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SCHWERPUNKT284
ERNÄHRUNG IM FOKUS 09–10 2018
Wege aus der Digitalisierungsfalle
Ernährungskommunikation und Ernährungsbildung
DR. GUNTHER HIRSCHFELDER
Ernährungsbildung ist heute überall. Guten Tipps zu einer gesund-
heitsfördernden Ernährung, die Spaß macht und die Umwelt schont,
kann man kaum entrinnen. Vom Bioladen ausgehend hat sich eine
ganze Themenlawine vorgearbeitet und ist längst im Discounter an-
gekommen. Unterfüttert wird die Informationsut von einer analo-
gen und zunehmend auch digitalen Belehrungsoensive, die Kinder
und Jugendliche seit nunmehr zwei Generationen unter Dauerfeuer
nimmt. Trotzdem essen viele Kinder immer noch gerne Eis, mögen
Jugendliche Energy-Drinks und Kantinengänger Currywurst. Diese
Lücke zwischen Ernährungswissen und Ess-Praxis ist nicht paradox,
sondern logisch. Dabei spielt die digitale Ernährungskommunikation
eine Schlüsselrolle.
Geschichte eines Konikts
In historischer Perspektive zeigt sich für das analoge
Zeitalter eine lange Entwicklungslinie:
• von den frühen Hochkulturen, als die ideale Ernäh-
rung grundsätzlich im Kontext religiöser Erwünscht-
heit stand,
• über die Makrobiotik in der griechischen Antike, als
plötzlich das lange gesunde Leben in den Fokus ge-
riet,
• bis ins Mittelalter, als sich antike mit christlichen
Zielvorstellungen verschränkten.
Theorie und Praxis standen damals wie heute in ei-
nem gewissen Spannungsverhältnis: Es ist das Schick-
sal hochkultureller Ernährungsleitlinien, dass sie allen-
falls bedingt in die Praxis umgesetzt werden (Neumann
2005). Schließlich funktioniert die individuelle Ernäh-
rungssozialisation weniger über theoretische Leitlini-
en als über das soziale Umfeld. Zudem war die Lebens-
mittelauswahl begrenzt und folgte eher funktionalen
Faktoren. Vor allem in der Vormoderne war Sättigung
wichtiger als Hedonismus.
Zaghaft änderte sich das in den 1960er-Jahren, als das
Wirtschaftswunder seine volle Wirkung entfaltet hat-
te und Deutschland in Ost und West eine Phase von
Wohlstand und Aufschwung erlebte. „Genuss ohne
Reue“ war nicht nur Slogan, sondern Leitperspekti-
ve des Konsums. Nach Weltkrieg und Diktatur war Er-
nährung auch eine Facette von Freiheit, und der Fokus
der Gesellschaft lag eher auf Wiederaufbau, Mobilität
und Konsum als auf Ernährungsdiktaten. Und auch die
Wissenschaft fokussierte erst allmählich auf das The-
ma. Zwar hatte bereits Justus von Liebig (1803–1873)
nachgewiesen, welche Nährstogruppen panzliche,
tierische und menschliche Organismen aufgrund ih-
rer chemischen Funktionen für Energiekreislauf und
Stowechsel benötigen (Bässler 1992). Die Ernährungs-
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ERNÄHRUNG IM FOKUS 09–10 2018
lehre avancierte aber erst zu Beginn der 1950er-Jahre in Eng-
land und wenig später auch in Deutschland zu einer eigen-
ständigen akademischen Disziplin: Im November 1956 nahm
der Arzt Hans-Diedrich Cremer die Professur für „Mensch-
liche Ernährungslehre“ an der Justus-Liebig-Universität Gie-
ßen an. 1963 wurde dort der Studiengang „Haushalts- und
Ernährungswissenschaften“ (Ökotrophologie) etabliert (Reh-
ner 2007). Allerdings fand Ernährungsbildung im engeren Sinn
noch lange im Hauswirtschaftsunterricht statt; außerhalb der
Schule in jenen Berufen, die etwas mit Gemeinschafts- und
Krankenverpegung zu tun hatten. Diese waren primär weib-
lich. Gesamtgesellschaftlich war Ernährungsbildung marginal,
das Problembewusstsein schwach ausgeprägt, früher Tod in-
folge von erhöhtem Alkohol- und Tabakkonsum kaum ein
Problem. Für diese Zeit galt: Die Beschäftigung mit der Ernäh-
rung fokussierte nicht primär auf Inhaltsstoe und ihrer phy-
siologischen Wirkung, sondern vor allem auf die Menge. Viel
zu essen war wichtig, energiedichte Speisen galten als gesund
(Hirschfelder 2005). Ernährungsbildung erfolgte weniger über
wissenschaftsinstitutionelle Strukturen als vielmehr über
Werbung für Zigaretten, Bier oder die jungen Convenience-
Produkte. Über „gesunde Ernährung“ wurde nicht viel Auf-
hebens gemacht: Der Ost-West-Konikt, die Ideologien oder
auch die Reize des Kapitalismus standen wesentlich intensiver
in der Diskussion. „Künstliche Kost“ wurde laut Spiekermann
(2018) wertiger wahrgenommen als natürliche. Deshalb konn-
te zum Beispiel der aromatisierte Zuckersirup Tri Top in den
1970er-Jahren zu einer Erfolgsgeschichte werden.
Zu dieser Zeit tauchte eine neue Dimension der Ernährungs-
bildung am Horizont auf. Sie war weniger stoich als viel-
mehr ideologisch orientiert. Bereits zu Beginn der 1960er-Jah-
re war Rachel Carsons Bestseller „Silent Spring“ in Deutsch-
land große Aufmerksamkeit zuteil geworden (Carson 1963).
Die Angst vor stummem Frühling und verödeter Welt gravier-
te sich in der Folgezeit ins kollektive Bewusstsein ein, begüns-
tigt durch die Chemisierung der Landwirtschaft, die Veröent-
lichung der „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome 1972
(Meadows, Meadows, Zahn 1972) und die Ölkrise 1973. Ernäh-
rung war für einen Teil der medialen Öentlichkeit weniger
eine Frage von Gesundheit als eher von notwendigem Schutz
der Welt vor industrieller Zerstörung (Grossarth 2018). Für den
anderen Teil ging es einfach nur um Genuss und Geselligkeit:
Im Oktober 1972 ging die Zeitschrift „Essen & Trinken“ mit
einer Auflage von 400.000 in Deutschland an den Start. Mit
der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 folg-
ten Ängste vor atomarer Strahlung und chemisierter Land-
wirtschaft, die ihren Niederschlag in den Diskussionen um ge-
sunde Ernährung fand, die vor allem als strahlen- und giftfrei
verstanden wurde (Hirschfelder 2018).
Ernährungsbildung unter Konkurrenzdruck
Als die institutionelle Ernährungsbildung in Deutschland Fahrt
aufnahm, bauten sich neue Widerstände auf. Denn Essen
wandelte sich von einem durch Tradition und Sozialisation
geprägten und primär stoich wahrgenommenen zu einem
symbolischen Akt. Um 1990 el die deutsche Einheit mit ei-
ner Zeitenwende zusammen, deren Schlagworte Globalisie-
rung, Digitalisierung und – in Bezug auf die großen politischen
Weltanschauungen des 20. Jahrhunderts – Entideologisierung
lauteten. Aus den nivellierten Mittelstandsgesellschaften, in
denen man sein Verhalten an Herkunft, Stand und Tradition
orientiert hatte, wurden moderne Lebensstilgesellschaften, in
denen sich Menschen plötzlich individuell verorten mussten.
Lebensstile wollen dokumentiert werden, und eines der wich-
tigsten Kommunikationsmittel ist das Essen. Superfood, Vege-
tarismus oder Clean-Eating sind dabei immer auch Bekennt-
nis: Mahlzeiten werden in sozialen Netzwerken gepostet und
zudem zu Inhalten von Narration, Kommunikation und per-
formativer Selbstinszenierung. Nahrungsmittel und die Kom-
munikation über Nahrungsmittel sind oft bedeutender als die
Inhaltsstoe selbst. Energy-Drinks oder amerikanische Steaks
sind insofern nicht nur in ihrer Stoichkeit interessant, son-
dern gerade auch als Kommunikationsmittel (Franken, Hirsch-
felder 2016). Was wir essen, posten wir, wir reden darüber, zei-
gen, was wir uns leisten können oder wie wir die Welt gerne
hätten – nachhaltig oder als Ressource des Konsums. Die neu-
en Pole in dieser Kommunikation sind nicht mehr Kommunis-
mus und Kapitalismus, sondern Urban Gardening oder Vega-
nismus auf der einen und zum Beispiel Wagyu-Rind auf dem
Hightech-Grill auf der anderen Seite. Diese symbolische Auf-
ladung der Ernährung führte zu einer massiven Verwirrung
der Verbraucher (consumer-confusion, Egert, Watz, Lorkow-
ski 2018), die durch die mediale Thematisierungskonjunktur
der Ernährung noch verstärkt wurde. So denken viele stän-
dig über das Essen nach und stellen es in Frage: Macht Kä-
se dick? Verursacht rotes Fleisch Krebs? Wirkt eine basische
Ernährung lebensverlängernd? Die massive Fokussierung auf
das Essen folgt letztlich einer gesellschaftlichen Logik, denn
die spätkapitalistische Globalgesellschaft mit ihrer permanen-
ten Unsicherheit führt dazu, dass sich junge Menschen in ih-
ren biograschen Chancen bedroht fühlen. Ein gesunder und
starker Körper wird auf diese Weise zur Chire für die Bereit-
schaft, einem dynamischen Arbeitsmarkt willig zur Verfügung
zu stehen. Nicht zuletzt deshalb sehen Abiturbälle heute aus
wie Hollywood-Castings, schon Heranwachsende folgen Ei-
weißdiäten zum Muskelaufbau. Ernährung ist Symbol und
Werkzeug gleichermaßen – viele nehmen sie vor allem in die-
sen Kontexten wahr und kommunizieren entsprechend. Insti-
tutionalisierte Ernährungsbildung hat es unter diesen Bedin-
gungen schwer, denn sie tritt in Konkurrenz zu den medialen,
symbolischen und werbekapitalistischen Imperativen.
Ernährungskommunikation als
pädagogische Herausforderung
Kinder und Jugendliche sind die bevorzugte Zielgruppe der Er-
nährungsbildung. Zu Recht. Aber vor allem Jugendliche sehen
sich heute schwierigen Rahmenbedingungen ausgesetzt. In
unserer dynamischen Gesellschaft müssen sie ihre Biograe
designen, Chancen identizieren und nutzen. Hinzu kommt:
Das Begrispaar Gesundheit/Ernährung ist zum vorherr-
schenden Faktor von Narration und Selbstdarstellung in so-
zialen Medien geworden und damit zum Mittel der Selbstver-
ortung (Hirschfelder 2018). Dass Jugendliche unter diesen Um-
ständen wenig Bereitschaft zeigen, sich für Ernährungsregeln
zu begeistern, vor allem wenn sie im Imperativ vorgebracht
werden, liegt auf der Hand. Genauso gut könnte man Emp-
fehlungen für die Partnerwahl abgeben. Ernährungsbildungs-
konzepte, die über die Stoichkeit argumentieren, bringen
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ERNÄHRUNG IM FOKUS 09–10 2018
Jugendliche daher in eine Koniktsituation. Folglich
ist ein Paradigmenwechsel vonnöten, weg von der Er-
nährungsbildung und hin zu einer Ernährungskom-
munikation. Lebensrealitäten, Wünsche und Vorlieben
oder das Verständnis, dass Ernährung auch eine Be-
wältigungsstrategie sein kann (Hirschfelder, Wittmann
2014), müssen dabei gleichberechtigt neben den wis-
senschaftlichen Ernährungszielen stehen und mit die-
sen in eine Schnittmenge gesetzt werden. Auf dieser
Basis wäre dann partnerschaftlich zu diskutieren, für
welche Ernährungswege (im Plural!) sich Jugendliche
bewusst und aktiv entscheiden wollen. Dabei brau-
chen sie Hilfe, denn für diese schwierigen Entschei-
dungen ist Expertise notwendig. Nicht nur was die er-
forderlichen Nährstomengen oder die gängigen Risi-
ken falscher Ernährung betrit, sondern vor allem hin-
sichtlich der Produkte und ihrer Zubereitung: Woran
erkennt man im Geschäft gute Avocados oder frische
Möhren? Und was macht man in der Küche damit? All
das ließe sich leicht umsetzen – wenn Staat, Kinderta-
gesstätten und Schulen in der Lage und bereit wären,
dafür Geld zur Verfügung zu stellen und institutionelle
Räume zu schaen. Das werden sie kurzfristig kaum.
So bleibt nur Selbsthilfe. Die durchaus realisierbar ist:
Warum nicht im Sportverein über den Zusammenhang
von Leistung und Ernährung diskutieren und danach
handeln? Warum nicht im Chemieunterricht kochen
und dabei Aggregatzustände, Osmose und Diusion
erklären? Aber es geht auch niedrigschwelliger – in je-
dem Schulfach, in jedem Gespräch. Denn Ernährung
ist vor allem Kommunikation und Kultur.
Ernährungskommunikation:
ritualisiertes Update
Ernährungsbildung und Ernährungskommunikation
weisen markante Parallelen zu den Religionen und ih-
rer Umsetzung in soziale Realität auf. Es handelt sich
jeweils um Idealkonzepte, die über Imperative kom-
muniziert werden. Aber während die christlichen Kir-
chen a priori davon ausgehen, dass sich die Gläubigen
den Geboten nur annähern können, dass die konse-
quente Befolgung des Dekalogs immer wieder geübt
werden muss, aber kaum je gelingt, wundert sich die
Ernährungsbildung immer noch über den uneinsich-
tigen Adressaten. Denn Ernährungsbildung und Kul-
tur klaen in der Regel weit auseinander, allen voran
der Bereich der Genussmittel. Obgleich das Wissen um
die Gefahren Allgemeingut ist, bleibt riskantes Verhal-
ten weit verbreitet (Hirschfelder 2018). Religionen ha-
ben die Institution Gottesdienst etabliert, die sich in-
zwischen bewährt hat. Der Gottesdienst schat einen
Raum, zentrale Themen regelmäßig und ergebnisof-
fen zu reektieren und zu kommunizieren. Auch Er-
nährungsbildung könnte nach diesem Muster funktio-
nieren, denn sie ist kein einmaliger Prozess, sondern
sollte institutionalisiert, permanent eingeübt und di-
alogisch gestaltet werden. Der Imperativ als Kommu-
nikationsform verbietet sich dabei. Ein spielerischer,
forschender Zugang zum Thema Ernährung ist dabei
evident, bestehende Praxen sollten nicht als „falsch“
deklariert werden. Selbst der Energy-Drink auf dem
Schulhof ist per se nicht verkehrt, denn auch hier fol-
gen junge Konsumenten lediglich einer klaren Logik,
die es seitens der Pädagogik zu entschlüsseln gilt. Und
schließlich ist die individuelle Stiftung von Verhaltens-
sicherheit durch tradierte Formen im Umgang mit Ge-
nussmitteln faktisch größer als die Verunsicherung,
die das Wissen über Spätfolgen und Mortalitätsstatis-
tiken verursacht (Lipinsky 2015). Im Dialog ließen sich
also Fragen formulieren, die auf die Funktionsweisen
von Statussymbolen oder Hedonismus abzielen. Man
könnte gemeinsam überlegen, was eigentlich die Emp-
ndung Ekel bedeutet, wie sich Identität über die eige-
ne Ernährung deniert und woran es wohl liegen mag,
dass bestimmte Lebensmittelprodukte gestern noch
absolut hip waren, heute bei Jugendlichen aber ein
No-Go sind. Übergeordnete Fragestellungen laden Ju-
gendliche dazu ein, sich dem Thema Ernährung selbst-
reektiert zu nähern und Reexion ist immer auch der
erste Schritt zu einer bewussten Ernährung. Derartige
ernährungsbildende Angebote brauchen aber ihren
festen Platz im wöchentlichen oder monatlichen Ab-
lauf, um faktisch Eingang in die alltägliche Wahrneh-
mung der Jugendlichen zu nden. Einen einzigen Sti-
mulus zu setzen reicht nicht aus, einen einzigen Pro-
jekttag zum Thema „Gesunde Ernährung“ beispielswei-
se würden Jugendliche wohl kaum ernst nehmen.
Ernährungskommunikation im
Zeitalter der Kommunikation
Ernährungsbildung ndet heute vor allem in Kinderta-
gesstätte und Schule statt, zunehmend auch in ande-
ren pädagogischen Kontexten. Im Internet steht so viel
Material bereit, dass wir dafür kaum genug Aufmerk-
samkeit haben. Aber diese Kommunikationsmuster
sind bislang überwiegend hierarchisiert. Seitdem die
moderne Ernährungsbildung im 20. Jahrhundert ent-
stand, wurden wissenschaftliche Resultate meist über
Foto: © Yakobchuk Olena/stock.adobe.com
Tablet und Handy ersetzen heute vor allem bei jungen Leuten oft das Kochbuch.
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zentrale Plattformen wie die Deutsche Gesellschaft für
Ernährung in die Institutionen kommuniziert und von
dort aus weiter vermittelt. Die Essregeln waren dabei
primär stoich orientiert und kaum verhandelbar. Im-
merhin haben wir dieser Form von Ernährungsbildung
große Erfolge zu verdanken: ein in weiten Kreisen der
Bevölkerung verbreitetes Wissen über grobe Richtlini-
en, welche Mengen an Fett und Kohlenhydraten emp-
fehlenswert und dass Gemüse und Obst gesund sind.
Gleichzeitig hat die digitale Welt des 21. Jahrhunderts
die alte Bildungswelt zum Einsturz gebracht. Ernäh-
rungswissen wird heute nicht allein institutionell ver-
mittelt, sondern ndet über digitale Medien seinen
Weg zu den Verbrauchern. Die Abkehr vom Analogen
birgt ein sagenhaftes Versprechen, das nicht nur den
Alltag von Jugendlichen nachhaltig beeinusst: den Zu-
gri auf das gesamte Ernährungswissen, und zwar un-
mittelbar auf Abruf. Das Resultat stellt die Ernährungs-
bildung allerdings vor ein erhebliches Problem, denn
an die Stelle vertrauenswürdiger Institutionen sind
nun Akteure gerückt, die ihr oftmals ideologisiertes
Wissen über netzbasierte, nichtlineare Kanäle verbrei-
ten. Deutungshoheiten über das, was richtiges Ernäh-
rungsverhalten sein soll, haben sich disruptiv verscho-
ben.
Im Internet ndet sich ein ganzer Kosmos von meist als
wissenschaftlich verbrämten Informationen über die
Gesundheit respektive Schädlichkeit von Lebensmit-
teln, deren Wahrheitsgehalt an dieser Stelle nicht zur
Diskussion steht. Massenhaft geteilte und damit kom-
munizierte Meldungen über Schweineborsten im Brot
(Okoro 2015), die Wirksamkeit von bei Vollmond abge-
fülltem Wasser (Pons Nadal o .J.) oder Gift im Fleisch,
das für den menschlichen Körper hochgefährlich sei
(Mach die Augen auf o. J.), haben aber durchaus den
Charakter von Fake News. Durch die netzbasierte Ver-
breitung vermeintlich glaubwürdiger Kommunika-
toren erlangen diese Fakten den Charakter von Fa-
ke Facts. Wenn solche facts mit geschicktem storytel-
ling vermittelt und gleichzeitig skandalisiert werden,
ist große Aufmerksamkeit garantiert. Das gilt freilich
auch für plausible und für die Ernährungswissenschaf-
ten akzeptable Informationen, wenn es etwa um die
gesundheitsfördernde Wirkung von Sauerkraut geht
(Zentrum der Gesundheit 2017).
Junge Konsumenten wählen diese Informationskanä-
le bewusst aus und entscheiden je nach Interessen-
lage, welche Informationen sie annehmen möchten,
welchem YouTuber sie vertrauen. Somit haben diese
neuen Inuencer – wie sie von der Werbebranche ge-
nannt werden – spielerisch eines erreicht, was mitt-
lerweile zum Existenzrecht aller Wissensvermittler ge-
worden ist: sie haben Reichweite. Die Stars der neuen
Social-Media-Plattformen, zu denen Sophia Thiel, Le-
oid und AlexV, aber auch Attila Hildmann oder Ingo
Froböse zählen, haben akzeptiert, dass Ernährung für
ihre Zielgruppe immer auch Bekenntnis zu ihrem prä-
ferierten Lifestyle bedeutet. Wichtig dabei ist, dass die
Lebensstile heute als Ernährungsstile ausgebildet wer-
den, die weit mehr sind als Mode – nämlich Bekennt-
nis und Orientierungsanker. Angebote an Jugendliche
in Sachen Ernährungsbildung haben daher deutlich
nachhaltigere Chancen, wenn pädagogische Fachkräf-
te verstehen, dass beispielsweise der neueste Food-
Haul von SaskiasBeautyBlog (SaskiasBeautyBlog 2017)
auf YouTube größeren Einuss auf das Ernährungs-
verhalten hat als alle institutionellen Angebote. Ernäh-
rungsempfehlungen, die vorwiegend auf naturwissen-
schaftlichen Erkenntnissen basieren, können in der All-
tagsrealität nicht gut funktionieren, da Menschen beim
Essen und Trinken vermeintlich irrational, in Wirk-
lichkeit aber einfach emotional handeln (Schreckhaas
2018). Außerdem ist es für viele Jugendliche ohnehin
zweitrangig, welche Stoe ein Lebensmittel beinhaltet.
Viel wichtiger sind seine Symbolik und die Frage, ob
Nahrungsmittel instagrammable sind, also ob sie sich
visuell im eigenen Social-Media-Kanal vorteilhaft dar-
stellen lassen.
Kommunikation unter den
Bedingungen der sozialen und
ethnischen Schere
Kommunikation ist Informationsaustausch. Sie ge-
schieht vom Sender zum Empfänger. Je größer der
Grad an Akzeptanz und Kompatibilität ist, desto mehr
Information lässt sich erfolgreich übermitteln. In ge-
schlossenen sozialen Kreisen funktioniert Ernährungs-
bildung daher recht gut, zumal wenn nicht nur Akzep-
tanz für das Thema vorhanden ist, sondern auch so-
ziale Kontrolle. Beispielsweise haben Verhaltensimpe-
rative in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft der
Bonner Republik recht gut funktioniert, in der DDR so-
wieso. Im 21. Jahrhundert önen sich nun diverse so-
ziale Scheren: Einige ethnische oder religiöse Gemein-
schaften verleihen ihren selbstgewählten oder akkul-
turationsimmanenten Abgrenzungstendenzen durch
spezische Ernährungsstile Ausdruck oder sie reagie-
ren mit Abschottung auf Angliederungsdruck. Andere
Gruppierungen werden sozial und ökonomisch abge-
Foto: © leungchopan/stock.adobe.com
Ethnische, religiöse oder soziale Gruppen zum Beispiel nutzen verschiedene Ernährungsstile
zur Identitätsstiftung und Abgrenzung voneinander.
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sondert. Das betrit insbesondere Menschen am un-
teren Ende der Einkommens- und Bildungsskala. Er-
nährungsbildung muss genau hier ansetzen. Die Bil-
dungselite der urbanen Kreativregionen bedarf kaum
weiterer Belehrung und Aufklärung. Menschen, bei
denen das Ernährungsoptimierungspotenzial deut-
lich identizierbar ist, sind dagegen häug nur über
schwache Kommunikationsbrücken mit jenen verbun-
den, die Ernährungswissen bereithalten: Langzeitar-
beitslose und teils kaum integrierte Migrierte aus den
Armutsregionen des Balkan, aber auch Geüchtete mit
geringer formaler Bildung aus dem irakischen Sind-
schar-Gebirge oder aus Afghanistan. Nicht nur gänz-
lich andere Ernährungsmuster, sondern auch häug
auftretende sprachliche Barrieren und deutlich dif-
ferente Gesundheits- und Krankheitskonzepte ben-
den sich im Gepäck der Migrierten (Hirschfelder 2018).
Beispielsweise ist eine positive Wahrnehmung von
Zucker zu beobachten, die fest verankert und kaum
zu durchbrechen ist, denn Süßwaren und Softdrinks
sind Symbol für Wohlstand und Fortschritt. Zucker ist
in den Herkunftsregionen Asiens und der arabischen
Welt das billigste Luxusgut und als Markenprodukt in
Deutschland verzehrt Symbol, an der westlichen Kon-
sumgesellschaft teilzuhaben. So lässt sich zum Beispiel
die Beliebtheit von Energy-Drinks erklären, denn deren
Konsum ist symbolisch: Wer sie konsumiert, der parti-
zipiert am westlichen Lebensstil (Hirschfelder, Schreck-
haas 2017). Zucker ist zudem leicht zu beschaen, er
ist halal, enthält weder Schwein noch Alkohol und gilt
als durchaus gesund. Diese Meinung ist durch Kultur-
muster, Tradition und Sozialisation fest eingraviert;
das Muster zu durchbrechen, bedarf neuer Kommuni-
kationswege.
Conclusio
Ernährungsbildung und Ernährungskommunikation
haben seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine funda-
mentale Transformation erfahren. Um die Wende zum
21. Jahrhundert gerieten sie zunehmend auf die Er-
folgsspur. Inzwischen hat die Digitalisierung zu neuen
Kommunikationsstrukturen geführt. Diese sind nicht
mehr hierarchisch, sondern asymmetrisch. Institutio-
nengesteuerte Ernährungsinformation hat ihren An-
spruch auf Deutungshoheit eingebüßt. Jugendliche
und bald auch Kinder informieren sich über netzba-
sierte Kanäle verschiedenster Provenienz und verwe-
ben die Informationen mit performativen und kommu-
nikativen Aspekten eines Lebensstils, der zunehmend
zum Ernährungsstil und dabei auch zum symbolischen
Kommunikationsmedium wird. Im digitalisierten Alltag
gerade der Jugendlichen wird Ernährung heute einge-
setzt, um Zugehörigkeit zu demonstrieren oder sich
abzugrenzen.
Ernährung ist Kommunikation und Kommunikation ist
immer auch Sprache. Eine Ernährungsbildung, die am
Alltag Jugendlicher andocken will, muss die Gramma-
tik dieser Sprache begreifen (Hirschfelder, Schreckhaas
2018). Dabei bedarf es seitens der Pädagogik keiner
tiefgreifenden Medienanalyse, um zentrale Codes zu
entschlüsseln. Fachkräfte sollten sich in einem ersten
Schritt einfach mit den Kommunikationsplattformen
vertraut machen, herausnden, welche netzbasierten
Kanäle genutzt werden. Denn wenn ein grundsätzli-
ches Verständnis für die Bedürfniswelt Jugendlicher si-
gnalisiert wird, entsteht Bereitschaft zum Dialog und in
der Folge ein bewusster, zumindest reektierter Um-
gang mit Ernährung. Geboten ist aber auch eine digita-
le Ernährungsbildungsstrategie, die nicht hierarchisch,
sondern dialogisch und interaktiv ist, die mit Jugendli-
chen redet und die nicht zu ihnen spricht. Dabei soll-
ten neue Wege beschritten, jugendliche Netzaktivisten
als Katalysatoren genutzt und weichere Ziele formu-
liert werden. Die Unterscheidung in falsche und rich-
tige Ernährungsziele wird dabei ebenso wenig funk-
tionieren wie bisher. Die Zeit der allgemeinen Ernäh-
rungsempfehlungen und Schautafeln mit Ernährungs-
kreisen ist endgültig vorbei. ❚
>> Die Literaturliste nden Sie im Internet unter „Literatur
verzeichnisse“ als kostenfreie pdf-Datei. <<
DER AUTOR
Gunther Hirschfelder studierte Geschichtswissenschaft, Politik,
Volkskunde und Agrarwissenschaft an der Universität Bonn.
1992 erfolgte die Promotion an der Universität Trier.
Nach der Post-Doc-Phase in Trier und Manchester, Habilitation und
Professurvertretungen in Mainz und Bonn ist er seit 2010 Professor für
Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg.
Prof. Dr. Gunther Hirschfelder
Universitätsstraße 31, 93053 Regensburg
gunther.hirschfelder@sprachlit.uni-regensburg.de
Foto: © Ermolaev Alexandr/stock.adobe.com
Ein möglicher Weg aus der Digitalisierungsfalle: Wissen, was bei jungen Leuten angesagt ist,
Verständnis entwickeln und über Themen und Inhalte miteinander ins Gespräch kommen.