Content uploaded by Tim Glawion
Author content
All content in this area was uploaded by Tim Glawion on Mar 28, 2019
Content may be subject to copyright.
Schülerinnen auf dem Weg zum Unterricht im
Norden der Zentralafrikanischen Republik:
Nicht immer herrscht Chaos, wenn der Staat
abwesend ist. Wo er fehlt, sorgen mancherorts
andere für Sicherheit und Bildung
KRIEG ODER FRIEDEN
ALS FRAGE
DER PERSPEKTIVE
Die Realität einer Rebellenstadt zeigt
dem Weltfriedensindex seine Grenzen auf
Von Tim Glawion
K
rieg bedeutet immer eine au-
ßergewöhnliche Situation. Er
bringt Leid und erzeugt gleich-
zeitig Veränderung. Für viele bedeutet
er einen Zusammenbruch des Alltags,
für einige birgt er auch neue Möglich-
keiten. Der Krieg an sich ist interdis-
ziplinär erforscht, seine Verhinderung
wird von zahllosen Institutionen ver-
sucht. Jedoch zerbrechen sich For-
scherinnen und Entscheidungsträ-
ger da rüber den Kopf, wie Kriege aus
ihrer Einzigartigkeit herausgehoben
werden können, um sie untereinander
vergleichbar zu machen. Auf den ers-
ten Blick evidente Messlatten werden
durch Einsichten in die empirische Re-
alität vor Ort infrage gestellt.Krieg wird
auf vielerlei Weise gemessen. Am wohl
bekanntesten sind Statistiken zur An-
zahl der Todesopfer, wie sie beispiels-
weise das Armed Conict Location &
Event Data Project (ACLED) produ-
ziert. Eine Sortierung nach Todesop-
fern scheint einen objektiven Maßstab
für das Ausmaß des Krieges darzu-
stellen. Doch es kommen Zweifel auf:
Sind 100 Tote in einem Kleinstaat wie
Gambia gleichzusetzen mit 100 Toten
in Mexiko? Wie wirkt sich die Art der
Kriegsführung auf die langfristige Zu-
sammensetzung von Institutionen des
Staates, der Gesellschaft und Ökono-
mie aus? Um die Unzulänglichkeiten
eines reinen Todesopfervergleiches an-
zugehen, entwickelten sich komplexe-
re Indizes. So zum Beispiel der Fragi-
le States Index (FSI), welcher anhand
von diversen Kriegs-, Sozial- und Öko-
nomieindikatoren die Fragilität eines
Staates misst. Jedoch ist, wie meine
eigene Forschung zeigt (siehe unten),
auch dieser Index kontrovers: Destabi-
lisiert einen Staat eher ein extrem gro-
ßer staatlicher Sicherheitsapparat wie
im Südsudan oder ein extrem kleiner
wie in der Zentralafrikanischen Repu-
blik (ZAR)? Wie gehen wir mit der ne-
gativen Brandmarkung von sogenann-
ten fragilen Staaten um?
Global Peace Index – ein Konzept
und seine Grenzen
Ein begrüßenswerter Versuch, so-
wohl die Komplexität von Krieg zu
erfassen wie der Messung auch eine
positive Normativität zu verleihen, n-
det sich im Weltfriedensindex. Der In-
dex heißt im Original Global Peace In-
dex und wird in Sydney vom Institute
of Economics & Peace herausgegeben.
Die Herausgeber setzen sich aus einem
Gremium von international renom-
mierten Wissenschaftlerinnen zusam-
men und stecken sich das Ziel, die öko-
nomischen Auswirkungen von Frieden
aufzudecken. Der Index erhebt jedoch
keine eigenen Daten in den untersuch-
ten Ländern, sondern setzt lediglich
eine Vielzahl bereits existierender Da-
tensätze zu einem neuen Index zusam-
men, der die Länder aufgrund ihrer
Friedlichkeit einordnet.
Die Aneinanderreihung der 163
studierten Länder suggeriert einen
linearen Zusammenhang zwischen
Die 20 friedlichsten Länder der Erde
(Friedensindex 2018)
Quelle: Global Peace Index:
www.visionofhumanity.org/indexes/
global-peace-index
Die 20 unfriedlichsten Länder der Erde
(Friedensindex 2018)
1Island
2Neuseeland
3Österreich
4Portugal
5Dänemark
6Kanada
7Tschechische
Republik
8Singapur
9Japan
10 Irland
144 Mali
145 Kolumbien
146 Israel
147 Libanon
148 Nigeria
149 Türkei
150 Nordkorea
151 Pakistan
152 Ukraine
153 Sudan
11 Slowenien
12 Schweiz
13 Australien
14 Schweden
15 Finnland
16 Norwegen
17 Deutschland
17 Ungarn
19 Bhutan
20 Mauritius
154 Russland
155 Zentralafrikanische Republik
156 Demokratische Republik Kongo
157 Libyen
158 Jemen
159 Somalia
160 Irak
161 Südsudan
162 Afghanistan
163 Syrien
SCHWERPUNKT 31
ZUR SACHE BW 34 SCHWERPUNKT 30
von Diamanten und Gold – Hauptres-
sourcen der Region – nochmals düste-
rer. Aus rein materieller Betrachtungs-
weise hat sich die Lage gegenüber den
Vorkriegsjahren (vor 2012) in man-
chen Bereichen hingegen verbessert:
Der Handel mit dem Sudan und Tschad
oriert und eine gestiegene Anzahl an
Entwicklungsprojekten schafft Arbeit
und regeneriert die Infrastruktur. Für
den Bildungssektor bedeutet das bei-
spielsweise, dass Unicef seit Ausbruch
der Krise in der Region den Wiederauf-
bau Dutzender verfallener Schulen und
die Aus bildung von über 100 Aushilfs-
lehrern nanziert hat. Investitionen,
welche der Staat auch vor dem Bürger-
krieg nicht geleistet hat und nicht leis-
ten wollte.
Dabei sollten jedoch nicht die im-
materiellen Kosten aus den Augen ge-
raten. So verdienen die Rebellen an
dem orierenden Handel mit dem Su-
dan und Tschad kräftig mit und wer-
den damit umso weniger bereit, ihre
Waffen niederzulegen. Der Krieg zieht
sich nun schon seit fünf Jahren hin und
wird auch auf absehbare Zeit andauern.
Hinzu kommt, dass die Bildung (und
auch andere öffentliche Güter) in Ndélé
nun zum Großteil von internationa-
len Organisationen nanziert werden.
Dies substituiert den Staat und könnte
so langfristig die Eigenverantwortung
der Regierung untergraben. Schon jetzt
fällt auf, dass lokale Bildungsakteure
sich mit ihren Bedürfnissen viel häu-
ger an internationale Partner als an den
weit entfernten Zentralstaat in Bangui
wenden.
Gut für den Überblick,
aber nicht für Lösungen
Mit Einblick in die Komplexität einer
Rebellenstadt in der ZAR kann der
statistischen Friedenserhebung darum
nur ein begrenzter Nutzen für die For-
Literatur
Tim Glawion, Lotje de Vries, Andreas Mehler:
Handle with Care! A Qualitative Comparison of
the Fragile States Index‘s Bottom Three Countries:
Central African Republic, Somalia and South Sudan,
in: Development and Change, 2018,
www.tinyurl.com/Glawion-Handle-with-care
Dr. Tim Glawion
ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter am
GIGA-Institut für
Afrika-Studien in
Hamburg mit den
Forschungsschwer-
punkten Bürgerkriege,
lokale Sicherheits-
produktion und
hybride Ordnungen.
den gemessenen Faktoren, beispiel-
weise zwischen Demilitarisierung und
Frieden. Für viele Länder mag dies der
Fall sein, beispielsweise für den Süd-
sudan (Platz 161), in dem die Ratio be-
waffneter Personen zu Bevölkerung
und Militärausgaben zu zivilen Inves-
titionen extrem hoch ist. Für die ZAR
(Platz 155) hingegen gilt das Gegenteil.
Das Land verfügt in Proportion zu sei-
ner Größe und Bevölkerung schon seit
der Unabhängigkeit über ein viel zu
geringes Effektiv an Polizei- und Mili-
tärkräften. Dies soll nicht heißen, eine
Militarisierung schaffe in diesem Falle
direkt Frieden; im Gegenteil hat das –
wenngleich kleine – Militär oft selbst
Gräueltaten begangen. Jedoch rufen
viele internationale wie auch lokale
Akteure dazu auf, mittel- bis langfris-
tig einen strikt den Menschenrechten
verpichteten, aber auch besser ausge-
statteten Sicherheitsapparat aufzubau-
en. Nur dieser könne die Bedingungen
für gesellschaftlichen Frieden in dem
stark gespaltenen Land garantieren.
Neben der linearen Beschränktheit
erliegt die Untersuchung zum Großteil
auch einer problematischen negativen
Friedensdenition. Der Hauptindi kator
des Weltfriedensindex misst Frieden als
Abwesenheit von Konikt, Unsicher heit
und gesellschaftlicher Militarisierung.
Glücklicherweise erhebt der Friedens-
index, wenngleich weniger promi-
nent, auch eine Messung von „positi-
vem Frieden“ anhand von Indikatoren
wie guter Regierungsführung, freiem
Informationsuss und gesellschaftli-
cher Toleranz. Diese Dualität von ne-
gativer und positiver Friedensmessung
generiert jedoch paradoxale Ergebnisse.
Der Hauptindikator verzeichnete über
die vergangenen zehn Jahre eine Ver-
schlechterung des Friedens auf der Welt
– dement sprechend war die deutsche
Presseresonanz auch überwiegend von
schung und die aktive Politikgestaltung
zugesprochen werden. Es kann hilf-
reich sein, solche von renommierten
Wissenschaftlerinnen edierte Berich-
te zur Hand zu nehmen, um in kür-
zester Zeit sehr grobe Einschätzungen
und Trends zu erkennen. Beispielswei-
se, ob Land X eher friedlich oder eher
unfriedlich ist und ob Region Y über die
letzten Jahre eher friedlicher oder un-
friedlicher wurde. Für die statistische
Analyse eignen sich solche Indikatoren
keinesfalls, da sie häug sehr ungenaue
und manchmal sogar grob falsche Da-
ten erheben. Insbesondere für die Ent-
wicklung von Lösungsansätzen sind
Indikatoren wie der Weltfriedensindex
unbrauchbar, da sie die besonderen Be-
dürfnisse jedes einzelnen Landes hinter
der statistischen Masse verbergen. So
mag im Südsudan die Demilitarisierung
des Staates einen großen Beitrag zum
Frieden leisten. Nur ein Land weiter, in
der ZAR, gilt es im Gegenteil dazu, ei-
nen effektiven Sicherheitsapparat erst
noch aufzubauen.
Um die materiellen und
imma teriellen Kosten eines
Krieges zu erkunden, braucht
es darum auch weiterhin
neben einem üchtigen Blick
auf den Welt friedensindex
eine tiefer gehende Studie
der Situation vor Ort.
negativen Schlagzeilen geprägt. Gleich-
zeitig verzeichnet der Indikator des „po-
sitiven Friedens“ eine Verbesserung
über denselben Zeitraum – dieser Fakt
fand kaum Beachtung.
Positive Entwicklungen
mitten im Konikt
Solche positiven Friedensfaktoren
sind insbesondere durch die empiri-
sche Feldforschung zu erkunden. Wäh-
rend ich diese Zeilen verfasse, bende
ich mich in Ndélé, einer von Rebel-
len kontrollierten Stadt in der Zentral-
afrikanischen Republik. Gemessen
an negativen Friedensindikatoren ein
schrecklicher Ort: totale Abwesenheit
staatlicher Sicherheitsinstitutionen und
eine extrem hohe Zahl an bewaffneten
Menschen. Trotzdem stieß ich gemein-
sam mit einer Kollegin auf keine nen-
nenswerten Einschränkungen für unse-
re Forschung. Im Gegenteil entdeckten
wir viele Potenziale für den Frieden.
Beispielsweise einen vergleichsweise
gut funktionierenden Bildungssektor.
Ungleich anderen Orten des Landes
sind sich alle lokalen Akteure – inklu-
sive der Rebellen – einig, Bildung müsse
unterstützt und die Kriegseffekte pro-
aktiv von ihr ferngehalten werden. Im
letzten Jahr verzeichnete Ndélé eine der
höchsten Erfolgsraten des Landes beim
Sekundarabschluss.
Nichtsdestotrotz sind die Kosten des
Krieges auch in Ndélé zu spüren. Ei
-
nerseits auf ganz materielle Art, wie
auch der Weltfriedensindex in seiner
Analyse eine Verbindung zwischen der
Ökonomie und dem Unfrieden zu zie-
hen versucht. Preise für Handelsgüter
sind in Ndélé angestiegen, da diverse
Rebellengruppen an Straßensperren
Zölle erheben. Auch das Investitions-
klima ist in der ZAR extrem schlecht
und in Ndélé aufgrund der Abwesen-
heit des Staates und des Exportverbots
„Ein vereintes, blühendes und friedliches Afrika zeichnet sich ab.”
Fidon Mwombeki, Generalsekretär der Allafrikanischen Kirchenkonferenz
Quelle: Magazin „Welt-Sichten“, Ausgabe 10 / 2018
SCHWERPUNKT 33
ZUR SACHE BW 34 SCHWERPUNKT 32