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Sprache und Bildung

Authors:
Jasmin Donlic/Georg Gombos/Hans Karl Peterlini (Hrsg.)
Lernraum Mehrsprachigkeit
Verö entlicht mit Unterstützung des Forschungsrates der
Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und der Fakultät für
Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
In Zusammenarbeit mit
DRAVA VERLAG • ZALOŽBA DRAVA GMBH
9020
Klagenfurt/Celovec, Gabelsbergerstraße 5
Telefon +43(0)463 501099
of ce@drava.at
www.drava.at
Copyright © dieser Ausgabe 2019 bei Drava Verlag
Klagenfurt/Celovec
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten
ISBN 978-3-85435-846-6
ISBN 978-88-7223-335-1
Jasmin Donlic/Georg Gombos/Hans Karl Peterlini (Hrsg.)
LERNRAUM
MEHRSPRACHIGKEIT
Zum Umgang mit Minderheiten- und
Migrationssprachen
DRAVA VERLAG
Inhalt
Vom Önen der Räume – ein Vorwort 7
Theoriebausteine 10
Sprache und Macht – Hans Karl Peterlini 11
Sprache und (hybride) Identität – Jasmin Donlic 27
Sprache und Bildung – Hans Karl Peterlini 40
Sprache und Biographie – Georg Gombos 60
Sprache und Leib – Hans Karl Peterlini 74
Sprache und systemisches Denken – Georg Gombos 92
Perspektive Minderheitensprachen 106
Miha Vrbinc
Slowenisch lernen wollen – und können
Durchgängige und nachhaltige zweisprachige Bildung
(Slowenisch-Deutsch) im Kärntner Schulwesen. Ein Überblick 107
Georg Gombos
Zwei- und Mehrsprachigkeit früh fördern
Sprachpädagogische Arbeit in elementarpädagogischen
Einrichtungen im Kontext von autochthonen Minderheiten am
Beispiel der Kärntner Slowenen 123
Hans Karl Peterlini
Wenn Vielfalt Raum bekommt
Unterrichtsmomente und Lehr-Lern-Erfahrungen an der
slowenisch-deutschsprachigen Modellschule VS24 in
Celovec-Klagenfurt 144
Roland Verra
Überleben zwischen den großen Kultursprachen
Zur Geschichte, Lage und Zukunsfähigkeit der ladinischen
Sprache 169
Luca Melchior
Ein Steinchen im Mosaik der Mehrsprachigkeit
Gesetzlicher Rahmen, Erfahrungen und Herausforderungen
des Friaulischunterrichts in Schulen der Region Friaul Julisch
Venetien 185
Hans Karl Peterlini
Magari mehrsprachig
Das Sprachenmodell Südtirol – von ungenutzten Möglichkeiten,
alarmierenden Befunden und jugendlichem Pragmatismus 199
Perspektive Migrationssprachen 220
Jasmin Donlic
… weil es gibt keine schlechte Sprache …
Umgang mit sprachlich-kultureller Vielfalt an Volksschulen.
Ergebnisse und Perspektiven im urbanen Raum 221
Dietmar Larcher
Parkisch
Selbstermächtigung und Neukonstruktion als Antwort auf
sprachliche Unterernährung 237
Irene Cennamo
Sprache performiert – aber wie orientiert sie den
(wissenschalichen) Diskurs?
Eine Zusammenschau kritischer Erwachsenenpädagogik
und sprachbezogener Bildungsaspekte zur Begründung eines
erwachsenengerechten Rahmens für Lernen und Forschen 253
Angelika Hrubesch/omas Fritz
Mehrsprachig die Welt lesen und schreiben
Mehrsprachige Basisbildung für Migrantinnen und Migranten 277
Autorinnen und Autoren 290
7
Vom Önen der Räume - ein Vorwort
Lernraum Mehrsprachigkeit meint einen gleichwohl symbolischen wie
sozialen Raum (vgl. Lefebrve 1974 und Bourdieu 1989), der von Mit-
menschen, Familie, Freunden, sprachlich-kulturellen oder auch schu-
lischen oder beruichen Gruppen bevölkert und durchwirkt ist. In so
gedachten Räumen, die sich von physischen Räumen unterscheiden
und sich trotzdem mit diesen überschneiden, wirken Personen, soziale
Gruppen, Normierungen, kulturelle, ökonomische und machtstruktu-
relle Bedingungen jeweils aufeinander ein und auf den Raum zurück,
den sie zugleich hervorbringen. Lernraum Mehrsprachigkeit meint da-
mit auch einen Raum, den die Lernenden betreten können, mitgestal-
ten können und in dem sie auf die anderen Verbindungen und Rela-
tionen einwirken können. Dies kann in stärkerem oder schwächerem
Ausmaß möglich sein, das Individuum wird hier einerseits als einge-
bunden und beeinusst von allen anderen Faktoren im symbolischen
und sozialen Raum betrachtet, zugleich aber als Mitgestalter/in dieser
Raumwelt verstanden. Es antwortet im Zusammenwirken mit ande-
ren auf den durch gesellschaliche, kulturelle Regelungen, Konven-
tionen, Atmosphären geprägten Lernraum, erndet, erprobt, macht
eigene Erfahrungen, verändert dadurch den Raum und wird von die-
sem verändert. Das heißt, das Verhältnis der Beteiligten zueinander
ist dynamisch und nicht statisch. Umgekehrt gilt es zu fragen, wie der
Lernraum – über seine nicht im Detail steuer- und planbaren Prozesse
hinaus für das Individuum und seine Bezugsgruppen bewusst ge-
staltet werden kann – im Sinne förderlicher emotionaler Lernbedin-
gungen (Akzeptanz, Beziehungen, Vertrauen, Haltung), förderlicher
kognitiver Lernbedingungen (lebensweltlich relevante Inhalte), struk-
tureller Lernbedingungen (Zeit, Begegnungsraum) und politischer
Lernbedingungen (Gleichberechtigung, Teilhabe). Der Lernraum
Mehrsprachigkeit soll einladen zum Betreten, zum Mitmachen, Mit-
spielen, das Individuum soll sich gerne und mit Neugierde in den und
im Raum bewegen, nicht sich zurückziehen oder verängstigt iehen.
Für ein Verständnis von Sprache und Mehrsprachigkeit als Lern-
raum bieten sich unterschiedliche Ansätze an, so vor allem systemi-
sche, konstruktivistische, phänomenologische, praxeologische. Der
vorliegende Band setzt einerseits theoretisch an, wichtige Aspekte von
Mehrsprachigkeit zu reektieren, andererseits werden Beispiele aus
der Forschung und pädagogischen Praxis dargestellt und diskutiert.
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Ein wesentliches Ziel dieses Buches ist, die Erfahrungen und Pers-
pektiven von autochthonen und allochthonen Minderheiten in einem
Band darzustellen – nicht zuletzt in der Honung, dass damit Verbin-
dungslinien sichtbar und Anregungen für gegenseitige Befruchtung
möglich werden.
Der Band ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil wird versucht,
Sprache mittels thematisch fokussierter eoriebausteine in ihrem
Zusammenwirken mit gesellschalich wichtigen Einüssen (Macht,
Bildung), Bedingtheiten und persönlichen Gestaltungen (Biographie,
Identität) sowie fruchtbaren Denkansätzen (Leibphänomenologie,
Systemisches Denken) in Verbindung zu setzen. Alle diese Beiträge
folgen in der Struktur ihres Titels dem Muster von „Sprache und …“,
sie thematisieren mögliche Zugänge und Verständnisweisen von Spra-
che(n) und ihrer Bedeutung für das Menschsein.
Der zweite Teil betrachtet das ema Mehrsprachigkeit aus der
Perspektive von autochthonen Minderheiten, wobei insbesondere
auf den Alpen-Adria-Raum fokussiert wird. Es nden sich Beiträge
zu Kärntner Slowenen (Vrbinc, Gombos, Peterlini), zur sprachlichen
Situation in Südtirol (Peterlini) und speziell zu jener der Südtiroler La-
diner (Verra) sowie zur Situation des Friulanischen (furlan) in Friaul
(Melchior).
Der dritte Teil ist der Mehrsprachigkeit in der Perspektive von Migra-
tion gewidmet. Die Beiträge reichen von schulischen Beispielen gelun-
gener Integration (Donlic) über kreative Sprachaneignung migran-
tischer Jugendlicher (Larcher) bis zum ema Alphabetisierung und
Erwachsenenbildung (Cennamo, Fritz/Hrubesch). Die Unterschied-
lichkeit der Ansätze und Zugänge entspricht dem ema – Mehr-
sprachigkeit ist nicht Einförmigkeit und sprengt per se auch formale
Einheiten. So kann und will das Buch nicht eine einheitliche eorie
von Sprache und eine lexikale Bearbeitung von Sprachräumen bieten,
sondern versucht, vielfältige Ansichten von Mehrsprachigkeit exemp-
larisch und aus unterschiedlichen Positionen aufzuzeigen und Einbli-
cke in Sprachwelten, Sprachforschung, Sprachtheorie, Sprachpolitik zu
gewähren. Wir laden Leserinnen und Leser dazu ein, den Lernraum
Mehrsprachigkeit zu betreten und – sich darin umschauend diesen
mit eigenen Aha-Erlebnissen, Erkenntnissen oder auch Befremdungen
und Widersprüchen zu entdecken und weiter mitzugestalten.
Jasmin Donlic, Georg Gombos, Hans Karl Peterlini
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Literatur
Bourdieu, Pierre (1989): Sozialer Raum, symbolischer Raum. In: Dünne, Jörg/Günzel,
Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kultur-
wissenschaen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 354-368.
Lefebvre, Henri (1974): Die Produktion des Raums In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan
(Hg.) (2006): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissen-
schaen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 330-340.
40
Hans Karl Peterlini
Sprache und Bildung
In der Freiarbeit für Erdkunde bildet Holger mit Hanna-Sophie ein
Paar, sie müssen sich gegenseitig die in der Hausaufgabe vorbereite-
ten Fragen stellen, aber üsternd, um sich nicht gegenseitig zu stören.
Hanna-Sophie lächelt verlegen, als sie die erste Frage stellt: „Was heißt
Fellache?“ Holger blättert ziellos im Buch herum, zuckt dann mit den
Schultern. „Wos hoaßts“, fragt er Hanna-Sophie, diese zuckt auch mit
den Schultern und lacht, „ich weiß es nicht“. Sie fragt nun, was Hoch-
kultur bedeutet. Holger reckt sich und sagt, „das sind die gscheiten
Leute“. Hanna-Sophie beharrt: „So kannst du nicht reden... du musst
sagen: Schri, Sprache, Bauten.“ Holger nickt: „Ist gut, dann sag ichs
so.“ Hanna-Sophie reduziert ihre Fragen nun auf Stichworte: „Mum-
mizieren, sagt sie und blickt Holger auordernd an. Er erklärt aus-
führlich die einzelnen Schritte, sie hängt die Frage an: Und wieso?“
Holger: „Damit er in den Himmel aui kommt, dass er Gott wird.“
(BH1_09, Vignette aus dem Forschungsprojekt „Personale Lernpro-
zesse in heterogenen Gruppen, vgl. Baur/Peterlini 2016)
Frau Piccali, die Italienischlehrerin, fordert die Schüler/innen auf, ihre
Arbeit vom letzten Mal wiederaufzunehmen. Paul schlur langsam in
den Nebenraum und setzt sich Philipp und Patrick gegenüber an zwei
zusammengeschobene Tische. Ein großes Buch liegt aufgeklappt in der
Mitte, links der Text mit der Überschri „L ’antica India, rechts eine
große Zeichnung. Die Jungen beginnen damit, den Text abzuschrei-
ben. Immer wieder unterbrechen sie ihre Arbeit, stecken die Köpfe
zusammen und üstern. Deutsche Sprachfetzen sind hörbar. „Jetzt
kommt die Lehrerin, warnt Paul mit Blick zur Tür. Die drei verstum-
men. Come parliamo?“[Wie sprechen wir?], fragt Frau Piccali und
blickt die Jungen streng an. „In italiano!“, antwortet Patrick prompt.
Frau Piccali liest den Jungen den kurzen Text betont langsam vor und
schiebt immer wieder kurze Erklärungen ein. Die Augen von Paul
wandern von der Lehrerin zum Buch und wieder zurück. Als Frau
Piccali den Raum verlässt, fahren die Jungen fort, den Text vom Buch
auf ihr Blatt zu übertragen. „Das hat es ja gar nicht gegeben, verkün-
det Paul plötzlich mit Nachdruck. „Schaut, hier auf dem Bild! Die
haben volle die Speere. Die haben volle den Bogen umgehängt. Wenn
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sie trainieren, können sie VOLLE schießen.“ Schlagartig springt er auf
seinen Stuhl und imitiert einen Bogenschießer, der einen Pfeil spannt.
Dabei stellt er sich kerzengerade hin, den Blick in die Ferne gerichtet.
Er spannt den Pfeil schießt – tri sein Ziel. Mit strahlendem Gesicht
steigt er anschließend von seinem Stuhl herunter, setzt sich hin. Alle
drei beugen sich nun tief über die Zeichnung im Buch, ihre Finger
fahren über das Bild, zeigen einmal auf jenes, einmal auf ein anderes
Detail. Sie lachen und diskutieren geräuschvoll auf Deutsch. Plötz-
lich steht Frau Piccali neben dem Tisch, die drei schrecken auf. […].
(BP1_12, Peterlini 2015, S. 104)
Bildung ist eine gleich ermutigende wie trügerische Verheißung, die
in der Verbindung mit Sprache eine Verstärkung in beide Richtungen
erfährt. Sprache kann Zugänge zu Bildung erschließen oder aber eine
kaum zu überwindende Barriere darstellen. Bildung kann Sprache stif-
ten, Ausdrucksmöglichkeiten erweitern, Inklusion anbieten, ermäch-
tigen, und sie kann Mitsprache erschweren bis verunmöglichen, aus-
schließen, Ohnmachtsgefühle auslösen, sprachlos machen.
Bildung und Sprache sind so gesehen ein schwieriges Paar. In einer
der großen Erzählungen über die Entstehung und Entwicklung der
Menschheit, der Bibel, rühren sie – vor allem in der alttestamentari-
schen Diktion und jüdischen Tradition von einem sie gegenseitig
ausschließenden Widerspruch her, jenem zwischen Wort und Bild.
Bildung weist in ihrer etymologischen Herkun auf das mittelhoch-
deutsche „bildunge“ zurück, das über die althochdeutsche Bedeutung
von „biliden“ für Formen und Nachahmen schon insofern hinausgeht,
als es auch Gestalten, Nachbilden und Vorstellen meint (dwds.de).
In etwa in dieser Zeit des Mittelhochdeutschen, ab ca. 1000 n. Chr.,
verdichten sich im deutschen Sprachraum jene Vorstellungen vom
Menschen, die erste Grundlegungen für den späteren Bildungsbegri
darstellen (vgl. Meyer-Drawe/Witte 2007, S. 61), und zwar in seiner
verheißungsvollen Variante, damals noch gegründet auf die Gott-
ebenbildlichkeit des Menschen. Diese Erhöhung des Menschen, dass er
Gott ebenbildlich ist, war in der biblischen Tradition mit einem stren-
gen Bilderverbot verbunden, das die Unerreichbarkeit Gottes sicher-
stellte und auch jene des Menschen markierte, der sich selbst nicht
umfassend erkennen kann: „Diese Entzugsstruktur ndet in der kon-
kreten menschlichen Existenz ihre Entsprechung. Menschen ist näm-
lich weder der Beginn noch das Ende ihres Lebens als unmittelbare
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Erfahrung gegeben und ebenso der direkte Anblick insbesondere ihres
eigenen Gesichts verwehrt. Das bedeutet auf der einen Seite die Versa-
gung absoluter Evidenz und begründet gleichzeitig das Begehren nach
Kompensation und damit die Möglichkeit des Bildens, das stets die
engen Grenzen des Abbildens übersteigt.“ (Ebd., S. 62, Herv.d.Verf.)
In derselben biblischen Tradition, die es verbietet sich von Gott und
damit auch dem ihm ebenbildlichen Menschen ein Bildnis zu machen
(2. Moses, 20,4), ist das Wort an den Anfang des Seins gestellt. „Im
Anfang war das Wort, und das Wort bei Gott, und das Wort war Gott.
[…] Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde
nichts, was geworden ist.“ (Joh, 1,1-3). Während das Bild also verboten
oder zumindest mit einem Gebot der Zurückhaltung belegt war, dass
es nicht Gott abbilden und hinter den Schein der Dinge blicken kann,
kam der Sprache das konstitutive Moment für Welt- und Menschsein
zu und damit auch der exklusive Zugang zum Weltverstehen.
Dieser Gedanke, der das Bild teilweise tabuisiert und einschränkt
zugunsten der Sprache, ndet sich auch als Kernaussage in den Über-
legungen von Wilhelm von Humboldt, der zurecht als Begründer des
deutschen Bildungsbegries gilt: „Der Mensch ist Mensch nur durch
die Sprache; um die Sprache zu ernden, müsste er schon Mensch
sein.” (Humboldt 2002a [1820-1835], S. 11) Von diesem unverrückba-
ren Ausgangspunkt schreitet Humboldt in seiner ersten Rede vor der
Königlichen Akademie der Wissenschaen in Berlin am 20. Juni 1820
zur spekulativen Schlussfolgerung weiter, dass die Sprache somit nicht
erst vom Menschen entwickelt werden konnte, sondern sie müsse „als
unmittelbar in den Menschen gelegt angesehen werden“ (ebd.). Damit
scheint zumindest indirekt auch bei Humboldt das göttliche Moment
auf, wie er es in der handschrilichen Fassung der Rede ursprünglich
sogar explizit ausdrücken hatte wollen, wo es noch „als von Gott un-
mittelbar in den Menschen gelegt“ geheißen hatte (Trabant 1989, S.
508, Fußnote 19, Herv.d.Verf.).
Die notgedrungen spekulativen Studien zum Ursprung von Spra-
che beziehen sich bei Humboldt und seinen Zeitgenossen denn auch
auf das orale Sprechen, das Wort. Die Fähigkeit des Menschen, seine
Welt abzubilden, wie es Höhlenzeichnungen aus der Zeit vor mindes-
tens 20.000 Jahren bezeugen (vgl. Harari 2011, S. 64f), spielte dafür
zunächst keine Rolle. Sie erfährt erst – mehr oder weniger bewusst
Beachtung in den Studien zur schrilichen Sprache. Diese beginnt
mit Zeichnungen und erhält in davon abstrahierten Zeichen und
Hans Karl Peterlini
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Symbolen ihre Ausformungen (vgl. ebd., S. 139). Im Bilden, das nach
Meyer-Drawe und Witte die Kompensation für den Umstand darstellt,
dass der Mensch weder Gott noch sich selbst unmittelbar erfassen
kann, kehrt das Verbotene zurück: „Der Ohnmacht des Selbst, die in
einer Versagung gegründet ist, entspricht somit eine Macht der Bilder,
die darin besteht, dass sie eine – wenn auch nur vorläuge – Antwort
auf diesen provokativen Selbstentzug geben.“ (Meyer-Drawe 2010, S.
815) Bildung ließe sich, weiterdenkend, als Aneignungsprozess verste-
hen, in dem Bild (als Vorstellung von Gott, Mensch und Welt) und
Wort (als Anfang und Zugang zur Welt) für das Sich-Bilden und Ge-
bildet-Werden zusammenwirken, weil das eine ohne das andere nicht
zu haben ist.
Bild und Wort stehen damit in einem immer wieder sich befrucht-
enden und zugleich kontroversen Zusammenhang. Friedrich Nietz-
sche, der seine Philosophie als Auehnung gegen die Unterdrückung
des Menschen als Wille zur Macht“ (Nietzsche 1999a [1883-1891],
S. 94) verstand, spitzte für sein Verständnis von Bildung ein Begris-
paar aus der Rezeption der Antike noch einmal zu: das Apollinische
und das Dionysische, die in der griechischen Tragödie eine leidvolle
Paarung eingehen (Nietzsche 1999 [1872], S. 25). Zwar deckt sich die-
ses Gegensatzpaar nicht gänzlich mit Sprache vs. Bild, wohl aber zielt
Nietzsche durch die Rehabilitation des Dionysischen auf den Bruch mit
einem disziplinierenden Bildungsverständnis zugunsten eines Bildes
vom Menschen ab, das den Trieb rehabilitiert und in der Ekstase fei-
ert. Bei Humboldt zeigt sich eine ähnliche Polarität zwischen Sprache
und Kunst. Letztere steht, als Domäne des metaphorischen und bild-
haen Ausdrucks, außerhalb der Sprache und wirkt auch nicht durch
die Sprache, kann aber durch Bildung verstanden werden (Humboldt
2002a [1820-1835], S.64f ). Es sind Diskurse unter Altphilologen um
die Auslegung der griechischen Antike für eine gegenwartsbezogene
Deutung, an der sich die schrittweise Begrisbildung des Bildungsbe-
gries orientiert. Die Sprache und deren Studium stehen damit, wenn
auch in einem elitären Verständnis, Pate für jene ideengeschichtliche
Evolution, die der Erziehungswissenscha eines ihrer schillerndsten
und vielversprechendste Konzepte und zugleich einen ständigen Rei-
bepunkt und Klärungsbedarf beschert. Im Begri der Bildung kom-
men Sprache und Bild, Logos und Lebensentwurf, Ratio und Pathos
zusammen, um sich zugleich wechselseitig zu kontrastieren und zu
problematisieren.
Sprache und Bildung
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Dies beginnt schon damit, dass Bildung nicht nur per se eine sprach-
liche Schöpfung ist, die das Bild und Bilden rehabilitiert, sondern auch
das erziehungswissenschaliche Alleinstellungsmerkmal einer Sprach-
gemeinscha darstellt. Der deutsche Begri Bildung lässt sich kaum in
andere Sprachen übersetzen, das englische education, das französische
éducation, das italienische educazione oder auch formazione decken
höchstens Teilbereiche dessen ab, was unter Bildung über Erziehung
hinaus thematisiert und diskutiert wird. Hilfskonstruktionen wie
self-formation oder self-cultivation (vgl. Meyer-Drawe/Witte 2007, S.
61) betonen zwar einen wichtigen Aspekt von Bildung, nämlich den
selbstbestimmten Anteil gegenüber den vorwiegend fremdbestimm-
ten Prozessen von Erziehung und Sozialisation. Sie reduzieren Bildung
damit aber auch auf diesen Aspekt der Selbstbestimmtheit und Auto-
nomie, was wiederum zu einseitigen Auslegungen und Konzeptionen
führt. Wohl ist das Moment der Selbstverwirklichung als „Selbst- bzw.
Lebenserhöhung“ (Wilder/Beiermann 2014, S. 239) leitender Gedan-
ke für Humboldts Bildungskonzeption: „Der sich bildende Mensch
ist der Zweck seiner selbst und genügt sich selbst.“ (Menze 1965,
S. 127)
In dieser Aussage liegt eine eigentümliche und bis in die Gegenwart
kontrovers diskutierte Radikalität Humboldts, da sie jeglicher berufs-
orientierten und gesellschalichen Funktionalisierung von Bildung
den Wert abstreitet. Bildung dürfe schlicht keinen Nutzen über die
Selbstverwirklichung des Individuums hinaus haben, da dieses an-
sonsten in seiner Selbstwerdung Anforderungen von außen unterwor-
fen wird. Diese Position wurde schon zu Humboldts Zeit als aristo-
kratisch zurückgewiesen, am prominentesten von Johann Wolfgang
von Goethe und Friedrich Schiller, da damit der Mensch schlicht von
seiner sozialen Dimension menschlichen Handelns und Bildens ab-
geschnitten werde (vgl. Kost 2004, S. 148). Zugleich erhält Humboldt
aus gegenwärtiger Perspektive, trotz ungeklärter Ambivalenzen in
seiner Auslegung (vgl. Junga 2011, S. 14, Fußnote 12 zu Kost 2004),
zumindest insofern Aktualität, als sein Bildungskonzept die Kritik an
der „Totalverzweckung des Menschen“ (Ribolits 1997) durch Funktio-
nalisierung der Bildung zu unterstützen scheint. Danach soll Bildung
ebenso dezidiert „ohne Wert“ sein (Ribolts 2009), um sie nicht in den
Dienst der „Humankapitalisierung“ (ebd.) des Menschen zu stellen.
Diese Kritik an Bildungsverständnissen, die das Individuum unter
dem verinnerlichten gesellschalichen Druck zu ständiger Selbstop-
Hans Karl Peterlini
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timierung treiben, ohne den verheißenen Aufstieg tatsächlich zu ge-
währen (Ribolits 1997, S. 11), ndet gegenwärtige breite Resonanz.
Durch die Einpassung in ökonomische Notwendigkeiten wird das
Individuum demnach in Ermüdung und Erschöpfung getrieben (vgl.
Han 2016, Ehrenberg 2008), und zwar unter Vorspiegelung einer In-
dividualisierung zum „‚unternehmerischen Selbst‘“ (Ribolits 2009, S.
26). Ist Bildung schon mit der Renaissance und verschär durch die
Aulärung (vgl. Ribolits 1997, S.19-25) bis in die jüngste Vergangen-
heit als Zurichtung auf nicht mehr gottgegebene/gottergebene, son-
dern menschliche Wertschaung/Wertschöpfung durch Arbeit aus-
gerichtet worden, „liegt die Perdie der herrschenden gegenwärtigen
Bildungsdiskurse darin, dass sie das Subjekt in den Glauben versetzen,
Schmied des eigenen Arbeitsglücks zu sein“ (Peterlini 2015, S. 40). So
führt Bildung nicht zu Mündigkeit, sondern zur „Herausbildung ei-
ner Persönlichkeit, die sich über ihre Verwertbarkeit deniert“ (Ribo-
lits 2009, S. 27). Es geht „um Menschen, die sich selbst nur mehr im
Spiegel des Marktwertes wahrzunehmen imstande sind und dement-
sprechend nicht eine grundsätzlich gegebene menschliche Würde für
sich reklamieren, sondern sich in Abhängigkeit von ihrem beruf-
lich-materiellen Erfolg – bloß noch als mehr oder weniger ‚wert-voll
empnden können (und wollen).“ (Ebd.). Bildung als „Ermächtigung“
im Sinne einer „Befähigung zu Kritik, Widerstand und eigensinnigem
Handeln, [...] zum eigensinnigen Leben“ (ebd., S. 33) wird in ihr Ge-
genteil verkehrt.
Vor diesem Umschlagen vermeintlicher Individualität in sozioöko-
nomische Nutzbarkeit stellt sich die Frage, ob nicht auch schon die von
Humboldt in den Vordergrund gerückte Individualität einer solchen
Umkehrung zuarbeitet und letztlich ein elitäres Programm für wenige
bleibt. Ein derart selbstbestimmtes Individuum, in enger Auslegung
von Humboldt, muss seine Selbstverwirklichung praktisch aus eige-
ner Kra, von innen heraus vollbringen, da keine Erziehung, kein auf
irgendwelche Zwecke oder Verwertbarkeiten orientierter Unterricht
Antrieb und Orientierung vermitteln dürfen. Solche Bildung ist, wenn
überhaupt, zwangsläug nur einer privilegierten Schicht möglich, so
dass allen anderen nur die bereits beschriebene illusionäre Selbstop-
timierung unter verschleierten sozioökonomischen Zwängen bliebe.
Einer gemeinschalichen Idee ordnet allerdings auch Humboldt
die Selbstwerdung des Menschen zu es ist die Sprache: „In der Er-
scheinung entwickelt sich die Sprache jedoch nur gesellschalich,
Sprache und Bildung
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und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit
seiner Worte an Andren versuchend geprü hat. […] Indem sie in
andre übergeht, schliesst sie sich an das dem ganzen menschlichen
Geschlechte Gemeinsame an, von dem jeder Einzelne eine, das Ver-
langen nach Vervollständigung durch die andren in sich tragende Mo-
dication besitzt.” (Humboldt 2002a [1820-1835]), S. 196). Angesichts
des von Humboldt vertretenen Prinzips, dass der Mensch erst durch
die Sprache überhaupt Mensch werden kann, zeigt sich in seinem
Bildungskonzept doch wieder ein kollektivbildender Prozess, da die
individuelle Vervollständigung über die Sprache nur im Kollektiv zu
erreichen ist und von den Anderen her eine „Modication“ erfährt.
Diese Verbindung zwischen Sprache und Bildung wird für das au-
tonome Individuum zur Fangschlinge. Denn ohne Sprache ist keine
Bildung möglich: „Der Mensch denkt, fühlt und lebt allein in der
Sprache, und muß erst durch sie gebildet werden.“ (Humboldt 2002a
[1820-1835], S.64f) Im Unterschied zur Forderung nach völliger
Zwecklosigkeit von Bildung im Dienste einer uneingeschränkten Indi-
vidualisierung nimmt Humboldt die Sprache nun sehr wohl in einen
kollektiven Dienst, der – durch die enge Verbindung von Sprache und
Bildung – zwangsläug auch das auf Individualität ausgerichtete Bil-
dungsverständnis von Humboldt kollektiv untergräbt. Es sind die Na-
tion und ihr Nationalcharakter, mit denen Humboldt die Individuali-
tät des Menschen in eine passgenaue Übereinstimmung bringt. Diese
wird zwar nicht explizit als Unterordnung des Individuums unter die
Nation benannt, sondern eher als ideell begründete Syntonie von In-
dividuum und Nation, die einerseits von der Sprache hervorgebracht
wird und andererseits die Sprache überhaupt erst ermöglicht, weil
Sprachen selbst eine Nation brauchen: „Die Sprache lebt und webt in
der Nationalitaet und das Geheimnisvolle ihres Wesens zeigt sich ge-
rade darin vorzüglich, daß sie aus der scheinbar verwirrten Masse von
Individualitaeten hervorgeht.“ (2002b [1827–1829], S. 189) Individu-
alität und Nationalität sind „die beiden grossen intellectuellen For-
men, in welchen die steigende und sinkende Bildung der Menschheit
fortschreitet“ (ebd.), so dass ihr Zusammenwirken auch für die Güte
des Nationalcharakters entscheidend sei. Bildung gerät damit aber, so
sehr sie einerseits nur der Selbstverwirklichung des Individuums auf
dessen je individuelle Weise zu dienen hat, zwangsläug in den Sog
des – wenige Jahrzehnte nach Humboldt – sich entwickelnden Natio-
nalgedankens.
Hans Karl Peterlini
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So zeigt sich Bildung auch bei Humboldt in einer Schwebehaltung
zwischen der Ermächtigung des Individuums und dessen Eingepasst-
heit in kollektive, bei ihm eben nationale Rahmungen. Interessant ist,
dass Humboldt für seine Bildungstheorie gerade aus der durchaus
wertschätzenden Auseinandersetzung mit Fremdsprachen schöpe,
u.a. dem Sanskrit, dem Baskischen, dem Quechua. Seine immer wie-
der betonte und gewürdigte Toleranz steht in einem Spannungsver-
hältnis zur nationalen Idee, die trotz aller Aufgeschlossenheit zum
Fremden hin das Individuum umfasst und es in der Selbstwerdung mit
der (deutschen) Nation verschmelzt. „Unser Freund Humboldt, von
dem ich Ihnen hier einen langen Brief beilege, bleibt mitten in dem
neugeschaenen Paris seiner alten Deutschheit treu“, spottet Schiller
über Humboldt in einem Brief an Goethe. (Seidel 1964, S. 465f) Eine
solche Philosophie „schneidet ab von außen und isoliert, indem sie
von Innen die Innigkeit vermehrt“ (ebd.).
Die Verbindung zwischen Sprache, Nation und Bildung wird – un-
geachtet der Toleranzbekundungen Humboldts – in den darauolgen-
den Jahrzehnten zu einer der schwersten Bedingtheiten von Bildung.
Die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sich verstärkenden nationalen
Bewegungen schaen nach innen einen exklusiven Zusammenhang
zwischen Sprache und Nation, der nach außen zur Abschottung ge-
genüber den Anderen, schließlich zu deren Abwertung und Ausgren-
zung führt. Dies bedingt zum einen die Konstruktion der Anderen
als Feindbild von außen und einen massiven Druck zur Ausmerzung
der Anderen nach innen im Sinne nationaler Homogenisierung und
sprachlich-ethnischer Vereinheitlichung. Das Ziel der Bildung wird
die Bildung einer idealtypisch gedachten Nation, in der Demos (Volk)
und Ethnos (Sprache-Kultur) ohne Trübungen und Abweichungen
übereinstimmen. „Der Begri der ‚Nationund das Phänomen des
‚Nationalismus‘ haben die stillschweigende und historisch katastro-
phale Identizierung dieser beiden Prozesse von Identitätsstiung und
Souveränität erlaubt, denn die Nation wird nicht nur als selbst-iden-
tischer und homogener politischer Körper, sondern auch als Quelle
aller souveränen Autorität gedacht.“ (Benhabib 1999, S. 111) Dies hat
nach innen zur Folge, dass eine ktive, aber absolut gesetzte nationale
Einheit alle anderen Dierenzen (u.a. nach sozioökonomischem Sta-
tus, Geschlecht, Generation, Religion, Bildungsteilhabe) in ihrer Be-
deutung an den Rand drängt, so dass wichtige Auseinandersetzungen
um Rechte und Gleichstellung unterbleiben oder durch Fiktion und
Sprache und Bildung
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Gebot nationaler Einheit zumindest geschwächt werden. (Vgl. Peter-
lini 2016, S. 146) Nach außen mündete die emotionale und realpoliti-
sche Auadung der Nation im zerstörerischen nationalistischen Aufei-
nanderstoßen der führenden europäischen Mächte in die Kämpfe um
die Vorherrscha.
In einem national denierten Staat die falsche Sprache zu haben,
schließt zwangsläug von Bildung aus und erfordert maximale As-
similation an die eine gültige Sprache, die Einpassung in den „mo-
nolingualen Habitus“ (Gogolin 2008) des nationalen Staates und sei-
ner nationalsprachlich ausgerichteten Bildungssysteme. Dies betri
massiv sprachliche und ethnische Minderheiten, die wie Marianne
Krüger-Potratz (2016, vgl. auch Potratz/Jasper/Knabe 1998) exempla-
risch an Deutschland aufzeigt – allmählich aus der Sprachlandscha
des Nationalstaates verschwinden. Sie werden zu Dialekten abgewertet
und in den Bereich der Privatsprachen zurückgedrängt, mit entspre-
chenden schweren Benachteiligungen im Zugang zur Bildung und
dem damit verbundenen Versprechen von individueller Selbstver-
wirklichung und gesellschalicher Teilhabe. Unter dem Faschismus
und Nationalsozialismus wurde der Druck noch einmal verstärkt, wie
sich am Verbot des deutschen Unterrichts im italienisch gewordenen
Südtirol zeigt (Peterlini 2012, S. 46) und in der Repression der Na-
tionalsozialisten gegen das Slowenische im österreichischen Kärnten:
Die Naziparole „Kärntner, sprich Deutsch, die Sprache ist Ausdruck
deiner Gesinnung!“ (Wakounig 2016, S. 67) macht deutlich, wie das
lange schwärmerische nationale Bildungsverständnis in nationalisti-
schen Bildungsterror mündet und ein uneingeschränktes Bekenntnis
des Einzelnen zum politischen System und zu seinen sprachlichen und
kulturellen Praxen verlangte, „das vorbehaltlose Unterwerfen unter die
Staatsmacht und ihre Ideologie“ (ebd.). Erhielt Südtirol durch sein Au-
tonomiestatut einen beachtenswerten Minderheitenschutz, blieb der
Druck auf andere Minderheiten – etwa die slowenische Bevölkerung
in Kärnten – bis in die Gegenwart aufrecht, mal mehr, mal weniger
zurückgenommen (ebd., S. 70).
Das Erbe der staatenbildenden Nationalidee zeigt sich gerade in der
Gegenwart, in der Migration die – stets irreale – Vorstellung der nati-
onalen Homogenität noch einmal sichtbar in Frage stellt und auf neue
Verschließungen stößt. Der Umstand, dass die von Humboldt ideell
gedachte Übereinstimmung von Selbstwerdung und Nationalität für
große und wachsende Teile der Bevölkerung schlicht nicht zutri,
Hans Karl Peterlini
49
führt nicht zur Lockerung der nationalen Idee, sondern zu Verhärtun-
gen: „Das Fehlen einer Passung zwischen dem dominanten Sprachfeld
und den minoritären lingualen Dispositionen bezeichnet eine ungüns-
tige Voraussetzung für Lern- und Bildungsprozesse. Diese Dissonanz,
die nicht nur eingebracht, sondern außerhalb des dominanten Sprach-
zusammenhangs auch gepegt wird, führt zu einer Art Sprachlosigkeit
in der dominanten Sprache – buchstäblich dazu, dass die Worte feh-
len. Die monolinguale Schule muss insofern als Mitproduzentin der
Sprachlosigkeit der anderen verstanden werden.“ (Mecheril/Quehl
2006, S. 370) Der Zusammenhang von Sprache und Bildung zeigt sich
als verhängnisvoll in einer Gesellscha, die real vielsprachig ist, aber in
ihrer bildungspolitischen Ausrichtung einsprachig zu sein hat.
Zugleich zeigt sich ein Phänomen, das schon seit Beginn der Na-
tionalisierung von Sprache und Bildung die Einheitszwänge glei-
chermaßen bricht wie verstärkt. Während Mehrsprachigkeit für so-
genannte einfache und in ihren Bildungszugängen eingeschränkte
Bevölkerungsgruppen regelrecht als verderblich für Charakter und
psychische Gesundheit der Einzelnen und den Nationalcharakter
dargestellt wurde (Krüger-Potratz 2016, S. 115f), schmückten sich
die privilegierten Schichten in ihrer Selbststilisierung durch Bildung
durchaus mit fremden Sprachen (einst Latein, dann Französisch, nun
in Business und Wissenscha vor allem Englisch), die für jene, die da-
von ausgeschlossen sind, eine weitere Hürde darstellen (vgl. Peterlini
2016, S.145). Die Abwertung aller anderen Sprachen zugunsten der
einen nationalen Sprache und einer weiteren, für sozialen und ökono-
mischen Aufstieg nötigen Fremdsprache, wertet auch die betroenen
Sprecherinnen und Sprecher ab, die sich mühen müssen, die eigene
Sprache aufzugeben zugunsten der eingeforderten neuen Sprachen.
Nur im Glücksfall, je nach Herkun, bringen sie die zusätzlich erfor-
derliche Zweitsprache Englisch mit. Migrantinnen und Migranten aus
Herkunsländern, in denen Englisch nicht zur zweiten sprachlichen
Sozialisation gehört, stehen vor einer doppelten Bildungs- und Auf-
stiegsbarriere.
Mit dem Begri der „Sprachmauer“ hat der französische Psycho-
analytiker Jacques Lacan die existenzielle Eingebundenheit des Men-
schen in seine Sprache verstanden (vgl. Ragland-Sullivan 1989, S. 77,
vgl. auch den Beitrag „Sprache und Macht“ in diesem Buch), die da-
mit auch zu einer Angewiesenheit auf Sprache wird, sowohl für eine
wie auch immer begründete und verstandene Selbstverwirklichung
Sprache und Bildung
50
und Individuation als auch für die Sozialisation des Individuums als
Mitglied einer Gemeinscha. Dies setzt sich, auf einer lebensprakti-
schen Ebene, als Sprachmauer für jene sozialen Gruppen durch, die
schlicht nicht über das benötigte Repertoire für sprachliche Teilhabe
verfügen. Die „Sprachmauer“ zieht sich auch durch die jeweils domi-
nierende nationale Sprache, die nur in der ideologischen Überhöhung
tatsächlich ein- und dieselbe Sprache für alle ist, während sie in der
sprachlichen Praxis von einer inneren Mehrsprachigkeit durchzogen
ist, die ihrerseits die Bildungsbarrieren noch einmal potenziert. Es ge-
nügt nicht, die richtige Sprache zu besitzen, sondern es ist erforderlich,
sie auch auf dem erforderlichen Niveau und in der vorgegebenen Mi-
lieuprägung zu beherrschen.
Im gängigen Begri der Bildungssprache meldet sich Humboldts eli-
tärer Ansatz aus der Geschichte zurück. Die Vorstellungen, die mit Bil-
dungssprache verknüp sind, verkehren das Versprechen des sozialen
Aufstiegs durch Bildung für all jene ins Gegenteil, die in ihrem sprach-
lichen Ausdruck vorwiegend über ihren Dialekt verfügen und in der
Hochsprache nur auf eingeschränkte Register zurückgreifen können.
So ist der monolinguale nationale Habitus noch einmal, subtil und
teilweise wirkmächtiger, überlagert und durchzogen von einem sozio-
ökonomischen und bildungsbezogenen sprachlichen Habitus. Nach
dem Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu genügt es dabei nicht ein-
mal, die erforderte Sprache und das damit verbundene Sprachniveau
zu perfektionieren, da selbst grammatikalisch richtiges Sprechen noch
nicht zwingend jene Zugehörigkeit stiet, die es zuvor versprochen hat
(Bourdieu 2005, S. 60). Als Verinnerlichung von Zugehörigkeitsmerk-
malen, Werten, Stilen und Ausdrucksformen ist der Habitus nicht ein-
fach erlernbar und aktiv anzustreben, er drückt sich im Körper, im
Verhalten und im Sprechen jenseits der Grammatikalität aus, etwa da-
rüber, mit welchem Anspruch, in welcher Haltung ein Raum betreten
wird, mit welcher Selbstverständlichkeit das Wort ergrien, Behaup-
tungen aufgestellt werden und der eigenen Rede Nachdruck verliehen
wird (Bourdieu 1989, S. 40-60). Sprachliche Herkun, Spracherwerb,
sprachliche Bildung können ebenso ermächtigend wie zurückweisend
mit gesellschalicher Zugehörigkeit zusammenspielen. Milieutreue
der benachteiligten Gruppen und die Abgrenzung der bildungsbür-
gerlichen Schicht gehen o eine kaum zu überwindende Allianz ein.
Die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passerion 1971)
zerstiebt vielfach an eben jenen Institutionen, die sie mittels Bildung
Hans Karl Peterlini
51
herstellen sollten. Die Barrieren, die den von Bildung erhoen Auf-
stieg erschweren und teilweise verhindern, sind allein mit ökonomi-
scher Benachteiligung nicht zu erklären. Sie sind vielmehr das Er-
gebnis einer teilweisen Überlagerung und teilweisen Kontrastierung
unterschiedlicher Bedingtheiten, die Bourdieu in vier Kategorien von
Kapital auszufächern versucht hat. So spielen für die Herstellung sozia-
ler Ungleichheit ökonomische, soziale, kulturelle und symbolische Ka-
pitalien zusammen (Bourdieu 1992, S. 50), die Kinder in die Grund-
schule, Jugendliche in die höheren Schulstufen und gegebenenfalls auf
die Universität, später in alle Bereiche gesellschalicher Wirksamkeit
(vom Arbeitsplatz zur politischen Beteiligung) mitbringen.
Besonders durch die Verinnerlichung des kulturellen Kapitals – ver-
standen als sprachliches Niveau im Elternhaus und im engeren sozia-
len Umfeld, als Einfachheit oder Ästhetisierung von Ausdrucks- und
Stilformen, als Wertverständnis für Bildung im weitesten und engeren
Sinne – schreiben sich diese primären sozialisatorischen Bedingtheiten
in den Habitus ein und lassen sich nur mehr schwerlich überwinden.
Kinder werden in der Schule weitgehend unbewusst einem hidden
curriculum folgend (Brandmeyer 2014) – nach ihrer Herkun in Be-
gabungskategorien eingeordnet, die sich als selbsterfüllende Prophe-
zeiungen bestätigen und die soziale Benachteiligung durch Herkun
nicht nur nicht wettmachen, sondern von Bildungsstufe zu Bildungs-
stufe verstärken (vgl. Grundmann et al. 2004).
Ein solcher circulus vitiosus, der die Verheißung von Aufstieg durch
Bildung schier fatalistisch gegen jene zu wenden scheint, die diesen
Aufstieg nötig haben, ist im Humboldt’schen Bildungsideal mit ange-
legt. Wohl will dieses zur Selbstverwirklichung eines/einer jeden ein-
zelnen ermutigen, scha aber zugleich durch die Trennung von wah-
rer Bildung und Lebensnotwendigkeiten eine Spaltung, die Bildung auf
wenige Privilegierte reduziert, sofern so etwas wie wahre Bildung ohne
Anbindung an Bedingtheiten denkbar ist. Wer etwa für sein Fortkom-
men studiert und auf einen Beruf hin lernt, der sozialen Aufstieg oder
zumindest gute Zukunsperspektiven verspricht, würde sich in dieser
dichotomen Spaltung von Selbstverwirklichung und Lebensnotwen-
digkeit ja bereits Sachzwängen und Bedürfnissen beugen, die ihm die
Selbstverwirklichung verwehren; oder dieses hypothetische lernende
Subjekt müsste, sofern so etwas eben überhaupt geht, an allen Notwen-
digkeiten vorbei sich bilden und in vollendeter Selbstverwirklichung
ökonomisch zugrunde gehen.
Sprache und Bildung
52
Das Dilemma ist vor allem theoretischer Art. In seinem konkreten
Vollzug ist Lernen – als bildender Prozess – ohne Zusammenhang mit
Lebensnotwendigkeiten und Auseinandersetzung mit Bedingtheiten
und Funktionalisierungen gar nicht möglich. Der Vorstellung eines au-
tonom lernenden Subjekts stellt Käte Meyer-Drawe in einer phänome-
nologischen Perspektive Bildung und Lernen als „Antwort auf fremde
Ansprüche“ (Meyer-Drawe 2012a, S. 15) entgegen. Dies läu auf eine
Unterwanderung der dichotomen Spaltung von Subjekt (als Selbstler-
nende) und Welt (als Bedingtheit) hinaus, um damit auch die elitäre
Vorstellung zu verlassen, dass Selbstverwirklichung in einer Abwen-
dung von Lebensnützlichkeiten bestehen muss. Das „Empfänglichsein
für die Welt“ (ebd.) setzt auch der von Goethe und Schiller an Hum-
boldt kritisierten Zuwendung zur Nationalität als einzige verbleibende
Rückbindung des rundum losgelösten Individuums eine Alternative
entgegen. Diese entspringt keiner positivistischen Subjektdenition,
sondern im Gegenteil einer doppelten Verneinung jeglicher Subjektbe-
stimmung, einem Weder-Noch. „Danach sind wir weder nur autonom
noch nur abhängig, weder nur selbstbestimmt noch nur fremdbestimmt.
Als konkrete Menschen nden wir eigene Wege, indem wir auf die Situ-
ationen antworten, in die wir verstrickt sind. Das, worauf wir antwor-
ten, zählt zum Reich vorgegebener Ordnungen und Abhängigkeiten,
die wir vornden, nicht ernden.“ (Peterlini 2015, S. 41, Herv.i.O.)
Heruntergebrochen auf die Situation eines konkreten Menschen:
Wir können nicht losgelöst von den Möglichkeiten und Einschrän-
kungen lernen und uns bilden, die wir vornden, denn diese lassen
sich weder wegzaubern noch ignorieren, sondern sind im Gegenteil
durch die Anforderungen unverzichtbar für jede Art von Selbstwer-
dung. Wohl aber können wir im Antworten auf diese Bedingtheiten
und Notwendigkeiten etwas von uns verwirklichen, in die Welt brin-
gen, das aber nicht losgelöst von den Bedingtheiten betrachtet werden
kann, die uns unser Handeln in der Welt überhaupt erst ermöglichen,
so sehr sie es zugleich auch einbahnen und einschränken. Die Selbst-
werdung gründet in Spielräumen, die im Antworten auf die fremden
Ansprüche möglich sind: Nach Bernhard Waldenfels können wir zwar
nicht ernden, „worauf wir antworten, weil die Welt nun einmal so
ist, wie wir sie vornden, wohl aber können wir „ernden, was wir
antworten“ (Waldenfels 2008, S. 94).
In einem solchen Verständnis tun sich auch Möglichkeiten für Bil-
dung auf, die in einem transformatorischen Sinne nicht nur dem In-
Hans Karl Peterlini
53
dividuum neue Perspektiven seiner Selbst- und Weltpositionierung
erschließen, sondern auch zurückwirken können auf die Verhältnisse,
die Bildungsprozesse beeinträchtigen. Die Ansätze, so unterschiedlich
sie sind, können so zusammengefasst werden, dass sie sich an Bildung
als Kritik an Bildung orientieren und damit auch ein gesellschaliches
Sprechen jener ermöglichen, die durch herrschende und exkludieren-
de Bildungsverständnisse ansonsten ausgeschlossen werden. Ebenso
gemeinsam ist es diesen Ansätzen, dass sie Lernen als bildenden Pro-
zess gegenüber einem abgehobenen Verständnis von Bildung aufwer-
ten und stärker thematisieren (vgl. Meyer-Drawe 2012b, S. 18-24), da
Lernen – in einem weitgefassten Verständnis – jene Anstrengung ist,
die das Individuum seinen Bedingtheiten entgegensetzen kann und
die von den Bedingtheiten dem Individuum als Widerfahrnis abgenö-
tigt werden. Während Bildung im Verdacht steht, Gesellschasverhält-
nisse zu stabilisieren und zu reproduzieren, bedeutet Lernen „nicht
nur Anpassung an bestehende Strukturen, sondern auch deren Verän-
derung“ (Waldenfels 2000, S. 171).
Für Paulo Freire als prominentesten Vertreter der „Pädagogik der
Unterdrückten“ (1971) geht es um „problemformulierende Bildungs-
arbeit“ (ebd., S. 67), bei der sich Lernende mit ihren Bedingtheiten aus-
einandersetzen, sich gesellschaliche Ungleichheiten und Missstände
bewusstmachen und mögliche Antworten suchen (vgl. Singer-Bro-
dowski 2016, S. 15). Die Befähigung eines/einer jeden Einzelnen zu
transformativem Lernen hat Jack Mezirow in seiner theoretischen und
forschungspraktischen Arbeit bezeichnenderweise in einem Feld er-
forscht, in dem Bildung eng an Berufswünsche geknüp ist, nämlich
an Projekten mit Frauen nach längerer Abwesenheit vom Arbeits-
markt. Indem diese sich mit Weiterbildungen für den Wiedereinstieg
vorbereiteten, veränderten sich auch ihre individuellen Perspektiven
und übten sie verändernde Einüsse auf ihre unmittelbare Umwelt aus
(vgl. Mezirow 1978, zit. n. Singer-Brodowski 2016, S. 15).
Eine pädagogische Wiederentdeckung für transformatives Lernen,
das Individuum und Gesellscha miteinbezieht, stellt das ansonsten
eher aus politikwissenschalicher und gesellschastheoretischer Per-
spektive beachtete Werk von Antonio Gramsci dar (vgl. Merkens 2012,
auf dessen Reader zu Gramscis Bildungs- und Erziehungsentwurf sich
der hier mögliche Einblick weitgehend bezieht). In seinem – vom
italienischen Faschismus verhinderten – Projekt einer marxistischen
Überwindung der sozialen Ungerechtigkeiten, befasste sich Gramsci
Sprache und Bildung
54
in seinen Gefängnisheen (Gramsci 1991-2003 [1928-1937]) intensiv
mit Fragen der Bildung. Da die Arbeiterklasse seiner Erfahrung nach
von den herrschenden Bildungsinstitutionen vernachlässigt wird,
würden sich die sozialen Ungerechtigkeiten – wie Bourdieu später in
seinen Untersuchungen anschaulich bestätigte – ständig reproduzie-
ren (vgl. Gramsci 1987, S. 68f).
Auf einer praktischen Ebene skizziert Gramsci das Projekt einer
Einheitsschule, in der beide Aspekte von Bildung und Lernen das
nützliche Lernen und das jedem Zweck entzogene humanistische Ide-
al – in einer Schule für alle zusammengeführt werden sollten. Dieses
Modell stellt er der vom Faschismus vorgenommenen Zweiteilung des
Bildungswesens entgegen, wonach für die arbeitenden Schichten eine
Pluralität von Berufsschulen eingerichtet wurde. Was vom Faschismus
als Fortschritt und Dierenzierung von Bildungsmöglichkeiten ge-
priesen wurde, stellte für Gramsci eine Stabilisierung von Herrschas-
verhältnissen dar. Die Teilung des Schulsystems würde die arbeitende
Bevölkerung von der höheren Bildung des Gymnasiums praktisch
ausschließen (Gramsci (1991-2003) [1928-1937], S. 1528) und einer
rein beruichen Bildung zuführen, nicht aber die Verbindung zwi-
schen beruicher und intellektueller Bildung ermöglichen.
Auf einer gesellschas- und bildungstheoretischen Ebene sind
Gramscis Überlegungen deshalb interessant, weil er das bildungsbür-
gerliche Modell zwar als hegemoniales Herrschaskonstrukt kritisiert,
aber nicht verwir, sondern für die Arbeiterscha reklamiert. Das
Bürgertum habe die Herrscha gerade über seine Anstrengungen in
Bildung und Ökonomie erlangt, mit der es nicht nur den Anschluss an
die Aristokratie schaen konnte, um diese schließlich zu überwinden,
sondern sich eine eigene hegemoniale Stellung verschae. Die bür-
gerliche Gesellscha erwies sich gerade durch die Durchsetzung ihrer
ideellen und kulturellen Positionen mittels der Bildung als stark genug,
„die gesamte Gesellscha aufzusaugen“ und sie dem eigenen „kulturel-
len und ökonomischen Niveau“ anzugleichen (ebd., S. 943). Hegemo-
nie ist in diesem Sinne kein Schimpfwort, sondern „notwendigerweise
ein pädagogisches Verhältnis“ (ebd., S. 1335). Dementsprechend zie-
len Gramscis Bildungsüberlegungen darauf ab, nicht einseitig ökono-
mische Verhältnisse verändern zu wollen, sondern deren Veränderung
über Anstrengungen in der Reexion dieser ungerechten Verhältnisse
zu erwirken. Die Maxime „Alle Menschen sind Intellektuelle“ erfor-
dert für Gramsci, dass auch alle „die Funktion von Intellektuellen
Hans Karl Peterlini
55
(ebd., S. 1500) übernehmen. Dies ist für ihn zum einen dadurch mög-
lich, dass in jeder Arbeit, und sei sie noch so mechanisch, der kreative
und intellektuelle Anteil sichtbar gemacht werde, zum anderen aber
auch der Mensch nicht auf diese seine Arbeit reduziert werden dürfe,
da jede/r immer auch ein „,Philosoph‘, ein Künstler, ein Mensch mit
Geschmack“ sei (ebd., S. 1531) und in dieser Verantwortung ernstge-
nommen, aber auch gefordert und gefördert werden müsse.
In einem solchen Anspruch grenzt sich Gramsci dezidiert auch von
der Reformpädagogik ab, die – ganz besonders in der Person von Ma-
ria Montessori – vom Faschismus vereinnahmt wurde. Werde nämlich
darauf vertraut, dass im Kind schon alles angelegt ist und es nur eine
gute Lernumgebung braucht, damit sich diese Kräe voll entfalten,
bleiben nach Gramsci die Bedingtheiten durch Milieu und Herkun
unberücksichtigt. Kinder müssten durch gezieltes und disziplinieren-
des Erziehen hin zu vollwertigen Mitgliedern einer künigen Gemein-
scha gebildet werden, erst in höheren Klassen müsse Freiraum für
kreatives Lernen geschaen werden. Allerdings bestimmt Gramsci
„das Lehrer-Schüler-Verhältnis als aktives Verhältnis wechselseitiger
Beziehungen“ (ebd., S. 1335) und bricht pionierha mit einem einbah-
nigen Lehrverständnis. Die Önung der Schule zu „‚außerschulischen
Quellen“ des Wissens (ebd., S. 171) ist als Aktivierung und Nutzbar-
machung des weitgehend vergessenen Lernkontinuums (vgl. Chis-
holm 2008, Chisholm/Fennes 2008) zwischen formalen, nonformalen
und informellen Prozessen des Lernens eine Forderung Gramscis, die
weit über seine Zeit hinausweist.
Auf das Verhältnis von Bildung und Sprache zurückgedacht, kön-
nen transformative Ansätze eine Rehabilitierung des Bildes bedeuten,
das dem Lernen überhaupt erst Motivation und Macht verleiht. Das
Bild, das sich Lernende von sich und ihren Bedingungen machen, das
Bild, das sie von sich und ihren Bildungsaspirationen entwerfen, kann
dazu ermächtigen, sich auch die nötige Sprache dafür anzueignen. Das
Bild als Vorstellung, wer man ist und wer man sein könnte, stilisiert
zwangsläug auch den Habitus mit, mit dem Bildungsprozesse ange-
gangen und durchlaufen werden, um am Ende doch nicht mehr ge-
nau jene/r zu sein, die oder der man war, sondern die oder der man
aufgrund eines Entwurfes von sich selbst und der Welt werden kann.
Die Sprache ihrerseits dient, als Werkzeug des Denkens und Reek-
tierens, dazu, diese Bilder, in die Wahrnehmung zu bringen, mit der
eigenen Lebensrealität in Bezug zu setzen und auf Möglichkeiten und
Sprache und Bildung
56
Notwendigkeiten zu prüfen. Im Widerstreit von Imagination und Re-
alität“ (Meyer-Drawe/Witte 2007, S. 80) entsteht das Lernen zwischen
eigenem und fremdem Anspruch. Beides muss, um als Bildung wirk-
sam zu werden, im übertragenen und im wörtlichen Sinne zur Sprache
kommen.
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Sprache und Bildung
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Article
Transformative Bildung wird in den vergangenen Jahren zunehmend als neues Konzept innerhalb der Debatten um Globales Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung diskutiert. Die Idee einer transformativen Bildung, wie sie unter anderem vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) geprägt wurde, baut dabei zwar auf einem starken Transformationsverständnis auf, ist jedoch erziehungswissenschaftlich kaum theoretisch fundiert. Vor diesem Hintergrund werden in diesem Beitrag zunächst Perspektiven des transformativen Lernens aus der Erwachsenenbildung eingeführt. Sie fokussieren einerseits auf den Wandel individueller Bedeutungsperspektiven und andererseits auf kollektive Emanzipationsprozesse. Anschließend wird reflektiert, inwiefern diese Ansätze des transformativen Lernens das Konzept der transformativen Bildung um erziehungswissenschaftliche Perspektiven bereichern können. https://www.uni-bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/huwi_lehrstuehle/allgpaed/ZEP/Archiv/2016/2016-1/ZEP_2016_1_Abstracts.pdf
Article
Bibliogr. s. 267-291 a s. 324-331
Das Hidden Curriculum und die Produktion von Di erenz. Zur Aktualität eines Begri s und sein Beitrag zur Klärung von sozialer Ungleichheit
  • Michael Brandmayr
Brandmayr, Michael (2014): Das Hidden Curriculum und die Produktion von Di erenz. Zur Aktualität eines Begri s und sein Beitrag zur Klärung von sozialer Ungleichheit. In: Schulhe 154, 3: Bildung und Ungleichheit, hg. Von Michael Sertl und Ingolf Erler, S. 30-39.
Das erschöp e Selbst: Depression und Gesellscha in der Gegenwart. Mit einem Vorwort von Axel Honneth, aus dem Französischen von Manuela Lenzen
  • Alan Ehrenberg
Ehrenberg, Alan (2008): Das erschöp e Selbst: Depression und Gesellscha in der Gegenwart. Mit einem Vorwort von Axel Honneth, aus dem Französischen von Manuela Lenzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Wissen -Glauben -Bilden
  • Kristin Junga
Junga, Kristin (2011): Wissen -Glauben -Bilden. Ein bildungsphilosophischer Blick auf Kant, Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt. Paderborn: Ferdinand Schöningh.
Antonio Gramsci: Erziehung und Bildung -Studienausgabe. Gramsci Reader 1. 2. Au age. Hamburg: Argument mit Ariadne
  • Andreas Merkens
Merkens, Andreas (2012): Antonio Gramsci: Erziehung und Bildung -Studienausgabe. Gramsci Reader 1. 2. Au age. Hamburg: Argument mit Ariadne.
Die Macht des Bildes -eine bildungstheoretische Re exion
  • Käte Meyer-Drawe
Meyer-Drawe, Käte (2010): Die Macht des Bildes -eine bildungstheoretische Re exion. In: Zeitschri für Pädagogik 56/6, S. 806-818.
Ein Beitrag zur Bildungstheorie
  • Käte Meyer-Drawe
Meyer-Drawe, Käte (2012a): Empfänglichsein für die Welt. Ein Beitrag zur Bildungstheorie. In: Dörpinghaus, Andreas/ Nießeler, Andreas (Hg.): Dinge in der Welt der Bildung -Bildung in der Welt der Dinge. Würzburg: Könighausen & Neumann 2012, S. 13-28.