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It’s More Fun To Compute? Karl Bartos zur Dialektik von Digitalisierung und Kreativität am Beispiel der Band „Kraftwerk“

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Abstract

Die Düsseldorfer Band Kraftwerk gilt als Pionier der populären elektronischen Musik. Sie hat das erste voll digitalisierte Album produziert und hatte insbesondere in den 70er und 80er Jahren eine Reihe von Hits, die für die Popkultur und besonders für die elektronische Musik, für Rap, Techno und Elektropop stil- und genreprägend waren. Karl Bartos gehörte bis zu seinem Ausscheiden 1990 zum klassischen Line-Up der Band. Er beschreibt in seiner 2017 erschienenen Autobiographie seine Erfahrungen bei Kraftwerk als Musiker und elektronischer Schlagzeuger (vgl. Bartos 2017). Dieses Werk wirft nicht nur sehr interessante Perspektiven auf die Geschichte von Kraftwerk, einer Band, die sich bewusst jeglichem Showrummel und Rockgebaren entzieht und mit ihrem Roboter-Image einen transhumanen Stil pflegt. Bartos eröffnet in seinem Werk darüber hinaus eine Perspektive auf gemeinschaftliches, kreatives und lustvolles Improvisieren, Komponieren und Lernen unter Bedingungen zunehmend digitalisierter Abläufe und Prozesse. Meine Lektüre konzentriert sich im Folgenden auf die Schnittstellen von kulturell-kreativem Schaffen und Digitalisierung. Ich behaupte, dass sowohl Kreative und Künstler bzw. Künstlerinnen als auch Pädagogen bzw. Pädagoginnen von Karl Bartos’ Lebenserfahrung lernen können. Bartos’ These lautet: Die Band Kraftwerk ist ca. ab 1981 – zu dem Zeitpunkt, an dem die serielle Technik des Samplings und ein voll digitalisiertes Studio den Produktionsprozess beherrschen – nicht mehr kreativ: Digitalisierung als Sequenzialisierung der Abläufe und die damit einhergehende Kybernetisierung von Prozessen wirken sich negativ auf die auf Improvisation und Montage basierende Kreativität der Band aus. Sie kann deshalb nicht mehr an die alten innovativen Phasen und Erfolge anknüpfen und wird zunehmend zur rückwärtsgewandten Verwalterin ihres eigenen Erbes, das sie nunmehr in immer neuen Kompilationen und Remixes vermarktet und damit sich selbst musealisiert. Digitalisierung und Kreativität stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, das mit Karl Bartos aus dem Verborgenen gehoben und für pädagogische Reflexionen und Programme fruchtbar gemacht werden kann.
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It’s More Fun To Compute? Karl Bartos zur Dialektik von Digitalisierung und Kreativität am
Beispiel der Band „Kraftwerk“.
Malte Brinkmann
erscheint in: Clemens Bach (Hg.) (2018): Pädagogik im Verborgenen Bildung und Erziehung in der
ästhetischen Gegenwart, Wiesbaden: Springer VS.
Einleitung
Die Düsseldorfer Band Kraftwerk gilt als Pionier der populären elektronischen Musik. Sie hat
das erste voll digitalisierte Album produziert und hatte insbesondere in den 70er und 80er
Jahren eine Reihe von Hits, die für die Popkultur und besonders für die elektronische Musik,
für Rap, Techno und Elektropop stil- und genreprägend waren. Karl Bartos gehörte bis zu
seinem Ausscheiden 1990 zum klassischen Line-Up der Band. Er beschreibt in seiner 2017
erschienenen Autobiographie seine Erfahrungen bei Kraftwerk als Musiker und elektronischer
Schlagzeuger (vgl. Bartos 2017). Dieses Werk wirft nicht nur sehr interessante Perspektiven
auf die Geschichte von Kraftwerk, einer Band, die sich bewusst jeglichem Showrummel und
Rockgebaren entzieht und mit ihrem Roboter-Image einen transhumanen Stil pflegt. Bartos
eröffnet in seinem Werk darüber hinaus eine Perspektive auf gemeinschaftliches, kreatives
und lustvolles Improvisieren, Komponieren und Lernen unter Bedingungen zunehmend
digitalisierter Abläufe und Prozesse.
In seinem Lebensbericht wird zum einen die pädagogische Perspektive auf Lernen und
Unterrichten im Bereich ästhetischer und kultureller Bildung herausgestellt: Karl Bartos ist
ausgebildeter Schlagzeuger mit Konzertexamen und hat eine langjährige Praxis als
Instrumentallehrer vorzuweisen. Diese Aspekte werden ausführlich und ohne jedes, im
künstlerischen Betrieb oftmals nur im Verborgenen oder gar mit Verachtung formulierten,
Ressentiment vorgetragen und ausgeführt. Verborgen ist in dieser Autobiographie nicht das
Pädagogische, sondern vielmehr das spannungsreiche Verhältnis von Digitalisierung und
künstlerischer Kreativität sowie dessen Relevanz für die Pädagogik bzw. für eine Theorie der
kulturellen Bildung unter Bedingungen von Digitalisierung. Meine Lektüre konzentriert sich im
Folgenden auf die Schnittstellen von kulturell-kreativem Schaffen und Digitalisierung. Ich
behaupte, dass sowohl Kreative und Künstler bzw. Künstlerinnen als auch Pädagogen bzw.
Pädagoginnen von Karl BartosLebenserfahrung lernen können. BartosThese lautet: Die Band
Kraftwerk ist ca. ab 1981zu dem Zeitpunkt, an dem die serielle Technik des Samplings und
ein voll digitalisiertes Studio den Produktionsprozess beherrschennicht mehr kreativ (vgl.
Bartos 2017, S. 419, 447): Digitalisierung als Sequenzialisierung der Abläufe und die damit
einhergehende Kybernetisierung von Prozessen wirken sich negativ auf die auf Improvisation
und Montage basierende Kreativität der Band aus. Sie kann deshalb nicht mehr an die alten
innovativen Phasen und Erfolge anknüpfen und wird zunehmend zur rückwärtsgewandten
Verwalterin ihres eigenen Erbes, das sie nunmehr in immer neuen Kompilationen und Remixes
vermarktet (vgl. Reynolds 2014) und damit sich selbst musealisiert (vgl. Diedrichsen 2012).
2
Digitalisierung und Kreativität stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, das mit Karl
Bartos aus dem Verborgenen gehoben und für pädagogische Reflexionen und Programme
fruchtbar gemacht werden kann.
Ich werde im Folgenden zunächst einen kurzen Überblick zum erziehungswissenschaftlichen
Diskurs zur Digitalisierung und zur kulturellen Bildung bzw. ästhetischen Kreativität geben. In
einem zweiten Teil werde ich entlang der Autobiographie Karl Bartosdas kreative Schaffen
der Band Kraftwerk in drei Perspektiven beschreiben: Zunächst a) aus der Perspektive der
nnerschaft und der Kompetenz, dann b) aus der Perspektive der leiblichen Erfahrung im
Komponieren und Improvisieren elektronischer Musik und schließlich c) aus der Perspektive
der Sozialität kreativer Schaffensprozesse der Band und ihrer Mitglieder. Bartos schildert die
sozialen Bedingungen für kreatives Schaffen einer Band als Antwortprozess, in dem Einfälle
aufgegriffen, gewendet, arrangiert und collagiert werden. Abschließend werde ich drittens
mögliche Folgen für die Digitalisierung von kreativen Prozessen kritisch aufweisen und für
pädagogische Fragestellungen fruchtbar machen.1
1. Leerstellen: Kreativität und Digitalisierung
In der lebensweltlichen Praxis von Kindern und Jugendlichen finden fast auf jedem
Smartphone, Tablet bzw. jedem Laptop Musik-Programme wie Magix Music Maker, Garage
Band oder „Logic Pro“2 immer größere Verbreitung. Musik kann so mit einfachen Mitteln
selbst gesampelt, gemixt und „gemacht“ werden. Digitalisierung scheint damit einen neuen
Zugang zur musikalischen Kreativität und vielleicht sogar zur ästhetischen Bildung jenseits
kulturnormativer Pfade aufzuzeigen. Sowohl die bildungspolitischen Programme als auch die
erziehungswissenschaftliche Reflexion schenken dem Verhältnis von ästhetisch-kultureller
Bildung bzw. Kreativität und Digitalisierung wenig Aufmerksamkeit. Auch fehlen theoretische
und empirische Untersuchungen dazu.
Nicht nur die Kultusministerkonferenz hat eine neue Strategie Bildung in der digitalen Welt“
(KMK 2016) –, sondern auch der Aktionsrat Bildung (VBW 2018) hat soeben „digitale
Souveränität als übergeordnetes Ziel digitaler Bildung“ ausgerufen. Im
erziehungswissenschaftlichen Diskurs zur Digitalisierung schwanken die Positionen zwischen
den Polen entschiedener Ablehnung (vgl. Lankau 2018, Spitzer 2016) und Euphorie (vgl. Süss
2017). Die medienpädagogische Reflexion greift die technische Transformation aktuell nur in
sehr begrenztem Umfang auf. Sie beschränkt sich nach wie vor auf Fragen des
Kompetenzerwerbs im Sinne einer Medienerziehung und Mediengestaltung (vgl. Anders
2018; vgl. auch Potter 2011 und Groeben 2002).
Im Diskurs zur kulturellen bzw. ästhetischen Bildung wird Digitalisierung vornehmlich im Sinne
einer gesellschaftlichen und ökonomischen Flexibilisierung kreativer Selbstunternehmer
1 Die Lektüre der Autobiographie wäre auch unter der Perspektive von Bildung und Bildungserfahrungen sehr
lohnenswert. Karl Bartos stammt aus einem bildungsfernen Milieu, aus dem er sich über einige biographische
Krisenerfahrungen in die Künstlerszene der Düsseldorfer Akademie und dann in die Avantgarde der
elektronischen Musik emporgearbeitet und -geübt hat. Dieser beeindruckende Lebensverlauf soll im Folgenden
nicht weiter ausgeführt werden, könnte aber im Sinne von „Grenzgängen“ durchaus interessant sein (vgl. Koller
und Rieger-Ladich 2005).
2 Apple (https://www.apple.com/de/logic-pro/) wirbt mit dem Slogan: „Logic Pro X - Mehr Power in der
Produktion. Mehr Kreativität in deiner Musik“.
3
diskutiert (vgl. UNESCO 2006). Es besteht also ein Reflexionsdefizit hinsichtlich des
Verhältnisses von Digitalisierung und Kreativität bzw. ästhetischer Bildung in den
Erziehungswissenschaften, in der Medienpädagogik und im Bereich der kulturellen Bildung
(vgl. Jörissen 2016).
Digitalisierung lässt sich als ein historisches und gesellschaftliches Transformationsgeschehen
beschreiben, das auf Prozessen der Zählbarkeit, Verrechenbarkeit (vgl. Jörissen 2016) und der
Kybernetisierung (vgl. Karcher 2015) beruht. Es geht also nicht nur um Software und
Hardware. Digitalisierung betrifft auch „die (sozial geteilten) Vorstellungen darüber, was es zu
berechnen und zu formalisieren gilt“ (Allert et. al. 2017, S. 13). Die Digitalisierung tangiert
damit allgemeine Fragen der Gesellschaft, des Sozialen und der Bildung. Wenn Bildung in
einfachster Bestimmung die Veränderung, Transformation oder Transposition des Mensch-
Welt-Verhältnisses meint, werden mit der Digitalisierung auch Vorstellungen von Bildung in
den Transformationsprozess hineingezogen.
Angesichts der aktuellen Herausforderungen in diesem Gebiet müssten die
medienpädagogischen und ästhetisch-kulturellen Konzepte aktualisiert und ggf. transformiert
und hinsichtlich des spannungsreichen Verhältnisses von Kreativität unter Bedingungen
digitaler Lebensumwelten erweitert werden. Dazu ist es nötig, das Verhältnis zwischen
Digitalisierung und Bildung grundlagentheoretisch mit Blick auf Lernen, Erziehung und
Unterricht zu justieren, zu reflektieren und für erziehungswissenschaftliche Felder und
Bereiche zu differenzieren (vgl. Walgenbach und Buck 2019). Die hier vorgetragenen
Gedanken sollen dazu einen Beitrag leisten.
2. Gelingensbedingungen kreativer Prozesse
a. Können und Könnerschaft
Als Bartos 1975 bei Kraftwerk einstieg, war die Band von Florian Schneider-Esleben und Ralf
Hütter schon international bekannt. Nach Anfängen in der experimentellen Musik hatte die
Band 1973 das Album „Autobahn“ veröffentlicht das erste Album des Elektropop. Es folgten
danach mit Karl Bartos im klassischen Line-Up Hits wie (Wir sind die) Roboter“, „Das
Modell“ aus dem Album „Mensch Maschine“ sowie das Album „Computerwelt3
Meilensteine für die Entwicklung des Techno, Elektro und des Hiphop. Kraftwerk hat sich mit
dem Roboter- und Androiden-Image konsequent abgegrenzt vom Rock’n’Roll-Gehabe und
den musikalischen Rhythm-Blues-Strukturen. Ihr musikalischer Stil favorisiert neo-
romantische, europäische Melodien und einen emotionslosen, entpersonalisierten
Sprechgesang, der mit Soundeffekten á la musique concrète, einer Ästhetik der dreißiger Jahre
und einem technikaffinen italienischen Futurismus und russischen Konstruktivismus
kombiniert wird.
3 Aus diesem stammt derjenige Song, der diesem Beitrag den Titel gegeben hat. Bartos berichtet, dass dieser
damals auf Flipperautomaten angezeigt und dann von Kraftwerk übernommen wurde.
4
Der musikalische Minimalismus dieser Avantgarde-Band des Elektropop und ihr offen zur
Schau getragener Dilettantismus sowie die scheinbare Anti-Virtuosität eines Do-it-yourself-
Images am Synthesizer (das sich gegen die damals vorherrschende Virtuosität des Art-Rock
ebenso richtete wie gegen die Virtuosität klassischer Musiker) lässt die Könnerschaft ihrer
Protagonisten im Verborgenen. Florian Schneider-Esleben und Ralf Hütter hatten in ihrem
behüteten Elternhaus für einige Zeit Instrumentalunterricht erhalten. Florian spielte Flöte,
Ralf Klavier. Einzig Karl Bartos war professioneller Musiker und am Düsseldorfer
Konservatorium ausgebildeter Perkussionist. Alle drei waren mit dem Stil und der Ästhetik der
Moderne sowie mit den Praktiken des Musizierens, Komponierens und Improvisierens
bestens vertraut. Die Vertrautheit mit der europäischen avantgardistischen Moderne ist bei
Florian Schneider-Esleben und Ralf Hütter auch sozial konnotiert. Florian Schneider-Esleben
stammt z.B. aus einer angesehenen Düsseldorfer Architektenfamilie mit Sommerhaus an der
te d’Azur, Ralf Hütter studierte Architektur, allerdings ohne Abschluss. Sie pflegten nach
außen einen dandyhaften Lebensstil mit Golfschlägern im eigenen Mercedes, in dem die
berühmten nächtlichen Soundrides der Band stattfanden.
Im Unterschied zu Karl Bartos distanzierten sich beide sehr deutlich von der klassischen Musik
und dem damit verbundenen Spielen nach Noten (vgl. Koch 2017). Den zelebrierten
Dilettantismus und die damit verbundene Suche nach einem neuen „radikalen“ Ausdruck
beschreibt Conny Planck, einer der einflussreichsten Produzenten einer heterogenen
Musikrichtung, die später den Namen „Krautrock“ erhielt, so: In Düsseldorf, in einem Keller
in der Altstadt, fand ich dann eine Gruppe, die Organisationhieß, hauptsächlich bestehend
aus Ralf Hütter und Florian Schneider. Sie musizierten ungemein eigenständig. Es war
rhythmisch, Popmusik-ähnlich, aber eben neu. [… Sie spielten auf] Orgeln von Farfisa und
Hammond, elektrische Flöten, die über Effektgeräte moduliert, verechoed und verzerrt
wurden. Jede Klangquelle war in irgendeiner Form manipuliert. […] Es war in uns allen der
Wille vorhanden, alles zu verkurbeln, zu verbiegen, und dem Instrument seine ursprüngliche
Natur zu nehmen, um neue Ausdrucksformen zu finden. Wir waren eigentlich sehr inspiriert
von Velvet Underground, die ich als wirklich neuen Impuls verstanden habe. Das Wichtigste
an dieser Gruppe war aber, dass Leute zusammenkamen, die ein Instrument gar nicht so
richtig beherrschten, aber im Ausdruck sehr deutlich, sehr kraftvoll waren. Ich habe dabei
entdeckt, dass man, ohne ein Instrument spielen zu können, sich damit ausdrücken kann. Das
fand ich (später) bei der Gruppe Kraftwerk wieder, die aber sehr eigen vorging in ihrer
Gestaltung4 (Planck 1986). Während also Karl Bartos den Weg der klassischen Ausbildung
ging, wählten Florian Schneider und Ralf Hütter den anarchischen Weg. Letztere hatten auch
keine materiellen Probleme und konnten es sich leisten, ganz auf ihre Kreativität und
Radikalität zu setzen.5
4 Für die Informationen zu den biographischen und musikgeschichtlichen Hintergründen danke ich
Karl Bartos.
5 Es gab innerhalb der Band unterschiedliche soziale Herkünfte hier die bürgerlich-sozialisierten
Schneider-Esleben und Hütter, dort den Sohn aus einfachen Verhältnissen mit Migrationshintergrund
des Vaters. Ralf und Florian verstanden sich als Musikunternehmer mit Angestellten. Karl Bartos
beschreibt eindrücklich die hierarchische Struktur innerhalb der Band Kraftwerk, die sich in sehr
unterschiedlichem Zugang zu den Rechten für Vermarktung und Erlöse manifestierten.
5
Allerdings der anarchische Anspruch auf Ausdruck und die Ablehnung traditioneller
Vorstellungen von Musikern und Virtuosität, die sich dem späteren Punk nahe ebenso
gegen klassische Musik wie gegen die damaligen Hippies, den Prog Rock und später den Glam
Rock richteten, bedeutet nicht, dass die beiden Kraftwerk-Gründer nicht mit ihrem Metier,
der elektronischen Musik und ihren Apparaten, vertraut gewesen wären. Sie besaßen beide
schon früh Synthesizer, experimentierten mit unterschiedlichen Maschinen in
unterschiedlichen Besetzungen (vgl. Amend 2017) und setzten ihren Ehrgeiz darin, die
(analogen) Geräte zu manipulieren und ihren Sound zu verändern. Sie waren auf ihrem Gebiet
nicht nur Pioniere sie waren auch Kenner und Könner mit einem Können, das sie sich in
einer langen, andauernden und intensiven Beschäftigung, also mit Übung, mit ihrem Metier
und den Maschinen erworben haben. So haben sie die materialen Grundlagen ihrer Musik
die Instrumente, Apparate und Synthesizer virtuos beherrschen, umbauen und arrangieren
gelernt.
Ihr Können als handwerkliche Voraussetzung für Meisterschaft ist aus kultursoziologischer
und kulturanthropologischer Perspektive von Richard Sennett in seiner groß angelegten
Studie zum Handwerk hervorgehoben worden (vgl. Sennett 2008). Gekonntes und
artistisches Hantieren mit Kultur-Dingen setzt eine leibliche Einheit von Sensorik und
Motorik voraus. Diese wird durch Praxis und durch Übung erworben, liegt meist implizit
vor und kann durch praktische Wiederholung, das heißt durch Übung, kultiviert und
perfektioniert werden (vgl. Brinkmann 2012). Dieses nicht-technisch und nicht-
mechanische Handwerken ist Grundlage und Voraussetzung, so Sennett, sowohl
industrieller Fertigungstechniken als auch des kulturell arbeitenden Umgangs damit. In
einer anderen Perspektive zeigt Peter Sloterdijk, dass dieses Können sowohl eine
Kultivierung des Natürlichen als auch eine Naturalisierung des Geistigen bedeutet (vgl.
Sloterdijk 2009). Die artistischen „Anthropotechniken“ der Moderne entstammen
„impliziten Übungen“ und führen zu einer „Arbeit an der Vertikalität“ (ebd., S. 238) des
Besser-Könnens und Besser-Werdens, das heißt der Transformation in der modernen
Kunst und der Kultur. Karl Bartos weist also auf eine verborgene und gern vernachlässigte
Grundlage artistischen Könnens und künstlerischer Kreativität hin. Er bricht das
„Schweigen der Könner“ (Neuweg 2006), indem er auf die impliziten und expliziten
Übungen und Spiralen als Voraussetzungen kreativen Schaffens und erfolgreichen
Musizierens hinweist (vgl. Brinkmann 2012).
Dieses handwerkliche Können gilt als Voraussetzung für schöpferische Tätigkeiten und
ästhetische Bildung. Es liegt als „ästhetische Alphabetisierung“ (Mollenhauer 1990)
ästhetischem Schaffen als unabdingbare Voraussetzung voraus. Aus pädagogischer
Perspektive ist also der Aufbau dieses Könnens in Form von Übungen wichtig als eine
Gelingensbedingung für mögliche künftige kreative Könnerschaft (vgl. Brinkmann 2013).
Kraftwerk experimentierte wie andere Bands der frühen 70er Jahre (Silver Apples, Pink Floyd,
Tangerine Dream, Brian Eno und David Bowie) mit elektronischen (analogen) Synthesizern.
Kraftwerk baute im Kling-Klang-Studio in der Düsseldorfer Mintropstraße stetig seinen
elektronischen Maschinen-Park aus. Es wurden immer die neuesten und besten Geräte
angeschafft. Die exponentielle Entwicklung in diesem Bereich erzeugte, so Bartos, einen
Druck, immer up to date zu sein. Dahinter stand die Illusion, mittels besserer technischer
Geräte auch bessere Musik erzeugen zu können (vgl. ebd., S. 450). Das Studio wurde mehrmals
6
mit langen Bau- und Installationsunterbrechungen umgebaut die Musik geriet „in die
Warteschleife“ (ebd., S. 455). Die Technik wurde konsequent digitalisiert, zunächst mit Midi-
fähigen Synclavieren und Keyboards (wie dem DX7 von 1985; vgl. ebd., S. 429), dann mit
vernetzten IBM-PCs und Vocodern (ab 1987), wie sie heute zur Standardausrüstung von
Mainstream-Akteuren gehören. Die technisch sehr komplexen und anspruchsvollen Systeme
im Kling-Klang-Studio verlangten zunehmend nach Spezialisten, technischen Hilfskräften und
Administratoren (vgl. ebd., S. 451, 459f.). Das waren eher bürokratische Tätigkeiten […]. Für
das Synclavier mit allen seinen Herausforderungen brauchte Kraftwerk einen Administrator“
(ebd., S. 452). Diese Administratoren und Technikexperten hatten mit dem Musizieren und
Komponieren keinen Kontakt: Eine Expertisierung als Ausdifferenzierung und Spezialisierung
der Tätigkeiten fand statt, die sich vom professionellen Kerngeschäft der Band immer mehr
entfernte und wie Bartos überzeugend darstellt dieses immer mehr unterminierte.
Festzuhalten bleibt zunächst: Das minimalistische Image der Band verbirgt einerseits gekonnt
das ästhetisch-musikalische Können ihrer Protagonisten, das auf Herkunft, Ausbildung und
permanenter Übung sowie auf „Weiterbildung“ beruht und die Aufgeschlossenheit und den
permanenten Anschluss an technische Innovationen im Bereich elektronischer
Musikinstrumente einschließt. Die Könnerschaft von Kraftwerk liegt also gleichermaßen in
ihrem musikalischen und in ihrem technischen Können zu musizieren, und die entsprechenden
elektronischen Apparate zu bedienen, umzubauen und zu vernetzen (vgl. ebd., S. 125 f.).
Andererseits erfolgt mit zunehmender Digitalisierung eine Expertisierung des Musizierens und
damit eine Entkopplung von administrativen, technischen und künstlerischen Arbeiten. Diese
Ausdifferenzierung und die Trennung der Tätigkeiten hat zur Folge, dass erstens die Praxis des
Musizierens nicht mehr in der tätigen Einheit von Sensorik und Motorik in allen Bereichen
stattfindet (vgl. b), und dass zweitens Können ausgelagert und expertisiert wird, sodass der
Prozess des Musizierens, Improvisierens und Komponierens verändert wird. Kreatives
Komponieren kann infolge der Expertisierung nicht mehr in zeitlicher und personeller Einheit
vollzogen werden. Für Kraftwerk bedeutete das, dass es nicht mehr stattfand. Vor allem wird
durch die Arbeitsteilung und die Aufteilung in administrative und produktive Tätigkeiten das
professionelle Können der Band als soziale Gruppe, die innovative „Verbundenheit von
musikalischer Arbeit und kulturellem Bewusstsein“ (ebd., S. 479), in der Praxis des Musizierens
und Komponierens beschädigt (vgl. c).
b. Das Körperliche im Digitalen
Eine weitere Gelingensbedingung für kreatives Schaffen mit elektronischen Apparaten ist die
körperlich-haptische und körperliche-kinästhetische Arbeit damit. Das mag zunächst in einem
Beitrag zu Kraftwerk überraschen, gibt die Band doch mit der Mensch-Maschine-
Programmatik das Ziel aus, menschlich-rperliche Arbeit durch Automaten zu ersetzen. Ab
1978 präsentierten sie sich die Mitglieder als lebende Roboter, die gleichsam entpersonalisiert
vor drei Schaltpulten und einem umgearbeiteten elektronischen Perkussions-Multipad
agieren das Gegenteil des Schlagerstars und des Rock’n’Roll-Heros und deren (lächerlichen)
Posen. Zum Mensch-Maschine-Image trägt auch die Tatsache bei, dass auf Plattencovern,
Auftritten und auf Fotos die Bandmitglieder durch Puppen ersetzt werden. Die Zuschauer sind
sich nicht sicher: Handelt es sich um die wirklichen Menschen oder um Androiden? Aktuell
tritt die Band in unterschiedlichen Zusammensetzungen ohne Schneider-Esleben als statische,
7
emotionslose und ausdrucksarme Statuen mit Laptop und Midi- Controllern vor gigantischen
multimedialen Videoinstallationen auf, die die Künstler als Gesamtkunstwerk verstehen (vgl.
Diedrichsen 2012). Der Körper wird aus der elektronischen Musik verabschiedet.
Bartos zeigt im Gegenzug zum Mensch-Maschine-Image der Band, dass die Praxis des
Musizierens auf leibliche Voraussetzungen verwiesen bleibt. Das Handwerkliche und
Körperliche des Musizierens und Komponierens lässt sich, so Bartos, nicht kybernetisch
kompensieren oder gar ersetzen. Mit besseren Maschinen, die im Laufe der 70er und 80er
Jahre zuerst noch linear, dann explosionsartig auf den Markt kamen, lässt sich keine bessere
Musik machen (vgl. Bartos 2017, S. 450). Bartos beschreibt eindrücklich, wie die in den 70er
Jahren noch analogen Geräte haptische und akustische Qualitäten aufwiesen, die die
Handhabung aisthetisch strukturierten. So etwa der Synthanorma Sequenzer, der vom
Berliner Hajo Wiechers für Tangerine Dream entwickelt wurde oder der Moog-Synthesizer,
den Pink Floyd verwendete (vgl. ebd., S. 207ff.). Kraftwerk hat vornehmlich ein Gerät mit dem
merkwürdigen Namen Triggersumme, ein weiterer Synthesizer von Wiechers, verwendet (vgl.
ebd., S. 330). Die Triggersumme war ein Musikautomat, mit dem Audiosignale getriggert
wurden, in diesem Fall elektronische Schlaginstrumente. Sie funktionierte als eine Eingabe-
Matrix: Mit ihr ließen sich zwei Takte (zwei mal Sechzehntelnoten = 16 Positionen pro Takt)
mechanisch reversibel einstellen und loopen, wobei „für jede der 16 Takt-Positionen […] ein
Schalter in Rot, Orange, Gelb, Weiß, Blau“ existierte (ebd.). Praktisch geschieht das, indem
Schalter umgelegt werden, Dioden in verschiedenen Farben die Veränderung anzeigen und
dies jeweils mit einem Signal akustisch dargestellt wird. Das war wirklich neu, weil sich jetzt
die Rhythmen in einem laufenden Loop von Hand manipulieren ließen. Vorne liefen die
Leuchtdioden die 16 Schritte durch” (ebd.). Für die Musiker ist dabei das „haptische und
motorische Feedback“ (ebd., S. 457) von und mit der Maschine entscheidend. Dieses
entspricht, so Bartos, einem „natürlichen Zugang zum Klang“ (ebd., S. 452)man kann auch
sagen, einem leiblich-körperlichen Zugang zum Musizieren als Praxis.6
Karl Bartos weist auf die kulturell-ästhetischen Hintergründe der Automatisierung und
Kybernetisierung sowie auf die leiblichen Grundvoraussetzungen und Grundlagen kreativen
Schaffens hin. Er stellt die Ästhetik Kraftwerks in den Kontext der langen Geschichte der
menschlichen Automaten und Androiden in der künstlerischen Moderne (vgl. ebd., S. 207).7
Die aisthetischen, d. h. wahrnehmungsbezogenen, Fundamente ästhetisch-kreativen
Schaffens werden im Diskurs der ästhetischen Bildung seit den Anfängen der Antike immer
wieder betont und hervorgehoben. Schon Aristoteles zeigt, dass künstlerische Tätigkeiten auf
Wahrnehmung (aisthesis) basieren. Diese ist auf Einzelnes, auf Dinge gerichtet und dabei
immer sowohl aktiv als auch passiv, sowohl hervorbringend als auch empfangend (vgl.
Aristoteles 2011, S. 82 ff.). Wahrnehmen ist also ein „Sich-Einstellen-auf-Dinge“ (Lipps 1977,
S. 78). Die Sinne verkörpern dabei verschiedene Modalitäten der Wahrnehmung. Helmuth
Plessner macht deutlich, dass das Zusammenspiel der Sinne eine weitere Grundlage für die
Ästhetik darstellt. Die Ästhesiologie der Sinne als eine Ästhesiologie des Leibes gründet in der
„akusto-motorischen Einheit“ (Plessner 2003, S. 345) im Hören und Lautieren. Diese akusto-
motorische Einheit ermöglicht das Sprechen und Musizieren. Es ist das aisthetische
6 Für die Hinweise zu den technischen Details der Triggersumme danke ich Karl Bartos.
7 Auch in der Pädagogik hat die kritische Reflexion über „Menschen im Spiegel ihrer Maschinen“ (Meyer-Drawe
1996) sowie über eine zunehmende Kybernetisierung (vgl. Karcher 2015) eine lange Tradition.
8
Fundament der Musik. Es liegt ihr zugrunde, weil wir im musikalischen Ausdruck zugleich
passiv empfinden und uns aktiv ausdrücken, uns verkörpern, wie Plessner sagt. Die expressive
kreative Verkörperung in der Musik gründet sich wiederum in der aisthetischen Struktur der
Laute, ihrer Eindringlichkeit in die Körper, in ihrer Voluminosität (was mehr ist als nur
Lautstärke) und in ihrer Rhythmizität (der Gliederung der Laute in der Zeit). Musik als Kunst in
der Zeit findet in diesen ästhesiologischen und sprachlichen Grundlagen ihre besondere
expressiv-kreative Funktion: „Wir empfinden Klänge und machen sie“ (ebd., S. 350).
Im Sinne Plessners lassen sich Bartos‘ Beschreibungen der haptischen, akustischen und
sinnlichen Grundlagen des Musizierens mit elektronischen Apparaten ästhesiologisch deuten.
Sie sind ggf. die unverzichtbaren Voraussetzungen im verkörperten Sich-Ausdrücken und
Empfinden, mit dem aktiv-passiv der eindringlichen voluminösen und rhythmisierenden
Struktur der Laute „entsprochen“ wird.
Mit dem Aufkommen der volldigitalen Synthesizer bzw. dem Synclavier auf Basis der Midi-
Technik (eines Vernetzungs- und Datenstandards) gehen diese leiblichen, haptischen und
akustischen Qualitäten verloren. Musikmachen wird zu einer kybernetisch strukturierten
Praxiszum Programmieren serieller Codes. Und genau darin verliert die Band ihre kreativen
Potenziale. Bartos zeigt damit nicht nur die Bedeutung leiblicher Aspekte des kreativen
Schaffens auf, die im Prozess des Musizierens bedeutsam sind. Er zeigt auch, dass eine
Kybernetisierung der Praxis des Musizierens negativ auf ihre kreativen Gelingensbedingungen
zurückwirkt.
c. Die soziale Dialektik des Digitalen
Die wichtigste und bedeutendste Gelingensbedingung kreativen Schaffens ist Karl Bartos
zufolge das gemeinschaftliche, zweckfreie und kreative Improvisieren und Komponieren in
den „Writing Sessions“ der Band. Für Bartos ist es „das Wertvollste, was wir zu meiner Zeit bei
Kraftwerk zustande brachten. Im Grunde war unsere Zusammenarbeit eine permanente
Unterhaltung, in der wir unsere Gedanken entlang der Musik übersetzen“ (Bartos 2017., S.
305). Dies geschah in Form von „Improvisationen, in denen wir aus dem Moment heraus Musik
polyphon gestalteten, das Komponieren in der Gruppe, die Erfindung dieser ungezählten
musikalischen Tableaux vivants (ebd., S. 307). Diese Gedanken, Einfälle und Tableaux hat
Bartos dann in seinem bereitliegenden Notizbuch festgehalten. Diese klassische Technik der
Notation ist wichtig nicht nur um spontane Einfälle zu fixieren (vgl. ebd., S. 327) –; mit der
Notation bringt der Komponist die Zeitlichkeit der Töne in ein lineares, grafisches System. Das
ist die Voraussetzung dafür, dass die musikalischen Gedanken später aufgegriffen, arrangiert
und anders montiert und vergegenwärtigt werden können. Die Vergegenwärtigung ist hier ein
Akt des Schaffens, der künstlerischen Produktion und keiner der Speicherung, Verwaltung
und Administration.
In diesen Momenten des zweckfreien Improvisierens und Komponierens – in den „Writing
Sessions“entsteht eine kreative Situation, in der auf Zufälle (technische Modulationen zum
Beispiel) und Einfälle (Melodien oder Rhythmuspatterns) des einen durch andere geantwortet
wird. So entstehen musikalische Versatzstücke, die fortwährend neu arrangiert und collagiert
werden, bis ganze Songs daraus entspringen. Die Atmosphäre dieser Situation wird von Bartos
als heiter, aufgeräumt, humorvoll und entspannt beschrieben (vgl. ebd., S. 479), also als eine
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Stimmung der Enthobenheit von Zwecken und Zwängen, in der sich eine Versunkenheit in den
Austausch- und Antwortprozess der „Teamwork-Kompositionen“ (ebd.) entwickelt.
Diese sozial-kreative „Kompositionstechnik“ ändert sich im Zuge der Digitalisierung „durch das
Sampling immer mehr in Richtung Montage […]. Schon lange hatten wir aufgehört,
miteinander zu musizieren. Wir hatten vergessen, dass genauso unsere Musik entstanden
war“ (ebd., S. 419). Damit war nicht nur der „Flow“ (ebd., S. 448) im „freien Improvisieren“
(ebd., S. 446) abhandengekommen. Viel entscheidender war, so Bartos, dass mit der
Sampling-Technik die „konkreten Klänge“ und ihre technische Erzeugung und Montage, aber
nicht mehr „die Idee der Musik“ und ihre „Gestaltung“ in den Vordergrund gerieten (ebd., S.
447).
„Unser musikalischer Ausdruck, der einst von Polyphonie geprägt war, wandelte
sich zu einer Form der aneinandergereihten Events, die mehr mit dem seriellen
System als mit der originären Idee unserer Musik gemein hatten. War nicht einmal
unser Leitgedanke gewesen, die Technik zu musikalisieren? Jetzt fühlte es sich für
mich streckenweise so an, als hätte die Technik unsere Gedanken absorbiert“ (ebd.,
S. 447).
Die Absorption durch die Technik im Zuge der Digitalisierung unterminiert also so Bartos
kreatives Schaffen als soziales Antwortgeschehen, in dem Gedanken, Gefühle, Atmosphären
gemeinschaftlich in Musik übertragen werden. Es bleibt ein Erzeugen und Montieren von
Sounds ohne strukturierendes Prinzip und ohne kreative Rahmung. Die innovative
„Verbundenheit von musikalischer Arbeit und kulturellem Bewusstsein“ (ebd., S. 479) und
so kann man anfügen von künstlerischem Können und künstlerischem Schaffen geht
verloren. Die Band Kraftwerk bleibt seitdem, so Bartos, ohne kreative Idee und innovatives
Potenzial. Konsequent konzentriert sich die Band seitdem auf Retrospektiven
(Wiederveröffentlichungen in Box-Sets, Deluxe-Editionen) und Reenactments. Heutzutage
tritt die Band in einer anderen Zusammensetzung vornehmlich in Museen und Kunstgalerien
auf, passend zum längst verflogenen avantgardistischen Anspruch der Band und ihrer jetzigen
Tendenz zur Musealisierung des eigenen Werks als bildende Kunst.
3. Schluss
Technik, auch digitale Technik und ihr Gebrauch, ist nicht ohne Effekte zu haben das ist eine
alte Einsicht, die unterschiedliche Zugänge techniktheoretisch und technikkritisch artikuliert
haben (vgl. Heidegger 1996; Horkheimer und Adorno 1988). Der Lebensbericht von Karl Bartos
zeigt eine dreifache Ambivalenz hinsichtlich der Auswirkungen digitaler Verfahren auf die
kreative künstlerische Arbeit.
Durch die zunehmende Technisierung wird erstens eine Expertisierung, das heißt eine
Ausdifferenzierung der Tätigkeiten, vollzogen. Administrative, technische und künstlerische
Arbeiten werden getrennt. Künstlerisches Können und künstlerische Kreativität wird mittels
Sampling-Verfahren zunehmend durch Montage ohne kreative Gedanken ersetzt. Kreative
Prozesse werden so kybernetischen umformatiert. Sie werden zu einer Angelegenheit der
Verwaltung und Administration.
10
Darüber hinaus wird zweitens die leibliche akusto-motorische Arbeit des künstlerischen
Schaffens im Zuge der sequenziellen synthetischen Digitalisierung der Synthesizer von einem
kybernetischen Arrangement abgelöst. Die haptischen, akustischen und visuellen
Wechselwirkungen mit den materialen, dinghaften Voraussetzungen, das heißt mit den
„Instrumenten“, die eine weitere wichtige Gelingensbedingung für Kreativität darstellen,
können aber so nicht ersetzt werden. Damit wird sowohl das aisthetische als auch das akusto-
motorische Fundament der Praxis des Musizierens verlassen. In der kybernetischen
Rückkopplung verschwinden die leiblichen und aisthetischen Grundlagen der Kreativität und
Ästhetik.
Schließlich zerstört drittensdie Digitalisierung als Serialisierung und Kybernetisierung die
sozial-kreativen Gelingensbedingungen in der Gruppe. Musizieren, Improvisieren und
Komponieren im Kollektiv basieren auf einem Antwortgeschehen, in dem Zufälle und Einfälle
aufgegriffen, verändert und zurückgegeben werden. Diese kreativen Situationen in
zweckfreier, ungezwungener und gelöster Atmosphäre sind eine der wichtigsten
Gelingensbedingungen für kreatives Schaffen in der Popmusik. Auch sie können durch
Administration, Simulation oder Feedback von Maschinen nicht ersetzt werden.
Digitalisierung im Bereich der Popmusik als Sequenzialisierung von Abläufen und
Kybernetisierung von Prozessen führt zu einem Verlust von Kreativität. Bezogen auf das
Pädagogische: Lernen und soziales Lernen wird seiner produktiven Potenziale beraubt und auf
Reproduktion beschränkt. Für das oben angesprochene spannungsreiche, aber wenig
reflektierte Verhältnis von ästhetischer und digitaler Bildung ließen sich von Karl Bartos in den
drei ausgeführten Bereichen wertvolle Anregungen holen. Eine Reflexion der Dialektik des
Digitalen im Bereich künstlerischer Kreativität unter Bedingungen von Sequenzialisierung,
Serialisierung und Kybernetisierung kann die Grenzen und die unbeabsichtigten, negativen
Effekte einer naiven und emphatisch betriebenen Digitalisierung deutlich machen.
Könnerschaft, Leiblichkeit und Sozialität scheinen auch in der digitalisierten Umgebung
Bereiche zu bezeichnen, die zu einem gelingenden kreativen Schaffensprozess unverzichtbar
hinzugehören. Eine Pädagogik, die sich ästhetischer und digitaler Bildung verschreibt und hier
Kreativität fördern möchte, hätte also gerade professionelle, leibliche und soziale
Handlungsbereiche als Grenzen der Digitalisierung zu benennen. Karl Bartos‘ „Pädagogik im
Verborgenen“ lässt sich als eine Warnung und ein Aufruf lesen, die Ambivalenzen einer
technisierten Digitalisierung im Bereich künstlerischer Kreativität in den Blick zu nehmen. Eine
Pädagogik, die sich auf das Verhältnis von Bildung, Digitalisierung und Kreativität besinnt,
wäre gut beraten, dieses Reflexionsangebot eines erfahrenen und erfolgreichen Musikers zu
beachten.
.
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Book
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Der Beitrag setzt sich mit Problemstellungen einer kindheitspädagogischen Hochschuldidaktik auseinander und eruiert, wie diese relational zu denken wäre. In dem Zusammenhang wird zunächst nach dem logischen Anfang einer systematischen Didaktik, nach der ,Zelle des Didaktischen‘ gefragt. Ferner wird Forschendes Lernen als hochschuldidaktisches Konzept vorgestellt und erörtert, inwieweit Lehr-Lernsettings auf der Ebene der Hochschulausbildung in diesem Verständnis produktiv organisiert und z. B. über qualitative Methoden auf kindheitspädagogische Bezugsfelder übersetzt werden könnten. Hieran anschließend werden Gedanken zum Forschenden Lernen als Lernen durch qualitative Forschung entwickelt, die Potenziale und Herausforderungen der Aneignung einer qualitativen Forschungshaltung sowie Vermittlungsweisen von qualitativen Methoden als Kunst oder Technik fokussieren. Weiterführend wird sich damit auseinandergesetzt, wie hochschulische Lehre zwischen kindheitspädagogischer Forschung, Theoriebildung und Praxis dialogisch vermitteln und bspw. zielgruppengerecht in digitale Lehr-Lernformate eingebettet werden kann. Der Beitrag schlägt diesbezüglich auch konkrete Nutzungsweisen der Plattform-Materialien des Methodenforums vor.
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Wenn Aspekte ‹Digitaler Kultur› und Effekte der ‹Digitalisierung› der Selbst- und Weltverhältnisse thematisiert werden – vom Selfie über das quantified Self zur Big Data – so geschieht dies meist unter der Perspektive emergenter medientechnologischer Brüche und Umbrüche von Kultur. Man findet entsprechend dort, wo überhaupt historische Perpektiven bemüht werden, vor allem technik-, medien- und kommunikationszentrierte Emergenznarrationen. Es stellt sich angesichts der enormen Entwicklungsgeschwindigkeit der Digitalisierung jedoch die Frage nach ihren kulturellen Möglichkeitsbedingungen. Die offenkundig hohe Anschlussfähigkeit des Digitalen setzt auf – prinzipiell bekannten – kulturhistorischen Strukturbildungen auf, die ihm überhaupt erst ‹Bedeutung› geben können. Eine solche ‹Digitalisierung avant la technique› skizziert der Beitrag anhand dreier historischer Prozesslinien seit der Neuzeit – der Quantifizierung von Zahlverständnissen, der Organisation von ‹Wissen› im proto-datenbankförmigen Tableau und der Verknüpfung von Subjektivität und Sichtbarkeit.
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Die Übung ist eine elementare und produktive Lernform. In der Praxis des Übens fallen gewusstes Können und gekonntes Wissen zusammen. Geübt wird nur, wenn man „es“ noch nicht kann, wenn man scheitert und es aufs Neue versucht. In den negativen Erfahrungen und in der verändernden Wiederholung manifestieren sich die produktiven Chancen der Übung. Was ist das Besondere und Gemeinsame sinnlich-ästhetischer, leiblich-motorischer und geistig-reflexiver Übungen? Wie lassen sich Fähigkeiten und Fertigkeiten, Haltungen und Einstellungen einüben und umüben? Welche Rolle spielen dabei leibliche, zeitliche und machtförmige Erfahrungen? Gegen die landläufige Verkürzung auf Drill, Automatisierung und Regelanwendung wird eine zeitgemäße, grundlagen- und sozialtheoretisch ausgewiesene Theorie und Didaktik der Übung vorgestellt. Aktuelle Trends der Erziehungs- und Kulturwissenschaften, Fachdidaktiken und der Lehr-Lernforschung werden aufgegriffen und Übungsformen der Antike, der frühen Neuzeit und der Reformpädagogik untersucht.
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Sozialisation wird verstanden als eine Interaktion zwischen Individuum und Umwelt, die zur persönlichen Entwicklung und Selbstfindung im Kontext der Gesellschaft führt (Hurrelmann 2002). Die Kinder passen sich ihrer Umwelt nicht einfach an, sondern setzen sich aktiv mit ihr auseinander und gestalten sie mit. Es geht also nicht um Anpassung des Individuums an die Umwelt, sondern um Passung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt.
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Die IT-Industrie hat die Bildung als Geschäftsfeld seit vielen Jahren auf der Agenda. Wirtschaftsverbände und IT-Vertreter fordern unisono, Digitaltechnik und Programmiersprachen schon in der Grundschule zu unterrichten, damit die Schülerinnen und Schüler für die digitale Zukunft gerüstet seien. Dabei ist der Nutzen digitaler Medien im Unterricht nach wie vor fragwürdig. Ralf Lankau entlarvt in diesem Buch die wirtschaftlichen Interessen der IT-Branche und ihrer Lobbyisten. Dabei geht er sowohl auf die wissenschaftlichen Grundlagen (Kybernetik, Behaviorismus) als auch auf die technischen Rahmenbedingungen von Netzen und Cloud-Computing ein, bevor er konkrete Vorschläge für einen reflektierten und verantwortungsvollen Umgang mit Digitaltechnik im Unterricht skizziert. Die These des Autors lautet: Wir müssen uns auf unsere pädagogische Aufgabe besinnen und (digitale) Medien wieder zu dem machen, was sie im strukturierten Präsenzunterricht sind: didaktische Hilfsmittel.
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Fragen der Subjektivierung, des Sozialen, der Unbestimmtheit und des Ontologischen gewinnen im Angesicht der Digitalisierung und Algorithmisierung der Gesellschaft an Relevanz. In diesem interdisziplinär angelegten Sammelband werden zum einen die Verstrickungen von Mensch, digitaler Technik und Gesellschaft im Rahmen von Prozessen des Lernens und der (Selbst-)Bildung rekonstruiert. Die Beiträge zeigen zum anderen theoretische Zugänge auf, die es ermöglichen, Eigensinn, Widerständigkeit und kreatives Andershandeln innerhalb der relationalen Verstrickungen zu verorten und damit neue Zugänge für das Verständnis von Bildung und Subjektivierung in einer digitalen Kultur zu eröffnen.
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