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Aus: Dozza, Liliana (a cura di): Io corpo Io racconto Io emozione. Educazione Terra Natura. Zeroseiup:
Bergamo 2018, S. 31-44
Über den Abgrund der Dichotomie
Pädagogische Dilemmata und Perspektiven für einen neuen Umgang mit Natur
und Erde
Dass im Verhältnis des Menschen zu Natur und Erde das Gefühl für die Verbundenheit
verloren gegangen ist, bedarf angesichts der ausreichend dokumentierten Zerstörung und
Ausdünnung von Tier- und Pflanzenwelt, der Vergiftung von Luft, Erde und Wasser keiner
besonderen Beweisführung (vgl. IPCC, 2013; WWF, 2016; Weizsäcker, Wijkman et al.,
2017). Wie diese alle Lebensbereiche erfassende Entwicklung trotz eines weitgehend
geteilten, allgemein zugänglichen, teilweise bis zum Überdruss täglich verbreiteten Wissen
eher noch enthemmter fortschreitet und auch politische Gegensteuerungen hilflos erscheinen
lässt, nimmt – zusammen mit allen Disziplinen – auch die Erziehungswissenschaft in die
Pflicht.
Bei der Auslotung der Möglichkeiten von Erziehungswissenschaft, zu einem neuen Umgang
mit Natur und Erde beizutragen, wäre die Versuchung groß, einem pädagogischen Impetus zu
folgen und die Grenzen zu übersehen, die der Erziehung und damit auch der Wissenschaft der
Erziehung gesetzt sind: durch die unbestimmbare Bildsamkeit eines jeden Menschen, durch
die Bedingtheiten der Erziehenden, Lehrenden und Bildendenden selbst sowie durch
gesellschaftliche und strukturelle Einwirkungen auf jedes Erziehungs- und
Bildungsgeschehen (vgl. Bernfeld, 1925/2000). Nüchtern stellen Hamburger, Seus und Wolter
(1981) fest, dass Pädagogik nicht Politik ersetzen kann. Erziehungs- und Bildungsprogramme
stoßen dort an ihre Grenzen, wo der Bemühung um „das Gute Leben“ (Vetter/Best, 2015, S.
110) politische, gesellschaftliche und ökonomische Weichenstellungen zuwiderlaufen. Dies
bedeutet im Umkehrschluss nun aber nicht, dass sich Pädagogik aus Ohnmacht ihrer
gesellschaftlichen und politischen Verantwortungen entziehen kann, da Politik – im weitesten
Sinne –auch nicht Pädagogik obsolet machen darf (vgl. Hamburger, 2010). Deren Aufgabe
liegt nach Benner darin, in einer hierarchisch nicht untergeordneten Auseinandersetzung die
Anforderungen der anderen konstitutiv menschlichen Praxen Politik, Ökonomie, Religion,
Ethik und Ästhetik in „pädagogisch legitime“ Einflüsse umzuwandeln (Benner, 2015).
In diesem Spannungsverhältnis stehen Praxis und Wissenschaft der Erziehung freilich in einer
schwierigen Position, und zwar nicht nur deshalb, weil die Balance zwischen den Praxen
kaum jenem nicht-hierarchischen Verhältnis entspricht, wie Benner es idealtypisch beschreibt.
Dem Einfluss auf menschliches Handeln stehen nicht nur für die Pädagogik, aber besonders
auch für diese Dilemmata im Wege, die einer Klärung bedürfen.
Das erste Dilemma ist eine epistemologische Unausweichlichkeit. Wir müssen die
Gegenstände objektivieren, mit denen wir uns auseinandersetzen, also sie uns zum Objekt
machen. Das heißt: Wir müssen eine Distanz zwischen uns und ihnen aufbauen oder eine
solche Distanz zumindest imaginieren, um als Menschen Gegenstände (im weitesten Sinne)
untersuchen und erörtern zu können, um über sie nachdenken zu können und um sie gestalten
zu können. Das trifft auch auf unser Verständnis von Natur, Erde, Mitwelt zu und damit auch
auf die Art und Weise, wie wir mit Natur und Erde umgehen.
Die Distanz, die wir brauchen um über Natur, Erde, Mitwelt nachzudenken, sie zu erforschen,
sie zu reflektieren, schafft zugleich die Möglichkeit, Natur und Erde als fremdgewordene, als
grundsätzlich von uns getrennte Gegebenheiten auszubeuten, als wären wir nicht auch Teil
der Natur, als wären wir nicht Gäste dieser Erde, die uns trägt und nährt und als würden wir,
Aus: Dozza, Liliana (a cura di): Io corpo Io racconto Io emozione. Educazione Terra Natura. Zeroseiup:
Bergamo 2018, S. 31-44
wenn wir Natur und Erde zugrunde richten, nicht mit ihnen vergehen, vermutlich vor ihnen –
verschwinden „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“, wie es Michel Foucault der
Vorstellung des menschlichen Subjekts im Schlusssatz von „Die Ordnung der Dinge“
prophezeit (Foucault, 1974, S. 462).
Die gedankliche Distanz zur Erde, zur Natur, zu uns selbst ist einerseits nötig, um unser
Verhältnis zur Erde, zur Natur, zu uns zu klären, und zugleich schafft es die Probleme, die wir
klären möchten, weil wir aus dieser Distanz heraus auf die Verflochtenheit von allem mit
allem vergessen – ein letztlich unauflösbares Paradoxon. Es ist kein Zufall, dass viele
Ursprungserzählungen genau davon erzählen. Wir finden in diesen nicht die Lösung, wohl
aber ist darin das Dilemma grundlegend benannt, wenn auch – wie es Mythen eigentümlich ist
– auf eine verklärende, schiefheilende Weise (vgl. Freud, 1921, S. 132). Nach Waldenfels
besteht die produktive Leistung des Mythos dessen ungeachtet darin, dass er „das Nichts
(wovon wir nichts wissen) in ein Etwas verwandelt“, das es zwar nicht ist, aber von dem wir
erzählen können. Die im europäischen und angloamerikanischen Raum wohl bekannteste
Ursprungserzählung ist jene von der Vertreibung aus dem Paradies. Diese Geschichte aus der
Bibel erzählt einerseits vom Beginn der menschlichen Existenz, zugleich ist sie eine Metapher
für die Geburt eines jeden Menschen in ihrer zugleich lebensstiftenden wie traumatisierenden
Tragweite (vgl. Rank, 1998). Adam und Eva waren vor der Vertreibung aus dem Paradies –
hinein in die menschliche Existenz, in das Leben, in die Welt – aufgehoben in göttlicher
Glückseligkeit, genährt, getragen, jeder Mühsal enthoben, mit der Natur in Frieden und
Einklang (Gen 2,1-2,25). Ähnlich dürfen wir uns jeden Menschen vor seiner Geburt
vorstellen, aufgehoben in dem, das wir später vielleicht – wie Freud es nannte – als
ozeanisches Gefühl (vgl. Freud, 1930, S. 1991) auf ewig vermissen werden: geborgen,
genährt, getragen, jeder Mühsal enthoben. Was für Adam und Eva im biblischen Mythos das
fraglose Eins-Sein mit Allem zerrissen hat, war der Griff nach dem Apfel vom Baum der
Erkenntnis. Im Hebräischen ist das Wort für Erkennen im Sinne von körperlicher Liebe und
Zeugung dasselbe wie für Verstehen und Begreifen (Peterlini 2015, S. 20). Der Sündenfall
vollzog sich schlicht als Zuwachs von Bewusstheit, jener kognitiven Revolution (vgl. Harari,
2014, S. 3-83), mit der sich Homo sapiens seiner bewusstwurde und darüber zur Fähigkeit der
Imagination gelangte (ebd., S. 28-37).
Eine Spur des damit notwendigerweise verbundenen Spaltungsvorgangs ist im deutschen
Wort Bewusstsein erhalten – die Vorsilbe „-be“ steht für Zweiheit. Bewusstheit entsteht durch
Entzweiung des reflektierenden Subjekts von sich selbst und damit auch von der Welt. Hegel
hat diese Not und Notwendigkeit der Spaltung in der unauflösbaren Dichotomie von Herr und
Knecht zu fassen versucht, wonach das Selbstbewusstsein „ein Anderes“ voraussetzen muss,
um die eigene Existenz zu begründen, dadurch aber auch zugleich „außer sich“ gerät (Hegel,
1986, S. 145-146). Im Griechischen, im Lateinischen, auch im Italienischen zeigt die
Etymologie von Bewusstsein eine andere Spur auf: Die Vorsilben syn- (synaísthēsis) und con-
(conscientia, consapevolezza) verweisen auf jene Verbindung, die das Bewusstsein – über die
Spaltung hinweg – zu uns selbst, zur Natur, zur Erde wiederherstellen kann, indem wir uns
erkennen.
Erkennen zu können, diese Gnade der Freiheit, ist verbunden mit dem Fluch der Vertreibung
aus der paradiesischen Welt ohne Fragen und ohne Sorgen. Mit der Geburt endet für jeden
einzelnen Menschen das Paradies des Aufgehobenseins. Dieses muss enden, weil wir sonst im
Mutterleib ersticken würden, die Geburt schenkt uns mit dem Leben und der Freiheit auch die
Mühsal der Existenz, des ex-sistere, des Draußen- oder Außer-Sich-Seins, damit auch der
Aus: Dozza, Liliana (a cura di): Io corpo Io racconto Io emozione. Educazione Terra Natura. Zeroseiup:
Bergamo 2018, S. 31-44
Pein und der Peinlichkeit, die dieses Wissen um uns selbst, das Sich-Erkennen auslöst: „Da
gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten
Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.“ (Gen 3,7) Dann versteckten sie sich
unter den Bäumen. (Gen 3,8)
In Platons Gastmahl wird die Geschichte des Menschwerdens von einer anderen Idee her
erzählt, nämlich der dichotomen Spaltung der Geschlechter. Die Kugelmenschen stellten eine
Dreiheit (männlich, weiblich und beides zusammen) dar, wobei ein jedes vier Beine und vier
Arme und zwei Gesichter hatte. In ihrem Übermut wurden sie, eine indirekte Parallele zu der
von der Schlange versprochenen Ermächtigung von Adam und Eva durch den verbotenen
Apfel, den Göttern zu mächtig, so dass Zeus sie entzweischnitt (Platon, 1979, S. 56). Auch in
diesem Mythos endet ein vollkommenes Dasein mit der Strafe der Spaltung, nun in die zwei
Hälften, die sich verzweifelt suchten, aber nur noch in die Erde zeugen konnten, bis Zeus ein
Erbarmen hatte und ihnen die Geschlechtsteile so umbaute, dass sie sich wenigstens damit
wiedervereinigen konnten. Und auch in diesem Mythos zeigt sich die Verflochtenheit des
Bewusstseinsaktes mit dem Zeugungsakt, wenn auch anders als in der biblischen Erzählung:
Die heterosexuelle Liebe würde fortan der Vereinigung und Zeugung im körperlichen Sinne
dienen, die homoerotische männliche Liebe dagegen der Zeugung des Schönen und Wahren,
ergo der Erkenntnis (ebd., S. 77).
In beiden Mythen beginnt die Geschichte des Menschen mit dem Verlust einer als natürlich
gedachten Einheit und Aufgehobenheit durch einen Akt der Trennung, mit dem auch das
Existieren und das Erkennenkönnen, das Bewusstsein beginnt. Dieser conditio humanae
müssen wir Rechnung tragen: Wir sind als Menschen Teil der Natur und ihr zugleich
entfremdet, wir sind als Menschen Gäste dieser Erde und durch unsere kognitive Distanz zu
ihr in eine Herrschaftsposition gelangt, aus der heraus wir sie zwar beherrschen können, aber
zugleich vergessen, dass wir von Natur und Erde gleichermaßen abhängig sind.
René Descartes hat diese Spaltung in unserem dualen Denken, zwischen res cogitans und res
extensa nicht erfunden, sondern nur auf wirkmächtige Weise neu beschrieben – die Spaltung
zwischen Natur und Vernunft, Körper und Geist, Körper und Seele. Eine feine
Unterscheidung dazu wird von der Leibphänomenologie angeboten, nämlich zwischen Körper
und Leib, auf Italienisch zwischen corpo oggetto und corpo soggetto oder corpo vissuto. Zum
Körper als Objekt können wir dieselbe Distanz aufbauen wie zur Natur, wir sprechen von
Körperteilen, der Körper lässt sich erforschen, kurieren, operieren, ästhetisieren, trainieren,
chemisch manipulieren (vgl. Böhme, 2003, S. 12). Der Leib als corpo soggetto (Körper als
Subjekt) entzieht sich einem solchen Zugriff (ebd.), wir haben ihn nicht im Sinne von
Besitzen, sondern wir sind Leib, wie es Merleau-Ponty (2004, S. 81) verdichtete.
In den beiden Vorstellungen spiegelt sich dasselbe Spannungsverhältnis wie zwischen dem
Verständnis von Natur-Erde-Mensch als Einheit und zwischen dem Verhältnis der
Naturbeherrschung durch Distanz. Diese ermöglicht es dem Menschen, die Erde zu nutzen
(und auszubeuten), die Tiere und Pflanzen zu nutzen (und auszubeuten), ebenso wie ein
Verständnis von Körper und Geist die (zumindest vermeintliche) Beherrschung des Körpers
durch den Geist erlaubt. Diese Begabung (und der Fluch), dass wir uns gedanklich von dem
distanzieren können, was wir tun und sind, steht an der Wurzel des kausalen Denkens und
dessen Errungenschaften in den technischen und realen Wissenschaften. So können wir –
nach Böhme – nur durch die Distanz zu unserem Körper diesen erforschen, als wäre er ein
fremder Gegenstand, womit wir aber zugleich auf unser Eins-Sein als Leib vergessen.
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Bergamo 2018, S. 31-44
Den Weg der Trennung, den Auszug aus dem Paradies des fraglosen Aufgehobenseins in der
Natur kann der Mensch nicht rückgängig machen. Es gelingt vielleicht in der mystischen
Versenkung oder spirituellen Suche, aber auch diese muss letztlich als bewusste Übung, als
aktiver Rückzug, als religiöse Rückbindung (religio) initiiert werden. Zwar ist der Leib der
Selbsterfahrung zugänglich (Böhme, 2003, S. 12), aber nicht ohne den Preis der Fremdheit, da
wir wiederum nur durch Distanzierung des Leibes gewahr werden können (ebd., S. 34).
Für die Pädagogik als Wissenschaft des Erziehens, Lehrens, Begleitens eröffnet sich eine
Möglichkeit darin, die Spaltung nicht zu überwinden versuchen, sondern sie zu thematisieren,
sie zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und Kritik zu machen. Was der Leib ist,
darauf gibt es letztlich keine Antwort, denn er entzieht sich uns, sobald wir ihn nicht als
Körper denken. Die Vorstellung vom Leib als beseeltem Körper (Waldenfels, 2000, S. 14)
ermöglicht es, jene andere Vorstellung vom Körper als Objekt bewusst zu machen. Der Leib
wird dadurch zum Medium der Kritik, zum Denkinstrument, um die Spaltung, die uns von uns
selbst, von der Natur, von der Erde trennt, zu reflektieren und sie uns auf diesem Umweg
wenigstens bewusst zu machen. Wenn es schon nicht möglich ist, die Spaltung zu
überwinden, so können wir an der Bewusstmachung der Spaltung, an deren kritischen
Reflexion kreative Denk-, Spiel- und Handlungsräume erschließen für ein Lernen an der
Spaltung und über die Spaltung.
Für eine dichotomiekritische Pädagogik wird der Leib damit zu einer wertvollen Denkfigur.
Dichotomien sind erfolgreich, weil sie Gegenstände erschließen helfen, Komplexität
reduzieren, Abläufe vereinfachen und rationalisieren, Kausalitätsannahmen ermöglichen,
Kategorisierungen erlauben und damit auch gesellschaftliche Ordnungen schaffen. Der Preis
für den Erfolg liegt in der Ausblendung der Ambivalenzen, der Uneindeutigkeiten und der
Verbindungen, die es trotz rationaler Spaltung zwischen den jeweils abgespaltenen Teilen
gibt. Das Problem ist die jeder Zweiteilung innewohnende Dynamik von Abwertung der einen
Hälfte zugunsten der anderen. Sobald wir in Dualismen denken, gehen wir von einer
eigentlichen, „richtigen“ Hälfte aus, von der die andere Hälfte nur die Abweichung ist. Damit
schaffen wir eine als natürlich begründete Herrschaftsposition, von der aus betrachtet die
andere abgespaltene Hälfte hierarchisch untergeordnet, minderwertig, letztlich verwerflich ist.
Mit der Provokation, „dass der Schwarze kein Mensch ist“, verweist Frantz Fanon (1980, S.
7) auf die Folgen dichotomer Konstrukte von Normalität, in dem Sinne, dass der „schwarze
Mensch“ zur Abweichung von der als weiß vorausgesetzten Norm für Mensch-Sein wird.
Dieselbe Dynamik findet sich in der Spaltung Geist-Körper, Vernunft-Trieb, Mann-Frau,
Inländer-Ausländer.
Die Trennschärfe dichotomer Abspaltungen macht es möglich, dass jede Verbindung
zwischen den beiden Hälften zum Verschwinden gebracht wird. Dann ist der schwarze
Mensch so anders als der weiße, dass er versklavt und bei Widerstand getötet werden kann,
dass ihm in der Bahn ein minderes Abteil zugewiesen wird, dass Ehen zwischen Weiß und
Schwarz verboten werden; dann ist die Frau so absolut anders als der Mann, dass ihr sexuelles
Begehren aberkannt werden kann, dass ihre Genitalien verstümmelt werden dürfen, dass ihr
Zugang zu Bildung und zu politischen Ämtern untersagt werden durfte und teilweise immer
noch darf, dass sie schlechter bezahlt werden darf; dann ist „der Jude“ so anders als der Arier,
dass er vernichtet werden kann; dann ist die Natur, dann sind Pflanzen und Tiere – obwohl im
genetischen Code teilweise nur minimal von uns abweichend – so anders als wir Menschen,
dass wir sie gedankenlos ausbeuten, zerstören, vergiften, auslöschen können.
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Die Konstruktion von Dichotomien ist, wie es in der griechischen Wortwurzel „δίχα/dícha“
und „τέμνειν témnein“ für entzweischneiden durchklingt, eine messerscharfe gedankliche
Operation, die das jeweils Abgespaltene so fremd machen kann, dass jede Verbindung
verneint wird und damit auch jedes Mitfühlen, jede Mitverantwortung unterbleibt. Dies erst
macht es erklärbar, dass politische Programme gebildeter, im demokratischen Denken
aufgewachsener und erzogener Menschen kühl argumentieren können, warum es besser ist,
Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken zu lassen als dass zuviele nach Europa kommen. Ebenso
wird es möglich, das Klimabündnis aufzukündigen oder zu sabotieren oder die Einfuhr von
Elefantentrophäen in die USA wieder zu erlauben und damit eine blindwütige und
rücksichtslose Großwildjagd gesellschaftlich neu zu legitimieren.
In der Thematisierung der Spaltung begibt sich Pädagogik auf das ureigene Feld des
Verbindenden, des Zwischen. Es ist der pädagogische Handlungs- und Möglichkeitsraum, wo
ansonsten die eine Hälfte gegen die andere abgewertet wird. Eine dichotomiekritische
Haltung zwingt zur Achtsamkeit dafür, welche Hälfte gedanklicher Teilungen jeweils gerade
zu Gunsten der anderen abgewertet wird. Wenn etwa schulisches Lehren Kinder auf ihr
Gehirn als kognitive Maschine reduziert, bringt eine leibphänomenologische Perspektive
nicht nur den Körper als vernachlässigte Hälfte, sondern das Kind als konkreten Menschen in
seiner Leiblichkeit in den Blick. Wenn Wissensstoff jeder Anschaulichkeit und Greifbarkeit
beraubt wird, kann ein leibphänomenologischer Blick dazu anregen, die Natur, die Erde, das
Leben stärker in den Unterricht einzubeziehen, um die Verbindungen herzustellen.
Hier lauert allerdings auch eine Falle: Allein die jeweils abgewertete Hälfte der dichotomen
Spaltung zu rehabilitieren, würde erneut in die Dichotomie-Falle führen und leicht zur
Abwertung der nun anderen Hälfte führen, etwa kognitives Lernen zu verpönen und nur noch
auf sinnliches Erfassen zu vertrauen. Es geht – salopp gesprochen – nicht darum, die Seite zu
wechseln, sondern das dichotome Spannungsfeld zu nutzen für eine Pädagogik der Erfahrung:
Wie erfahren wir uns als männliche und weibliche und zwischen den Geschlechtern stehende
Menschen, wie erfahren wir Geschlecht überhaupt? Wie erfahren wir uns als rational
denkende und intuitiv handelnde Menschen als Körper und Leib und Geist und Vernunft und
Seele? Wie erfahren wir uns als Menschen in Spannungsfeldern sozialer, gesellschaftlicher
Ungleichheit, welche Trennungen können wir aufspüren, welche Verbindungen erschließen,
ohne uns für die eine oder andere Seite entscheiden zu müssen, im Sinne einer in der Balance
gehaltenen Dialektik ohne Synthese (vgl. Meyer-Drawe, 2000, S. 63-73), auch im Sinne des
Aushaltens von Ambiguität und Ambivalenz, wonach die Dinge nie eindeutig, sondern
mehrdeutig, nie getrennt voneinander, sondern ineinander verwoben und verflochten sind.
Auf die Frage des Verhältnisses von Mensch und Welt bezogen: Wie erfahren wir Natur, wie
erfahren wir Tiere, wie erfahren wir die Erde, die uns trägt, wie erfahren wir den Asphalt, der
uns von ihr trennt und zugleich mit ihr verbindet, wie erfahren wir das Atmen der Luft in
Städten und auf dem Berg, wie erfahren wir die Sonne, wie erfahren wir den Regen, wie
erfahren wir das Graben mit den Händen in der Erde, wie erfahren wir das Melken einer Kuh
im Stall, das Reiten eines Pferdes, wie erfahren wir Hitze, wie erfahren wir Kälte, wie
erfahren wir Wasser, wie erfahren wir den Abschaum in einer Kläranlage? Wissen ist wichtig,
aber damit daran ein Lernen möglich wird, das Veränderung bewirkt oder zumindest
ermöglicht, bedarf es dieser Ebene der Erfahrung.
Dies führt nun zu einem weiteren Dilemma, das spezifisch pädagogisch ist. Erfahrung lässt
sich weder pädagogisch noch didaktisch anleiten oder gar erzwingen. Wissen kann vermittelt
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werden, seine Aufnahme und Verarbeitung abgeprüft werden. Ob aber Kinder, Jugendliche,
Erwachsene durch dieses Wissen und über dieses Wissen hinaus, Lernerfahrungen machen,
die sie bewusster mit sich, mit den Mitmenschen, mit der Natur, mit der Erde umgehen lassen,
lässt sich weder anleiten noch messen. Erfahrungen haftet ein pathisches Moment an, sie
widerfahren, damit können sie auch nicht in Lehrplänen, Unterrichtsvorbereitungen,
Bildungsangeboten vorgesehen werden. Luhmann und Schorr (1982) haben dies in der
Sprache der Systemtheorie als „Technologiedefizit“ beschrieben, die Phänomenologie drückt
es freundlicher, aber nicht minder ernüchternd für jeden pädagogischen Machbarkeitsglauben
aus: „Beim Lehren ‚legen wir das Gelingen des eigenen Tuns in fremde Hand‘“ (Waldenfels,
2009, S. 32). Es ist schlicht nicht bestimmbar, was ein Kind, ein/e Jugendliche/r, ein
erwachsener, ein älter werdender Mensch lernt, wenn Bildung, Erziehung, Lernstoff
angeboten wird. Was Schule, Erziehung, Bildungsangebote über die Lebensspanne leisten
können, ist lediglich – und es ist nicht wenig – Lernräume für Erfahrungen zu schaffen und an
den dort erhobenen, besprochenen, wahrgenommenen möglichen Lernerfahrungen die
Spaltungen zu thematisieren, die sich zwischen Menschen und ihrer Lebenswelt, ihrer
Umwelt, ihrer Natur, den Tieren, den Pflanzen, den Mitmenschen auftun. Nach Dewey
(1916/1993, S. 194-206) lernen Menschen zwar durch Erfahrung, aber dieses Lernen wird
nicht fruchtbar, wenn nicht von der gemachten Erfahrung auf das Problem zurückgedacht
wird, das am Anfang der Erfahrung war und die Erfahrung erfordert und ermöglicht hat. Es ist
also wichtig, nicht nur Erfahrungen zu ermöglichen, sondern sie auch in die Wahrnehmung zu
heben und – erneut – reflexiv darauf zurückzukehren.
Ein nächstes Dilemma: Erfahrungen könnten nicht nur nicht angeleitet und in ihrem Vollzug
und Verlauf bestimmt werden, sie lassen sich – anders als Verhalten – auch nicht beobachten.
Damit blieben wir Menschen in unseren Erfahrungen letztlich blind für einander. Für Laing
(1995) stellt sich damit die existenzielle Notwendigkeit einer Anstrengung, die Erfahrungen
anderer zu verstehen: „Ich kann nicht anders – ich muss versuchen, deine Erfahrung zu
verstehen. Denn wenn ich deine Erfahrung nicht erfahre, da sie unsichtbar (un-kostbar,
unfaßbar, unriechbar, unhörbar) für mich ist, so erfahre ich dich doch als Erfahrenden“ (ebd.,
S. 12). Aus diesem Dilemma heraus versucht die Innsbrucker und Brixener
Vignettenforschung (Schratz, Schwarz, Westfall-Greiter, 2012, Peterlini 2015, Agostini 2016,
Baur, Peterlini 2016) mittels einer leibphänomenologisch orientierten Forschungsmethode
Lernprozesse mitzuerfahren. Die Forscher/innen im Feld achten in einer für Affizierung
offenen Haltung, was sich ihnen in Lernsituationen, in schulischem Geschehen, in sozialen
Interaktionen zeigt und ihnen phänomenologisch zugänglich wird. Beispiel einer (leicht
gekürzten) Vignette aus dem Forschungsprojekt „Personale Bildungsprozesse in heterogenen
Gruppen“ (vgl. Baur, Peterlini 2016, S. 9-14):
Giselle, Gudrun und Gitti arbeiten in der Freiarbeit an einem Arbeitsblatt zum Thema
„Hund”. Dazu benutzen sie auch ein Buch über Haustiere. Giselle erzählt strahlend, dass sie
selbst einen Hund hat. Sie ist die Kleinste in der Gruppe und hält das Buch über die Haustiere
ständig bei sich. Wenn sie es nicht verwendet, legt sie die Hand drauf oder drückt es
spielerisch an ihren Bauch, ansonsten blättert sie darin, so auch bei der Frage, was wichtig
ist, wenn man einen Hund hat. Gudrun schlägt derweil schon vor: „Jeden Tag bürsten.“
Giselle blättert im Buch, findet offenbar etwas und liest es laut den anderen zwei vor:
„regelmäßige Pflege“. […] Dann liest sie weitere Stichworte vor: „Waschen“, „Kämmen“.
Gudrun ergänzt wieder von sich aus: „Nägelschneiden!“ Gitti kommentiert: „Logisch, wusste
ich auch“. Gudrun antwortet Gitti leicht trotzig, indem sie zu Giselle deutet: „Ich hab‘s zu ihr
Aus: Dozza, Liliana (a cura di): Io corpo Io racconto Io emozione. Educazione Terra Natura. Zeroseiup:
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gesagt.“ Giselle liest weiter aus dem Buch: „Hustet nicht“. Die drei schauen sich an. Giselle
wiederholt: „Der Hund hustet nicht.“ Sie nicken sich zu und beginnen schon, unter
„Merkmale“ zu schreiben: „Der Hund ...“ Da es mich verblüfft, frage ich die drei:
„Interessant, warum ist das wohl so?“ Gitti zuckt mit den Schultern: „Er hat Lungen.“ Ich
antworte: „Das haben wir Menschen auch, wir husten aber. Da müsste man überlegen,
warum Hunde nicht husten.“. Giselle klopft auf ihr Buch, zeigt auf die Stelle, wo sie die
Information gefunden hat: „Hier steht: hustet nicht!“ Sie liest nun laut vor: „Atmung ...
hustet nicht ... hier steht‘s!“, wiederholt sie und schiebt es mir zu, ich schaue die Stelle an,
bemerke das Missverständnis und gebe Giselle das Buch mit der Frage zurück: „Und was
steht darüber?“ Nun liest Giselle laut: „Gesundheitsmerkmale...“, stutzt und lacht: „Ach...,
wenn er gesund ist, hustet er nicht!“ Jetzt lachen auch die anderen beiden. Giselle legt das
Buch hin und beginnt zu schreiben. (BG1_05, vgl. Peterlini, 2015, S. 56)
Vignetten können vielperspektivisch gelesen werden, in der Deutung geht es nicht um
Engführung hin zu Rekonstruktion der Wirklichkeit hinter dem Beschriebenen, sondern um
eine Ausfaltung der Verstehensmöglichkeiten dessen, was sich in der Vignette zeigt. Was lässt
sich aus dieser Vignette lernen? Die Gruppenarbeit hat lustvoll begonnen, das Thema Hund hat
einen lebensweltlichen Bezug, Giselle hat einen Hund daheim. Umso interessanter ist, dass
dieses lebensweltliche Wissen kaum zur Sprache kommt, wohl aber das Buch, das Giselle an
sich zieht und nicht mehr auslässt, ja sie drückt es sogar an den Bauch. Gibt es ihr Sicherheit?
Es gibt einen Moment der Verstimmung in der Gruppenarbeit, aber dies weicht einer
Verblüffung, als es darum geht, dass der Hund nicht hustet. Das verwundert sie, aber: sie
glauben dem Buch. Auch die Frage des Forschers, der sich selber wundert, erschüttert das für
gesichert gehaltene Wissen des Buches nicht, Giselle „klopft auf ihr Buch“. Diese Symbolgeste
sagt: Wenn es da drinnen steht, dann muss es so sein. Zum Beweis schiebt sie das Buch dem
Forschenden zu, er soll sich doch selber überzeugen. Als sich das Missverständnis aufklärt,
lachen alle. Dieses Lachen verweist darauf, dass Giselle in ihrem Beharren auf das Buch nicht
erschüttert ist, denn ihre Quelle wurde ja nicht widerlegt, sie hatte sie nur falsch verstanden.
Mit einem etwas überspitzten Vergleich könnte Giselle eine Bibelexegetin sein, die auf die
Wahrheit eines Satzes besteht, der schwarz auf weiß dasteht und deshalb auch von niemandem
angezweifelt wird, so schräg, so unlogisch er klingt; dann wird auf einem Pergament eine
verblichene darüberstehende Zeile neu entdeckt, die den Satz in sein Gegenteil verkehrt.
Niemand muss beschämt sein, das Buch hatte nur nicht alles zugleich preisgegeben, es hat aber
seine Gültigkeit bewahrt, das Wissen im Buch steht über dem lebensweltlichen Wissen, über
dem Erfahrungswissen. Wenn dort steht, dass der Hund nicht hustet, dann hustet er nicht. (vgl.
ebd., S. 57-58)
Wer kennt nicht die Schulbücher und die Arbeitsblätter zur Vorbereitung auf Prüfungen, in
denen Flechten nach Kategorien unterschieden werden, ohne dass die Kinder im Wald waren
und eine Flechte berührt haben – oder Arbeitsblätter über Elektroenergie, ohne dass Kinder
einen Stromstoß erfahren haben oder im E-Werk die Gewalt des Wassers erleben konnten.
Damit soll nicht einer einfachen Erlebnispädagogik das Wort geredet werden, da diese die
Erfahrungen nicht bestimmen kann, die Lernende machen. Wohl aber könnte eine auf
Leiblichkeit achtende, erfahrungsorientierte Pädagogik Möglichkeiten schaffen, dass
Lernstoff gleichermaßen erfahren wie reflexiv erschlossen werden kann, im Sinne eines Kairos,
eines Aha-Momentes. Dazu eine weitere Vignette aus dem genannten Projekt, in der eine solche
Erfahrung – vielleicht – gemacht wurde.
Aus: Dozza, Liliana (a cura di): Io corpo Io racconto Io emozione. Educazione Terra Natura. Zeroseiup:
Bergamo 2018, S. 31-44
Die Kinder setzen sich im Halbkreis auf das Sofa in der Tierecke, wo seit einiger Zeit Tiere in
Käfigen und Vitrinen gehalten werden, mehrere Insektenarten, ein Meerschweinchen,
Stabschnecken und Fauchschaben. Frau Jennerwein, die sich vor die Kinder stellt, zeigt ihnen
ein totes Insekt. Die meisten Kinder zappeln mit den Füßen und beugen sich nach vorne,
Jakob drückt sich ganz nach hinten ins Sofa und schaut unbewegt Frau Jennerwein an. Als
Frau Jennerwein fragt, „wer der Chef für die Achatschnecken sein will, die wir neu
bekommen haben“, reißen die Kinder nacheinander den Arm hoch, Jakob bleibt regungslos.
„Jan, dann schaust du drauf“, entscheidet Frau Jennerwein, „du musst schauen, dass sie
genug Feuchtigkeit haben, genug Futter und dass alles sauber ist.“ Jan nickt. Nun dürfen die
Fauchschaben zirkulieren, Frau Jennerwein erklärt dazu, dass die Tiere fauchen, wenn sie
sich gestört fühlen. Julia lässt die Schabe in den Ärmel ihres engen Pullis krabbeln, die Buben
neben ihr krümmen sich vor Lachen, nur mit Mühe kann Julia das Tier wieder aus dem Ärmel
herauskriegen. In ernstem Ton beendet Frau Jennerwein das Gelächter: „Ich möchte, dass
ihr die Angst verliert, aber den Respekt behaltet, wer Angst hat, das ist kein Problem.“ Julia
gibt die Fauchschabe mit hochrotem Kopf weiter und hält sich die Hand vor den Mund, um
das Lachen zu unterdrücken. Während das Tier von Hand zu Hand gegeben wird und ab und
zu unter dem Gelächter der Klasse zischt und faucht, erklärt Frau Jennerwein, wie sich die
Fauchschaben vermehren. Als nächstes darf eine Rotbauchunke zirkulieren, Frau Jennerwein
kündigt das Tier als „Hautatmer, feucht, schlutzig [glitschig], logisch, das kann schon ein
bisschen...“ an. Angeekelt und wieder prustend reichen die Kinder sich das Tierchen schnell
weiter, Julia greift danach, aber die Unke hüpft an ihr vorbei zu Jasmin, die es mit „Ätsch“-
Ruf weitergibt zu Jakob. Dieser öffnet die Hand und schaut die Unke ruhig an, kaum
wahrnehmbar lächelt er und sagt: „Das ist fein.“ (BJ1_11, vgl. ebd., S. 65)
Ob Georg wirklich eine Erfahrung macht, die zu einem Lernen führt, wie tief die Erfahrung
geht, was sie für ihn bedeuten kann, erschließt sich nur über die in der Vignette verdichtete
Miterfahrung des Forschenden, im Unterricht blieb die Reflexion des Geschehenen und
Erfahrenen aus. Das Miterfahren von Erfahrung bedarf des Mediums der Erzählung, mittels
derer Erfahrungen geteilt werden können. Die Erzählung ist das Medium des Zwischen „als Ort
und Träger zwischenmenschlichen Geschehens“ (Buber, 2001, S. 405), in dem sich auch
jegliches pädagogische Handeln bewegt. Im Zwischen ist die Dichotomie zwischen Georg und
einem Tier, das Ekel verursacht, vorübergehend aufgehoben, im Zwischen wird das Fühlen des
Anderen und das Fühlen von sich selbst („das ist fein“) als Voraussetzung für das Mitfühlen
möglich. Die Vignette erzählt davon in der Lektüre wird – auf der Ebene des wissenschaftlichen
Diskurses und des Austausches mit Lehrenden – das Geschehen auf mögliche Kontexte von
Lehren und Lernen, von Interaktion zwischen Mensch und Welt, in diesem Falle Mensch und
Tier noch einmal reflektiert.
Ein berührendes Dokument des Mitfühlens mit einem Tier trotz eigenem Leid ist im
Briefwechsel von Rosa Luxemburg dokumentiert. Sie schrieb am Weihnachtstag 1917 der
Schwester des ebenfalls einsitzenden Mitstreiters Karl Liebknecht einen Brief aus dem
Gefängnis, in dem sie als Staatsfeindin interniert war. Luxemburg schildert darin, wie sie von
Schmerz und Mitgefühl überwältigt wurde, als ein Soldat im Gefängnishof einen
ausgemergelten Büffel blutig schlug, bis diesem die Haut riss: „Ich stand davor, und das Tier
blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter – es waren seine Tränen“ (Luxemburg, 2006,
S. 76). Für Karl Kraus war dieses Dokument des Mitfühlens mit dem Leid eines Tieres, das
stellvertretend für den geschundenen Menschen steht, so bewegend und so lehrreich für eine
Aus: Dozza, Liliana (a cura di): Io corpo Io racconto Io emozione. Educazione Terra Natura. Zeroseiup:
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Gesellschaft der Verrohung, dass er die Aufnahme in den schulischen Unterrichtsstoff forderte
(Kraus, 1920, S. 5-9; Kraus, Luxemburg 2009).
Bemerkenswert daran ist, dass Kraus damit über ein weiteres Dilemma pädagogischen Denkens
und Handelns hinaus verweist, das in der normativen Setzung erzieherischer Absichten besteht.
Wie können Pädagoginnen und Pädagogen, die in den Paradigmata und Denkmustern ihrer Zeit
gefangen sind, sich anmaßen, zum Guten erziehen zu wollen, selbst wenn dieses Gute darin
besteht, Frieden mit der Natur und den Menschen zu schließen (vgl. Langer, 1992). Zum Guten,
zur Demokratie, zum Frieden zu erziehen, ist behaftet mit dem normativen Anspruch zu wissen,
was gut ist, was andere denken sollen, wie sie zu leben haben, wobei das Problem nicht nur in
der Zielsetzung besteht, sondern auch in den notwendigen Folgen, die eine pädagogische
Zielverwirklichung impliziert. So kritisiert die antipädagogische Bewegung, dass jedes
Erziehen auf ein noch so gutes Ziel hin „Widerspruch in sich [ist], weil die Absicht bereits ein
hierarchisches Weltbild voraussetzt, ein Menschenbild, welches das Kind als ‚unfertiges‘ und
als manipulierbares Wesen ohne eigenen berechtigten Willen ansieht“ (Sinhart-Pallin,
Stahlmann, 2000, S. 10).
Was Kinder, was Jugendliche denken sollen, lässt sich tatsächlich nur manipulativ
mitbestimmen. Der Spagat zwischen einem – implizit ohnehin immer gegebenen –
pädagogischem Ziel und der Notwendigkeit einer Abstinenz von – auch nur subtiler – Nötigung
durch Erziehung lässt sich nur lösen, wenn die pädagogische Arbeit darin besteht, Erfahrungen
zu ermöglichen und deren Reflexion zu begleiten, um Menschen auf diese Weise wieder mit
sich und ihrem Handeln in Verbindung zu bringen. Pädagogik kann dazu einladen, das
Zwischen zu betreten, sich in Beziehung zu setzen zur Erde, zur Natur, zu Tieren und Pflanzen,
zu den Anderen und Fremden, denn nur dort, in diesem Zwischen wird das Fühlen und
Mitfühlen wieder möglich. So kann Empathie als vielleicht einziges vertretbares Ziel von
pädagogischem Handeln verstanden werden, das Fördern, das Wecken von Empathie, das
Ermöglichen, das Zulassen von Empathie, die Einladung dazu, das Zwischen hin zur je anderen
abgespaltenen dichotomen Hälfte zu betreten. Was dieses Fühlen und Mitfühlen dann bewirkt,
entzieht sich dem pädagogischen Zugriff. Schwerlich lässt es sich aber vorstellen, dass Fühlen
und Mitfühlen, Hineinfühlen in das Andere, Fremde hinein über den Abgrund der Spaltung
hinweg, je negative Folgen haben können – „Leidenschaft begeht keine Sünde, nur die Kälte“
(Hebbe,l 1903/2017, S. 31).
Ob Leidenschaft tatsächlich keine Sünde begehen kann, ist eine Frage der Definition von
Leidenschaft – Hebbels Tagebucheintrag war gemünzt gegen Moralvorstellungen seiner Zeit,
die zu Sünde machte, was nach Leben strebte. In der Kälte aber erkannte Adorno eine der
tiefsten Ursachen für Auschwitz, für die Barbarei, die für Adorno mit dem Nationalsozialismus
nicht vorbei war, sondern weiterhin drohte (Adorno, 1970, S. 92, 106f). Hat der Weg
menschlicher Subjektwerdung nach Adorno und Horkheimer (1969, S. 40) dazu geführt, dass
der Mensch die Natur als das Andere fremd gemacht und unterworfen hat, inklusive seiner
eigenen Triebe, Gefühle, Ängste, Sehnsüchte, sehen sie den einzigen Ausweg in einem
„Eingedenken der Natur im Subjekt“ (ebd., S. 58) als bewussten Akt rationaler und emotionaler
Wiederaneignung emotionaler Wiederentdeckung. Was die Destruktion von all dem, was wir
abspalten und uns fremd machen, für die Zukunft verhindern kann, ist nur das aktive
Hineindenken und Hineinfühlen in das Zwischen als Verbindung zum Anderen, zum Fremden,
zur Natur, um uns über die Trennung hinweg auch zugehörig mit ihnen zu erkennen. Die
Thematisierung und Kritik von Dichotomien ist, als Betreten des Zwischen, jene Aufgabe, in
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der Pädagogik ihren Dilemmata entkommt und Brücken über die Spaltung hinweg bauen kann.
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