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1
Malte Brinkmann
Wiederholen, Greifen, Begreifen
Videoanalyse kindlichen Übens aus phänomenologischer Perspektive (Moritz und die
Flasche)
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf ein Video („Moritz und die Flasche“), in dem
ein etwa anderthalbjähriger Junge für etwa 30 Minuten mit einer Flasche hantiert. Das Video
wurde vom Großvater in der Küche aufgenommen.
Die folgenden Ausführungen berühren mit ihrer phänomenologischen Betrachtungsweise
methodologische und gegenstandstheoretische Fragen der Frühpädagogik. Zunächst sollen
aus der Perspektive der bild- und kulturwissenschaftlichen Forschung sowie aus der
pädagogisch-phänomenologischen Videographie einige Bemerkungen zum Betrachten und
Verstehen von Videos unter Bedingungen von Unsichtbarkeit (1) und Performativität (2)
vorangestellt werden. Verkörperungen können so als sichtbarer Gegenstand videographischer
Beschreibung und Analyse bestimmt werden (3). Danach werde ich eine phänomenologische
Deskription des Videos vorstellen (4). Diese werde ich anschließend im Sinne eines
prospektiven und produktiven „Einlegens“ von Sinn aus der Perspektive der
phänomenologischen Erziehungswissenschaft analysieren, zum einen als Verkörperung im
Horizont der Erfahrung von Um-zu-Struktur, Unzuhandenheit und Flow (5) und zum anderen
als elementare Übung (6). Die Ausführungen sind im Bereich der qualitativen „theoretischen“
bzw. „reflexiven Empirie“1 zu verorten, in denen Bildungstheorie und Bildungsforschung
wechselseitig miteinander in Bezug gesetzt werden. Qualitative Methodologie und
Gegenstandskonstitution in der Pädagogik werden in einen systematischen Zusammenhang
gebracht2. Dieser theoretisch-empirische Zusammenhang der phänomenologischen
Betrachtungsweise wird nach einem Fazit (7) in einem Ausblick für die Frühpädagogik
fruchtbar gemacht (8).
1. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im Video – eine Frage des Verstehens
Bildwissenschaftliche Studien gehen von der Oberflächlichkeit und Materialität des Bildes
aus3. Die vermeintlich banale Feststellung, dass Moritz im Video nur ausschnitthaft und
perspektivisch zu sehen ist, erweist sich bei genauerer Überlegung als wichtige Voraussetzung
eines beschreibenden Zugangs zum Video. Absichten und Motive sind genauso unsichtbar wie
alle anderen Bewusstseinsvorgänge, etwa Gefühle oder Lernen. Diese sind nur mittelbar aus
den Äußerungen der Protagonisten zu erschließen. Es gilt also, dieses Schlussverfahren
transparent zu machen. In der Hermeneutik wird es als Verstehen bestimmt. Nach Dilthey ist
Verstehen ein Schließen von einem Äußeren auf ein Inneres4: Wir sehen den lachenden Moritz
und schließen daraus, dass er lustig, freudig oder glücklich ist. Wir sehen eine Handlung, etwa
die, dass der Deckel auf die Flasche gesetzt wird, und schließen daraus, dass Moritz den Deckel
auf die Flasche bringen möchte. Das Verstehen wird damit als ein Vorgang der Dekodierung
vom Äußeren und Oberflächlichen auf ein Inneres und Verborgenes bzw. Latentes hin
bestimmt. Es beruht auf der Voraussetzung, dass eine „Hinterwelt“ (Nietzsche) des Sinns
existiert, die dem Betrachter (zunächst) verborgen ist. Es basiert zudem auf der Macht des
Interpreten5, das sagen zu können, was nicht sichtbar, aber sagbar und was dem Zu-
Verstehenden (hier Moritz) gegebenenfalls selbst verborgen ist.6
2
Im Unterschied zum konventionellen hermeneutisch-rekonstruktiven Ansatz gehen
phänomenologische Ansätze davon aus, dass nicht die Differenz von Innen und Außen,
sondern die Differenz von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit entscheidend ist. Bei der
Betrachtung von Bildern und Videos entsteht eine Sphäre des zwischenleiblichen Antwortens,
in der sich Sichtbares und Unsichtbares verschränken,7 ohne dass es ein Richtig oder Falsch
gibt. Jemand oder etwas zeigt sich den Forschenden, indem er/sie/es sich zum Ausdruck bringt
und zugleich ist er/sie/es in einigen Perspektiven der Äußerung verdeckt oder verschattet. Der
oder die Forscher/-in reagiert auf das Sichtbare, indem er oder sie auf diesen Appell leiblich-
affektiv antwortet. In diesem Appell des Sich-Zeigens äußert sich zugleich der symbolische
Überschuss der Bilder.8 Dieser erzeugt ihre Mehrdeutigkeit und Polyvalenz. Verstehen ist
daher kein Schließen von Außen nach Innen (Dilthey), kein Dekodieren, sondern eine leibliche
Praxis des Antwortens.9 In dieser Praxis inkarnieren sich die leiblichen Entäußerungen und
Verkörperungen als Affekte und Antworten. Interessant für die Beschreibung von Bildern und
Videos ist daher die leiblich-affektive Zwischensphäre.10 Dies hat nicht nur eine andere
Bestimmung des Bildes (bzw. des Videos), sondern auch eine andere Bestimmung des
Verstehensprozesses zur Konsequenz.11
2. Performativität des Videos
In Videos werden Bilder als bewegte Bilder mit technischen Apparaturen aufgenommen. Sie
lassen sich als gleichsam prothetische Formen eines technischen Sehens bezeichnen. Videos
werden insofern nicht nur in ihrer eigenen Wirklichkeit als etwas betrachtet, sondern sind
darüber hinaus als technisierte Formen der Wirklichkeitserzeugung in den Blick zu bringen.
In der erziehungswissenschaftlichen Videographie12 wird von der Performativität des Videos
ausgegangen. Videos bilden nicht eine Wirklichkeit ab, sondern sie erzeugen sie auf eine
besondere Art und Weise: Die Kameraführung und der Zoom sowie der Schnitt geben eine
Perspektive vor und erzeugen damit besondere Effekte. Man sieht von Moritz beispielsweise
nur die obere Körperhälfte, ganz zu sehen ist der gesamte Körper nur selten. Auch sieht man
die Küche und das Interieur nur ausschnittsweise und man kann gut erkennen, wie Moritz auf
den Kameramann (Opa) und/oder auf die Kamera reagiert. Wir wissen aber nicht, ob Moritz
weiß, was eine Kamera oder ein Handy ist und welche Zwecke sie oder es erfasst. Trotzdem
sieht man in einigen Sequenzen, wie er die Kamera fixiert und auf sie reagiert und dabei
zugleich auf den Kameramann „Opa“ antwortet. Die Kamera als dritter Akteur13 bringt also
ein künstlich-performatives Moment in das Video, das eine eigene Wirklichkeit hervorbringt.
Für diese Performativität finden sich im Video mit Moritz einige Beispiele: In Minute 2.03 hat
Moritz nach einigen Wiederholungen den Deckel (zufällig?) mit einem Knacken auf die Flasche
gebracht. Der Opa reagiert erstmals mit einem: „Ja, ja!“ Moritz lacht und schaut kurz in die
Kamera, um sich danach direkt wieder der Flasche zu widmen. Er kehrt zurück zur Bewegung
der Flasche zum Mund und des Deckels zur Flasche, bis es ihm noch einmal gelingt, dass der
Deckel kurz auf der Flasche festsitzt. Erneut ermutigt ihn der Kameramann, die Flasche fällt
um und der Deckel ab. Nachdem der Deckel wieder auf die Öffnung gebracht wurde,
kommentiert der Kameramann: „Ja! Es geht!“ Deutlich ist hier, dass Moritz in dieser
spezifischen Handlung bestärkt wird. Der Opa hat anscheinend den Eindruck, Moritz wolle den
Deckel auf die Flasche bringen und belobigt diese Tätigkeit. In Minute 13.44 streckt Moritz
beide Arme in die Luft und wendet sich deutlich dem Kameramann zu. Der Opa antwortet mit
der direkten Bestätigung: „Ja, hast Du es hingekriegt!“ Performativität bedeutet hier, dass
durch den Großvater nicht nur Sichtbares beeinflusst, sondern auch Unsichtbares
hervorgebracht wird. Aufgrund der Kameramann-Interaktion denkt der Betrachter, Moritz
3
habe eine Absicht. Diese wird aber nicht auf technischer, sondern auf interpretativer Ebene
durch den Kameramann „sichtbar“.
Allerdings: Es handelt sich um die Perspektive eines Erwachsenen, des Opas. Ob Kinder in
diesem Alter in gleicher Weise instrumentell handeln oder ob sie nicht vielmehr eine andere,
„wilde“ Form des Denkens und Handelns praktizieren14, die sich nicht mit der Rationalität und
Instrumentalität erwachsenen Umgangs mit den Dingen und der Welt deckt, sondern sich ihr
entzieht und widersetzt – diese Frage kann hier gestellt werden. Die phänomenologische
Kindheitsforschung hat die Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen herausgearbeitet
und belegt, dass sich der Eigensinn kindlichen Erfahrens nicht aus der Perspektive
erwachsener Rationalität und Instrumentalität erfassen lassen kann.15
Es bleibt also unentschieden, welche Absicht Moritz verfolgt. Die Antworten von Moritz auf
den Opa können auch als Reaktionen auf dessen Bestätigungen erfolgt sein, d. h. sie sind
performative Effekte der Aktionen des Opas und nicht Absichten von Moritz.
Phänomenologisch kann zwischen einer (unsichtbaren und instrumentellen) Absicht und einer
Intention (als Gerichtetheit auf Etwas) unterschieden werden. Husserl bezeichnet
Intentionalität als aufmerksames Wahrnehmen von etwas als etwas. Man liebt, fürchtet, sieht
oder urteilt nicht bloß, sondern man liebt etwas Begehrenswertes, fürchtet etwas
Bedrohliches, sieht einen Gegenstand (wie die Flasche) oder urteilt über einen Sachverhalt.
Der intendierte Akt braucht also einen Gegenstand. Der Leib wird dabei als natürliches Ding
bzw. Naturobjekt und als Empfindungsmedium verstanden. Der Körper wird zum Leib „durch
das Einlegen der Empfindungen im Abtasten (…), durch die Lokalisation der Empfindung als
Empfindung“.16 Wahrnehmungen und Erfahrungen bekommen so eine Bedeutung und eine
Qualität, die aber nicht nur subjektiv, sondern ebenso vom Gegenstand bzw. Phänomen
hervorgerufen ist. Mit dieser „passiven Synthesis“ (Husserl) werden Subjekt, Gegenstand und
Sinn zusammengebunden. Merleau-Ponty nennt diese Verflochtenheit Chiasmus. Darin
unterscheidet sich die phänomenologische Perspektive deutlich vom Konstruktivismus.17
Im Handeln von Moritz lassen sich daher durchaus Intentionen als gerichtetes und
fokussiertes Wahrnehmen und Tätigsein beschreiben. Diese sind aber weder mit
(unsichtbaren) Absichten noch mit instrumentellen Zielen zu verwechseln. Im Zuge einer
kritischen Reflexion der Performativität des Videos kann herausgearbeitet werden, dass die
Kamera-Interaktion nicht nur Moritz’ sichtbares Verhalten beeinflusst (indem der
Kameramann ihn bestärkt), sondern auch eine (unsichtbare) Interpretation des Geschehens
hervorbringt.
3. Verkörperungen
Das Verstehen von Bildern bzw. Videos lässt sich phänomenologisch als ein Antwortgeschehen
beschreiben. Wir sehen Moritz und antworten spontan auf seine sprachlichen und nicht-
sprachlichen Äußerungen. Diese sind in ihrer Oberflächlichkeit zu beschreiben, ohne dass
Absichten oder Motive unterstellt werden müssen. In der phänomenologischen Videographie
ist die Kategorie der Verkörperung als Operationalisierung leiblich-körperlicher
Entäußerungen von Bedeutung.18 In der phänomenologischen Philosophie und Pädagogik
wird, ausgehend von Husserl, der Leib als Weltorgan der Erfahrung qualifiziert und Leib-Sein
von Körper-Haben unterschieden.19 Erfahren vollzieht sich im und durch den Leib. Das
leibliche Verhältnis ist prä-verbal und prä-kognitiv. Der Leib ist nicht Gegenstand (also Ding
oder Objekt) und auch nicht Zentrum des Ich. In der Nachfolge von Husserl, aber entgegen
dessen egologischer Perspektive20 wird von Merleau-Ponty und Plessner der expressive
Charakter des Leibes betont. Dieser wird in den kinästhetischen Empfindungen21 und den
4
kinästhetischen Bewegungen22 manifest – in Mimik, Gestik, Haltung, in Sprache sowie in
Gefühlen wie Lachen und Weinen.23 Diese Entäußerungen materialisieren sich in der
praktischen Verkörperung. Verkörperungen sind leibliche Formen des Antwortens auf Andere
oder Anderes unter Bedingung sozialer und gesellschaftlicher Ordnungen, die sich darin im
Modus der Wiederholung habitualisieren und inkarnieren.24 Verkörperungen sind sichtbar,
spürbar und erfahrbar. Mit der Verkörperung lassen sich subjektive Entäußerungen in ihren
nicht-sprachlichen Dimensionen empirisch beschreibbar machen. Weil subjektiver Sinn in
soziale und welthafte Interaktionen eintritt und sich darin verkörpert, wird er für eine
qualitative Empirie erfassbar. Für diese theoretische und empirische Perspektive auf die
„konkrete Subjektivität“25 sind die lebensweltlichen, sozialen und leiblichen Bezüge von
besonderer Bedeutung.26
Vor diesem theoretischen und methodologischen Hintergrund möchte ich im Folgenden eine
knappe phänomenologische Deskription vorstellen. Diese versucht, in tentativer Annäherung
das zu beschreiben, was sich in seiner „leibhafte[n] Selbstgegebenheit“27 als etwas
Bestimmtes (als Moritz, als Handlung usw.) zeigt. Sie versucht, eine qualitative gehaltvolle,
dichte und prägnante Beschreibung des Sichtbaren zu erstellen, d. h. „sich gerade nicht um
Deutungen zu bemühen, sondern lediglich nur das festzuhalten, was sich selbst zeigt, mag es
auch noch so dürftig sein“28. Die Deskription basiert daher auf der phänomenologischen
Reduktion, d. i. die Einklammerung von Vorurteilen und subjektiven oder objektivistischen
Perspektiven, etwa jener, dass Moritz eine Absicht verfolge.29
4. Phänomenologische Deskription
Wir sehen Moritz auf dem Küchenboden mit der Flasche beschäftigt. Sichtbar ist vor allem der
Oberkörper. Die Kameraperspektive erfasst ihn meist frontal und zentral. Nur ein Mal, als der
Deckel wegspringt (Minute 5.04), sieht man auch Moritz von hinten, wie er dem Deckel
hinterher krabbelt. Die Kamera schwenkt von anfänglich erhöhter Position auf eine
ebenbürtige Perspektive herab, begibt sich also auf Moritz’ „Niveau“. Die Flasche ist aus
Plastik (PET, Aldi, Orange). Im Hintergrund ist Musik zu hören (Klassik-Radio Bayern, z. B.
Vivaldi). Die Szene spielt in der Küche. Der Ofen ist angeschaltet. Die Küchenmöbel stammen
von Flötotto, einem Anbieter hochwertig verarbeiteter Produkte. Dieses und die sichtbare,
wohlgeordnete und saubere Einrichtung lassen auf ein gehobenes, bürgerliches Milieu
schließen.30
Moritz’ Körper befindet sich durchgängig in einer gespannten Haltung. Der Tonus der oberen
Körperhälfte bleibt über die gesamte Dauer des Videos (mehr als 30 Minuten) sehr hoch. Er
korrespondiert mit den in regelmäßigem Rhythmus ausgeführten Tätigkeiten mit Flasche und
Deckel. Dabei fixieren die Augen Hand, Deckel und Flasche. Die Flasche wird durchgängig links
gehalten, der Deckel rechts. Der Deckel wird wiederholt auf die Flaschenöffnung gesetzt,
wobei manchmal das akustische Signal des Einrastens ertönt (siehe Punkt 2). Die Auge-Hand-
Koordination ist für die Tätigkeit von Moritz eine erste Auffälligkeit. Eine zweite ist die
beeindruckende Frequenz der Wiederholung. Der Fokus der Augen ist auf ein zentrales
Moment (Flasche und Deckel) konzentriert. Mit welcher Absicht diese Haltung ausgeführt
wird, lässt sich nicht sagen. Allerdings ist die Intention offenkundig. Sache, Hand und Auge
bilden so ein Dreieck fokussierter Tätigkeit von langer Dauer. Diese Dauer seitens Moritz‘ kann
als eine bestimmte Form von Muße beschrieben werden, sich ausschließlich mit diesem Feld
und diesem Ding zu beschäftigen. Für die Atmosphäre bedeutet dies, dass zusammen mit dem
ruhigen Hintergrund, der klassischen Musik und der abwartenden und bestätigenden Haltung
5
des Opas ebenfalls der Eindruck von Ruhe und Muße erzeugt wird. Moritz’ wiederholte
Verkörperungen werden durch eine dritte Auffälligkeit ergänzt. Er nimmt in regelmäßigen
Abständen die Flasche bzw. den Flaschenrand in den Mund. Wiederum ist nicht sichtbar,
welche Absicht er verfolgt. Sichtbar ist nur, dass er damit die Flasche nicht nur taktil (mit den
Händen), sondern auch mit dem Mund, d. h. oral wahrnimmt. Moritz’ fokussierte und
wiederholte Tätigkeit kann so als eine bestimmte Art und Weise der Erfahrung von Dingen
beschrieben werden: taktil und oral. Achtet man weiter auf die Verkörperungen von Moritz,
so fällt eine vierte Besonderheit auf: Moritz atmet tief, entspannt und laut, wiederum im
wiederholenden Rhythmus seiner Tätigkeiten. Lautes Atmen lässt sich zusammen mit der
Auge-Hand-Fokussierung und der wiederholten Tätigkeit als Hinweise auf eine konzentrierte
Fokussierung nehmen. Sie korrespondiert mit dem Tonus des Körpers und dem Rhythmus der
Wiederholungen.
Zusammenfassend: Moritz’ Verkörperungen zeigen in dem Dreieck Auge-Hand-Flasche bzw.
Auge-Hand-Deckel sowie in der gespannten Körperhaltung und in dem rhythmischen und
lauten Atmen Anzeichen fokussierter Tätigkeit in entspannter Anspannung. Dabei stehen
taktile und orale Erfahrungen im Mittelpunkt.
5. Hand – Handeln – Unzuhandenheit
Ich habe in der phänomenologischen Deskription die sichtbaren Verkörperungen von Moritz
herausgearbeitet: Auge-Hand-Koordination, gespannte Körperhaltung, lautes Atmen,
wiederholte und fokussierte Tätigkeit in beachtlicher Frequenz. Im Anschluss daran möchte
ich nun in einem ersten interpretativen Schritt die Bedeutung der Hand im Greifen und
Begreifen von Moritz herausstellen. Mir geht es nun darum, einen ersten Zusammenhang
zwischen dem sichtbaren Ausdruck und dem Nicht-Sichtbaren herzustellen. Dabei möchte ich
das Verhältnis von Leib und Denken bzw. von Handeln und Reflexivität in den Mittelpunkt
rücken. Dieses Verhältnis ist meines Erachtens nicht nur in diesem Video ein zentraler Aspekt.
Es ist auch aus bildungs- und lerntheoretischer Perspektive von zentraler Bedeutung. Erst
wenn geklärt ist, ob eine Rückbezüglichkeit im Handeln von Moritz vorliegt, d. h., ob seine
Tätigkeit nicht nur ein schieres Verhalten, sondern auch und vor allem als reflexiv zu
bezeichnen ist, lassen sich Aussagen darüber treffen, ob hier von Lernen, Üben oder Bildung
gesprochen werden kann.
Methodologisch verfahre ich so, dass ich nun – gezielt und reflektiert – eine bestimmte
bildungs- und lerntheoretische Perspektive in Anschlag bringe. Diese wird produktiv und
prospektiv in die deskriptiv ermittelten Daten „eingelegt“, so der Ausdruck Husserls.31 Im
phänomenologischen Verstehen wird daher nicht ein latenter, verborgener Gehalt ausgelegt,
sondern Sinn produktiv eingelegt.32 Theorie fungiert damit als „Vorgriff“ auf eine Praxis, die
sich im erfahrungs- und differenzsensiblen „Durchgang“ durch das Material ausweisen
muss.33 Diese Praxis wird auch als Signifizierung bezeichnet34, d. h. als Artikulation von etwas,
das sich erst in einer sprachlichen, interpretativen und tentativen Distanz als etwas erweist.35
Dieses produktive und prospektive Verfahren hat daher weniger etwas mit der
hermeneutischen Interpretation als mit der Abduktion gemeinsam.36 Es verweigert sich dem
falschen Dual von Induktion und Deduktion.
In der wiederholten Tätigkeit mit Deckel und Flasche erlangt die Welt- und Dingwahrnehmung
von Moritz eine bestimmte Qualität. Die Hände spielen eine wichtige Rolle und darin das
Tasten mit und durch die Hand: Moritz fasst, greift, drückt und dreht. Husserl zeigt, dass die
Hand „Empfindungsträger“37 ist, mit dem einerseits das Ergriffene in seinen natürlichen
6
Qualitäten (Härte, Oberflächentextur, Feuchtigkeit usw.) wahrgenommen wird, und sich
zugleich die Hand dabei als das Wahrnehmende spürt. Die Wahrnehmung ist dabei
kinästhetisch, d. h. bewegend als bewegte und bewegende Äußerung des Leibes in seiner
vorsprachlichen Präsenz.38
Mit Heidegger lässt sich die hand-greifliche und hand-begreifliche Dimension des Handelns
von Moritz deutlich machen. Mit der Perspektive auf die Hand im Handeln zeigt sich eine
leibliche Reflexivität vor ihrer kognitiven und sprachlichen Artikulation.39 Moritz gibt in seinen
leiblich-sinnlichen Aktivitäten (Fühlen, Schmecken, Sehen, Handeln) eine Antwort auf einen
vorgegebenen Anspruch (des Dings, der Sache, der Welt). Mit Heidegger lassen sich im
Handeln von Moritz zwei Aspekte herausarbeiten: Die Erfahrung von Unzuhandenheit im
Handeln und der elementare Zusammenhang von Greifen und Begreifen:40
Heidegger geht vom Unterschied zwischen Vorhandenem (zum Beispiel der Küchenmöbel)
und Zuhandenem (der Flasche, des Deckels) aus. Das kulturell und praktisch Zuhandene
basiert auf einer Um-zu-Struktur.41 Diese Um-zu-Struktur wird im Gebrauch kultureller Dinge
sinnfällig. Moritz verwendet die Flasche und den Deckel nicht als bedeutungsloses Objekt,
auch nicht als Instrument, sondern als bedeutsames Ding, als „Zeug“.42 Die Flasche hat für
Moritz eine bestimmte Bedeutung. Diese Bedeutung ist unsichtbar. Sichtbar ist die
intentionale Geschäftigkeit Moritz’, die auf diesen Gegenstand fokussiert ist und ihn handelnd
auf eine bestimmte Art und Weise behandelt. Diese Art und Weise im Gebrauch wird dann
besonders sinnfällig, wenn die Um-zu-Struktur unterbrochen ist, wenn also die Dinge im
Gebrauch eine Widerständigkeit zeigen. Heidegger macht deutlich, dass diese
Widerständigkeit der Dinge (wenn der Bleistift abgebrochen oder die Schere stumpf ist43) uns
anregt, unsere Perspektive auf den Vollzug im Gebrauch und auf die Erfahrungen dabei zu
richten. Der Deckel entgleitet Moritz’ rechter Hand und springt fort, die Flasche fügt sich nicht
seiner zugreifenden linken Hand usw. Der Gebrauch wird ‚schwierig‘. Flasche und Deckel
drängen sich gleichsam in ihrer Widerständigkeit auf. Sie fordern auf, es noch einmal zu
probieren.44 Damit kommen im Vollzug Momente der „Unzuhandenheit“, also Widerstände
und Störungen in den Blick.45 Nicht das objektiv Vorhandene, sondern das praktisch und
kulturell Zuhandene verweist so auf eine Unzuhandenheit, die sich im Spiel von Können und
Nicht-Können zeigt.
Moritz spürt beim Greifen aber nicht nur den Deckel und die Flasche auf eine bestimmte
(unsichtbare) Art und Weise und macht dabei auch eine Erfahrung der „Unzuhandenheit“. Er
spürt auch sich selbst, genauer: seine Hände beim Greifen, Zugreifen – und Begreifen. Denn
die Hand ergreift nicht nur, sie begreift auch. Es gibt, wie Heidegger zeigt, einen elementaren
Zusammenhang von Handeln (Greifen, Ergreifen) und Reflexivität (Begreifen). Heidegger
zeigt, dass wir es im Handeln mit einer vor-sprachlichen Form von Reflexivität im Handeln zu
tun haben. Damit wird eine elementare Verbindung von Ergreifen und Begreifen bzw. von Leib
und Denken deutlich. „Jede Bewegung der Hand in jedem ihrer Werke trägt sich durch das
Element, gebärdet sich im Element des Denkens. Alles Werk der Hand beruht im Denken.“46
Denken ist eine Sache der Tat, eine Sache der Situierung des Leibes und eine Sache der
Beziehung zu den Dingen. Hand, Handeln im Sinne des Sich-Gebärdens und Denkens gehören
zusammen.47 Derrida ergänzt zu dieser Passage: „Die Hand denkt, bevor sie gedacht wird, sie
ist Denken, sie ist ein Gedanke, sie ist das Denken“.48 Damit ist nicht eine kognitive und
logische Reflexivität, sondern ein leiblich-taktiles Verhältnis zu sich selbst im Modus der
Achtsamkeit gemeint. Die Selbstwahrnehmung basiert also auf einem elementaren
kinästhetischen Zurückgebeugtsein auf sich selbst. Sie verbürgt kein Selbstbewusstsein,
sondern ein Können, das sich übend zu einer Haltung formieren lässt (s.u.).49
7
Bei Moritz drückt sich die Um-zu-Struktur im Ergreifen der Flasche und des Deckels sowie im
Begreifen der Unzuhandenheit auf eine besondere Weise leiblich-verkörpernd aus. In der
Beschreibung hatte ich darauf hingewiesen, dass sein Blick durchgängig auf die Hände und die
Flasche gerichtet ist und Sache, Hand und Auge ein Dreieck konzentrierter Tätigkeit von langer
Dauer bilden. Die Auge-Hand-Fokussierung im Gebrauch ist nach Polanyi Ausdruck eines
„impliziten Wissens“50, das sich als „fokales Bewusstsein“51 äußert. Merleau-Ponty spricht in
ähnlicher Weise von einem „intentionalen Bogen“ des Körperschemas.52 „Fokales
Bewusstsein“ bzw. „intentionaler Bogen“ äußern sich in intentionalen Verkörperungen. Sie
richten sich primär auf das Intendierte und nicht auf das Objekt. Im Hämmern wird der Nagel
(nicht der Hammer) fokussiert; der Seiltänzer schaut auf das Ende des Seils, nicht auf seine
Füße. Bei Moritz sieht man deutlich, dass mit der Fokussierung im intentionalen,
wiederholenden „Bogen“ sowohl eine Gespanntheit im Körpertonus als auch eine Gelöstheit
im mimischen und gestischen Ausdruck einhergeht. Diese Kombination könnte auf eine
Selbstvergessenheit hindeuten, die Csikszentmihahlyi als Flow bezeichnet.53 Darin kommt es
zu einer Verschmelzung von Handlung und Bewusstsein, zu einer Zentrierung der
Aufmerksamkeit auf ein beschränktes Feld und gegebenenfalls sogar zu einer euphorischen
Stimmung. Um-zu-Struktur, Unzuhandenheit und Flow sind nicht nur Kennzeichen
wiederholten, fokussierten und konzentrierten Tuns, sondern auch, das werde ich im
nächsten Absatz noch abschließend darstellen, Kennzeichen wiederholenden Übens.
6. Üben – fokussiertes und wiederholendes Lernen
Ich möchte nun in einem letzten Schritt, wiederum im Sinne des produktiven und abduktiven
„Einlegens“ von Sinn, die These verdeutlichen, dass Moritz nicht nur handelt, sondern übt.54
Mit vier Kennzeichen des Übens (Wiederholen, Nicht-Können, Isolieren und Komponieren,
Variieren und Rhythmisieren), die sich auch bei Moritz zeigen, bringe ich eine pädagogische
Perspektive auf diese besondere Lernform in Anschlag.
Zunächst ist offensichtlich: Moritz wiederholt seine Tätigkeiten. Übungen sind gekennzeichnet
von Wiederholungen. Aber anders als die Sentenz „Üben, üben, üben“ suggeriert, ist die
sinnvolle Wiederholung keine einfache Repetition desselben und auch keine
Prozeduralisierung vormals gespeicherter, kognitiver Regeln. In der Wiederholung kehrt nicht
dasselbe noch einmal identisch wieder. Vielmehr wird im Wiederholen das Wiederholte
verändert. Zur Wiederholung gehören Veränderung, Variation bzw. „Verschiebung“ (Derrida)
hinzu. Es handelt sich also um eine „Wiederkehr eines Ungleichen als eines Gleichen“.55
Deutlich ist auch, dass die Wiederholung bei Moritz eine anstrengende und fordernde
Tätigkeit ist, die Ausdauer, Selbstüberwindung und Fehlertoleranz verlangt. Geübt wird nur
dann, wenn man „es“ noch nicht kann, wenn sich im Tun Störungen, Momente der
Auffälligkeit und Widerständigkeit bzw. Unzuhandenheit zeigen. In der
Erziehungswissenschaft erhalten diese negativen Erfahrungen zunehmend mehr
Aufmerksamkeit. Unter dem Titel ‚Negativität‘ wird hier allerdings nicht im landläufigen Sinn
etwas Schlechtes, Lästiges oder Gefährliches verstanden. Durch Irritationen, Enttäuschungen,
Unzuhandenheiten und Konfrontationen werden vielmehr ein Suchen, Fragen, Probieren und
Forschen angeregt.56 Negative Erfahrungen sind daher bedeutsame Anlässe für Lernen und
Umlernen.57 Die negative Erfahrung im momentanen Nicht-Können hat daher durchaus etwas
Positives: Moritz ist in seinem gekonnten Tun mit der Flasche zugleich mit seinem Nicht-
Können konfrontiert. Flasche und Deckel offenbaren im Gebrauch ihre „Unzuhandenheit“. Ich
habe an anderer Stelle ausgeführt, dass negative Erfahrungen wie Irritationen,
8
Konfrontationen, Unzuhandenheiten, Fehler und Enttäuschungen elementar zum Üben
hinzugehören.58
Neben Wiederholung, Negativität und Erfahrung von Unzuhandenheit ist bei Moritz das Spiel
von Isolation und Komposition zu beobachten – ein weiteres Kennzeichen des Übens.59
Übungen isolieren – meist nicht nur den Übenden von der Außenwelt, sondern auch einzelne
Sinne und Operationen, etwa Bewegungen, Methoden, Handgriffe, Perspektiven. Diese
werden dann gezielt geübt. Das geschieht zum Beispiel, wenn Musiker/-innen einige Takte
eines Musikstücks herausnehmen, wenn Sportler/-innen aus einer taktischen Situation eine
komplexe Bewegungsfolge isolieren oder wenn in Denk- und Memorierübungen Elemente
dekontextualisiert und wiederholt werden. Mit der Begrenzung und Isolierung kann sich der
Übende auf ein Thema, eine Sache und eine Aufgabe fokussieren. Mit der Isolierung wird
zudem erreicht, dass in der Fokussierung eine Polarisation eintritt. Im Unterschied zur
Konzentration ist die Polarisation eine Praxis, die insbesondere mit der Auge-Hand-
Koordination und mit einem versenkten, selbstvergessenen Tun (Flow) verbunden ist.60 Und
weiter: Die Isolierung allein garantiert noch keine sinnvolle Übung. Es muss zusätzlich der
Situations- und Gestaltbezug einbezogen werden. D. h., das isolierte Detail muss wieder in
den Zusammenhang gebracht werden, sonst läuft die Übung Gefahr, zum stupiden Drill oder
zur Automatisierung zu werden. Bei Moritz ist deutlich zu erkennen, dass er im fokussierten
und polarisierten Hantieren mit der Flasche immer wieder einen bestimmten
Bewegungsablauf variiert. Die einzelnen Bewegungselemente werden also von ihm zu einer
kinästhetischen Bewegung (Husserl) zusammengefügt, ohne dass wir sagen könnten, zu
welchem Zweck dies geschieht. Moritz gibt damit seinem Handeln in der Wiederholung und
mit der Rekomposition der Elemente eine neue „Gestalt“ (Merleau-Ponty). Zugleich zeigt sich
ein viertes Element der Übung. In die Wiederholung werden Momente der Variation
eingestreut. Es werden durch Verlangsamung und Verzögerung Rhythmisierungen und
Unterbrechungen eingefügt. Dies geschieht gegebenenfalls dadurch, dass durch die
Widerständigkeit des Materials der Handlungsablauf unterbrochen wird, und auch dadurch,
dass – bei Moritz deutlich zu sehen – der Körper in eine neue Position gesetzt wird.
7. Schluss
Nochmals sei betont: Ob Moritz tatsächlich in dem hier vorgestellten Sinne übt oder die
Erfahrung von Flow macht, lässt sich nicht entscheiden. Subjektive Bewusstseinszustände,
Absichten und Erlebnisse lassen sich nicht sehen. Ich habe mit der Deskription versucht, unter
Bedingungen von Performativität des Videos, Auffälligkeiten im leiblichen Handeln von Moritz
dicht und prägnant zu beschreiben. Danach habe ich diese geordnet und systematisiert. Ich
habe ein phänomenologisches Verfahren auf die Videoanalyse angewendet – nicht mit dem
Anspruch, Tatsachen oder Abgeschlossenheit zu erfassen, aber mit dem Anspruch, die
eigenen Erfahrungen beim Sehen des Videos zu plausibilisieren. Im Sinne einer prospektiven
„Einlegung“ einer phänomenologischen und pädagogischen Perspektive auf Verkörperung
und Üben habe ich schließlich versucht, plausibel zu machen, dass sich erstens die entspannte
Gespanntheit im wiederholten Greifen und Begreifen von Moritz als elementare Reflexivität
und zweitens der fokussierte, isolierende, komponierende, variierende und rhythmisierte
Umgang mit den „unzuhandenen“ Dingen (Flasche, Deckel) als Üben bezeichnen lässt.
Abschließend möchte ich meine Überlegungen in vier Punkten thesenartig zusammenfassen:
1. Im Video sehen wir nicht Absichten und Gefühle von Moritz. Wir können daher darüber
keine Aussagen treffen. Anstatt eine Hinterwelt des Verborgenen auszulegen, ist es
sinnvoller, sich mit dem Sichtbaren zu befassen: mit den leiblichen Verkörperungen von
9
Moritz, insbesondere im taktilen und oralen Bereich sowie mit seinem leiblichen
Antworten auf die Materialität und Widerständigkeit der Flasche und des Deckels. Diese
lassen sich in einer Deskription erfassen.
2. Videos stellen eine eigene Wirklichkeit her, sie sind performativ. Die vermeintliche Absicht
Moritz’, etwa die Flasche schließen zu wollen, wird vom Großvater zugeschrieben und mit
dessen Ermunterungen performativ hergestellt. Von dieser Zuschreibung gilt es, sich zu
distanzieren und eine unabhängige Perspektive auf sichtbare Verkörperungen von Moritz
einzunehmen.
3. Im „intentionalen Bogen“ (Merleau-Ponty) seiner Verkörperungen zeigt sich in der
elementaren Verbindung von Hand, Handeln und Unzuhandenheit eine entspannte
Gespanntheit sowie eine elementare Verbindung von Greifen (Handeln) und Begreifen
(Reflexion).
4. Aus pädagogischer Perspektive ist die Aktivität Moritz’ (variierende und rhythmisierte
Wiederholung, Auge-Hand-Fokussierung, isolierendes und komponierendes (Be-)greifen)
als Üben zu bezeichnen.
8. Ausblick
Mit der phänomenologischen Betrachtungsweise kommen der kindliche Leib und seine
Verkörperungen – diesseits von Kognitivismus und Funktionalismus – für eine empirische und
theoretische Reflexion im Raum der Frühpädagogik in den Blick.61 Die phänomenologische
Perspektive erlaubt es, den Blick auf die Besonderheiten der kindlichen Erfahrungen, auf den
„Wahrnehmungsglauben“ (Merleau-Ponty) im Unterschied zu den Erfahrungen der
Erwachsenen zu richten. Damit werden die vorsprachlichen, vorrationalen und impliziten
Erfahrungsdimensionen kindlicher Verkörperungen relevant. Diese zeigen sich in ihrer
Materialität im Umgang mit den Dingen. Die Bedeutung der Dinge erschließt sich im situativen
Gebrauch. Kinder werden durch sie gefordert und zugleich aufgefordert, etwas zu tun. Mit der
phänomenologischen Videographie kann für die Frühpädagogik eine theoretisch reflektierte
und methodologisch abgesicherte Irritation konventioneller Gegenstandsbestimmungen
vorgenommen und die Frage nach dem Gegenstand frühpädagogischen Forschens und
Handelns neu gestellt werden – abseits von Finalisierung und Funktionalisierung kindlicher
Erfahrung.
Literatur
Alloa, Emmanuel. 2011. Das durchscheinende Bild. Konturen einer medialen Phänomenologie.
Zürich: Diaphanes.
Alloa, Emmanuel und Natalie Depraz. 2012. Edmund Husserl – „Ein merkwürdig
unvollkommen konstituiertes Ding“. In Leiblichkeit, hrsg. Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf,
Christian Grüny, und Tobias N. Klass, 7–22. Tübingen: Mohr Siebeck.
Benner, Dietrich. 2005. Erziehung – Bildung – Negativität. In Beiheft der Zeitschrift für
Pädagogik Nr. 49., hrsg. Dietrich Benner. Weinheim: Beltz Juventa.
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1 Meseth et al. 2016; Kreitz et al. 2016
2 vgl. Brinkmann 2016b
3 vgl. Alloa 2011; Boehm 2007; Sternagel 2016
4 Dilthey 1997
5 Derrida 1967/2003
6 vgl. Brinkmann 2014a, 2015a/b
7 Waldenfels 2002
8 vgl. Sternagel 2016
9 vgl. Brinkmann 2014a
10 vgl. Brinkmann/Rödel 2017
11 vgl. Brinkmann 2016a
12 vgl. Dinkelaker/Herrle 2009; Brinkmann/Rödel 2017
13 Reh 2014
14 Merleau-Ponty 1993, S. 163
15 Brinkmann 2017c
16 ebd.
17 vgl. Stieve 2010
18 vgl. Brinkmann/Rödel 2017
19 Merleau-Ponty 1966, S. 401; Brinkmann 2012, S. 171-174
20 Meyer-Drawe 2001, S. 91-93
21 HUA IV, S. 146
22 Merleau-Ponty 1966, S. 168
23 Plessner 1970
24 vgl. Brinkmann 2012, S. 168ff., Brinkmann 2017a/b
25 Knoblauch 2008
26 vgl. Brinkmann/Rödel 2017
27 Heidegger 1925/1994, S. 54
28 ebd.
29 vgl. Brinkmann 2015b
30 Ich danke der Forschungsgruppe „Phänomenologische Videographie“ am Arbeitsbereich Allgemeine
Erziehungswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin für wertvolle Diskussionen und Hinweise in einer
Datensitzung. Für weitere Hinweise danke ich Severin Sales Rödel.
31 vgl. HUA IV, S. 151
32 vgl. Brinkmann 2015a; Loch 1998
33 vgl. Heidegger 2001, S. 150
34 Merleau-Ponty, zitiert nach Waldenfels 1993, S. 7
35 Brinkmann 2015b, S. 531
36 Reichertz 2013
37 Alloa/Depraz 2012, S. 20
38 vgl. HUA IV, S. 146
39 Ich habe an anderer Stelle gezeigt, dass sich die leiblich-reflexive „Struktur des Verhaltens“ (Merleau-Ponty)
als vor-prädikative und vor-objektive Praxis des Urteilens, d. h. als protoreflexive Praxis bestimmen lässt vgl.
Brinkmann 2017a
13
40 vgl. Brinkmann 2017a
41 Heidegger 2001, S. 68ff.
42 ebd.
43 vgl. ebd., S. 73
44 zum Aufforderungscharakter der Dinge vgl. Stieve 2008
45 Heidegger 2001, S. 72
46 Heidegger 2002, S. 19
47 vgl. Brinkmann 2017a
48 Derrida 1987, S. 62
49 vgl. Brinkmann 2017b, Brinkmann 2012, S. 381-392
50 Polanyi 1966
51 Neuweg 1999, S. 187
52 Merleau-Ponty 1966, S. 164
53 Csikszentmihahlyi 1991, S. 61
54 vgl. Brinkmann 2011, 2012, 2014b
55 Waldenfels 2001
56 vgl. Benner 2005
57 vgl. Meyer-Drawe 2008; Rödel 2017
58 vgl. Brinkmann 2012
59 Systematisch gesehen geht es hier um das Verhältnis von kindlichem Spiel und Übung, wie es schon
Schleiermacher thematisierte. Schleiermacher fasste den Übergang vom Spiel zur Übung als einen
kontinuierlichen und teleologisch ausrichteten Vorgang, der auf ein gesellschaftlich bestimmtes Ziel (die
Schulbildung) ausgerichtet ist. Phänomenologische Analysen können hier einen anderen Akzent setzen,
indem sie die Zeitlichkeit kindlicher Erfahrungen in den Mittelpunkt rücken. (Zum Unterschied zwischen der
Praxis des Spielens und Übens vgl. Brinkmann 2012, S. 260-265.)
60 vgl. Brinkmann 2012, S. 109-114, 347-378
61 vgl. Brinkmann 2017c