam
venit; decem horis nocturnis sex et quinquaginta milia passuum cisiis pervolavit, non modo ut
exoptatum inimico nuntium primus adferret, sed etiam cruorem inimici quam recentissimum
telumque paulo ante e corpore extractum ostenderet.
(„Obwohl Roscius nach der ersten Nachtstunde ermordet worden war, kam dieser Bote
hier schon beim ersten Morgengrauen in Ameria an; in zehn [kurzen Sommer-] Nachtstun-
den hat er 56 Meilen [rund 83 km] in leichten Reisewagen durchflogen, nicht nur, um als
erster dem Feind die erwünschte Nachricht zu überbringen, sondern auch um das Blut des
Getöteten, das noch ganz frisch war, und die Waffe, die gerade erst aus dem Körper gezogen
worden war, zu zeigen.“)
Cicero verwendet sowohl numerische Stundenangaben für die Nacht, die zu
seiner Zeit noch den Klang des Neuen gehabt haben müssen, als auch den alten
Begriff des morgendlichen Zwielichts, diluculum30. Die erste Nachtstunde, pri-
ma noctis hora, wird in der Literatur grundsätzlich nur selten genannt; weit
häufiger finden sich Dämmerungsbegriffe. Die Stundenangabe post horam pri-
mam noctis erweist sich damit als doppelt ungewöhnlich; sie suggeriert moderne
Exaktheit und verweist auf den städtischen Kontext: Nur in Rom konnte man ein
abendliches Ereignis so genau bestimmen, nur dort gab es ausreichend Uhren,
von denen man die Zeit ablesen konnte, nur von dort führten Straßen überallhin,
die einen derart rasanten nächtlichen Ritt ermöglichten.
Bei diluculum, der Zeitangabe des Zielorts, schwingt dagegen die Idee der
kultur- und uhrlosen, insgesamt rückständigen Provinz mit, in der niemand auf
eine Wasseruhr schauen kann, weil es sie dort nicht gibt. Stärker noch als die
reine Zeitangabe wirkt die „Zwielichtigkeit“ dieses Moments: Es ist eine graue
Zeit, halb Nacht, halb Tag, halb dem Tod und halb dem Leben zugewandt.
Cicero hätte hier durchaus andere sprachliche Möglichkeiten gehabt – mane
etwa deckt ungefähr denselben Zeitraum ab, auch ante lucem, oder eben, ganz
stringent: post horam undecimam. Er wählt stattdessen diluculum, dessen ambi-
ge, verunsichernde Potenz hier zum Tragen kommt und zum Bild des blutigen,
180 Anja Wolkenhauer
29 Cic. S. Rosc. 7,19.
30 Seit Plautus belegt; dazu Anm. 7.
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noch fast atmenden Leichnams überleitet: Mit diluculum beginnt eine Grusel-
geschichte.
Nicht alle Zeitbestimmungen entwickeln eine solch starke semantische Po-
tenz. Es sind vor allem die Übergangsphasen zwischen Licht und Dunkel (cre-
pusculum und diluculum) sowie die Tiefe der Nacht (nox intempesta). Daneben
gibt es, ausgehend von den habitualisierten Metaphern ortus und occasus, einen
gewissen metaphorischen basso continuo, der die Phasen von Tag und Nacht mit
den menschlichen Lebensphasen korreliert31. In der christlichen Literatur wer-
den einzelne Momente der Nacht mit spezifischen Ereignissen der Heils-
geschichte verbunden und damit sehr viel stärker mit außerzeitlichen Inhalten
verknüpft. So verbinden die Evangelien das gallicinium mit dem Bekehrungs-
und Bekenntnismoment Petri und das oben bei Cicero bereits untersuchte Däm-
merlicht mit dem Besuch der Frauen am Grab Christi, der nach Lukas valde
diluculo erfolgte, in einem Moment zwischen Leben und Tod32. Laktanz wieder-
um betont, dass die Auferstehung Christi in der Mitternacht oder gar intempesta
nocte stattgefunden habe33. In all diesen hier nur knapp skizierten Beispielen tritt
die semantische Potenz der Zeitangaben in den Vordergrund, während die chro-
nologische Exaktheit an Bedeutung verliert. Synchronismen können hier helfen,
sind aber kein schematisch zu brauchendes Instrument; dabei legen sie stets die
Frage nach der Funktion des durch sie erzielten Bedeutungsüberschusses nahe.
4. Die exemplarische Nacht
Das Wissen um die Vielfalt römischer Zeitbegriffe und die Nutzung von Syn-
chronismen ermöglichen, wie oben gezeigt, die Bestimmung von relativen Zeit-
punkten und Zeiträumen innerhalb der Nacht sowie ihrer semantischen Auf-
ladung. Spezifische Zeitnormen oder gar eine gesellschaftliche Zeitordnung
(Zeitdisziplin), die umfänglichere Verhaltensformen in einem zeitlichen Rahmen
fixieren, sind weit schwerer zu erschließen. Ein möglicher Zugang liegt in der
Analyse der exempla innerhalb der biographischen Literatur im weitesten Sinne.
Denn ebenso wie ihre generelle Lebensführung ist, so die Prämisse, auch das
Vorüberlegungen für eine Zeitgeschichte von Nacht und Schlaf in Rom 181
31 Seneca führt dieses Motiv in den Luciliusbriefen mehrfach aus: Sen. Epist. 12,6: Unus
autem dies gradus vitae est. Tota aetas partibus constat et orbes habet circumductos maiores
minoribus: est aliquis qui omnis complectatur et cingat (hic pertinet a natali ad diem extre-
mum); est alter qui annos adulescentiae includit; est qui totam pueritiam ambitu suo adstrin-
git; est deinde per se annus in se omnia continens tempora, quorum multiplicatione vita com-
ponitur; mensis artiore praecingitur circulo; angustissimum habet dies gyrum, sed et hic ab
initio ad exitum venit, ab ortu ad occasum. Vgl. Sen. Epist. 12,8.
32 Biblia Sacra Vulgata: Lk 24,1: Una autem sabbati valde diluculo venerunt ad monumen-
tum, portantes quae paraverant aromata et invenerunt lapidem revolutum a monumento.
Vgl. Mk 16,2 (valde mane).
33 B. Steidle, Intempesta noctis hora. Die mitternächtliche ‚kosmische Vision‘ St. Benedikts,
in: Erbe und Auftrag 57 (1981) 191–201, hier 201. Wolkenhauer (Anm. 20) 89–91.
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Zeitverhalten ‚großer Männer‘ als beispielhaft verstanden worden: recte vivere
impliziert einen guten Umgang mit der Zeit34.
Was aus diesen exempla an positiven Normen des nächtlichen ordo vitae zu
gewinnen ist, kann ein Blick auf die „Porträtbriefe“ des jüngeren Plinius bei-
spielhaft zeigen: gemeint sind die Darstellungen des alltäglichen ordo vitae von
Männern der römischen Oberschicht in unterschiedlichen Lebensphasen. Pli-
nius’ berühmte Biographie seines Onkels ist um 100 nach Christus, d. h. rund
20 Jahre nach dessen Tod entstanden und resümiert im Rückblick die Lebens-
gestaltung und die Leistungen des älteren Plinius, der im Alter von 56 Jahren
beim Vesuvausbruch ums Leben gekommen war. Brief 3,1 widmet sich dem All-
tag des zum dargestellten Zeitpunkt bereits hochbejahrten T. Vestricius Spurin-
na, einem an Ansehen dem älteren Plinius vergleichbaren, an Alter und ehren-
vollem otium voranstehenden Patrizier, während in 9,36 und 9,40 sein eigener,
den exempla antiquitatis nacheifernder ordo vitae Gegenstand des Briefes ist.
Die genannten Briefe sind hinsichtlich ihres exemplarisch-normativen Charak-
ters vielfach untersucht worden, wobei sich die Fragen jedoch, falls überhaupt,
auf die Gestaltung des Tages richteten35. Diese Überlegungen möchte ich hier
mit der Fokussierung auf Nacht und Schlaf ergänzen, wobei die konstatierten
Gemeinsamkeiten der Briefe die Annahme zulassen, dass auch die an die Bio-
graphien angelegte nächtliche Zeitnorm überindividuelle Züge aufweist36.
Die maximale Dauer der nächtlichen Dunkelheit beträgt in Rom zwischen 9
und 15 Stunden der heutigen Stundenrechnung, war also im Winterhalbjahr
deutlich länger als die physiologisch notwendige Schlafenszeit. Daher ist zu
erwarten, dass der nächtliche ordo vitae jahreszeitlich variiert, so dass winters
182 Anja Wolkenhauer
34 Im Spurinna-Brief (3,1) vergleicht Plinius eingangs den vorgestellten Tagesablauf aufgrund
seiner Regelhaftigkeit mit der Gestirnsbewegung und schlägt damit den Bogen von der kos-
mischen zur sozialen Ordnung: me autem ut certus siderum cursus ita vita hominum disposita
delectat, senum praesertim. Derartige Vergleiche werden häufig zur Legitimation der Kalen-
derrechnung eingesetzt; der individuellen Alltagsgestaltung eine solche ‚Naturgesetzlichkeit‘
zuzumessen, ist jedoch neu. Zur Begründung sozialer durch kosmische Ordnungen siehe
Wolkenhauer (Anm. 11), bes. 237–248, 267–270. – Als Ordnungsmetapher siehe K. Kroh,
Der laute und der leise Plinius. Vom Umgang mit exemplarischen Ordnungen in Plin. Epist.
3,1 und 3,5, in: Ch. D. Haß, E. M. Noller (Hg.), Was bedeutet Ordnung – was ordnet
Bedeutung? Zu bedeutungskonstituierenden Ordnungsleistungen in Geschriebenem (Ber-
lin / Boston 2015) 71f.
35 R. Gibson, R. Morello, Reading the Letters of Pliny the Younger (Cambridge / New
York 2012), bes. 118; E. Lefèvre, Vom Römertum zum Ästhetizismus. Studien zu den Brie-
fen des jüngeren Plinius (Berlin / New York 2009), bes. 45f. und 123–141; C. Connors,
Imperial Space and Time. The Literature of Leisure, in: O. Taplin (Hg.), Literature in the
Greek and Roman Worlds. A New Perspective (Oxford 2000) 492–518; D. Pausch, Biogra-
phie und Bildungskultur. Personendarstellungen bei Plinius dem Jüngeren, Gellius und Sue-
ton (Berlin / New York 2004), bes. 98ff.; Kroh (Anm. 34).
36 Die Stärke der Norm lässt sich auch daran ablesen, wie Plinius seine relative Freiheit im
otium der Villa betont, nur um gleich wieder eine beeindruckende Zeitdisziplin zu demons-
trieren Vgl. Plin. Ep. 9,36,1: evigilo, cum libuit, plerumque circa horam primam, saepe ante,
tardius raro; 9,36,3: ubi hora quarta vel quinta, neque enim certum dimensumque tempus, ut
dies suasit, in xystum me […] confero.
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z.B. eine Arbeitsphase bei künstlichem Licht, im Sommer hingegen eher Tag-
schlafphasen zu erwarten sind. Plinius’ obige Bemerkung, sein Onkel habe jah-
reszeitlich wechselnd zu unterschiedlichen Nachtstunden mit der Arbeit begon-
nen, unterstützt diese Annahme ebenso wie der in der Regula Benedicti
erwähnte zusätzlich gewährte Morgenschlaf der Mönche im Sommer37.
Der exemplarische Schlafrhythmus des älteren Plinius wird vom jüngeren
retrospektiv folgendermaßen charakterisiert:
Sed erat acre ingenium, incredibile studium, summa vigilantia. Lucubrare Vulcanalibus
incipiebat non auspicandi causa sed studendi statim a nocte multa, hieme vero ab hora septima
vel cum tardissime octava, saepe sexta. Erat sane somni paratissimi, non numquam etiam inter
ipsa studia instantis et deserentis. Ante lucem ibat ad Vespasianum imperatorem – nam ille
quoque noctibus utebatur –, inde ad delegatum sibi officium. Reversus domum quod reli-
quum temporis studiis reddebat. Post cibum saepe – quem interdiu levem et facilem veterum
more sumebat – aestate si quid otii iacebat in sole, liber legebatur, adnotabat excerpebatque.
[…] Post solem plerumque frigida lavabatur, deinde gustabat dormiebatque minimum; mox
quasi alio die studebat in cenae tempus.
(„Aber Plinius war scharfsinnig, unglaublich fleißig und brauchte wenig Schlaf. Er begann
regelmäßig von den Vulcanalia an [ab Ende August]38 nachts zu arbeiten, nicht um Auspizien
einzuholen [was nach Mitternacht möglich wäre], sondern um sofort von tiefer Nacht an
wissenschaftlich tätig zu sein, im Winter aber von der 7. oder, wenn er sehr spät dran war,
von der 8. Stunde an, oft aber auch schon von der 6. Stunde an. Er war allerdings mit einem
immer gewärtigen Schlaf gesegnet, der sich manchmal auch während der Studien selbst ein-
stellte und wieder nachließ. Vor Sonnenaufgang ging er zum Kaiser Vespasian, denn auch der
nutzte die Nächte, von dort dann zu der ihm übertragenen Aufgabe. Nach Hause zurück-
gekehrt widmete er das, was von der Zeit noch übrig war, den Studien. Nach dem Essen, das
er zwischendurch leicht und einfach nach der altmodischen Art einnahm, legte er sich im
Sommer oft, wenn es etwas Muße gab, in die Sonne, ein Buch wurde vorgelesen, er machte
Notizen und exzerpierte. Nach der Sonne wusch er sich meistens kalt, dann aß er und schlief
ein klein wenig, dann studierte er wie an einem zweiten Tag bis zum Abendessen.“)
Über den Zeitpunkt des Schlafbeginns ist im vorliegenden Text nichts gesagt.
Früher Anfang und frühes Ende sind in der Literatur verschiedentlich positiv
besetzt, während der Schlaf über den Sonnenaufgang hinaus bis in die 3. oder
4. Tagesstunde hinein negativ beurteilt wird39. Die ersten beiden Zeitangaben
Vorüberlegungen für eine Zeitgeschichte von Nacht und Schlaf in Rom 183
37 Explizit formuliert wird das Problem bei Colum. 11,2,90 f.: Sed etiam longis noctibus ad
diurnum tempus aliquid adiciendum est. […] Nam inertis est agricolae exspectare diei brevi-
tatem, praecipue in his regionibus, in quibus brumales dies horarum novem sunt noctesque
horarum quindecim.
38 Die Vulcanalia wurden am 23.8. gefeiert; die Tageslänge beträgt dann rund 14 Stunden, die
Nachtlänge 10 Stunden. Arbeit bei Licht meint also eine Tätigkeit vor der Dämmerung, d.h.
nach unserer Rechnung in dieser Jahreszeit vor 6 Uhr morgens. Die Erwähnung dieses Da-
tums, das vom jüngeren Plinius andernorts als Datum des Vesuvausbruchs angesetzt wird,
schlägt einen Bogen zum Brief 6,16. Zur Datierung des Festes in den August siehe I. Opelt,
Die Volcanalia in der Spätantike, in: VigChr 24 (1970) 59–65.
39 Der greise Spurinna steht zur zweiten Tagessstunde auf (Plin ep. 3,1,4); Plinius d.J. betont
die freie Wahl des Aufstehzeitpunkts während des otium, um dann jedoch gleich nach-
zuschieben, er stehe auch dann gewöhnlich um die erste Stunde oder noch früher auf (ep.
9,36). Spätaufsteher, die sich erst in der dritten oder vierten Tagesstunde erheben, erwähnen
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hinsichtlich des Aufstehens (auspicandi causa, multa nox) führen in die Zeit nach
Mitternacht, ohne per se jedoch genauere Bestimmungen zuzulassen. Erst die
Korrelation mit einem konkreten Datum, dem Fest der Vulcanalia Ende August,
lässt eine genauere Fixierung zu: Vom Spätsommer an, wenn die Nächte wieder
länger werden, gegen 20 Uhr heutiger Zeit beginnen und eine Dauer von
10 Stunden unserer Rechnung überschreiten, pflegte Plinius d. Ä. sich noch bei
Dunkelheit zu erheben und zu arbeiten (lucubrare). Ab Anfang November
dann, wenn die Nächte gegen 17 Uhr beginnen und eine Dauer von 14 Stunden
überschreiten, verlagert sich seine Schlafenszeit noch weiter nach vorne, und der
Arbeitsbeginn liegt zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh. Dieser wird nicht
mehr in Bezug auf die tiefe Nacht, aber auch noch nicht im Hinblick auf den
Sonnenaufgang, sondern mit Hilfe der Uhr bestimmt, die hier die zivilisatorische
Zeitdisziplin, ratio temporis, der er sich unterwirft, in Erinnerung ruft. Der
jüngere Plinius entwickelt in den anderen genannten Briefen in leichter Ab-
weichung von seinem Vorbild zwei Modelle, die sich nicht nur jahreszeitlich
unterscheiden, sondern – eng damit verbunden – auch unterschiedlichen
Chronotopen gelten, von denen das eine den Winter, die Stadt und die juristische
Tätigkeit umfasst, während das andere dem sommerlichen otium in der villa gilt:
Zum Winter gehören zwei Arbeitsphasen in der Dunkelheit, dem Sommer hin-
gegen gewährt er eine gemäßigtere Zeitdisziplin, unterlässt es aber nicht, auch
dort noch eine intensive geistige Arbeitsphase am frühen Morgen zu postulieren,
die alle Charakteristika der lucubratio trägt40.
Während das frühe Aufstehen als positives Verhalten in vielfältiger und diffe-
renzierter Weise deutlich wird, gilt dies nicht für die nächtliche Unterbrechung
des Schlafs. Hinweise auf eine regelmäßige, übliche nächtliche Wachphase, wie
sie besonders für das Mittelalter in den letzten Jahren wiederholt postuliert
worden ist, finden sich weder bei Plinius noch in anderen Texten der römischen
Antike vor den christlichen Mönchsgemeinschaften. Vielmehr ist zu fragen, ob
hinter der in der mediävistischen Forschung diskutierten historischen Rekon-
struktion, die annimmt, dass der reguläre Nachtschlaf regelmäßig durch Phasen
des stundenlangen Wachliegens unterbrochen worden sei, nicht eigentlich ein
Problem der Textinterpretation aufscheint41: Denn der Schlaf öffnet sich ja nicht
nur zur Alltagswachheit hin, sondern auch zum Traum, zur nächtlichen Vision
184 Anja Wolkenhauer
Hor. Serm. 1,6,110–129; Mart. 12,18. Dem von Pflicht und Askese geprägten frühen Nacht-
schlaf seines Onkels stellt Plinius im Spurinnabrief einen Alternativentwurf an die Seite, den
er auch für sich selbst beansprucht: das lange abendliche Zusammenbleiben im freundschaft-
lichen Gespräch: sumit aliquid de nocte et aestate: nemini hoc longum est; tanta comitate
convivium trahitur (3,1,9; vgl. Plin. Ep. 9,36,4: ita variis sermonibus vespera extenditur).
40 Plin. Ep. 9,36 hebt eine Arbeitsphase am frühen Morgen hervor, die er noch im Bett und im
Dunkel liegend absolviere. Dabei lasse er alle Texte, an denen er gerade arbeite, im Geiste an
sich vorüberziehen und korrigiere sie im Geiste, bevor er dann am späteren Vormittag ge-
meinsam mit dem Sekretär diese Korrekturen umsetze. Man erkennt unschwer das Modell
der lucubratio, deren nächtliche Isolation hier aufgegriffen und durch künstliche Dunkelheit
verstärkt wird.
41 Vielleicht klärt sich die Suche nach dem polyphasischen Schlaf der Vormoderne auf, wenn
man in einer anderen Richtung sucht.
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und zur göttlichen Schau, und beide „Wachzustände“ sind nicht immer eindeutig
voneinander geschieden; videre und videri sind nicht immer eindeutig zu unter-
scheiden. Sprachlich wird dieser besondere Moment der Nacht durch den alten
Begriff der intempesta nox besonders gekennzeichnet. Intempesta, zeitlos und
ungemessen, ist die Nacht dort, wo sie am tiefsten ist, wo sie jede Ordnung und
jedes Maß verliert42. Als einzige der voruhrzeitlichen Nachtphasen wird die nox
intempesta weder optisch noch akustisch identifiziert, sondern durch das Fehlen
aller sinnlich wahrnehmbaren Parameter: Sie ist die Negation der Zeit bzw.
deren Wahrnehmbarkeit und besitzt damit eine gänzlich andere Qualität als die
übrigen Zeiten. Wer um diese Zeit wach ist, steht außerhalb der menschlichen
Ordnung, in der klassischen Zeit sind dies oft Verbrecher, doch spätestens seit
Laktanz wird er zum Moment der Offenbarung, wenn dieser die Parusie Christi
intempesta nocte stattfinden lässt, und Gregor der Große die Vision des Hl.
Benedikt in diese Nachtzeit verlegt43: Nicht jede nächtliche Schau impliziert
ein Wachsein im klassischen Sinne.
Zum Nachtschlaf treten Tagschlafphasen in unterschiedlichem Umfang hinzu;
das antike Schlafverhalten ist eindeutig zwei- oder sogar mehrphasisch. Der Mit-
tagsschlaf, meridiatio, ist unangefochtene Konvention, wie es etwa auch die
Viten der ‚guten‘ Kaiser bei Sueton zeigen44; doch auch häufige kurze Nicker-
chen im Tagesverlauf und überhaupt die Fähigkeit, jederzeit und überall zu
schlafen, werden positiv bewertet. Während seiner Studien schläft der ältere
Plinius regelmäßig kurz ein (erat somni paratissimi); hinzu kommt eine explizite
Pause nach dem nachmittäglichen Bad (dormiebat minimum). Diese Pause ist
keine Alterserscheinung; Plinius erwähnt sie ebenso bei Spurinna und sich selbst,
zumindest im Sommer, legt aber stets Wert darauf, dass sie nur kurz sei45. Danach
ist er so erfrischt, dass er den verbleibenden Tagesrest quasi alio die, wie einen
zweiten Tag nutzen kann.
5. Schluss
Die kulturelle Übersetzung antiker Zeitangaben wird durch die grundsätzlich
andere Struktur der antiken Zeitordnungen erschwert. Neben der technischen
Zeitmessung prägen soziale Normen sowie die Beobachtung von Naturphäno-
menen die Zeitbeschreibung und Zeitdisziplin. Die Vielfalt qualitativer Zeitord-
nungsverfahren besonders für die zeitlich erst spät erschlossene Nacht verweist
auf die historische Schichtung der lateinischen Begrifflichkeit. Ein Hilfsmittel
zur genaueren Fixierung von Zeitangaben bietet die gemeinsame Analyse von
Vorüberlegungen für eine Zeitgeschichte von Nacht und Schlaf in Rom 185
42 Ich bin dem Begriff an anderer Stelle nachgegangen: Wolkenhauer (Anm. 3).
43 Steidle (Anm. 33).
44 Suet. Aug. 78; Suet. Vesp. 21; vgl. Plut. Caes. 69.
45 Plin ep. 3,1,8 (über Spurinna): lotus accubat et paulisper cibum differt. Plin. Ep. 9,36,3:
paulum redormio, dein ambulo (vor dem Bad). Im Winter entfällt der Mittagsschlaf (Plin.
Ep. 9,40).
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Zeitbestimmungen aus unterschiedlichen Referenzsystemen (Synchronismus).
Sie werden von den antiken Sprechern dafür eingesetzt, Subsysteme an einer
Norm auszurichten bzw. zwei Systeme zu korrelieren, womit sie zugleich Aus-
kunft über die Reichweite unterschiedlicher Zeitordnungssysteme und die je-
weilige Übersetzbarkeit geben. Synchronismen entstehen aber auch, wenn das
spezifische semantische Potential einzelner Ausdrücke außerhalb ihres „eigent-
lichen“ Bezugssystems aufgerufen wird. Der Bedeutungsgewinn tritt hier vor
die Chronologie; die Zeitbestimmung gewinnt einen Bedeutungsüberschuss,
der zu beachten ist.
Beim weitgehenden Fehlen normativer Texte ist es nötig, alternative Wege zu
beschreiten, um so etwas wie die positive Norm nächtlicher Zeitgestaltung be-
schreiben zu können. Neben den Zeitbestimmungen an sich hat sich die Unter-
suchung individuell geprägter, aber exemplarisch aufgefasster Tagesrhythmen
bedeutender Männer46 als hilfreich erwiesen. Dort zeigt sich, dass Nacht und
Schlaf zwar zusammengehören, aber nicht deckungsgleich sind: Der Schlaf er-
streckt sich als Polyphasenschlaf über Nacht und Tag. Auffällig an der sichtbar
werdenden Zeitnorm der Nacht sind zudem die Betonung der Übergangszeiten
zwischen Tag und Nacht sowie vor allem der in die frühen Nachtstunden hinein
verlagerte Beginn des Nachtschlafs. Auch der Tagesbeginn erscheint in die früh-
morgendliche Dunkelheit zurückverlegt. Die Schlafbeschreibungen berühmter
Männer postulieren das Ideal eines frühen und kurzen Schlafs, der aber mit
großer Selbstverständlichkeit durch einen Mittagsschlaf und mehrere Kurz-
schlafepisoden im Tagesverlauf ergänzt wird. Auf dieser Basis können Studien
zur Zeitdisziplin spezifischer Chronotope ansetzen.
186 Anja Wolkenhauer
46 Siehe im vorliegenden Band den Beitrag von Ch. Walde, S. 151–171.
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Chapter
Our present appreciation of Greek and Roman literature should be informed and influenced by consideration of what it was originally appreciated for. The past, for all its alienness, affects and changes the present.' The focus of this book - its new perspective - is on the 'receivers' of literature: readers, spectators, and audiences. Six contributors, drawn from both sides of the Atlantic, explore the various and changing interactions between the makers of literature and their audiences or readers from the beginning of the Roman empire to the end of the classical era. The contributors deploy fresh insights to map out lively and provocative, yet accessible, surveys. They cover the kinds of literature which have shaped western culture - epic, lyric, tragedy, comedy, history, philosophy, rhetoric, epigram, elegy, pastoral, satire, biography, epistle, declamation, and panegyric. Who were the audiences, and why did they regard their literature as so important?
Article
This is the first general introduction to Pliny's Letters published in any language, combining close readings with broader context and adopting a fresh and innovative approach to reading the letters as an artistically structured collection. Chapter 1 traces Pliny's autobiographical narrative throughout the Letters; Chapter 2 undertakes detailed study of Book 6 as an artistic entity; while Chapter 3 sets Pliny's letters within a Roman epistolographical tradition dominated by Cicero and Seneca. Chapters 4-7 study thematic letter cycles within the collection, including those on Pliny's famous country villas and his relationships with Pliny the Elder and Tacitus. The final chapter focuses on the 'grand design' which unifies and structures the collection. Four detailed appendices give invaluable historical and scholarly context, including a helpful timeline for Pliny's life and career, detailed bibliographical help on over 30 popular topics in Pliny's letters and a summary of the main characters mentioned in the Letters.
  • H Pöschel
H. Pöschel, Art. cantus, in: ThLL 3 (1906-1912) 292-295, hier 294.