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Parteien, die ihren Standpunkt schlecht belegen können, generieren zuweilen Beweis-Illusionen, die einer genauen Prüfung
nicht standhalten. Fünf Dimensionen der Validität, eine Zusammenfassung der Wissenschaftstheorie, bilden ein Verfahren,
mit dem man kleine und grosse Mängel in der Belastbarkeit einer Argumentation aufdecken kann: 1) Quellennachweise:
Wie ist die Person zur besagten Information gelangt und wo findet man sie? 2) Falsifizierbarkeit: Verbindlichkeit zwischen
Behauptungen und Belegen. 3) Innere Konsistenz der Argumentation. 4) Faktizität. 5) Kausalitätsanforderungen.
Inhaltsverzeichnis
1. Validität versus Vollständigkeit, Nachvollziehbarkeit und Schlüssigkeit
2. Intersubjektive Überprüfbarkeit statt «Wahrheit»
3. Dim. I Quellenvalidität: Herkunft von Informationen, wo findet man sie?
4. Dim. II Formelle Validität: Verbindlichkeit und Falsifizierbarkeit
5. Dim. III Innere Validität – Konsistenz
6. Dim. IV Äussere Validität – Faktizität
7. Dim. V Kausalität bezüglich psychologischer und sprachlicher Einflüsse
8. Diskussion der Gerichtstauglichkeit der Validitäts-Heuristik
1. Validität versus Vollständigkeit, Nachvollziehbarkeit und Schlüssigkeit
Justice - Justiz - Giustizia
Die Validitätsprüfung von Argumenten
Autor/Autorin: Henriette Haas
Beitragsarten: Forum
Zitiervorschlag: Henriette Haas, Die Validitätsprüfung von Argumenten, in: «Justice - Justiz - Giustizia» 2019/1
Um Stärken und Schwächen einer fachlichen Argumentation interdisziplinär zu evaluieren, steht ihre Validität
(Belastbarkeit) zur Diskussion, nicht die historische «Wahrheit» als solche, die niemand kennt. Die conditio sine
qua non für das Standhalten von Erkenntnissen vor dem wissenschaftlichen Anspruch ist ihre intersubjektive
Überprüfbarkeit. Drei Begriffe umreissen traditionell die Anforderungen, die ein Gericht an Gutachten und natürlich
auch an Rechtsschriften aller Art stellt: Vollständigkeit, Nachvollziehbarkeit und Schlüssigkeit. Die Dimensionen
der Validität erlauben es, diese Vorgaben zu konkretisieren und zu präzisieren und bilden ein klar definiertes Raster
für die kritische Beweiswürdigung.
[Rz 1]
1
I. Dimension I: Quellen-Validität
Woher stammen die Informationen einer Person und wo kann man sie lokalisieren? (Betrifft Vollständigkeit
und Nachvollziehbarkeit)
II. Dimension II: Formelle Validität, Verbindlichkeit, Falsifizierbarkeit
Sind Behauptungen so präzise formuliert, dass sie auch widerlegbar sind? Wird die thematische Einheit
eingehalten? (Betrifft Nachvollziehbarkeit und Schlüssigkeit)
[Rz 2]
2. Intersubjektive Überprüfbarkeit statt «Wahrheit»
III. Dimension III: Innere Validität, Konsistenz
Sind die Behauptungen einer Person oder einer Rechtsschrift in sich konsistent oder hat es Duplizitäten?
(Betrifft Schlüssigkeit)
IV. Dimension IV: Äussere Validität, Faktizität
Entsprechen die Behauptungen einer Person den andern in den Beweismitteln enthaltenen Fakten und
Indizien? (Betrifft Vollständigkeit und Schlüssigkeit)
V. Dimension V: Kausalität
Liefern die Argumente eine zwingende Erklärung für den fraglichen Sachverhalt, respektive blockieren sie
allfällige (realistische) Alternativerklärungen? (Betrifft Vollständigkeit und Schlüssigkeit)
Die Validitätsdimensionen liefern konkrete Anweisungen, was eigentlich genau geprüft werden muss, was zur
Ergänzung nachgefordert werden muss und welche Mängel sich einschleichen könnten, die sonst möglicherweise
unerkannt blieben. Sie beziehen sich auf interdisziplinäre Anforderungen an die Wissenschaftlichkeit, die von der
Epistemologie seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Zur praxistauglichen Prüfmethode verdichtet
entsprechen die Dimensionen nun den minimalen Anforderungen, die W an jedes Verfahren für das
sogenannte «reasoning under uncertainty» stellt, namentlich dass es der Linguistik (Dim. II), der Logik (Dim. III &
IV) und der Kausalität (Dim. I, IV & V) Genüge tun muss. Für die Prüfung von Laien-Aussagen also Zeugen,
Beschuldigte, Kläger und Beklagte wurden die ersten vier Dimensionen, die dafür meistens genügen, bereits früher
hergeleitet.
[Rz 3]
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3
4
Während der Entwicklungsphase dieser Heuristik bot sich der Schreibenden eine willkommene Gelegenheit, diese
Dimensionen in einem laufenden Verfahren anzuwenden. Es ging damals um ein Glaubhaftigkeitsgutachten,
welches stark kritisiert worden ist. So habe es «elementare Vorgaben wissenschaftlicher Standards in der
Glaubhaftigkeitsbegutachtung» missachtet. Die Berufungsbegründung der Verteidigung beinhaltete 74
randnummerierte Argumente, wovon 32 das Gutachten der Schreibenden (als «Prof. B» anonymisiert) betrafen.
Dazu konnte sie Stellung nehmen. Einige der zahlreichen interdisziplinär relevanten methodischen Aspekte des
Falles sollen hier zur Illustration zur Sprache kommen. Der Fall ist, unter Berücksichtigung vieler Aspekte der
wissenschaftlichen Standards, um die es hier geht, rechtskräftig mit einem Bundesgerichtsentscheid
abgeschlossen.
[Rz 4]
5
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Früher ging man davon aus, dass es die Aufgabe der Gerichte und der Wissenschaft sei, «die Wahrheit»
herauszufinden und zu dokumentieren. Da vergangene Ereignisse – vollkommen objektiv und jenseits
menschlicher Wahrnehmung und Meinungen – gar nicht rekonstruiert werden können, setzt sich ausgehend von
der naturwissenschaftlichen Kriminalistik seit der Jahrtausendwende das sog. epistemische Paradigma immer
mehr durch. Es geht vom erkennenden Subjekt aus, das einen mehr oder minder qualifizierten Glauben
formulieren kann. Gruppen (z.B. von Fachleuten) können aufgrund vorher festgelegter Spielregeln demokratisch
begründete Entscheidungen über die zu verwendenden Methoden, über die Forschungsethik (analog zum
juristischen Prozessrecht) und über eine gut qualifizierte Sichtweise zu einem Thema treffen. Wissenschaftlichkeit
ist also nicht naturgegeben, sondern beruht auf einem Regelwerk, auf das sich die akademische Gemeinde
geeinigt hat. Die Prämisse der Wissenschaftlichkeit ist die intersubjektive Überprüfbarkeit. Gemessen wird heute
der Erkenntnisgewinn, die Zunahme an Gewicht für eine Hypothese, die sich durch neue Fakten und Indizien
ergibt. Selbstwidersprüche schwächen beispielsweise das Gewicht einer Position. Der veraltete absolute
Wahrheitsbegriff schleicht sich leider im Alltag immer wieder in Akten und die Rechtsprechung hinein und generiert
dort Konfusion. Das Adjektiv «wahr» verharrt deshalb so gut in der Gerichtssprache, weil es in der öffentlichen
Arena schwierig ist zu erklären, dass ein Gerichtsurteil «nur» eine qualifizierte Meinung darstellen solle. Laien (und
[Rz 5]
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3. Dim. I Quellenvalidität: Herkunft von Informationen, wo findet man sie?
«Experten für alle Belange» mit wichtigen Titeln) könnten dem entgegnen, ihre Meinung sei auch qualifiziert.
Denen müsste man – wenig schmeichelhaft – vorhalten, dass ihre Ansichten nur auf Teilinformationen beruhen
oder auf Würdigungen, denen der Sachverstand abgeht. So ist es einfacher, beim Wahrheitsbegriff zu bleiben.
Im Illustrations-Fall entstand eine Kontroverse bereits über das zulässige respektive gebotene Forum der
interdisziplinären Überprüfbarkeit. Die erste Instanz monierte, dass die Verteidigung an die zur Hauptverhandlung
eingeladene Sachverständige nur eine einzige Frage gestellt und dafür im Plädoyer eine ganze Reihe angeblicher
Mängel am Gutachten vorgetragen hatte, um dem Antrag auf Einholen eines Obergutachtens Nachdruck zu
verleihen. Entgegen der Kritik befand sie das Gutachten als schlüssig, nachvollziehbar und vollständig.
[Rz 6]
8
In der Berufungsbegründung der Verteidigung wurden die Argumente des Plädoyers erneut vorgebracht. Das
Appellationsgericht holte die (für diesen Aufsatz relevante) Stellungnahme der Schreibenden ein. Das Procedere
wurde vom Bundesgericht entgegen der Beschwerde der Verteidigung gutgeheissen:
[Rz 7]
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«Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist es unter konventions- und verfassungsrechtlichen Aspekten
zulässig, wenn der amtliche Sachverständige zu den Vorbringen des privaten Gutachters – die als Bestandteil
der Parteivorbringen gelten – Stellung nehmen kann (BGE 127 I 73 E. 3f/bb S. 81 f.). Eine solche Konfrontation
des gerichtlichen Sachverständigen mit dem Privatgutachten ist auch mit der StPO vereinbar bzw. sie kann sich
im Interesse der Wahrheitsfindung gar aufdrängen […]»
Formaljuristischen Manövern zur Vermeidung einer interdisziplinären Diskussion wurde so fortan ein Riegel
geschoben.
[Rz 8]
Aus der Überprüfbarkeit folgt die zwingende Notwendigkeit von Quellenangaben. Wie ist eine Person an ihre
Informationen gelangt? Woher stammt ein Beweismittel? Wo kann es jetzt lokalisiert werden? Was geschah mit
ihm in der Zeit zwischen seiner Erhebung und der Analyse? Belastbare Angaben ermöglichen (zumindest
theoretisch) weitere Recherchen und Kritik. Wichtig sind die genauen Nachweise der verwendeten
Sekundärliteratur. Manchmal passiert es, dass Angaben nur summarisch erfolgen, punktuell an kritischen Stellen
ausgelassen werden oder nur schwer lokalisierbar sind. Den Leser/innen wird damit ein «Ostereiersuchen»
zugemutet. Dieses unfreiwillige «Rätseln» könnten ungenaue Autor/innen dann sogar noch mit dem Vorwurf von
«Fehlinterpretationen» kritisieren, obwohl sie die Situation selber verursacht haben. Im Illustrationsfall wandte sich
die Gutachterin ans zuständige Gericht und schrieb:
[Rz 9] 10
11
«Summarisch werden zwar in Rn 14 zwei Quellen genannt […], ohne dass RA_ aber in seinen nachfolgenden
Ausführungen mit Seitenzahlen, Autorennamen und Erscheinungsjahr einen verbindlichen Bezug dazu
herstellte. […] Die quellenlosen mutmasslichen Zitate, undefinierten Begriffe und Zusammenfassungen
bewirken einen erheblichen und eigentlich unnötigen Mehraufwand für die Stellungnahme. […] Quellenlose und
somit unverbindliche Angaben bewirken nämlich, dass die Leser/innen der Berufungsbegründung dazu
gezwungen sind, reine Mutmassungen anzustellen, auf welche Studien, Lehrbücher, Textstellen und Autoren
sich ein Zitat, eine Zusammenfassung oder ein nicht allgemein verwendeter Begriff genau beziehen könnte.
Damit wird den Leser/innen die Möglichkeit genommen, die betreffenden Textstellen beweiskräftig in den
Kontext des zitierten Werks einzuordnen, sie zu bestätigen, zu falsifizieren, zu kritisieren, auf ihre Aktualität hin
zu prüfen, sie in die Fachliteratur anderer Autoren einzuordnen, sie zu nuancieren oder zu ergänzen. Jede Kritik
– und sei sie noch so berechtigt – würde dann grundsätzlich auf Spekulationen basieren. Ferner können bei
4. Dim. II Formelle Validität: Verbindlichkeit und Falsifizierbarkeit
lückenhafter Zitierweise Behauptungen über angebliche fachliche Anforderungen, die aus der Luft gegriffen
sind, nicht von solchen, die rechtspsychologisch fundiert sind, unterschieden werden. […] So möchte ich Sie
hiermit anfragen, ob das Appellations-Gericht BS Herrn RA_ um eine diesbezügliche Ergänzung ersuchen
könnte?»
Der Bitte wurde stattgegeben und der Anwalt präzisierte seine Angaben insofern, als er die Literaturliste verbindlich
eingrenzte. Die Zitate wollte er hingegen nicht mit Anführungszeichen versehen.
[Rz 10]
In weiteren Szenarien der Quellenvaliditätsprüfung lohnt es sich u.U., den Werdegang der Erkenntnisse von
Sachverständigen zurückzuverfolgen, um sich ein Bild über deren Sorgfalt und Methodik machen zu können. Das
Zustandekommen von Diagnosen kann man mit Fragen beleuchten, welche konkreten Erlebnisse eine Ärztin mit
dem Patienten diesbezüglich hatte, welche Symptome sie selber wann (und wann erstmals) wahrgenommen und
untersucht hat. Beruht die Glaubhaftigkeit der geltend gemachten Beschwerden einzig und alleine darauf, dass der
Patient die Symptome stimmig schilderte? Wann tat er dies zum ersten Mal? Wurde die Diagnose aus einem
Bericht übernommen?
[Rz 11]
Was ist, wenn ein Experte behauptet, es gäbe zur richterlichen Frage gar keine Fachliteratur? Dieser seltene Fall
kann vorkommen, müsste aber mit einer Literaturrecherche begründet werden. Wenn Studierende dies behaupten,
haben sie meistens nicht mit den richtigen Stichwörtern gesucht. Daher müssen die Such-Stichwörter im Sinn der
Transparenz für die Parteien offengelegt werden.
[Rz 12]
Zur mangelnden Quellenvalidität gehören weiter Parteiforderungen, die auf eigenmächtig definierten «Normen»
jenseits des geltenden Rechts beruhen. Solche können auch aus der Feder renommierter Personen stammen oder
von Interessengruppen übernommen worden sein. Zu autokratischen Soll-Vorschriften gibt es natürlich keine oder
nur untaugliche Quellenangaben, so dass man sie für gewöhnlich mit der Frage entlarvt: «Auf welcher gesetzlichen
Grundlage beruhen ihre Ausführungen?» V äusserte sich zur Qualitätssicherung in Gutachten: «Fachlich
falsch sind jene methodenkritischen Stellungnahmen, in denen individuelle Vorstellungen als verbindliche
Grundsätze des Fachs behauptet werden.»
[Rz 13]
12
Formelle Validität ist die Verbindlichkeit der Beschreibung und Argumente, also die theoretische (grammatikalische
und semantische) Falsifizierbarkeit einer Aussage. Mangelnde formelle Validität besteht aus dem Auflösen der
thematischen Einheit von Argument und Belegen, aus Schwammigkeit, Meta-Kommunikationen, aus immer
zutreffenden All-Aussagen («kräht der Hahn …»), aus Ausweichmanövern und rhetorischen Tricks. Solche
Beliebigkeit kann je nach dem nur beweisleer sein oder schon zu Willkür und gar Täuschung gehören. Wenn
Experten eine gestelzte Sprache zur Schau tragen und sich dabei den Anschein von grosser Gelehrsamkeit geben,
ist die Nachvollziehbarkeit beeinträchtigt. Oft verstecken sich nicht falsifizierbare Behauptungen hinter höherem
Blödsinn.
[Rz 14]
Gerichtsprozesse als Beurteilung vergangenen menschlichen Handelns und Sprechens sind unabdingbar an die
Auswertung von Sprache gebunden. Diese hat sich bisher jeglichem Versuch der logischen Formalisierung
entzogen. Wörter sind Symbole, nur Zeichen, nicht etwa klare Bezeichnungen für Objekte; denn sie sind nicht
eindeutig! Ein Wort kann eine ganze Geschichte erzählen. Zum Beispiel berichtet das Wort «Gipsbein», das wir der
weissen Umhüllung automatisch zuweisen, wenn wir sie sehen, von der Geschichte eines Unfalls oder einer
Krankheit und einer medizinischen Intervention. In seltenen Fällen – beispielsweise am Zoll – kann es vorkommen,
[Rz 15]
dass ein angebliches Gipsbein gar nicht das ist, was es vorgibt. Es kann ein «Kokainbein» sein, ein
Schmuggelwerkzeug. Auch die vermeintlich objektive Beschreibung eines «fixierten Verbandes aus Gips» muss
deshalb keineswegs wahr sein. Jedes Wort und jeder Satz sind nur Hypothesen der Sprecher über die Welt.
Sprache ist immer Interpretation. Von Natur aus zieht der Mensch aus Empfindungen und Sinneseindrücken
schnelle Schlüsse, die er in Worte fasst. Daraus resultiert die Notwendigkeit, Begriffe genau zu definieren. Ein
Mangel der Falsifizierbarkeit entsteht, wenn Konzepte oder Begriffe undefiniert bleiben oder wohldefinierte Begriffe
implizit abgeändert und damit unterlaufen werden.
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Der Umstand, dass Sprache immer auf Interpretation beruht, wird zuweilen missverstanden. Manche leiten
fälschlich daraus ab, es gäbe überhaupt keine Fakten, alles sei in einen Topf zu werfen. Sie verwedeln damit den
Unterschied zwischen den «Tatsachen» (lat. res facta) als dem, was in der Vergangenheit bereits getan wurde und
dokumentiert ist (d.h. aktenkundige Beweismittel) im Gegensatz zu den aktuell zu überprüfenden
Arbeitshypothesen. Andere wiederum, die dem alten absoluten Wahrheitsbegriff anhängen, unterstellen (implizit),
Fakten seien «objektive Erkenntnisse» und würden in einem Gegensatz zu «subjektiven» Interpretationen stehen.
Dies geschah in der Berufungsbegründung des Beispielfalls, die (in Rn 19) den Vorwurf erhob: «dass das
Gutachten nicht strikt zwischen Befundbericht und diagnostischer Würdigung unterscheide» und zwar weil in den
Protokollen auf Missverständnisse hingewiesen wurde und dies im Gutachten unter den Anknüpfungstatsachen
genannt wurde. Das Gericht folgte hingegen der Stellungnahme, die darauf hinwies, dass RA_ den Begriff
«Tatsache» anders als der Duden ausgelegt habe.
[Rz 16]
14
«Wenn bei der Wiedergabe der Akten, welche als Anknüpfungstatsachen dem Gutachten zu Grunde gelegt
werden, auf Ungereimtheiten, Widersprüche, Schwierigkeiten mit Zahlen, Verständigungsschwierigkeiten […]
hingewiesen bzw. der Umgang mit diesen Elementen im Aussageverlauf nachgezeichnet wird, handelt es sich
klar und unmissverständlich um eine Zusammenfassung der in den Akten befindlichen Fakten. Jede
Zusammenfassung ist bis zu einem gewissen Grad auch eine Interpretation, da sie gewichtet. Entscheidend ist
indessen, dass deutlich wird, wo Akten zusammengefasst werden, wo es sich um Zitate und wo um
Schlussfolgerungen der Gutachterin handelt. Diese Vorgabe befolgt das Gutachten, indem es mit
verschiedenen Schriftbildern und Angabe von Fundstellen deutlich macht, von wem die jeweilige Aussage
stammt. Im Gutachten wird zusätzlich dargelegt, nach welchen Kriterien die Akten zusammengefasst wurden
(Gutachten S. 41)»
Fakten sind demnach nicht das semantische Gegenteil von Interpretationen. Relevant ist vielmehr wer, was, wann
und wo gesagt, getan oder geschrieben hat. Dieser Unterschied muss in jeder Rechtsschrift mit Quellenangaben
und Anführungszeichen überall klar und deutlich kenntlich gemacht werden und zwar so, dass man die Quellen
sofort lokalisieren kann.
[Rz 17]
Um die Schwammigkeit der Beschreibung von Phänomenen wissenschaftlich in den Griff zu bekommen, wurde
1912 vom britischen Mathematiker und Philosophen B R das Konzept der Hypothese entwickelt.
Hypothesis (griechisch) heisst «Unterstellung». Sie ist eine aktuelle Aussage über Tatsachen, die selber (noch)
keine Tatsache ist. Sie dient als Werkzeug für jede Recherche mit wissenschaftlichem Anspruch. Hypothesen
fungieren als Trennscheiben, die zwischen einem unqualifizierten und einem belastungsfähigen Glauben scheiden
sollen: ja/nein. R definierte. Eine Hypothese H ist ein Glaube und er ist «wahr» (modern: valide) genau
dann, wenn H zu den dazugehörigen Fakten passt und folgende Bedingungen erfüllt:
[Rz 18]
15
1. H muss so formuliert sein, dass es auch möglich ist, dass sie sich als falsch erweisen könnte, d.h.
Unwahrheit muss möglich sein; Falsifizierbarkeit;
[Rz 19]
2. «Wahrheit» und «Falschheit» (modern: Belastbarkeit) sind Eigenschaften, die dem Glauben an die Aussage
H innewohnen, nicht den Fakten;
3. Die Belastbarkeit des Glaubens an die Aussage H hängt von etwas ab, das ausserhalb dieses Glaubens
liegt (keine Zirkelschlüsse und Tautologien).
Spekulation ist – im Gegensatz zur Hypothese – eine Vermutung jenseits der Fakten, sei es ganz ohne Fakten
oder sei es, dass sie an den vorhandenen Fakten vorbei argumentiert. Spekulationen genügen nicht, um als «rein
theoretische oder abstrakte Zweifel» den Grundsatz in dubio pro reo anzurufen.
[Rz 20]
16
Bezüglich der Widerlegbarkeit wird in neuen Feldern, etwa im Familienrecht bei der Evaluation der elterlichen
Erziehungsfähigkeit, zuweilen noch recht gesündigt. So beurteilte eine Assistenzärztin in einem bedenklichen
Anfängergutachten die Erziehungsfähigkeit einer schwer gestörten Mutter ganz nach eigenem Gutdünken. Für ihre
Evaluation zog sie keinerlei Fachliteratur hinzu, obwohl es sie gibt. Die Erziehungsfähigkeit beinhaltet ganz
verschiedene einzeln zu prüfende Dimensionen, die aus der Entwicklungspsychologie abgeleitet werden. Die
Gutachterin hatte davon keine Ahnung. Der Fall, dass Akademiker überhaupt keine Quellenangaben zu den von
ihnen verwendeten Werken oder Daten liefern, sondern sich mit ihrer eigenen illustren Autorität zufrieden geben,
sollte eigentlich der Vergangenheit angehören. Zudem dürfte (aus der interdisziplinären Sicht der Schreibenden) im
Sinn der Schlüssigkeit gefordert werden, dass fachliche Grundlagen als falsifizierbare Hypothesen explizit gemacht
und ausdifferenziert werden (wie es in der Glaubhaftigkeitsanalyse bereits Usus ist).
[Rz 21]
17
18
Im geschilderten Illustrations-Fall entstand eine weitere Kontroverse rund um die Anwendung von
Arbeitshypothesen und zwar wieder mit nicht-falsifizierbaren Vorbringen. Unter Rn 19 reproduzierte RA_ ein (nicht
als solches markiertes) Zitat von K, wobei nicht ganz klar war, wozu es dienen sollte:
[Rz 22]
19
«Die aussagepsychologische Begutachtung ist ein komplexer diagnostischer Prozess, der aus mehreren
Komponenten oder Teilschritten besteht:
Generierung von Hypothesen
Auswahl diagnostischer Verfahren
Entwicklung und Umsetzung eines Untersuchungsplans
Befunderhebung
Auswertung von Anknüpfungstatsachen
Diagnostische Bewertung der einzelnen Erkenntnisquellen
Integration der Befund- und Anknüpfungstatsachen zu einer Antwort auf die Gutachterfrage.»
Daran anschliessend in Rn 20 argumentierte er, der Untersuchungsplan sei von der Gutachterin nicht eingehalten
worden, allerdings fehlte dort jeglicher Beleg. War damit ein «Plan» gemäss obiger vorangeschickter Liste
gemeint? Man weiss es nicht. Da es nicht verbindlich behauptet wurde, handelt es sich um ein nicht falsifizierbares
Vorbringen. Später unter Rn 26 kritisierte er unter dem Titel «Fehler bei der Generierung von Hypothesen», dass
vom Gutachten nicht alle erdenklichen Subhypothesen widerlegt worden seien (wie etwa der Transfer von
anderweitigen Erinnerungen der Zeugin auf den Beschuldigten, obwohl es dafür keinerlei Hinweise in den Akten
gab). Mit einem falsch abgeschriebenen und deshalb unzutreffenden Satz wurde behauptet: «Hypothesen
determinieren die Erhebung und Bewertung von Anknüpfungs- und Befundtatsachen». Er postuliert implizit, die
Subhypothesen müssten vor der Aufarbeitung der Anknüpfungstatsachen aufgestellt werden und seien davon
unabhängig. Die in Rn 19 angeführte Liste scheint die Behauptung zu stützen, aber es handelt sich um einen
Pseudobeleg. In Wirklichkeit reflektierte die Liste nur die Gliederung des Aufsatzes und nicht die Reihenfolge der
[Rz 23]
5. Dim. III Innere Validität – Konsistenz
Arbeitsschritte eines aussagenpsychologischen Gutachtens. Diese ist nämlich im Leitentscheid des
Bundesgerichtshofs in Karlsruhe von 1999 geregelt: 20
«Die Bildung relevanter Hypothesen ist daher von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen)
Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen,
unerläßlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar. […] Zu berücksichtigen sind allerdings nicht alle
denkbaren, sondern nur die im konkreten Fall nach dem Stand der Ermittlungen realistisch erscheinenden
Erklärungsmöglichkeiten.»
Der Entscheid bezieht sich offensichtlich auf «rein abstrakte Zweifel» an der Schuld und ist somit auch für die
Schweiz massgeblich. Die Vorbringen in Rn 19, 20 und 26 der hier untersuchten Berufungsbegründung stellen ein
typisches Beispiel dafür dar, wie aus wenigen willkürlich ausgeschnittenen und nicht korrekt referenzierten
Zitatfragmenten ein falsches Mosaik entstehen kann. Das Bild suggeriert – ohne es verbindlich zu behaupten – es
gälte in der Rechtspsychologie ein fachlicher Standard, der den üblichen Beweisregeln nicht entspricht. Nur der
Abgleich mit den vollständigen Originalquellen zeigt, dass es diese angebliche «Norm» gar nicht gibt. Das
Missachten von Quellennachweis und Falsifizierbarkeit bewirkt, dass das Widerlegen einer simplen
Fehlüberlegung furchtbar mühselig wird. Auch das Bundesgericht konnte übrigens der Argumentation der Berufung
nicht folgen.
[Rz 24]
Es würde nun aber zu kurz greifen, wenn man den besagten RA_ nur kritisieren wollte, er hatte nämlich einen
legitimen Grund für seine Forderung (in Rn 26), dass alle nur irgendwie denkbaren Subhypothesen zur
Aussageentstehung hätten abgehandelt werden müssen. Es geht um den wunden Punkt des Urteils des
Bundesgerichts 6B_572/2008 vom 20. Oktober 2008, der dem deutschen Leitentscheid des Bundesgerichtshofs
in Karlsruhe entlehnt ist, ein Relikt aus der vor-epistemischen Zeit, und da lautet:
[Rz 25]
21
«Das methodische Grundprinzip besteht darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt [Anm. gemeint ist
Glaubhaftigkeit der Zeugen-Aussagen] so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten
nicht mehr vereinbar ist. Der Sachverständige nimmt daher bei der Begutachtung zunächst an, die Aussage sei
unwahr (sog. Nullhypothese). Zur Prüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine
Prüfstrategie, daß die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen
kann, so wird sie verworfen, und es gilt dann die Alternativhypothese, daß es sich um eine wahre Aussage
handelt.» 22
Kann sich «die Wahrheit» alleine aus der Glaubhaftigkeit eines einzigen Beweismittels speisen? Damit wäre die
freie richterliche Beweiswürdigung ausgehebelt und alle anderen Beweismittel ebenso. Der Wortlaut des
Entscheids verwechselt die Hilfsfunktion des Glaubhaftigkeits-Gutachtens zur Tauglichkeit eines einzigen
Beweismittels mit dem Probandum des Verfahrens, dem vom Gericht zu eruierenden Lebenssachverhalt.
K präzisierte, man sollte in der Aussagenpsychologie die Nullhypothese besser als «Hypothese der
fehlenden Erlebnisgrundlage» bezeichnen.
[Rz 26]
23
Die innere Konsistenz ist ein notwendiges, aber nicht hinreichendes Kriterium. Widerspruchsfreiheit der
Argumentation und das Verbot von Duplizität bezieht sich nur auf das Schriftwerk von Sachverständigen und
Juristen. Anderes Beweismaterial kann u.U. trotz Widersprüchlichkeit wertvoll sein, sofern es eine gute Erklärung
für die Inkonsistenz gibt. Umgekehrt kann ein Gedankengebäude in sich widerspruchsfrei sein und trotzdem irreal,
[Rz 27]
24
6. Dim. IV Äussere Validität – Faktizität
wie jeder gut erzählte Roman bezeugt. Wenn in einer Schrift die thematische Einheit ständig durchbrochen wird, ist
die Widersprüchlichkeit der Ausführungen nur mit mühseliger Kleinarbeit aufzudecken. In lusch anmutenden
Texten ist das Wirrwarr von Einlassungen zuerst thematisch, personenbezogen oder chronologisch aufzuräumen.
Dazu benötigt man ein elektronisches Dokument. Alle Textpassagen zum gleichen Thema oder der gleichen
Person müssen herauskopiert und aneinandergereiht werden. Erst nach dem Aufräumen werden Widersprüche
sichtbar. In casu reduzierten sich die 32 Kritikpunkte auf 26 verschiedene. Der Rest war redundant.25
Rhetorische Pirouetten erlauben das Aufstellen von argumentativen Fallen: Was auch immer die kritisierte Person
tut, ist falsch. Die zweite Instanz musste im Urteil zur besagten Berufungsbegründung anmerken:
[Rz 28]
26
«Die Verteidigung moniert, dass die Beurteilung von Aussagen weiterer Zeugen oder von Sachbeweisen nicht
Aufgabe des Gutachtens sei. Dem ist als Grundsatz zuzustimmen. Deshalb erscheint es wenig konsequent,
wenn an anderer Stelle in der Berufungsbegründung kritisiert wird, die Gutachterin habe sich mit den
abweichenden Drittaussagen insbesondere von [A], [B] und [C] nicht auseinandergesetzt.»
Ähnliche Manöver sind rhetorische Zwickmühlen. Sie werden eröffnet, indem eine Partei in den Medien eine
schärfere (zugespitzte) und nicht belegbare Version ihrer Behauptungen verlauten lässt als vor Gericht. Sie kann
dann vor der Öffentlichkeit hin- und her lavieren und sich hinter einem Versehen verstecken. Gemäss
Aristotelischer Logik können einander widersprechende Behauptungen nicht beide gleichzeitig zutreffen, solche
Fallen zeugen von Willkür.
[Rz 29]
Die juristische Sachverhaltsfeststellung stützt sich auf die semantische Korrespondenztheorie, die vom
Mathematiker A T 1977 als Weiterentwicklung von R Methodik formuliert wurde. Die
T’sche Präzisierung (1977) benennt zuerst die sog. Objektebene, auf der sich Hypothese H und die Fakten F
befinden, F = {f1, ... fn}. Diese wird unterschieden von der übergeordneten logischen «truth-function» T auf der
Metaebene. Dann gilt für alle Wissenschaften:
[Rz 30]
27
(T): H ist «wahr» genau dann, wenn F
Sprachlich heisst das: Die Hypothese H über die Fakten F trifft dann und nur dann zu, wenn H den Fakten F
entspricht und es diese Fakten auch gibt. Daher muss das Generieren von Arbeitshypothesen faktengeleitet sein,
kann also erst nach dem Durcharbeiten der vorbestehenden Beweismittel erfolgen. Eine weitere Bedeutung von
T ist, dass mehrere Hypothesen plausibel zu den Fakten passen können, obwohl nur eine davon oder gar
keine der unbekannten Grundwahrheit entspricht. Erfahrene Praktiker haben sogar Fälle erlebt, in denen eine
Hypothese ganz klar faktenwidrig war und semantisch dennoch sehr nahe an der Grundwahrheit lag. Das kann
passieren, wenn in einem multikausalen Geschehen eine neue Spur eine ältere und relevantere Spur übertüncht.
Die teilweise oder ganz in die Irre führende neuere Spur dominiert dann die Wahrnehmung. Deshalb kann es einen
«direkten Beweis», dessen Augenschein unmittelbar jedermann überzeugt und der aus Prinzip nicht durch einen
Denkvorgang widerlegt werden könnte, gar nicht geben.
[Rz 31]
28
29
30
Die Urteilsfindung verläuft ganz analog als Abgleich eines Obersatzes (der gesetzliche Tatbestand, die Hypothese)
mit einem gegebenen (prozessual korrekt erhobenen) Lebenssachverhalt, welcher mithilfe der Fakten den sog.
[Rz 32]
7. Dim. V Kausalität bezüglich psychologischer und sprachlicher Einflüsse
Mittelsatz bildet. Das Urteil ist die Konklusion in diesem aristotelischen Syllogismus. Die Übereinstimmung der
Fakten mit dem Tatbestand ist gemäss T notwendig und hinreichend.
Aus T und R folgt schliesslich, dass für die Überprüfbarkeit von Rechtsschriften die Einheit des Themas
pro randnummeriertes Argument unbedingt eingehalten werden muss. Die Belege für jedes monothematische
Einzelargument müssen unmittelbar nach dem Aufstellen der Behauptung anschliessen, damit man ihm die Fakten
eindeutig zuordnen kann. Dies war in der dem Beispielfall zugrunde liegenden Berufungsschrift leider nicht
verwirklicht, sondern es hatte oft mehrere vernestete Behauptungen in einer Randnummer (z.B. Rn 19–22, 26–27),
wobei nicht alle mit Belegen versehen waren.
[Rz 33]
31
Mangelnde äussere Validität eines einzelnen Punktes einer Rechtsschrift kann passieren, sie muss nicht zwingend
auf bösem Willen beruhen. Jemand kann aus der Erinnerung heraus meinen, etwas gelesen zu haben, was
letztlich nicht genau so dort stand. Wenn ein Text aus einem ganzen Gespinst raffinierter, kaum durchschaubarer,
überall verstreuter Behauptungen oder nicht falsifizierbarer Andeutungen besteht, kann er sogar ausgesprochen
sorgfältige Leser/innen zu schweren und mehrfachen Irrtümern über das Gelesene verführen.
[Rz 34]
Eine Illusion von Faktizität entsteht durch die mutatio controversiae, ein beliebtes Ausweichmanöver, das von
S aufgedeckt wurde. Eine selber aufgestellte These oder die zu beantwortende Frage wird – oft
mit ein bisschen Verzögerung – paraphrasiert und dabei semantisch leicht abgeändert, etwa erweitert oder
verengt. Der «Beleg» oder die Antwort fällt dann genau in den veränderten Teil hinein und entspricht nicht der
ursprünglichen These oder der Frage. So wird der Anschein erweckt, Dinge seien fulminant «bewiesen» oder
«widerlegt» worden. Schon Kinder beherrschen diesen Trick. Wenn der Lehrer fragt: «Was weisst Du über den
Wolf?» und die Schülerin nichts weiss, antwortet sie einfach «Der Wolf ist der Vorfahre des Haushundes» und
erzählt in generalisierender Weise etwas von ihrem Hund.
[Rz 35]
32
Das Problem, welche Fakten eigentlich dazugehören resp. ermittelt werden müssen, wird von T nicht
abgehandelt; es ist angesichts der Unendlichkeit der Einflüsse unlösbar. Rechtlich gehören diejenigen Fakten
dazu, die von den Parteien in den Prozess eingebracht werden oder die das Gericht per Auftrag hat ermitteln
lassen. In der Beurteilung von Gutachten kann sich diese Frage stellen, wenn der Eindruck entsteht, ein Experte
habe selektiv nur solche Befunde erstellt oder solche Literatur einbezogen, die einer gewissen
Voreingenommenheit entsprächen. Hier kommt man nicht umhin, eigene Recherchen anzustellen, die Licht ins
Dunkel bringen sollen, angefangen mit den Befunden im Anhang und der vom Experten selber zitierten Literatur.
Eine einseitige Selektion und Würdigung von Tatsachen wird dort oft sichtbar, denn betroffene Personen sind
Überzeugungstäter und tendieren dazu, Teile der Realität völlig auszublenden. Weil sie sich psychologisch in ihren
voreingenommenen Denkschemata eingeigelt haben und die Widersprüche ihrer Ausführungen zum Rest der
Fachliteratur verleugnen, sind ihre Fehler (intellektuell) leicht nachweisbar, es ist nur aufwändig.
[Rz 36]
Die Faktenwidrigkeit ist das einfachste Mittel, um ein verirrtes und verwirrendes Gedankengebäude einstürzen zu
lassen. Am besten legt man, genau nach T, die dokumentierten Fakten sichtbar neben die unrichtige
Behauptung, damit jeder und jede auf einen Blick erkennt, dass sie nicht stimmt.
[Rz 37]
Kausalität – die eindeutige Zuordnung von Ursachen zu einem Effekt – ist die komplexeste Form von Validität.
Rechtlich sind die Beweisanforderungen vom Tatbestand abhängig und auch allgemein wissenschaftlich braucht es
ganze Bibliotheken, um dieses Thema abzuhandeln. Hier geht es nur um ausgewählte psychologische Aspekte.
[Rz 38]
In engem Zusammenhang mit Kausalitätsanforderungen steht der Begriff «Indiz», abgeleitet von (lat.) Index,
Fingerzeig. «Indizien (Anzeichen) sind Hilfstatsachen, die, wenn selber bewiesen, auf eine andere, unmittelbar
rechtserhebliche Tatsache schliessen lassen.» Die Metapher lädt zum Missverständnis ein, das Indiz zeige wie ein
Finger nur in eine Richtung. In Wirklichkeit ist es so, dass:
[Rz 39]
33
«Indizien oft nicht von vornherein einschlägig sind, weil sie nicht ausschliesslich auf ein bestimmtes Szenario
hindeuten. Es gilt, die Indizien daraufhin zu überprüfen, ob sie ausschliesslich für eine Hypothese sprechen,
oder ob sie ambivalent sind, weil sie je nach Kontext unterschiedlich verstanden werden können.»
Besser wäre eigentlich das neutrale Wort «Zeichen», das gemäss der Definition aus der Semiotik eine
Wahrnehmungseinheit darstellt. E definiert das Zeichen als etwas (eine Form), das für etwas anderes (einen
Inhalt, ein Objekt, eine Einwirkung oder eine Bedeutung) steht. Nun fragt sich, welche Zeichen sind überhaupt
wichtig und welche sind nur zufallsbedingt? Die Relevanz eines Zeichens z wird heute als probabilistische
Abhängigkeit definiert: z ist relevant für die Tathypothese H, wenn und nur wenn es die Wahrscheinlichkeit Pr des
Zutreffens der Hypothese verändert. Als Formel:
[Rz 40]
34
Pr(H|z) ≠ Pr(H)
Ein Zeichen kann die Chancen der Täterschaft einer Person um einen Faktor y vermindern oder erhöhen. Damit ist
aber noch nichts über die absolute Wahrscheinlichkeit einer Täterschaft gesagt, denn diese hängt von der
Ausgangswahrscheinlichkeit ab.
[Rz 41]
35
Mangelnde Kausalität kann beim Unterfüttern einer Behauptung mit Zufallsereignissen konstatiert werden. In casu
fehlten dem an die Gutachterin gelieferten Dossier zwei Aktenstücke. Dies wurde von der genannten
Berufungsschrift (Rn 25) als «grober Fehler» gerügt – allerdings ohne zu begründen, inwiefern diese Akten das
Gutachten beeinflussen würden. Die fehlenden Akten waren ohne jede Relevanz, da die Informationen in anderen
Dokumenten ebenfalls vorhanden und bei der Erstellung des Gutachtens berücksichtigt worden waren, also Pr(H|z)
= Pr(H).
[Rz 42]
Zur Kausalitätsbetrachtung gehört die Übereinstimmung von Aussagen mit den Naturgesetzen, also die Beachtung
der Zeitachse, von Kräfte- und Grössenverhältnissen im Raum etc. Dabei müssen die Fehlermöglichkeiten der
menschlichen Sprache berücksichtigt werden: Eine naturwissenschaftliche Auswertung kann immer nur so gut
sein, wie der in menschlicher Sprache erfolgte Auftrag an die Experten es ist. Wenn der Auftrag auf einem
sprachlichen Irrtum, einer Mehrdeutigkeit, einem Sachverhaltsirrtum oder einem Denkfehler beruht, kann die
Naturwissenschaft zwar präzise Messungen liefern, aber sie betreffen einen unzutreffenden Sachverhalt und sind
dann wertlos. Die Prüfung der Chronologie kann bei Expertenbefragungen resp. Gutachtenergänzungen wichtig
sein.
[Rz 43]
36
In Glaubhaftigkeitsgutachten sind die Antworten der Sachverständigen nuanciert zu lesen. Verlangt wird nämlich
vom BGH, dass die Nullhypothese der fehlenden Erlebnisgrundlage klar verworfen werde. Was bedeutet nun die
folgende Formulierung?
[Rz 44]
37
38
«Gesamthaft gesehen und in Anbetracht aller Elemente sei die Wahrscheinlichkeit, dass die gemachten
Aussagen erlebnisbasiert und nicht durch Suggestionseffekte entstanden oder erlogen seien, deutlich grösser
als die gegenteiligen Hypothesen.»
8. Diskussion der Gerichtstauglichkeit der Validitäts-Heuristik
Damit schränkte das Gutachten die Tauglichkeit der Aussagen stark ein, sie seien als Beweismittel nur mässig
geeignet. Für sich alleine genommen blockierten die Vernehmungstechnik oder das Aussageverhalten der Zeugin
die alternativen Erklärungen (z.B. Suggestion und Autosuggestion) nicht in genügender Weise. Die
Zeugenaussagen könnten höchstens zusammen mit anderen Beweismitteln das Zünglein an der Waage spielen. In
casu waren andere Beweismittel nicht vorhanden. Das Gutachten und die Zeugenaussagen könnten aber wieder
relevant werden, wenn der Beschuldigte wegen eines ähnlichen Delikts erneut vor Gericht stünde.
[Rz 45]
Die Dimensionen der Belastbarkeit liefern ein interdisziplinär verständliches, wertneutrales und der modernen
Terminologie angepasstes Instrument zur Prüfung von Einzelbehauptungen und Argumentationsketten in
Rechtsschriften und in wissenschaftlichen Abhandlungen. Die zweite Instanz beurteilte im Illustrationsfall die
Stellungnahme, die mit Hilfe der genannten Dimensionen verfasst worden war, als überzeugend und das
Bundesgericht schloss sich dem an:
[Rz 46]
39
«[...] Im Folgenden ist die Gutachterin auf die detaillierten Kritikpunkte der Verteidigung eingegangen und hat
sie im Einzelnen widerlegt. Ihre schlüssigen Ausführungen vermögen in jeder Hinsicht zu überzeugen.»
«Die Vorinstanz legt nachvollziehbar dar, weshalb auf das Gutachten von Prof. Dr. B._ vom 31. Dezember 2010
abgestellt werden kann. Ihre Würdigung ist nicht willkürlich. Das Bundesgericht anerkennt in seiner
Rechtsprechung, dass bei der Begutachtung im Grundsatz Methodenfreiheit besteht. Die Wahl der Methode
muss aber begründet sein. Die wissenschaftlichen Standards müssen eingehalten und die Schlussfolgerungen
transparent sowie für die Verfahrensbeteiligten nachvollziehbar dargestellt werden (vgl. BGE 128 I 81 E. 2 S.
85). [...] Die theoretischen wissenschaftlichen Ausführungen in seiner Beschwerde zur
Glaubhaftigkeitsbegutachtung mögen zwar ebenfalls überzeugen. Damit ist allerdings noch nicht belegt, dass
nicht auch ein anderes gutachterliches Vorgehen zu einem korrekten Ergebnis führen kann bzw. dass das
umstrittene Gutachten den vom Beschwerdeführer postulierten Standards nicht genügt. Diesbezüglich
erschöpfen sich seine Einwände in einer unzulässigen appellatorischen Kritik.» 40
Vielen kostspieligen Fehlleistungen könnte man früh und mit wenig Aufwand begegnen, wenn Eingaben und
Gutachten, welche den beiden ersten Dimensionen nicht genügen, zur Verbesserung zurückgewiesen würden. Das
Einfordern der vollständigen Markierung von Zitaten und Quellenangeben, so wie die Einhaltung des Themas mit
randnummerierten monothematischen und unzweideutig formulierten Argumenten, denen gemäss der Formel von
T die Belege unmittelbar folgen müssen, verhindert zudem unsachliche Manöver. Eine weitere Möglichkeit
wäre es, zu verlangen, dass Fotokopien der Kapitel von zitierten Belegstellen der Literatur mitgeliefert werden
müssen. Das würde das Verdrehen von Zitaten verhindern.
[Rz 47]
Was Zeugen- und Beschuldigtenaussagen anbelangt, sind die epistemologischen Kriterien der genannten
Dimensionen primär anzuwenden, bevor man psychologische Glaubhaftigkeitsmerkmale hinzuzieht. Wenn eine
Aussage stichprobenmässig mit anderen (der befragten Person unbekannten) Ermittlungsergebnissen
übereinstimmt, darf man sie aus Kausalitätsgründen allgemein als verankert und glaubhaft ansehen. Das Gleiche
gilt für Geständnisse, die mit Täterwissen untermauert sind. Die Auswertung nach Realkennzeichen oder eine
aussagenpsychologische Begutachtung sind subsidiär.
[Rz 48]
41
An dieser Stelle sind dem besagten Rechtsvertreter RA_ seine Verdienste zugute zuhalten. Konsequent und mutig
hat er alle möglichen Lücken aufgedeckt und methodisch wichtige Punkte eingebracht, abgehandelt und damit der
[Rz 49]
Prüfung anheimgestellt. Grundsatzdiskussionen sind zuweilen nötig und stimulieren die Forschung. Es ist nach
bekanntem Diktum von P N, die Aufgabe der Strafverteidigung, Stachel im Fleisch der Justiz zu sein.
H H ist Titularprofessorin für forensische Psychologie an der Universität Zürich und Lehrbeauftragte
an der Schweizerischen Richterakademie und der Staatsanwaltsakademie an der Universität Luzern.
Ein Dank gebührt meinen juristischen Kolleginnen und Kollegen, die meine Manuskripte jeweils gegenlesen. Von
ihren Fachinformationen und Hinweisen habe ich im Laufe der Jahre unendlich viel gelernt.
A B, Die Beweiswürdigung von Gerichtsgutachten im Zivilprozess, in: Jusletter 14. Mai 2007, Rn 4.1
Epistemologie ist die Theorie aller Wissenschaften, die Metatheorie, welcher auch die gerichtliche Beweiswürdigung folgt (in
Rechtsstaaten). H S, Einführung in die Wissenschaftstheorie. Bd. 1 & 2, München 1983.
2
V R. W, Theories of uncertainty, in: Marilyn MacCrimmon/Peter Tillers (Hrsg.), The dynamics of judicial proof (S.
197–236), Heidelberg 2002, S. 204.
3
H H, Zur Würdigung des Aussagenbeweises, Kriminalistik 2017, 71(2), S. 117–124.4
Gutachten vom 31. Oktober 2010; Berufungsbegründung der Verteidigung vom 6. Februar 2013; Brief ans
Appellationsgericht BS vom 20. Dezember 2013; Stellungnahme zuhanden des Appellationsgerichts BS vom 17. April 2014.
5
Urteil des Strafgerichts BS SG.2011.123 vom 8. Mai 2012; Urteil des Appellationsgerichts BS SB.2012.48 (AG.2015.89)
vom 26. November 2014; Urteil des Bundesgerichts 6B_304/2015 vom 14. September 2015.
6
D A. S, The evidential foundations of probabilistic reasoning, Evanston, IL, 2001.7
SG.2011.123, S. 22-23, (Fn 6).8
Urteil des Bundesgerichts 6B_304/2015 vom 14. September 2015, E. 2.5..9
S (Fn 2), S. 79.10
Brief vom 20. Dezember 2013 (Fn 5).11
R V, Qualitätssicherung in der Glaubhaftigkeitsbeurteilung, in: Forensische Psychiatrie, Psychologie,
Kriminologie 2012, 6, S. 250–57.
12
C S. P, The proper treatment of hypotheses: a preliminary chapter, toward an examination of Hume’s argument
against miracles, in its logic and in its history, in: Richard S. Robin (Hrsg.) 1967/1901, Annotated catalogue of the papers of
Charles S. Peirce, Amherst, MA, Ms 692, S. 27.
13
AG.2015.89 (Fn 6), E. 4.1.14
B R, The problems of philosophy. Chap. 12: Truth and falsehood. Oxford 1912, S. 89.15
Urteil des Bundesgerichts 6B_988/2016 vom 8. Mai 2017, E. 1.3.2.16
V K, Gutachten im Familienrecht: sind Standards notwendig? FamPra.ch, 2009, 3, S. 612–633.17
V (Fn 12); Urteil des Bundesgerichts 6B_572/2008 vom 8. Oktober 2008.18
G K, Fehlerquellen in aussagepsychologische Gutachten, in: Rüdiger Deckers/Günter Köhnken (Hrsg), Die
Erhebung von Zeugenaussagen im Strafprozess, Berlin 2007, S. 1–41.
19
Urteil des Deutschen Bundesgerichtshofs in Karlsruhe 1 StR 618/98 vom 30. Juli 1999, E. 13–14.20
Urteil des Bundesgerichts 6B_572/2008 vom 8. Oktober 2008, E. 2.2.1, sowie alle nachfolgenden sich darauf berufenden
Urteile.
21
BGH 1 StR 618/98 (Fn 20), E. 12.22
K (Fn 19), S. 3.23
Die Bewertung von Inkonsistenzen in Zeugen- und Beschuldigtenaussagen wurde in H (Fn 4) abgehandelt.24
Stellungnahme vom 17. April 2014 (Fn 5), S. 48–49, Tabelle 2.25
AG.2015.89 (Fn 6), E. 4.2..26
A T, Die semantische Konzeption der Wahrheit und die Grundlagen der Semantik, in: Gunnar Skirbekk (Hrsg),
Wahrheitstheorien, Frankfurt a. M. 1977, (S. 140–188), S. 152.
27
Stellungnahme vom 17. April 2013 (Fn 5), S. 6.28
«Wahr» ist hier als Wert der Logikfunktion T zu verstehen, nicht als die unbekannte Grundwahrheit in der realen Welt.29
Mehr dazu in H H/M D/A A (under review), Tarski and the intricacies of reasoning
under uncertainty, in: Wolfgang Rother (Hsrg), Irrtum und Erkenntnis, Zürich (forthcomimg).
30
Stellungnahme vom 17. April 2013 (Fn 5), S. 8–13, S. 15–18.31
A S, Die Kunst Recht zu behalten (Eristische Dialektik), 1830/31, Kap. 4–5, online:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-kunst-recht-zu-behalten-4994/1 (besucht am 16. Februar 2019).
32
Urteil des Bundesgerichts 6B_804/2017 vom 23. Mai 2018.33
U E, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a. M. 1973, S. 31, S. 60.34
S (Fn 7), S. 218.35
Vgl. H (Fn 4), S. 120.36
BGH 1 StR 618/98 (Fn 20), E. 1237
Urteil des Bundesgerichts 6B_1006/2017 vom 24. Oktober 2018, E. 2.5.38
AG.2015.89 (Fn 6) E. 3..39
Urteil des Bundesgerichts 6B_304/2015 vom 14. September 2015, E. 2.4.40
H (Fn 4).41