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Orte und Nicht-Orte in Paul Celans Engführung (1959)Lieux et non-lieux dans Engführung de Paul CelanPlaces and Non-Places in Paul Celan’s Engführung

Authors:

Abstract

While Celan research until now was focused on biographical and linguistic references, the purpose of this article is to establish an anthropological frame of reference for the analysis of the poem Engführung, in which Celan thematises a transformed anthropological room. Celan’s literary anticipation of Marc Augé’s theory Places and Non-Places is central. Celan does not accept the postmodern claim that the idea of progress has collapsed. The anticipation of super-modernity takes place in Engführung in the sense that the search of meaning is recognisable as opposed to the dominance of non-places. Celan endeavours to establish places with cultural and historical identity.
Recherches germaniques
46 | 2016
Varia
Orte und Nicht-Orte in Paul Celans Engführung
(1959)
Lieux et non-lieux dans Engführung de Paul Celan
Places and Non-Places in Paul Celan’s Engführung
Jan T. Schlosser
Édition électronique
URL : http://journals.openedition.org/rg/315
Éditeur
Presses universitaires de Strasbourg
Édition imprimée
Date de publication : 13 décembre 2016
Pagination : 73-86
ISBN : 978-2-86820-951-1
ISSN : 0399-1989
Référence électronique
Jan T. Schlosser, « Orte und Nicht-Orte in Paul Celans Engführung (1959) », Recherches germaniques
[Online], 46 | 2016, Online erschienen am: 05 Februar 2019, abgerufen am 23 April 2019. URL : http://
journals.openedition.org/rg/315
Recherches germaniques
RECHERCHES GERMANIQUES 46 / 2016
Orte und Nicht-Orte
in Paul Celans Engführung (1959)
Jan T. S
Die Celan-Forschung hat noch keinen anthropologischen Bezugsrahmen
für das Gedicht Engführung (1959) benannt. Die Raumstrukturen im Text
hervorzuheben und diese auf den Begriff ‚Orte‘ zu beziehen, mag ein produktiver
Forschungsansatz sein, jedoch nur unter der Prämisse einer definitorischen
Präzisierung. Obschon die Forschung die Präsenz von Überlegungen zur
kulturellen und historischen Kontinuität im Werk Celans registriert hat, fehlt
es an einer Definition seines Ortsbegriffs. Orte, so die These des vorliegenden
Aufsatzes, versteht Celan als etwas anthropologisch Veränderbares.
Beabsichtigt ist nicht, Celans Lyrik vor dem Hintergrund einer spezifischen
anthropologischen Methode zu analysieren. Vielmehr sollen die Zentralbegriffe
des französischen Anthropologen Marc Augé in einem kulturgeschichtlichen
Kontext verwendet werden. Inwiefern sich das Heranziehen von Augés
Zentralbegriffen ‚Orte‘ und ‚Nicht-Orte‘ als ein fruchtbarer neuer Ansatz zur
Analyse von Celans Engführung erweist, wurde in der bisherigen Forschung
noch nicht untersucht.
Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht eine sich an die
hermeneutische Methode anlehnende Interpretation von Engführung. Dabei
geht es nicht zuletzt um eine Abgrenzung der von Peter Szondi in dem Aufsatz
Durch die Enge geführt beanspruchten Strukturanalyse. Szondi beschränkt
sich darauf, Strukturen in Celans Gedicht zu entziffern, und gelangt kaum zur
Analyse thematischer Schwerpunkte. Die Bedeutung von Szondis Celan-Studien
(1972) ist vielmehr in der Akzentuierung der poetologischen Bedeutung von
Engführung für das Werk Celans zu erblicken. Engführung ist jedoch ebenso von
grundlegender anthropologischer Bedeutung.
Strukturanalyse heißt, dass Szondi es als seine primäre Aufgabe betrachtet,
Vieldeutigkeit als die grundlegende Struktur des Celan-Gedichts hervorzuheben
und den Text vor thematischer Festlegung durch Interpretation und
hermeneutische Sinnsetzung zu schützen. Szondi bleibt in einem klassischen
Dilemma der Strukturanalyse haften, nämlich im Widerspruch zwischen Lektüre
und Interpretation. Einerseits stellt die Strukturanalyse den wissenschaftlichen
Ertrag aus einer hermeneutischen Interpretation prinzipiell in Frage, kann
1 Peter Szondi: „Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des
modernen Gedichts“. In: Celan-Studien. Frankfurt am Main 1972, S.47-111.
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die Analyse aber andererseits nicht ohne interpretatorische Hypothesen
durchführen. Ohne Hypothesen vermag Szondi nicht, die im Werk Celans
zentrale Thematik der Judenvernichtung in seine Lesart einzubringen.
Sich gegenüber der Interpretation zu öffnen, scheint in einer die
Judenvernichtung in den Mittelpunkt stellenden Analyse von Engführung
unvermeidbar zu sein. Die Hypothese, dass am Beginn des Gedichts die Juden
in das Gelände verbracht werden, soll nunmehr in sämtlichen Partien des
Textes weiterverfolgt werden. Dieses Gelände wird im Gegensatz zu Szondi
indes primär nicht als ein Sprachgelände verstanden. Die übergeordnete
Thematik der Judenvernichtung lässt sich vielmehr vor dem Hintergrund
anthropologischer Theorie analysieren.
Forschungslage
Bereits 1980 bezog Menninghaus den Nicht-Ort in seine Celan-Analyse ein.
Dessen Lyrik wird Menninghaus zufolge von der Forschung unberechtigterweise
zum Diskussionsforum des Status von Geschichte erhoben. Der Holocaust als
„geschichtliche Erfahrung“, als biographischer Erfahrungshintergrund sei ein
oberflächlicher Interpretationsansatz. „Der noch nicht existierende ‚Ort‘ des
Gedichts“ wird unter Bezugnahme auf die programmatische Meridian-Rede
(1960) Celans als sprachlich-geschichtliche Utopiebildung herausgearbeitet.
Celans Toposforschung münde „in einen sprachlichen ‚Nicht-Ort“. Da der
Nicht-Ort „auf eine bessere Zukunft“ verweise, wird er von Menninghaus
positiver als später von Augé bewertet. Im Gegensatz zu Augé figuriert der
Nicht-Ort bei Menninghaus nicht als ein Ort der Geschichtslosigkeit.
Andersen geht von der von Celan angesprochenen Suche des Gedichts nach
einem Ort aus und weist den Ort, an dem alle kommunikativen Begrenzungen
aufgehoben sind, damit als Ziel des „Woher und Wohin“ des in der Geschichte
wurzelnden lyrischen Textes aus. Celan suche den Ort seiner Herkunft. Dieser
Ort sei jedoch – wie alle Orte – nicht mehr erreich-, jedoch räumlich am
Meridian erinnerbar. Dieser Ort habe keinen Namen und existiere nur als nicht
vorhandener utopischer Ort. In seiner frühen Lyrik habe Celan noch Daten,
Namen und Orte verwendet, um seine Texte historisch zu lokalisieren. Gedicht
und Ort würden eins.
2 Winfried Menninghaus: Paul Celan. Magie der Form. Frankfurt am Main 1980,
S.14.
3 Ebd., S.79.
4 Ebd., S.213.
5 Ebd., S.213f.
6 Jørn Erslev Andersen: „Örtlichkeit – A comment on Celan and the Poetry of Place”.
In: Text + Kontext. Sonderreihe 44 (2000), S.121-130, hier S.122.
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Leutner weist auf die „unfreiwillige Verbringung an einen entlegenen
Ort“ in Engführung hin. Betont werden die Namenlosigkeit dieses Ortes und
das übergeordnete Projekt Celans, „eine spezielle, die historischen Ereignisse
vergegenwärtigende Form der Erinnerung“ zu finden.
Seng erkennt in Engführung eine neue Entwicklungsphase in Celans Poetik.
Die Komposition mit zahlreichen Partien und einander ins Wort fallenden
Stimmen sei ein Spiegelbild von Kommunikationsdefiziten, aber das um
Kontinuitätserfahrungen bemühte lyrische Ich versuche „eine Verbindung zur
Vergangenheit“ herzustellen.
Die vorliegende Forschungslage soll nunmehr um die folgenden
Überlegungen ergänzt werden: In der Ansprache anlässlich der Entgegennahme
des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen thematisierte Celan 1958 die
„Geschichtslosigkeit“ der Bukowina nach 1945. Der Heimatverlust scheint als
Movens seiner poetologischen Reflexionen zu figurieren:
Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine:
die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber
sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten,
hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch
die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab
keine Worte her für das, was geschah.
Engführung manifestiert sich als lyrische Konkretisierung der Poetik Celans.
Die Aussagekraft der Sprache wird von Celan nicht in Frage gestellt. Sie
dient ihm als Orientierung in einer anthropologisch transformierten Welt,
als Auflehnung gegen die Dominanz von Nicht-Orten. In Engführung ist
vom Verstummen und der Wiederbelebung der Sprache der Überlebenden
die Rede. „Das Gedicht ist nicht zeitlos“, weil es auf veränderte soziale
Lebensbedingungen – im Extremfall auf den Holocaust – reagiert. Celan
unterstreicht die Kommunikationsfähigkeit und Zielgerichtetheit des lyrischen
Textes, der „auf ein ansprechbares Du“ zuhalte. In seiner Meridian-Rede
spricht er von der Freisetzung der Kunst am Ort. Das Gedicht sei „einsam und
7 Petra Leutner: Wege durch die Zeichen-Zone. Stéphane Mallarmé und Paul Celan.
Stuttgart / Weimar 1994, S.192.
8 Ebd., S.197.
9 Joachim Seng: Auf den Kreis-Wegen der Dichtung. Zyklische Komposition bei Paul
Celan am Beispiel der Gedichtbände bis ‚Sprachgitter‘. Heidelberg 1998, S.273.
10 Paul Celan: „Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der
Freien Hansestadt Bremen“. In: Gesammelte Werke. Bd. 3. Frankfurt am Main 1986,
S.185-186, hier S.185.
11 Ebd., S.185f.
12 Ebd., S.186.
13 Ebd.
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unterwegs“. Die Ausgangslage des lyrischen Textes lässt sich als die sozial
schwach konturierte Nicht-Identität eines anthropologischen Nicht-Ortes
bestimmen. Die Ankunft des Gedichts am Ort – „das Gedicht sucht, glaube ich,
auch diesen Ort“ – soll sowohl textinterne Kommunikation zwischen dem
lyrischen Ich und anderen Figuren als auch einen Dialog mit Lesern des Gedichts
ermöglichen. Dichtung als Antwort auf Wirklichkeit heißt für Celan, Interesse
an sozialen Relationen kundzutun. Der vom Gedicht zurückgelegte Weg münde
in „eine Art Heimkehr“ an einen anthropologischen Ort. Hauptaufgabe des
Gedichts ist aus Celans Optik, „Daten eingedenk zu bleiben“. Für Celan
persönlich mündet die Identitätssuche angesichts des Untergangs der Bukowina
seiner Kindheit in die Leere eines Nicht-Ortes, dem Lyriker gelingt jedoch die
Fixierung eines anthropologischen Ortes:
Ich suche auch […] den Ort meiner eigenen Herkunft. Ich suche das alles
mit wohl sehr ungenauem, weil unruhigem Finger auf der Landkarte –
auf einer Kinder-Landkarte, wie ich gleich gestehen muß. Keiner dieser
Orte ist zu finden, es gibt sie nicht, aber ich weiß, wo es sie, zumal jetzt,
geben müßte, und . . . ich finde etwas!
Anthropologischer Bezugsrahmen
Marc Augé betont, dass die ‚Übermoderne‘ Nicht-Orte hervorbringt, die
selbst keine anthropologischen Orte mehr sind. Im Mittelpunkt von Augés
Denken steht eine Anthropologie des Nahen. Er wendet sich von exotischen
Lebenswelten als Studienobjekt der Anthropologie ab und fokussiert vor allem
auf die Orte des Erinnerns. Mit dem Schwerpunkt der Übermoderne zeigt Augé
sich als vehementer Gegner der Postmoderne, der die Gegenwart eher als eine
Periode des Verlangens nach Sinn als eine Sinnkrise betrachtet:
De la surmodernité, on pourrait dire qu’elle est le côté face d’une pièce
dont la post-modernité ne nous présente que le revers – le positif d’un
négatif. Du point de vue de la surmodernité, la difficulté de penser le
temps tient à la surabondance événementielle du monde contemporain,
non à l’effondrement d’une idée de progrès depuis longtemps mal en
point […].
14 Paul Celan: „Der Meridian“. In: Gesammelte Werke. Bd. 3. Frankfurt am Main 1986,
S.187-202, hier S.198.
15 Ebd., S.199.
16 Ebd., S.201.
17 Ebd., S.196.
18 Ebd., S.202.
19 Marc Augé: Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité. Paris
1992, S.43.
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Augé betont die Möglichkeit einer Antizipation der Übermoderne seitens
markanter Denker der Moderne und erläutert dies am Beispiel Walter Benjamins:
Celle-ci-impose en effet aux consciences individuelles des expériences et
des épreuves très nouvelles de solitude, directement liées à l’apparition
et à la prolifération de non-lieux. Mais sans doute était-il utile, avant
de passer à l’examen de ce que sont les non-lieux de la surmodernité,
d’évoquer, fût-ce allusivement, le rapport qu’entretenaient avec les
notions des lieu et d’espace les représentants les plus reconnus de la
‘modernité’ en art. On sait qu’une partie de l’intérêt porté par Benjamin
aux ‘passages’ parisiens, et, plus généralement, à l’architecture de fer et de
verre, tient au fait qu’il peut y discerner une volonté de préfigurer ce que
sera l’architecture du siècle suivant, un rêve ou une anticipation. On peut
se demander pareillement si les représentants de la modernité d’hier,
auxquels l’espace concret du monde a offert matière à réflexion, n’ont pas
éclairé par avance certains aspects de la surmodernité d’aujourd’hui […]. 
Augé führte den Terminus Nicht-Orte im Jahre 1992 in seinem Buch Non-
Lieux ein, um Phänomene beschreiben zu können, welche für die Periode
unmittelbar nach der Moderne kennzeichnend sind. Im Mittelpunkt von
Augés theoretischen Erwägungen steht eine Raumkrise. Orte gewähren als
Orte des Erinnerns kulturelle Identität. Eben dies vermögen Transiträume wie
Autobahnen, Bahnhöfe, Flughäfen und Flüchtlingslager sowie Verkehrsmittel
wie Autos, Eisenbahnen und Flugzeuge oder Freizeitparks und Einkaufszentren
jedoch nicht. Als Nicht-Orte definiert Augé zweckbestimmte Räume und die
Beziehung des Individuums zu diesen Räumen des Verkehrs, Transits und
Handels.
Während Orte durch Geschichte gekennzeichnet sind, sind die in der
Übermoderne vermehrt vorkommenden Nicht-Orte vom Provisorischen
bestimmt, so dass sich Geschichte an ihnen nicht mehr ablesen lässt. Zweifel
an der Geschichte als Sinnträgerin keimen an Nicht-Orten auf. An Nicht-Orten
entzündet sich ein sowohl kollektiver als auch individueller Identitätsverlust.
Die Funktionalisierung als Passagier oder Kunde scheint total, die Identität
dagegen verloren zu sein.
Der anthropologische Ort figuriert als Sinnprinzip. Nicht-Orte sind indes
sinnentleerte Funktionsorte des Verkehrs, des Transits und des Kommerzes.
Nicht-Orte können im Menschen Einsamkeit, Schweigen und Uniformität
hervorrufen. Augés Betrachtungen zeigen, dass die Begegnung mit Orten
Melancholie auszulösen vermag, die Begegnung mit Nicht-Orten hingegen
dezidiertes Unbehagen. Das Leben in ‚Orten‘ ohne Vergangenheit löst das
Gefühl des Unbehaustseins aus. Für Nicht-Orte ist einerseits ein Minimum an
zwischenmenschlicher Interaktion sehr charakteristisch. Andererseits lässt sich
20 Ebd., S.117f.
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der anthropologische Status von Nicht-Orten anfechten, da die menschlichen
Bestrebungen nach Relationen zum Territorium, zur Familie und zu übrigen
Menschen noch immer virulent vorhanden sind. Orte und Nicht-Orte sind
keine absoluten Begriffe. Orte und Nicht-Orte sind Augé zufolge Palimpseste
des permanenten Spiels von Identität und Relation.
Orte und Nicht-Orte in Engführung
In der ersten Partie der Engführung wird jemand „ins Gelände mit
der untrüglichen Spur“ verbracht. „Verbracht“ heißt deportiert. Mit der
Deportation wird die für den Nicht-Ort kennzeichnende Mobilität signalisiert.
Die Juden befinden sich nach dem Wohnort- und Heimatverlust auf dem Weg
ins Vernichtungslager in einem Transitraum: „Geh, deine Stunde hat keine
Schwestern, du bist – bist zuhause“ (EF, 197). Die Wiederholung von „bist“
zeigt die Identitätsverunsicherung der Juden und ihre Sehnsucht nach einem
anthropologischen Ort an. Auch das Lager selbst ist aber ein Transitraum des
vorübergehenden Aufenthalts, es ist der Ort mit der untrüglichen Spur, die in
den Tod führt. Dieser Nicht-Ort ist indes ebenfalls ein Endpunkt. Es handelt
sich jedoch nicht nur um ein Gelände der Vernichtung und des Todes, sondern
ebenfalls um ein anthropologisches Gelände.
Die Bewegung des aus sich selbst rollenden Rades hält Szondi für ein
radikales Eindringen des Lesers ins Textgelände. Die Deportierten vollziehen
allerdings auch eine Bewegung. Sie werden dazu aufgefordert, zur Stunde ohne
Schwestern, in den Tod zu gehen. Für die Henker ist der Tod das ‚Zuhause‘ der
Juden – ein anthropologischer Ort bzw. Nicht-Ort aus Täteroptik. Aus Sicht
der KZ-Schergen liegt im Tod die Bestimmung der Juden. Ihre Vernichtung
vollzieht sich in einem ganz und gar zweckbestimmten Raum. Dieser Raum
erweist sich als Pervertierung des von Augé beschriebenen Nicht-Ortes. Die von
Technokraten zur Perfektion getriebene Vernichtungsmaschinerie funktioniert
automatisch: „Ein Rad, langsam, rollt aus sich selber“ (EF, 197). „Die Speichen“
(EF, 197) sind die Einzelteile in dieser Vernichtungsmaschinerie, vielleicht
konkrete Henker – wie sie in der Todesfuge thematisiert wurden –, welche
„auf schwärzlichem Feld“ (EF, 197) agieren. „Die Nacht braucht keine Sterne“
(EF,197) im Lager – keine Judensterne aus der Sicht der Henker. Das Motiv
des Nicht-Gebraucht-Werdens wird in dem Satz „nirgends fragt es nach dir“
(EF, 197) verallgemeinert. Das Vernichtungslager manifestiert sich als ein
Nicht-Ort ohne soziale Relationen. Es handelt sich um einen sinnentleerten
Funktionsort, an dem die Juden sich nicht heimisch fühlen. Dieser Nicht-Ort
21 Paul Celan: Engführung. In: Gesammelte Werke. Bd. 3. Frankfurt am Main 1986,
S.195-204. Im Folgenden wird zitiert: (EF, 197).
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stiftet weder individuelle Identität noch soziale Beziehungen. Es ist ein Raum
der Einsamkeit.
Dass die zweite Partie eine andere Zeit als die erste evoziert, wird durch
den Tempuswechsel – nun überwiegt das Imperfekt – deutlich. Der Ort
der zweiten Partie ist jedoch ebenfalls ein Vernichtungsgelände. Nachdem
die erste Partie den Leser in den Kontext der Judenvernichtung eingeführt
hatte, wird die Darstellung des Vernichtungslagers in der zweiten Partie
allerdings nicht fortgesetzt. Der Ort / Nicht-Ort der Vernichtung wird vielmehr
zum Gegenstand der Reflexion der Holocaust-Überlebenden. Damit wird ein
anthropologisches Hoffnungszeichen gesetzt. Ebenso wie das Gedicht, das
einen dialogischen Charakter aufweist, unternehmen die Überlebenden einen
Kommunikationsversuch, indem sie das Geschehene diskutieren wollen. ‚Ein
ansprechbares Du‘ scheint sich anzudeuten. Im lyrischen Text entfaltet Celan
eine Sinnsuche, die Zweifel an der Geschichte als Trägerin von Sinn zurückweist.
Als Argument für diese Hypothese dient eine scheinbare Paradoxie. Der
Ort der Vernichtung hat in der Nachkriegsepoche stets einen eindeutigen
Namen gehabt. Der Name einer Vernichtungsstätte – Auschwitz – wurde zum
Synonym für den Holocaust und gewann Merkmale kultureller Kontinuität.
Für die Überlebenden ist die Erinnerung an die Vernichtungslager, wenn sie
überhaupt möglich ist, jedoch allzu schmerzlich, als sich das Geschehen mit nur
einem Namen gleichsetzen ließe. Darauf wird angespielt, wenn es in der zweiten
Partie vom Ort der Vernichtung heißt, er habe keinen Namen: „Der Ort, wo
sie lagen, er hat einen Namen – er hat keinen“ (EF, 198). Es ist ein Nicht-Ort
der Anonymität, an dem bisherige personale Identität, beginnend mit der
Nummerierung der Gefangenen, systematisch ausgelöscht wird. Am Nicht-Ort
Konzentrationslager werden die Juden zu Gütern herabgestuft.
In der zweiten Partie scheint Erinnerung an den Holocaust jedoch nicht
möglich zu sein, da die Überlebenden nicht imstande sind, sich einzugestehen,
dass die ermordeten Juden – einst eingebunden in die Anonymität der
Massenvernichtungsmaschinerie selbst zu Namenlosen geworden – an einem
fixierbaren Ort der Vernichtung lagen, der zudem nachträglich mit dem
verallgemeinernden Begriff Auschwitz versehen worden ist: „Sie lagen nicht
dort“ (EF, 198). Ein Nicht-Ort gewährt keinerlei Erinnerung. Jegliche kulturelle
Kontinuität scheint verloren zu sein. Erinnerung an die Vernichtung ist nicht
möglich, weil, wie Szondi betont, „etwas“ (EF, 198) zwischen dem „sie“, den
Überlebenden, lag, das sie nicht wahrnehmen konnten, denn „sie sahn nicht
hindurch“ (EF, 198).
In der zweiten Strophe der zweiten Partie wird erkennbar, dass die
Überlebenden, anstatt das „etwas“ wahrzunehmen, „von Worten“ nur „redeten“
22 Szondi: „Durch die Enge geführt“, S.62.
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(EF, 198), von denen „keines erwachte“ (EF, 198), weshalb der „Schlaf“ (EF, 198)
über sie kam. Innerhalb der internen Kommunikation unter den Überlebenden
scheint kein einziges Wort erwacht zu sein. Der Umgang mit Sprache ist
eingeschränkt. Die Sprache setzt kein Wort der Erinnerung frei. Das Leben der
Überlebenden ist eine Schlafexistenz, die Existenz der Nicht-Erinnerung. Die
Existenz der Überlebenden wird vom anthropologischen Nicht-Ort bestimmt,
der die kollektive Geschichte auslöscht. Gleichwohl sind in ihrer spärlichen
Kommunikation Bestrebungen nach Relationen zu Mitmenschen erkennbar.
Die von Augé analysierte Einsamkeit des Individuums soll bei Celan im Gedicht
aufgehoben werden.
In der dritten Partie gibt sich das „etwas“ als ein Ich zu erkennen, das „offen“
und „hörbar“ (EF, 198) war. Die Identität des „etwas“ lässt sich als die Zeit
bestimmen, denn das Ich tickte den Überlebenden, zu denen es jetzt spricht,
einst zu. Die Zeit entzog sich der Wahrnehmung der Überlebenden. Dennoch
hat die Zeit, die vergangen ist zwischen dem Holocaust und der Existenz der
Nicht-Erinnerung, ihren Umgang mit der Sprache verändert. Im Rückblick
auf die zweite Partie wird nun ersichtlich, dass die Überlebenden von Wörtern
redeten, ohne dass diese erwachten. Die ursprüngliche Bedeutung der Wörter
ist mit dem Vergehen der Zeit verlorengegangen. Aber: „Ich bin es noch
immer“ (EF, 198). Darauf weist die Zeit mit Nachdruck hin. Die Zeit könnte
zwar Identität gewähren, vergeht aber noch immer und liegt fortwährend
zwischen den Überlebenden, die auch jetzt noch schlafen und sich damit
weiterhin in einem Zustand der Nicht-Erinnerung an die Vernichtung ihres
Volkes befinden.
Die vierte Partie beginnt mit einer dreifachen Nennung der „Jahre“ (EF,
199). Geraume Zeit scheint vergangen zu sein. Nicht nur die Judenvernichtung,
sondern auch die Zeit der nicht möglichen Erinnerung daran scheint etliche
Jahre zurückzuliegen. Falls die Schlafexistenz überwunden wäre, müsste
Erinnerung aufkeimen. Der Finger „tastet“ (EF, 199) und trifft unweigerlich
auf „Nahtstellen“ (EF, 199), er durchforscht das seelische Befinden der
Überlebenden und findet die Präsenz des Leidens in der Erinnerung. Das
verwundete Gewebe ist das Überbleibsel der traumatischen Vergangenheit.
Angesichts des erneut spürbaren Leidens klaffen die seelischen Wunden „weit
auseinander“ (EF, 199). Zwischenzeitlich waren sie durch Verdrängung der
traumatischen Vergangenheit zusammengewachsen. Die Zeit heilt nicht alle
Wunden. Die Überlebenden können sich zwar erinnern, jedoch nur an ihre
eigenen Leiden und nicht an die vernichteten Juden. Erinnerung an die Toten
ist in der vierten Partie nicht möglich. Sie endet mit der Frage „Wer deckte
es zu? (EF, 199)“. Die Zeit verfälschte durch ihr Vergehen die ursprüngliche
Bedeutung von Sprache und deckte das Leiden zu. Die Kommunikation
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zwischen den Überlebenden führte bislang nicht zu einer Freisetzung der
Erinnerung durch Sprache.
Das Ich, welches sich in der dritten Partie als Zeit offenbarte, gibt sich in
der fünften Partie als ein Wort zu erkennen, das „durch die Nacht“ (EF, 199)
kam. Was in der verhaltenen Erinnerung nicht realisierbar war, scheint nun zu
gelingen. Das Wort kommt durch die Nacht, um zu leuchten, eine Freisetzung
der Erinnerung durch Sprache gelingt. Dass das Wort zu leuchten bestrebt ist,
bedeutet für die Überlebenden die Entstehung einer neuen Welt. Da das Wort
von den Tätern nicht vereinnahmt wurde, wird die Voraussetzung für eine
Überwindung der Finsternis geschaffen. Die Welt des Wortes entsteht in der
fünften Partie jedoch noch nicht. In der zweiten Strophe der Partie wird die
Absicht des Wortes, zu leuchten, nicht realisiert. Vielmehr wird die Entfaltung
des Lichtes – einer nicht vereinnahmten Sprache – durch eine übermächtige
Finsternis behindert, die in der dreifachen Erwähnung der „Asche“ (EF, 199)
und der „Nacht“ (EF, 199) ausgedrückt wird. Die Asche verweist nicht nur auf
die Krematorien, sondern lässt sich als ein Hinweis auf Trauer interpretieren.
Trauer erschwert den Überlebenden die durch Sprache ermöglichte Erinnerung.
Angesichts der Übermacht der Finsternis ist das Wort aufgefordert, „zum
feuchten“ (EF, 199) Auge der Überlebenden zu gehen und sich der Trauer
anzunähern, denn ohne Trauer ist Erinnerung an den Holocaust nicht denkbar.
In der sechsten Partie begeben sich die Überlebenden auf einen Weg, dessen
Ziel die Freisetzung der Erinnerung an die Vernichtung durch das Wort ist. Das
„Partikelgestöber“ (EF, 200) verweist auf die Erschaffung der Welt als Sprache,
denn ‚Partikel‘ bedeutet nicht nur ein Teilchen, sondern ein unbeugsames Wort.
Den Überlebenden wird auf ihrem Weg zur Erinnerung eine neue Sprachwelt
skizziert, die aus undeklinierbaren Wörtern besteht. Da diese als unveränderlich
figurieren, sind sie gegen äußere Einflüsse wie die Vereinnahmung seitens alter
oder neuer Nationalsozialisten geschützt.
In der Frage der Überlebenden „Wie faßten wir uns an – an mit diesen
Händen? (EF, 200)“ wird durch das Fragezeichen in Zweifel gezogen, dass
die überlebenden Juden imstande sind, miteinander zu kommunizieren.
Ihre Sozialsphäre entspricht den am Nicht-Ort kaum vorhandenen sozialen
Beziehungen. Die Erschaffung einer neuen Sprachwelt wird in Frage
gestellt. Das erlösende Wort der Erinnerung haben die Überlebenden nicht
wahrnehmen können, obschon es irgendwo geschrieben steht. Ähnlich wie in
den Anfangsjahren der NS-Herrschaft, als manche Juden die ihnen drohende
Gefahr ausblendeten, obwohl die propagandistischen Signale der Machthaber
auch auf Gedrucktem eindeutig waren, begehen die Juden nun wiederum den
Fehler, ein „groß[es]“, „grünes“ und „giftgestellt[es]“ „Schweigen“ (EF, 200)
über etwas Geschriebenes zu tun, das von lebenszerstörender Wirkung ist,
weil es das die Erinnerung auslösende Wort nicht zur Entfaltung kommen
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lässt. Dem „Kelchblatt“ (EF, 200) haftet das giftige Grün des Vergessens der
Vergangenheit an.
Der Kontrast zwischen der giftgestillten Welt der Verdrängung („An, ja,
Pflanzliches“, EF, 201) und der möglichen Erschaffung einer neuen Sprache
(„Ja. Orkane, Partikelgestöber“, EF, 201) wird nochmals betont, bevor die
Überlebenden „es beim Stein […] versuchen“ (EF, 201). Im Gegensatz zur
Pflanzenwelt ist dieser nicht giftig, sondern „gastlich“ (EF, 201). Der Stein ist
dem Ort zugehörig und gewährt historische Kontinuität, denn „es blieb Zeit,
blieb, es beim Stein zu versuchen“ (EF, 201). Er verhindert die Freisetzung
des Wortes nicht. Das giftgestillte Schweigen scheint seine verheerende
lebenszerstörende Wirkung eingebüßt zu haben. Das Wort kann jetzt sprechen:
„Es sprach“ (EF, 201). Dass Sprache wieder möglich geworden ist, zeigt der
Wortschwall zahlreicher Adjektive in dieser Partie. Der Preis für die Bildung
einer neuen Sprachwelt ist eine Gastlichkeit des Steins („War, war“, EF, 202),
die für die Trauer der Lebendigen keinen Raum lässt.
So nahe am Ziel geben die Überlebenden indes nicht auf: „Wir ließen nicht
locker“ (EF, 202). Sie befinden sich inmitten eines „Porenbau[s]“ (EF, 202),
eines empfindlichen Gebildes mit offenen Wunden, die der Finger in der
vierten Partie ertastete. Das Wort kommt trotz vieler seelischer Wunden durch
den Porenbau und flickt „an der letzten Membran“ (EF, 202). Das Wort bessert
jene „Nahtstellen“ (EF, 199) aus, die bisher allenfalls eine tastende Erinnerung
an den Holocaust ermöglichten. Da sich die neue Sprachwelt nun behauptet,
sollte dieser Erinnerung nichts mehr im Wege stehen, aber weil das Wort in
der fünften Partie aufgefordert wurde, zum feuchten, trauernden Auge der
Überlebenden zu gehen, ist das Flicken an der dünnen Membran mit dem Ziel,
die letzte trauernde Wunde vergessen zu machen, die falsche Voraussetzung
für Erinnerung an den Holocaust. Am Ende der sechsten Partie ist das Wort
Opfer der Illusion, dass Erinnerung ohne Trauer möglich sei. Die Welt der
Sprache ist durch Flicken der Wunde voller Trauer zwar gebildet worden, aber
in der siebten Partie wird deutlich, dass diese Welt allzu rein ist, um Erinnerung
gewähren zu können. Das „Tausendkristall“ (EF, 202) der sechsten Partie weist
in seiner Reinheit bereits auf die reinen geometrischen Formen der siebten
Partie hin, die mit dem Nicht-Ort korrespondieren.
Die Nächte der siebten Partie sind „entmischt“ (EF, 202), da die Sprachwelt
in ihre ursprüngliche Substanz zurückgeführt worden ist. Die von ebenen
Flächen geprägte Struktur des „Tausendkristalls“ findet in der siebten Partie
in jenen geometrischen Formen ihre Fortsetzung, deren Struktur durch ebene
Kurven und Flächen bestimmt ist. Die neue Sprachwelt scheint „unbelastet
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von Geschichte“ zu sein und damit dem Nicht-Ort anzugehören. Die
geometrischen Formen lassen sich zwar nicht in einen historischen Kontext
einordnen, machen jedoch die Qualität, „Innerstes“ (EF, 202), der neuen
Sprachwelt aus. Die Nächte werden nicht mehr mit Antisemitismus verbunden
und die Stunden weisen nicht mehr auf die Judenvernichtung hin. Dass
Reminiszenzen an Krieg – „Flugschatten“ (EF, 203) sind die Schatten der im
Luftkrieg eingesetzten Flugzeuge und auf dem „Meßtisch“ (EF, 203) tragen die
Militärs errechnete Geländepunkte ein – und Holocaust – die „Rauchseele“
verweist auf die Todesfuge, in welcher der „Rauch in die Luft“ steigt – nicht
in die Welt der reinen geometrischen Formen gehören, wird nochmals betont,
denn die obigen Begriffe werden nur in Verbindung mit einer Negation erwähnt:
„Kein Flugschatten, kein Meßtisch, keine Rauchseele steigt und spielt mit“ (EF,
203). „Die dreifache Negation stellt die Leere, den ‚Mangel‘ des Tausendkristalls
dieser Welt heraus, die gerade erschaffen wurde“. Es handelt sich um die Welt
des Nicht-Ortes. Wenn die Überlebenden des Mangels gewahr werden, dass
in der neuen Sprachwelt kein Raum der Erinnerung ist, wird ihre Trauer so
übermächtig, dass sich die Membran als zu dünn erweist, um sich vom Wort
flicken zu lassen. Das Wort ist der Trauer unterlegen und sieht sich genötigt,
sich der Trauer anzupassen. Der Versuch der neuen Sprachwelt, Erinnerung
ohne Trauer zu ermöglichen, ist in der Welt der geschichtslosen Reinheit, ist am
Nicht-Ort kläglich gescheitert.
In der Analyse der achten Partie scheitert auch Szondis Abgrenzungsversuch
gegenüber der hermeneutischen Vereindeutigung. Die Analyse der achten
Partie zeugt vom Verlassen der strukturalistischen ‚Lektüre‘ zugunsten der
Lesart der Interpretation. Die Ausdrücke „in der jüngsten Verwerfung“
(EF, 203) und „überm Kugelfang“ (EF, 203) werden von Szondi thematisch
genau eingeordnet, weil er sie in den Kontext der Judenvernichtung versetzt:
Die jüngste Verwerfung kann nicht anderes bezeichnen als das
Schicksal, das während der Nazi-Ära Millionen Juden, darunter die
Eltern des Dichters, erlitten […] Der Ort, den die verschiedenen
‚Umstandsbestimmungen‘ dieser Strophe räumlich und zeitlich fixiert,
ist gewiß die Stätte der ‚Endlösung‘: das Vernichtungslager. Die Juden,
so oft in ihrer langen Geschichte von den Völkern, unter denen sie
lebten, verworfen, wie Aussätzige behandelt, wurden diesmal ausgesetzt,
verbracht – um das Wort aufzunehmen, das auch, mit Grund, das erste
23 Heinz Michael Krämer: Eine Sprache des Leidens. Zur Lyrik von Paul Celan.
München 1979, S.114.
24 Paul Celan: Todesfuge. In: Gesammelte Werke. Bd. 3. Frankfurt am Main 1986,
S.61-64, hier S.64.
25 Szondi: „Durch die Enge geführt“, S.90.
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des Gedichts ist […] Der Kugelfang bezeichnet die obere Grenze der
Vernichtungsstätte.
Misst man die obige Analyse am Lektüreanspruch Szondis, muss festgestellt
werden, dass er hier Hypothesen aufstellt. Laut Szondis eigenem Anspruch
könnten „die jüngste Verwerfung“ und „der Kugelfang“ ebenso jede denkbare
jüngste Verwerfung und jeden denkbaren Kugelfang außerhalb des Kontextes
der Judenvernichtung bezeichnen. Eine konsequent praktizierte Strukturanalyse
hätte auf die interpretatorischen Festlegungen der achten Partie verzichten
müssen.
Die erste Strophe der achten Partie besteht ausschließlich aus Orts- und
Zeitbestimmungen, in denen der in der siebten Partie negierte Holocaust
präsent ist. Es gelingt den Überlebenden, sich an die ermordeten Juden
zu erinnern. „In der Eulenflucht“ (EF, 203) bezeichnet die Stunde der
Dämmerung. Die veränderte, hellere Zeit grenzt die Welt der Erinnerung in der
achten Partie von der Welt der reinen Formen ab. Die Haut der Überlebenden,
in der vierten Partie noch von klaffenden Wunden gezeichnet, ist nun insoweit
versteinert, als dass Erinnerung an das die Wunden Verursachende nun
möglich ist. Das zeigt sich am „Aussatz“ (EF, 203). Juden wurden nicht nur
wie Aussätzige behandelt, sondern wurden gleichfalls ausgesetzt, „verbracht ins
Gelände mit der untrüglichen Spur“. „Überm Kugelfang an der verschütteten
Mauer“ (EF,203) gemahnt an Massenerschießungen. Bei den „Rillen“ (EF, 203)
handelt es sich um vergessene Spuren, die sich nun wieder in der Erinnerung
manifestieren. Die Wahrnehmung der Rillen weckt die Erinnerung an die
„Chöre damals“ (EF, 203) und an „Psalmen“ (EF, 203). Kulturelle Kontinuität
ist erneut hergestellt.
Die Erinnerung ist gelungen, die Überlebenden haben ihre Sprache mit
dem Wort, das leuchten sollte, wiedergefunden. Das Wort wird zunächst
stockend freigesetzt („Ho, hosianna“, EF, 203), aber es manifestiert sich als ein
Hilferuf der Juden. Das ‚Herr hilf!‘ lässt die Überlebenden erkennen, dass ihr
Volk sich nicht hat ermorden lassen, ohne der drohenden Vernichtung Worte
entgegenzusetzen. Diese Artikulation folgt dem dialogischen Gedicht, das auf
ein ansprechbares Du abzielt.
Die Überlebenden erfüllt es mit Hoffnung, dass die Ermordeten ihr Leiden
nicht mit dem giftgestillten Schweigen bedeckten, sondern sich durch das
Singen der Psalmen, durch das Artikulieren von Worten, durch ein Bekenntnis
zu ihrer historisch verbürgten Kultur zu wehren versuchten. Dies spendet
den Überlebenden vor allem in der Gegenwart Hoffnung: „Also stehen noch
Tempel. Ein Stern hat wohl noch Licht. Nichts, nichts ist verloren“ (EF, 204).
Kulturelle Kontinuität ist möglich und das anthropologische Nichts des Nicht-
26 Ebd., S.98ff.
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Ortes ist aufhebbar. Synagogen existieren auch noch nach dem Holocaust. Der
Judenstern ist nicht erloschen. Nun wird das „Hosianna“ (EF, 204), ohne Zögern,
wiederholt. Hosianna ist das befreiende Gegenwort, das beim feuchten Auge der
Überlebenden angekommen ist, da es Erinnerung an den Holocaust ermöglicht,
ohne von der Trauer der Überlebenden absehen zu wollen. Die Überlebenden
können wieder miteinander kommunizieren, anstatt nach Wörtern zu suchen.
Die Überlebenden haben den anthropologischen Ort erreicht. Die Gespräche
sind „taggrau“ (EF, 204), weil der Holocaust immerzu präsent ist. Ein totales
Lichtwerden würde seiner Verdrängung entsprechen. Dass die Trauer für die
gelungene Erinnerung eine fundamentale Voraussetzung ist, kommt in den
„Grundwasserspuren“ (EF, 204) zum Ausdruck. Tränen sind Voraussetzung
der Erinnerung. Das Wort ist endlich zum feuchten Auge der Überlebenden
gelangt, die Gespräche unter Trauernden führen. Am anthropologischen Ort ist
Kommunikation zwischen Ich und Du möglich.
Der musikalische Terminus ‚Engführung‘ bezeichnet den zeitlich engen,
rasch aufeinanderfolgenden Einsatz von Themen. Das Kompositionsprinzip des
gleichnamigen Gedichts entspricht dieser Definition. Am Anfang jeder Partie
werden die letzten Worte der vorherigen Partie, zum Teil in abgewandelter
Form, wiederholt. Mithilfe der Übergänge zwischen den Partien lassen sich
wesentliche thematische Fokuspunkte des Gedichts herausarbeiten: Die erste
Partie gibt Einblick in die Wirklichkeit der Vernichtungslager. In der zweiten
Partie beginnt die Reflexion der Überlebenden, die sich als Nicht-Erinnerung
charakterisieren lässt. In der dritten Partie spricht die Zeit die Überlebenden an.
Das Vergehen der Zeit hat ihren Umgang mit Sprache verändert. In der vierten
Partie gelingt eine tastende Erinnerung an die seelischen Wunden. Das Wort,
das in der fünften Partie kommt, um Erinnerung zu ermöglichen, wird nicht
freigesetzt, weil die Trauer angesichts der Verdrängung übermächtig ist. In der
sechsten Partie wird der Versuch fixiert, durch die Erschaffung einer neuen
Sprachwelt Erinnerung zu ermöglichen. Die Überlebenden tun Schweigen
über das erlösende Wort. Ein erneutes Flicken der seelischen Wunden lässt
das Wort doch noch kommen. In der siebten Partie wird die Sprachwelt
entfaltet. Es handelt sich um eine geschichtslose Welt der reinen geometrischen
Formen – kein Raum der Erinnerung. In der achten Partie wird erkennbar,
dass Erinnerung ohne Trauer nicht möglich ist. Mit dem Hosianna finden die
Überlebenden ihre Sprache wieder. Der Hilferuf der Deportierten gibt den
Überlebenden Hoffnung, denn sie setzten der drohenden Vernichtung ein Wort
entgegen. Das Hosianna ist als Dankesruf zu verstehen, dass nichts verloren
ist. Ein Weiterleben in bewusster Erinnerung an den Holocaust ist möglich.
Die Gespräche werden jedoch immer von Trauer geprägt sein. In der durch
das erlösende Wort ermöglichten Erinnerung können die Überlebenden in der
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neunten Partie das Vernichtungsgelände betreten und sich an den Holocaust
erinnern.
Engführung lässt sich als Reflexion der Überlebenden über den Holocaust
analysieren. Die vorliegende Analyse unterscheidet sich insofern von Szondi,
als sie das Gedicht auf eine bestimmte Bedeutung – den anthropologischen
Bezugsrahmen – festzulegen versucht. Als thematischer Schwerpunkt lässt sich
eine durch Sprache ermöglichte Erinnerung herausarbeiten. Die Verdrängung
des Holocaust und der Versuch, die Erinnerung daran mit sprachlichen Mitteln
zu erreichen, sind der rote Faden des Celan-Textes.
Engführung zeugt von einer ausführlichen Auseinandersetzung mit
anthropologischen Fragestellungen. Ein zentrales Anliegen dieses Aufsatzes ist,
die von der bisherigen Forschung versäumten anthropologischen Implikationen
freizusetzen. Das Gedicht verweist auf Celans Auseinandersetzung mit einem
grundlegend veränderten anthropologischen Raum. Der Akzent liegt auf
einer literarischen Antizipation und Problematisierung der in den 1990er
Jahren von Marc Augé formulierten theoretischen Betrachtungen zu Orten
und Nicht-Orten der Übermoderne. Orte und Nicht-Orte erweisen sich im
vorliegenden Beitrag als ein relevanter neuer Forschungsansatz zur Celan-
Analyse. Während die bisherige Forschung in erster Linie biographische
und sprachphilosophische Bezüge herausgearbeitet hat, liegt der Forschung
nunmehr ein präziser theoretischer Bezugsrahmen zur Analyse von Engführung
aus einer anthropologischen Perspektive vor.
Wie Augé behandelt Celan Orte und Nicht-Orte als „Palimpseste“, als etwas
permanent anthropologisch Austauschbares. Engführung tritt als ein Text der
Reflexion von Identitäten und Relationen hervor. Analog zu Augé fokussiert er
auf eine „Anthropologie des Nahen“.
Celans vorrangiges Interesse gilt Räumen, die keine anthropologischen Orte
mehr sind. Keineswegs akzeptiert er deren Status als Nicht-Orte. Der von der
Postmoderne vertretene Zusammenbruch einer Fortschrittsidee wird von Celan
nicht antizipiert. Die Antizipation der Übermoderne findet insofern statt, als in
Engführung eine Sinnsuche wider die Dominanz von Nicht-Orten erkennbar
wird. Die Raumordnungsbemühungen zielen darauf ab, Orte mit kulturell-
historischer Identität zu etablieren. Während ein anthropologischer Ort in der
Todesfuge ausschließlich dem Täter – „ein Mann wohnt im Haus“ – zugeordnet
wurde, eröffnet Engführung den Opfern anthropologische Zugehörigkeit.
27 Celan: Todesfuge, S.63.
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