Dass der Begriff der Demokratie, das Konzept des Bürgers (als Citoyen) und Mündigkeit, als Fähigkeit, sich reflektiert urteilend in Gesellschaft zu bewegen, in einem engen Verhältnis zueinander stehen, gilt als Konsens in jeder Debatte um Normativität in politischen
Bildungskontexten: ,,Unstrittig ist das Ziel politischer Bildung, Lernende zu politischer Mündigkeit respektive Urteilskraft zu
... [Show full abstract] befähigen. […] Im Hinblick auf die Förderungswürdigkeit der politischen Urteilsfähigkeit als Aufgabe der politischen Bildung ist anzuführen,
dass die Politik in der Demokratie, das legitimierende Prinzip der Demokratie und die Urteilsfähigkeit der Bürger sich gegenseitig bedingen. Dabei bildet die Annahme, dass die Politik eine im Kern rationale Auseinandersetzung um die konkrete Gestalt des Gemeinwohls ist, die unverzichtbare
sachlogische Voraussetzung dafür, in der Förderung der politischen Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger eine wichtige Bildungsaufgabe zu sehen. Weiterhin setzt die Staats- und Regierungsform der Demokratie zu ihrer Legitimation die Fähigkeit der Bürgerinnen
und Bürger voraus, die Politik selbstständig und mit einem Mindestmaß an Rationalität zu beurteilen. Schließlich ist die Förderung politischer Urteilsfähigkeit um der Bürgerinnen und Bürger selbst willen angezeigt, indem sich die politische Bildung
um die Qualifizierung der Menschen zur Politik, um deren rationale Urteilsfähigkeit bemüht.“ (Weißeno et al. 2010, S. 27) Auf den ersten Blick scheinen diese Ausführungen aus dem vieldiskutierten Band ,,Konzepte der Politik“ nicht nur anschlussfähig an
die Präambel des hessischen Gymnasiallehrplans für das Fach ,,Politik und Wirtschaft“, in der es heißt: ,,Demokratie braucht mündige, informierte und sozial handelnde Bürgerinnen und Bürger. Aufgabe des Faches Politik und Wirtschaft ist es, die Kenntnisse
und Einsichten zu vermitteln, die zum Verständnis politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Sachverhalte erforderlich sind und die Grundlage eines politischen Urteils bilden sollen.“ (Lehrplan Politik und Wirtschaft, S. 2), sondern auch an Formulierungen Theodor W. Adornos
aus seinen Gesprächen mit Hellmut Becker: ,,Die Forderung zur Mündigkeit scheint in einer Demokratie selbstverständlich.“ (Adorno 1970, S. 140) Auf den zweiten Blick erscheinen die hier vorgestellten Verhältnisbestimmungen zwischen ,,Demokratie“, ,,Bürgerschaft“
und ,,Mündigkeit“ jedoch keineswegs identisch. In einem wesentlichen Aspekt stehen sie sogar in Gegensatz zueinander. Denn wo Weißeno et al. so etwas unterstellen wie eine im Mündigkeitsbegriff verbürgte prästabilierte Harmonie zwischen ,,demokratischer Politik“
und dem Eigeninteresse des Bürgers, zur Partizipation an ihr qualifiziert zu werden, und wo der hessische Lehrplan aus ,,Demokratie“ den Bedarf an ,,mündigen Bürgern“ ableitet2, wird bei Adorno die scheinbare Selbstverständlichkeit zur kritischen Maxime, an
der Demokratie sich messen lassen muss.3 ,,Mündigkeit“ bleibt hier weit eher Kriterium der Reflexion und Bewertung bestehender Verhältnisse, als dass sie zum sicheren Fundament der Legitimität oder gar zum in der Schule produzierten Bedarfsgut einer bestehenden ,,Demokratie“
taugen könnte. Ganz im Gegenteil hierzu betont Adorno scharf den prozessualen Charakter des Kant’schen Mündigkeitspostulats: ,,Kant hat in seiner Schrift […] auf die Frage ,Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter‘ geantwortet, ,nein, aber
wohl in einem Zeitalter der Aufklärung‘. Womit er also Mündigkeit nicht als eine statische, sondern ganz konsequent als eine dynamische Kategorie, als ein Werdendes und nicht als ein Sein bestimmt hat.“ (ebd., S. 151)