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Eine Geschichte der
St. Galler Gegenwart –
Sozialhistorische
Einblicke ins 19. und
20. Jahrhundert
Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons St. Gallen (Hg.)
VGS Verlagsgenossenschaft St. Gallen
Impressum
Herausgegeben im Auftrag der
Gemein nützigen Gesellschaft des
Kantons St. Gallen von Manuel Kaiser
Copyright
Das Werk ist in allen seinen Teilen urhe-
berrechtlich geschützt. Jede Verwertung
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insbesondere für kommerzielle Verviel-
fältigung, Mikroverlmung und die Ein-
speicherung in und Verarbeitung durch
elektronische Systeme.
©2019 Gemeinnützige Gesellschaft
des Kantons St. Gallen
©Texte bei den Autoren
Kommissionsverlag
VGS Verlagsgenossenschaft St. Gallen
ISBN 978-3-7291-1174-5
Gestaltung und Satz
TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen
Gesetzt in Formal Serif und Brown Pro
und gedruckt auf Lessebo 1.3 Rough
Natural
Wissenschaftliche Begleitung
Marcel Mayer
Didaktische Umsetzung
Pädagogische Hochschule St. Gallen PHSG
www.sozialgeschichte.ch
(ab November 2019)
Korrektorat
Eva Bachmann
Druck
Ostschweiz Druck AG, Wienbach
Bindung
Buchbinderei Burkhardt Bubu AG,
Mönchaltorf
21 ~ Medizin
Medizin am
Fuss der
grauen Berge
43 ~ Migranten
Von Heimat -
losen, Arbeits-
migrantinnen
und Geflüchteten
71 ~ Wohnen
Wohnen will
gelernt sein
93 ~ Energie
Elektrizität aus
dem Sittertobel
115 ~ Geschlechtergeschichte
Die «sittlich
ge
fährdeten»
Mädchen
vom
Wienerberg
139 ~ Armut
Armut in der
Stadt St. Gallen
163 ~ Arbeit
Am Rand der
Erwerbs tätigkeit
185 ~ Wissen
Die ausgeblie-
be
ne Revolution
207 ~ Verkehr
Ein Kanton sucht
Anschluss
235 ~ Drogen
Eine Stadt am
Rande des
Nervenzusam-
menbruchs
7 ~ Vorwort
9 ~ Einleitung
261 ~ Autoren
263 ~ Abkürzungsverzeichnis
Medizin
Der Sankt-Galler Lehrer und Sagensammler Jakob Kuoni
(1850–1928) sah in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts
eine Welt in Auösung, in der das Wohlergehen der Men-
schen von «übernatürlichen Mächten» abhing, «die man mit
List oder Gewalt günstig stimmen mußte». Zum Wissen um
diese geheimnisvolle Welt führte er 1903 aus: «In unseren
Bergtälern glimmt es zwar noch ganz lebhaft, wenn auch ganz
ungefährlich unter der Asche fort; im Hügelland aber nden
sich nur noch ganz spärliche Überreste. Es war also höchste
Zeit, nach diesem alten Golde zu graben, ehe es völlig ver-
schüet sein wird.» 1917 brachte der deutsche Soziologe Max
Weber (1864–1920) diese Zeitdiagnose eines schwindenden
Glaubens an höhere Mächte auf die vielzitierte Formel der
«Entzauberung der Welt»: Die Menschen seien überzeugt,
dass es «prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren
Mächte gebe» und die Wissenschaften jederzeit alle Erschei-
nungen plausibel erklären könnten. Die massive Popularisie-
rung von Wissenschaft und Technik seit dem 19. Jahrhundert
schien die menschliche Wahrnehmung der Dinge tiefgreifend
gewandelt zu haben.
Die Geschichtswissenschaft kritisiert diese Standarder-
zählung über die westliche Moderne. Ansta einer Entzaube-
Niklaus Ingold
Medizin am Fuss
der grauen Berge
Wunderwelten,
Kräuterhandel und die
Kommerzialisierung
von Gesundheit (1850–1920)
1 Kuoni, Jakob: Sagen des Kantons
St. Gallen, Nachdruck der Ausg. von
1903, Zürich 1979, S. V.
2 Weber, Max: Gesamtausgabe, hg. von
Wolfang Y. Mommsen, Abt. 1, Bd. 17:
Politik als Beruf, 1919, Tübingen 1993,
S. 87.
3 Zur Popularisierung von Wissenschaft
und Technik im 19. Jahrhundert siehe
Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen.
Eine Geschichte des Körpers 1765–1914,
Frankfurt am Main. 2001, S. 124–136.
21
Medizin
rung der Welt belegt die Forschung eine Blüte von Praktiken
und Weltdeutungen um 1900 herum, die auf die Wirkung
von Kräften jenseits des wissenschaftlich Bewiesenen bezo-
gen waren. Dabei handelte es sich nicht einfach um Über-
res
te eines magisch-religiösen Denkens aus dem Mielalter.
Die Erndung neuer Wunderwelten begleitete den Auf-
schwung der Naturwissenschaften. Antrieb war die Unver-
einbarkeit des naturwissenschaftlichen Denkstils mit dem
christlichen Weltbild. Chemie, Physik und Physiologie
erschufen einen Materialismus, der seelische und geistige
Regungen auf körperliche, chemische und physikalische
Vorgänge zurückführte und so die für das christliche Weltbild
zentrale Trennung des Materiellen von der seelischen Sphäre
auob. Der Aufschwung der Naturwissenschaften schürte
deshalb Debaen zum Verhältnis von Körper und Seele, von
Materie und Geist. Zwischen Kirche und Naturwissenschaf-
ten positionierte sich die okkulte Bewegung. Ihre Anhänge-
rinnen und Anhänger verwarfen die christliche Trennung wie
den naturwissenschaftlichen Materialismus und sprachen
stadessen von einer wechselseitigen Durchdringung der
materiellen Welt und des Übernatürlichen. Das Feld der
Medizin – oder allgemeiner gesagt, die Wiederherstellung,
Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit – gehört zu
jenen gesellschaftlichen Bereichen, in denen religiöser Glau-
be, magisches Denken und die materialistische Weltsicht
aufeinandertrafen, sich beeinussten und konkurrierten.
Dies
lässt sich am Beispiel der medizinischen Versorgung im
Kanton Sankt Gallen zeigen.
Mit dem katholischen Geistlichen Johannes Künzle
(1857–1945) aus Hinterespen war in Wangs bei Sargans zwi-
schen 1909 und 1920 ein Akteur tätig, der zur Blüte des
magischen Denkens beitrug. Machte ihn der Erfolg seines
Buches Chrut und Uchrut (1911) als Kräuterpfarrer berühmt,
war sein Ruf im Sarganserland schillernder. Hier kursierten
Geschichten, in denen er Dämonen bannte, bösen Zauber
brach und sonderbare Vorkommnisse beendete. Wollten
die
Schweine nicht fressen, mied das Vieh eine Weide, ver-
schwand plötzlich eine Herde, um gleich anderswo zu ste-
hen, liess sich aus der Milch kein Käse herstellen oder schlug
die Stalltür zu, ohne dass ein Wind geweht häe, trat der
Überlieferung zufolge jeweils Pfarrer Künzle auf, der mit
Weihwasser, Rauchfass, Sprüchen und Schriftzeichen gegen
die übernatürlichen Ursachen der Geschehnisse vorging.
4 Freytag, Nils/Sawicki, Diethard: Ver-
zauberte Moderne. Kulturgeschicht-
liche Perspektiven auf das 19. und 20.
Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Wunder-
welten. Religiöse Ekstase und Magie
in der Moderne, Paderborn 2006,
S. 7–24, hier S. 15–16 und 19; Linse,
Ulrich: Geisterseher und Wunderwir-
ker. Heilssuche im Industriezeitalter,
Frankfurt am Main. 1996, S. 16; Treitel,
Corinna: A Science for the Soul. Oc-
cultism and the Genesis of the German
Modern, Baltimore 2004, S. 57–59.
5 Für nachfolgende Beispiele siehe Senti,
Alois: Sagen aus dem Sarganserland,
Bd. 1, Basel 1974 (Schriften der Schwei-
zerischen Gesellschaft für Volkskunde
56), S. 69, 75, 79, 80, 184; Senti, Alois:
Sagen aus dem Sarganserland, Bd. 2,
Basel 1998 (Schriften der Schweize-
rischen Gesellschaft für Volkskunde
77), S. 63 und 74. Zu Künzles Tätigkeit
in Wangs siehe Frei, Beat: Wangs und
sein Kräuterpfarrer, Wangs 2007.
22
Medizin
Künzle soll solche Anekdoten selber erzählt haben. Den Ruf
besonderer Fähigkeiten pegte er aber auch in seiner Kräu-
terpraxis: Er untersuchte Hilfesuchende mit einem Pendel
.
Aus Dokumenten des Bischöichen Archivs Sankt Gallen
geht hervor, dass diese Praktik 1920 den Ausschlag für eine
Strafuntersuchung gegen Künzle gab. Denn Pendeln galt als
Diagnosemethode der okkulten Medizin. Künzle wandte
das Verfahren ab, indem er nach Zizers im Kanton Graubün-
den umzog. Dort legalisierte 1922 eine Volksinitiative seine
Kräuterpraxis.
Seither wurde sowohl an der Konstruktion wie an der
Dekonstruktion der Legende des Kräuterpfarrers gearbeitet.
Die 1939 gegründete Kräuterpfarrer Künzle AG machte ihn
zu ihrem Markenzeichen und brachte ihn hochbetagt als
«urwüchsige[n] und eigenwillige[n] Mann» mit «schneeweis-
se[m] Bart» in einem Werbelm auf die Kinoleinwand.
Christine Künzle († 1963), Nichte des Pfarrers sowie Grün-
derin und Geschäftsführerin der Aktiengesellschaft, arbeite-
te am Bild eines volksnahen und eissigen Wohltäters, dem
das Leben durch Ärzteschaft und Gesundheitsbehörden zu
Unrecht schwer gemacht worden sei. Die kritische Ausein-
andersetzung mit diesem Künzle-Bild begann in den 1970er
6 Treitel, A Science for the Soul, S. 158.
7 Künzle, Johannes: Das grosse Kräuter-
heilbuch. Ratgeber für gesunde und
kranke Tage nach der giftfreien Heil-
methode und den Originalrezepten
von Joh. Künzle Pfr., Mit Beiträgen
von Jakob Zumwald, Dr. Jos. Rast,
K. H. Fauser u.a., 3. Au., Olten 1947,
S. 32 und 29. Den Werbelm produ-
zierte Central Film Zürich, vgl. Der
Kräuterpfarrer Künzle in Zizers bei
Chur spricht (Schweiz, s. a.), hps://
youtu.be/d4bHoJWQO1Y [27.7.2018].
8 Abbondio-Künzle, Christine: Gedenk-
schrift zum 100. Geburtstage des Chrü-
terpfarrers Johann Künzle, 1857–1945,
Freiburg 1957.
Der hochbetagte
Johannes Künzle und
seine Nichte Christine
Künzle, Gründerin der
Kräuterpfarrer Künzle
AG, erproben im Scherz
das Pendeln. Wegen
der Anwendung dieses
okkulten Diagnose-
verfahrens drohte dem
Kräuterpfarrer 1920
ein Strafverfahren im
Kanton Sankt Gallen.
Pfarrer Künzle’s Volkskalender 1938,
S.40.
23
Medizin
Jahren. Der Ethnologe und Journalist Peter Eglo wies auf
die
Auslassungen hin, welche die Legendenbildung und die
Erndung der Marke Johannes Künzle begleitet haen. Er
thematisierte die – auch von der Nichte eingestandene – Frau-
enfeindlichkeit des Pfarrers, seine «antisemitischen Ausfälle»
und seinen Antiparlamentarismus. Letzterer wird in der
Jahresschrift Pfarrer Künzle’s Volkskalender fassbar, wenn Künzle
die «stark[e] Hand» von Benito Mussolini (1883–1945) lobt,
die Ordnung schae, denn: «Von den Parlamenten ist nichts
Rechtes zu erwarten.»
Auch wenn sich Künzle nicht zum Helden eignet, bleibt
er als Sonde interessant, um die Entstehung des modernen
Gesundheitswesens zu untersuchen. Die Naturheilkunde, der
seine Kräutermedizin zugerechnet wird, war das wichtigste
alternativmedizinische Angebot der Jahrhundertwende. Sie
beruhte auf dem Grundsatz, kranke Körper ausschliesslich
Naturkräften auszusetzen, um Selbstheilungskräfte anzuregen.
Bis in die 1850er Jahre war es um Wasseranwendungen gegan-
gen, hinzu traten vegetarische Ernährung, Gymnastik sowie
Luft- und Sonnenbäder. Die naturheilkundliche Kräutermedi-
zin gewann in den 1890er Jahren an Kontur. All diese Angebote
konkurrierten das Behandlungsmonopol der Ärzte. Ihre An-
bieter wollten die Bedingungen ändern, unter denen die Be-
völkerung mit medizinischen Dienstleistungen versorgt wur-
de. Prominenter Akteur im Kanton Sankt Gallen war neben
Künzle der zugewanderte deutsche Wassertherapeut, Vegeta-
rier, Impfgegner und Publizist Theodor Hahn (1824–1883).
Er
gründete 1854 und 1871 in Tablat zwei Kuranstalten. Sein
Vegetarismus war wie Künzles Kräutermedizin eine Ressource
zur Kritik an der akademischen Medizin. Hahn und Künzle
waren aber auch Geschäftsleute, die das Streben nach Gesund-
heit mit einem bestimmten Konsumverhalten und dem Kauf
von Waren verbanden.
Gesundheit als Feld staatlicher Steuerung
und individueller Anstrengung
Die Grundzüge des Gesundheitswesens, in dem Künzle und
Hahn aneckten, entstanden an der Wende vom 18. zum
19. Jahrhundert. Damals wurde das körperliche Wohlergehen
der Bevölkerung erstmals zu einem Feld staatlichen Handelns.
Unter dem Stichwort der «Medicinalpolicey» dachten Exper-
ten über die Steuerung der Bevölkerungsgesundheit nach. In
der Schweiz brachte diese Entwicklung erste Bemühungen
9 Eglo, Peter: Joh. Künzle, Pfr., 1857–
1945, in: Tagesanzeiger Magazin, 1978,
Nr. 50, S. 23–31, insb. S 26, 29 und
31. Für nachfolgendes Beispiel siehe
Künzle, Johannes: Schnaps, Schnaps,
Schnaps, in: Pfarrer Künzle‘s Volks-
kalender 7 (1928), S. 40. Zur Kritik an
der Heroisierung Künzles siehe auch
Wol, Eberhard: Der erzählte Zauber-
trank, in: Schweizerische Ärztezeitung
99 (2018), Nr. 22, S. 733–735.
10 Zur Geschichte der Naturheilkunde
siehe Heyll, Uwe: Wasser, Fasten, Luft
und Licht: Die Geschichte der Natur-
heilkunde in Deutschland, Frankfurt
am Main 2006; Jüe, Robert: Ge-
schichte der Alternativen Medizin.
Von der Volksmedizin zu den unkon-
ventionellen Therapien von heute,
München 1996.
11 Zu Hahn siehe Heyll, Wasser, S. 41–42
und S. 137–141; Blum, Iris: «Ich bin
(…) der Diät, (...) vielleicht (...) um
Jahrhunderte voraus». Hydrotherapie
und Vegetarismus als soziales und
moralisches Allheilmiel, dargestellt
an Leben und Werk des Naturarztes
Theodor Hahn (1824–1883), unver-
ö. Lizentiatsarbeit der Universität
Zürich, Zürich 1996.
24
Medizin
zum Auau eines zentralistischen Gesundheitswesens hervor,
welche die föderalistische Ausrichtung der Mediationsver-
fas
sung von 1803 jedoch stoppte. Die Ausgestaltung des Ge-
sundheits- und Medizinalwesens war ab nun Sache der Kanto-
ne. Im Kanton Sankt Gallen haen ärztliche Gremien, das
sogenannte Sanitätskollegium und die Sanitätskommission als
ausführendes Organ, ab 1803 die Oberaufsicht über das Ge-
sundheitswesen inne. Reformen veränderten während des
19. Jahrhunderts zwar Grösse und Namen dieser Behörden,
nicht aber ihre Funktionen. Dazu zählten die Prüfung und
Zu
lassung von Ärzten, Hebammen, Zahnärzten und weiteren
Anbietern medizinischer Dienstleistungen.
Ab den 1850er Jahren sassen Mediziner in den Auf
sichts-
gremien, die sich als Naturwissenschaftler – nicht mehr als
Universalgelehrte – verstanden. Sie versuchten das Gesund-
heitswesen auf die Umsetzung naturwissenschaftlicher Er-
kenntnisse auszurichten. Bekanntes Beispiel ist Jakob Lau
renz
Sonderegger (1825–1896) aus Balgach. Er war an der Aus-
arbeitung des «Gesetzes über öentliche Gesundheitspege»
beteiligt, welches das Sankt-Galler Kantonsparlament 1874
verabschiedete. Es schrieb den Gemeinden die Bildung von
Gesundheitskommissionen vor und denierte die Bereiche,
die zur Steuerung der Bevölkerungsgesundheit zu überwa-
chen waren. Das Gesetz fand ausserhalb des Kantons grosse
Beachtung, weil es die Grundsätze der damaligen Gesund-
heitswissenschaft, der Hygiene, vorbildlich in Handlungsan-
weisungen für lokale Behörden übersetzte. ~ Wohnen
Neben dieser Ausrichtung des Staates auf das Streben
nach Gesundheit wandten sich Sonderegger und andere
Mediziner in Vorträgen, mit Zeitungsartikeln und Büchern
auch direkt an ein bürgerliches Publikum. Diese Gesund-
heitsaulärung war ein ärztliches Betätigungsfeld, seit Me-
diziner in der Aulärungszeit am Ende des 18. Jahrhunderts
eine neue Lehre vom gesunden Leben entwickelt haen. Der
Körper galt darin als individuelles Eigentum, dessen richtige
Pege zu einem langen Leben verhelfe. Gestützt auf die
Beschäftigung mit antiken Schriften (und noch ohne natur-
wissenschaftliches Wissen) deuteten die Ratgeber Gesund-
heit als Gleichgewichtszustand, den jeder Mensch durch eine
massvolle Lebensweise erreichen könne. Diese Vorstellung
persönlichen Wohls durch selbstregulatorisches Verhalten
passte zu den politischen Ambitionen des Bürgertums und
zum bürgerlichen Ideal selbstbestimmt und eigenverant-
12 Braun, Rudolf: Zur Professionalisie-
rung des Ärztestandes in der Schweiz,
in: Werner Conze/Jürgen Kocka (Hg.):
Bildungssystem und Professionalisie-
rung in internationalen Vergleichen,
Stugart 1985 (Bildungsbürgertum im
19. Jahrhundert 1), S. 332–357, hier
S. 340.
13 Wolfensberger, Rolf/Meier, Thomas
Dominik: Von der «Medizinal-Po-
lizey» zur Volksgesundheitspege,
in: Wissenschaftliche Kommission
der Sankt-Galler Kantonsgeschichte
(Hg.): Sankt-Galler Geschichte 2003,
Bd. 6: Die Zeit des Kantons 1861–1914,
St. Gallen 2003, S. 105–124, hier
S. 106–110.
14 Siehe dazu Kaiser, Manuel: Zwischen
Kontinuität und Umbruch – St. Galler
Ärzte und die Medizin im 19. Jahr-
hundert, in: Monika Mähr (Hg.): Zeit
für Medizin! Einblicke in die St. Gal-
ler Medizingeschichte, Wawil 2011
(Neujahrsbla/Historischer Verein des
Kantons St.Gallen 151), S. 89–94, hier
S. 89–91.
15 Wolfensberger/Meier: Volksgesund-
heitspege, S. 121; Ruckstuhl, Brigie/
Ryter, Elisabeth: Von der Seuchen-
polizei zu Public Health. Öentliche
Gesundheit in der Schweiz seit 1750,
Zürich 2017, S. 76–78.
16 Sarasin: Reizbare Maschinen, S. 73–76.
Siehe auch Leanza, Mahias: Die Zeit
der Prävention. Eine Genealogie, Wei-
lerswist 2017, S. 33–93.
25
Medizin
wortlich handelnder Individuen.
Zudem war diese Lehre
genügend oen, um neue naturwissenschaftliche Erkenntnis-
se einzubeziehen. Das Gleichgewichtsdenken prägte die
Gesundheitsratgeber, bis diese im 20. Jahrhundert zu Anlei-
tungen zur Selbstoptimierung wurden.
Trotz der starken Stellung der Ärzte, ihres politischen
Einusses und ihrer medialen Inszenierung als Gesundheits-
experten wandten sich Hilfesuchende auch an andere Perso-
nen. Die Sankt-Galler Gesundheitsgesetzgebung machte die
Zulassung als Arzt zwar stets von einer akademischen Ausbil-
dung und einem staatlichen Befähigungsausweis abhängig,
sah aber Ausnahmen für eingeschränkte Dienstleistungen
vor. So durfte Theodor Hahn 1854 in der damals unabhän-
gi
gen Gemeinde Tablat an der Grenze zu Mörschwil einen
Kurbetrieb erönen mit den Auagen, dass ein Mediziner
die
Aufsicht innehat und jährlich ein Rechenschaftsbericht
eingereicht wird. Als sich Hahn 1876 dennoch vor dem
Bezirksgericht «puncto unbefugten Arztens» verantworten
musste, erreichte er einen Freispruch. Daneben boten sehr
unterschiedliche «Heiler» ohne Arrangement mit den Auf-
sichtsgremien medizinische Dienstleistungen im weitesten
Sinne an. Als Kräuterpfarrer Künzle ein Strafverfahren droh-
te, beschäftige die Sanitätskommission auch die «um sich
greifend[e] Ausbreitung der Gesundbeterei». Hinter dieser
Praktik steckte die religiöse Deutung von Krankheit als von
Go gesandte Warnung oder Strafe, die nur durch inständiges
Flehen abgewendet werden könne. 1919 und 1920 bewirkte
die Sanitätskommission in zwei Fällen Strafverfahren gegen
Gesundbeterinnen und -beter, weil sie die Eltern todkranker
Kinder von der Konsultation eines Arztes abgehalten haben
sollen. Vorgegangen wurde auch gegen einen «Naturarzt»
aus Appenzell Ausserrhoden, der während der Grippepande-
mie von 1918/19 auf Sankt-Galler Kantonsgebiet tätig gewor-
den war, ausserdem gegen den Betreiber einer Badeanstalt,
der sich als Gynäkologe betätigte, und gegen einen Zahntech-
niker, der sich als Zahnarzt ausgab. Bereits 1910 war mit dem
Landwirt und Sticker Johann Jakob Hugentobler (1851–1920),
der in St. Peterzell im Toggenburg Kranke mit Hausmieln
behandelte, ein ähnlich bekannter Heiler wie der Kräuter
pfar-
rer gebüsst worden.
Die Nachfrage nach solchen Alternativen zum Angebot
der Mediziner hae verschiedene Gründe. Gegen viele
Krank-
heiten fehlten sowieso wirksame Therapien. Daneben ver
grös-
17 Armstrong, Tim: Modernism, Techno-
logy and the Body. A Cultural Study,
Cambrigde; 1998. Ingold, Niklaus:
Lichtduschen. Geschichte einer Ge-
sundheitstechnik, 1890–1975, Zürich
2015 (Interferenzen 22), S. 207–213.
18 Vgl. Sanitätskommission des Kantons
St. Gallen: Gesetzessammlung über
Gesundheitswesen und Gesund-
heitspolizei im Kanton St. Gallen,
St. Gallen 1865, S. 19; Kanton St. Gal-
len: Bereinigte Gesetzessammlung.
Am 1. Januar 1956 in Kraft stehende
Kantonale Erlasse, Zweiter Band, Im
Auftrag des Regierungsrates hrsg. von
der Staatskanzlei St. Gallen, 1956, S. 5.
19 Blum, «Ich bin», S. 40–43; Hahn,
Theodor: «Medizinische Inquisition»,
in: Der Hausarzt 1, 1876, 3/4, S. 33–43,
S. 55–62, hier S. 41.
20 StASG G 1a.8.2., Bezirksgericht Tablat,
Gerichtskommission: Straälle vom
28. Juli 1866 bis zum October 1881,
S. 164–165.
21 Jahres-Bericht über die Verwaltung
des Medizinalwesens und über die
öentliche Gesundheitspege des
Kantons St. Gallen im Jahre 1920,
Erster Teil, S. 12. Zum Gesundbeten
vgl. Jüe, Geschichte, S. 90–103.
22 Für dieses und nachfolgende Beispiele
siehe Jahres-Bericht über die Verwal-
tung des Medizinalwesens und über
die öentliche Gesundheitspege des
Kantons St. Gallen im Jahre 1919, Erster
Teil, S. 9–10; Jahres-Bericht über die
Verwaltung des Medizinalwesens und
über die öentliche Gesundheitspege
des Kantons St. Gallen im Jahre 1920,
Erster Teil, S. 11–13.
23 Lemmenmeier, Max: Stickereiblüte
und Kampf um einen sozialen Staat,
in: Wissenschaftliche Kommission
der Sankt-Galler Kantonsgeschichte
(Hg.): Sankt-Galler Geschichte 2003,
Bd. 6: Die Zeit des Kantons 1861–1914,
St. Gallen 2003, S. 9–103, hier S. 40.
26
Medizin
serten die Verwissenschaftlichung der Medizin, die Ausrich-
tung des Staates auf das Streben nach Gesundheit und die
staatliche Anerkennung der akademisch ausgebildeten Medi-
ziner als alleinige Gesundheitsexperten die gesellschaftliche
Distanz zwischen den Ärzten und den Hilfesuchenden. Der
in Sargans geborene Volkskundler Werner Manz (1882–1954),
der in Zürich als Lehrer tätig war und sich mit Brauchtum
und Volksglauben im Sarganserland befasste, sprach von
Scheu
und Misstrauen. In den Arztpraxen sah er vieles, «das beim
Kranken nur Unbehagen weckt», während die Laienheiler
alles vermeiden würden, «was irgendwie eine Atmosphäre
der Unnahbarkeit schaen könnte». Keine medizinischen
Instrumente, kein Rembrandt, auf dem ein Professor vor
Studenten eine Leiche seziert, kein Verhör zur Krankenge-
schichte der Vorfahren. Verallgemeinern lässt sich diese
Typisierung allerdings nicht. Weder waren alle Konkurrenz-
angebote gleich niederschwellig, noch sprachen sie alle
sozialen Schichten gleichermassen an. Gerade im wichtigen
naturheilkundlichen Bereich gab es Unterschiede.
Naturheilanstalten wie jene von Hahn in Tablat waren
teilweise spartanisch, teilweise luxuriös eingerichtet. Häug
wollten die Betreiber eine gutsituierte, mobile Kundschaft
ansprechen, die eine asketische Kur als Vergnügen begri.
Naturheilvereine entstanden besonders in urbanen Zentren.
Mitglieder waren zum grossen Teil Männer aus der entste-
henden Mielschicht, also Handwerker, Gewerbetreibende,
Beamte und freiberuich Tätige. Im Kanton Sankt Gallen
existierte in den 1860er Jahren in der Kantonshauptstadt eine
naturheilkundliche Gruppe, die mit dem 1868/69 gegründe-
ten, aber nur für kurze Zeit bestehenden Schweizerischen
Centralverein für Naturheilkunde in Verbindung stand. Nach
der Gründung einer neuen Dachorganisation 1899, des Ver-
bands Schweizerischer Naturheilvereine (ab 1917 Verein zur
Hebung der Volksgesundheit, heute Vitaswiss), entstanden
Sektionen in Sankt Gallen (1900), Rorschach und Uzwil
(beide
1902), Sankt Margrethen (1916) sowie Rapperswil (1926).
Diese Vereine stifteten eine «medizinkritische Öentlich-
keit», ihr politisches Potenzial blieb aber gering. So war im
Kanton Sankt Gallen ab 1850 bis in die 1880er Jahre hinein die
Pockenimpfung obligatorisch, es bestand also ein staatlicher
Zwang zum Arzneimielgebrauch. Das Obligatorium wurde
erst aufgehoben, als ein von Sonderegger mitentworfenes
nationales Epidemiengesetz am Impfobligatorium scheiterte.
24 Braun, Professionalisierung, S. 352,
354–355.
25 Manz, Werner: Medizinisch-volks-
wirtschaftliche Ketzereien in kultur-
geschichtlicher Beleuchtung, Ragaz
1924, S. 24.
26 Dazu und für nachfolgende Ausfüh-
rungen siehe Roth, Sabina: Im Streit
um Heilwissen. Zürcher Naturheilver-
eine anfangs des 20. Jahrhunderts, in:
Hans Ulrich Jost (Hg.): Geselligkeit,
Sozietäten und Vereine = Sociabilité et
faits associatifs, Zürich 1991, S. 111–138,
hier S. 117, 119, 123–124; Hau, Michael:
Asceticism and Pleasure in German
Health Reform. Patients as Clients in
Wilhelmine Sanatoria, in: Evert Pee-
ters/Leen Van Molle/Kaat Wils (Hg.):
Beyond Pleasure. Cultures of Modern
Asceticism, New York 2011, S. 42–61,
hier S. 44.
27 Vgl. Wertvolle statistische Mieilun-
gen unserer Sektionen, in: Volksge-
sundheit 24, 1931, 9, Jubiläums-Num-
mer, S. 197. Die Gründung neuer
Sektionen ging weiter. Beispielsweise
wurde 1932/33 in Rheineck eine neue
Gruppe gegründet. Vgl. Rheineck, in:
Verbands-Mieilungen, Monatsbei-
lage zur Volksgesundheit 3, 1933, 2, S. 7.
Trotz der nationalen Organisations-
form war die Naturheilkundebewe-
gung ein transnationales Netzwerk.
Das zeigt sich beispielsweise darin,
dass von 1900 bis 1906 aufgrund eines
Streits im Schweizer Verband eine
Ostschweizer Gruppe des Deutschen
Bundes für naturgemässe Heil- und
Lebensweise bestand, in der aber kein
Verein aus dem Kanton Sankt Gallen
vertreten war. Siehe dazu Naturheil-
verein Zürich: 50 Jahre Naturheil-Ver-
ein Zürich (Hg), 1891–1941, Zürich
1941, S. 9.
28 Regin, Cornelia: Zwischen Angri
und Abwehr. Die Naturheilbewegung
als medizinkritische Öentlichkeit
im deutschen Kaiserreich, in: Martin
Dinges (Hg.): Medizinkritische Bewe-
gungen im Deutschen Reich (ca. 1870
– ca. 1933), Stugart 1996, S. 39–58.
29 Zur Geschichte des Impfobligatoriums
im Kanton St. Gallen vgl. Wolfensber-
ger/Meier, «Volksgesundheitspege»,
S. 109. Zum Erfolg des Referendums
siehe Ruckstuhl/Ryter, Seuchenpoli
zei,
S. 120.
27
Medizin
30 Zur Geschichte der Kuranstalten in
Tablat siehe Blum, «Ich bin»; Wirth,
G.: Entstehung und Entwicklung der
beiden Anstalten «Unterwaid» und
«Oberwaid» bei St. Gallen, St. Gallen
1935.
31 Rubrik «St. Gallen», in: Die Ost-
schweiz, 31.7.1879, S. 3.
Das heisst nicht, dass die naturheilkundliche Ablehnung des
Impfens mehrheitsfähig geworden wäre. Liberale Gesetzes-
gegner sahen im Impfzwang einen Eingri in die persönliche
Freiheit, und das katholisch-konservative Lager mobilisierte
gegen die Einmischung des Bundes in kantonale Angelegen-
heiten. Wichtiger als die politische Gestaltungskraft der
Na-
turheilvereine war ihre Funktion als Foren für Fragen nach
der gesunden Lebensführung in einer von Industrialisierung
und Urbanisierung geprägten Welt. In Vorträgen und in
Zeit-
schriftenartikeln propagierten auch naturheilkundliche
Rat-
geber selbstregulatorisches Verhalten. Im Unterschied zu den
ärztlichen Gesundheitsexperten betonten sie dabei, dass es
zu
einer naturgemässen Lebensweise zurückzunden gelte.
Wie diese zu gestalten sei, war aber keineswegs oenkundig.
Der Beitrag zur «naturgemässen»
Lebensweise aus Tablat
Natürlichkeit musste durch die Begründung einer ursprüngli-
chen Natur des Menschen erst deniert werden. Zwar wird
die Evolutionstheorie mit ihrem Postulat der ständigen Wan-
delbarkeit aller Lebewesen einem solchen Unterfangen länger-
fristig den Sinn entziehen. Während der Entstehung der Na-
turheilkundebewegung besass evolutionsbiologisches Denken
jedoch keinen Einuss auf die Bestimmung von Natürlichkeit.
Das lässt sich am Beispiel Theodor Hahns veran
schaulichen.
Er gehörte zu den ersten Naturheilkundigen, die den Vegeta-
rismus zur «naturgemässen» Ernährung erklärten. Zunächst
als Apotheker in Mecklenburg tätig, liess er sich 1847/48 zum
Wassertherapeuten ausbilden. 1854 kaufte er zusammen mit
einem Teilhaber die Liegenschaft Waid in Tablat und wandelte
das Wirtshaus in einen Kurbetrieb um. 1870 erönete Hahn
in der Nähe seine zweite Kuranstalt, die Obere Waid (vgl. Ex-
kurs), nachdem er die alte, nun Untere Waid genannte Ein-
richtung 1868 verkauft und 1869 auch deren therapeutische
Leitung aufgegeben hae. Seine Kurgäste stammten aus der
Schweiz und Deutschland, seltener kamen «Schweden, Rus-
sen, Rumänen, Ungarn, Oesterreicher und Italiener». Hahns
Ruf als Verfechter des Vegetarismus ent
stand, als er das Buch
Die naturgemäße Diät, die Diät der Zukunft
veröentlichte – das
war 1859, also im gleichen Jahr, in dem The Origin of Species von
Charles Darwin (1809–1882) erschien. Zudem stri Hahn in
der wichtigen Zeitschrift Der Naturarzt
über die «naturgemäs-
se» Ernährung mit Arnold Rikli, dem als
«Sonnendoktor» be-
28
Medizin
Werbung für den Kurbe-
trieb von Theodor Hahn
in Tablat.
Hahn, Theodor: Volksthümliche Heil-
und Gesundheitspege. Das beste
Brod [sic!] in gesunden und kranken
Tagen, Ein Flugblatt, Cöthen 1874,
S. 7.
Theodor Hahn gehörte
ab den 1850er Jahren zu
den wichtigen naturheil-
kundlichen Publizisten.
Canitz, Max: Die Naturheilkunde. Ihr
Wesen und Wirken in gesunden und
kranken Tagen, 6. Au., Berlin 1896,
S. 6.
kannten Naturheilkundigen aus Wangen
an der Aare, der sich
öentlich vom Vegetarismus distanzierte.
Ernährungsfragen waren in den 1850er Jahren politisch
brisant. Weil Hungerkrisen als ein Auslöser der Revolutions-
ereignisse von 1848/49 in mehreren europäischen Staaten
galten, ging es um die Beruhigung der Lage und um Massnah-
men gegen die Massenarmut. Vor diesem Hintergrund hae
Jacob Molescho (1822–1893) die Schrift Die Lehre der Nah-
rungsmittel. Für das Volk (1850) veröentlicht. Der niederländi-
sche Physiologe vertrat darin die vom Chemiker Justus Liebig
(1803–1873) etablierte Lehrmeinung, dass Proteine die wert-
vollsten Nährstoe seien und dem Körper am besten durch
Fleischessen zugeführt würden. Mit Ergebnissen der verglei-
32 Heyll, Wasser, S. 134–137.
33 Treitel, Corinna: How Vegetarians,
Naturpaths, Scientists, and Physicians
Unmade the Protein Standard in Mo-
dern Germany, in: Elizabeth Neswald/
David F. Smith/Ulrike Thoms (Hg.):
Seing Nutritional Standards. Theory,
Policies, Practices, Rochester 2017, S.
52–73, hier S. 53–54, 57–58 und 67.
29
Medizin
chenden Anatomie belegte er, dass die menschlichen Verdau-
ungsorgane für den Fleischverzehr geeignet seien. Dagegen
wandte sich Hahn. Er war einer der ersten kritischen Begleiter
der naturwissenschaftlichen Ernährungsforschung und trug
mit seinen Einwänden zu deren Ausdierenzierung bei. Der
gleichen sozialen Schicht wie die Naturwissenschaftler zuge-
hörig und gleichfalls von einer grossen politischen Bedeutung
von Ernährungsfragen ausgehend, konnte sich Hahn Gehör
verschaen. Er bediente sich zur Denition der «naturgemäs-
sen» Ernährung derselben Wissenschaft, mit der auch Mole-
scho argumentiert hae, zog aber andere Schlüsse. Für
Hahn ging aus der vergleichenden Anatomie hervor, dass der
Mensch seiner ursprünglichen Natur nach für eine «Frucht-
und Körnerdiät» bestimmt sei.
Hahns Vorgehen einer kritischen Auseinandersetzung
mit dem wissenschaftlichen Wissen seiner Zeit bei gleichzei-
tiger Übernahme genehmer Erkenntnisse zur Denition von
Natürlichkeit ist beispielhaft für die damalige Naturheilkun-
de. Eben dieses Vorgehen lag der naturheilkundlichen Lehre
von der Entstehung der Krankheiten zugrunde. Sie ging von
einem Vergiftungskonzept aus, das auf der Stowechselfor-
schung auaute. Naturheilkundige dachten sich den Kör-
per
in Übereinstimmung mit der damaligen Physiologie als
Maschine, die Nahrung in Bau- und Brennmaterial umwan-
delt. Dabei entstand – wie bei der Verbrennung von Stein-
kohle zum Antrieb von Dampfmaschinen – eine «Schlacke»,
die sich ablagert. Krankheit war nichts anderes als die Ausein-
andersetzung der Körpermaschine mit den Auswirkungen
solcher Ablagerungen. Viele naturheilkundliche Verfahren
zielten deshalb darauf ab, die Ausscheidung von Stoen über
Urin, Exkrement oder Schweiss anzuregen. Das war beim
Kräuter
pfarrer nicht anders, auch wenn er mit dem Maschi-
nenmodell
der Physiologie und einer Natur, die nicht von
Go geschaen war, nichts anfangen konnte: «Der liebe Go
hat jedoch das Blut so eingerichtet, daß es sich selbst reinigt,
schlechte
Stoe ausscheidet und irgendwo im Körper hinter-
legt. Diese
schlechten Stoe, meistens Harnsäure, werden
gewöhnlich dort abgelagert, wo die schwächsten Stellen sind
oder an
Körperteilen, die besonders stark angestrengt wer-
den. […] alle
inneren Geschwüre nehmen zu und erneuern
sich trotz Operationen, so lange Nieren, Blase, Stuhlgang nicht
richtig
funktionieren […]. Damit ist auch der Weg angezeigt
zur
Heilung der inneren Geschwüre.»
34 Hahn, Theodor: Die naturgemässe
Diät. Die Diät der Zukunft, Cöthen
1859, S. 137–138. Für Moleschos Argu-
mentation siehe Molescho, Jacob:
Lehre der Nahrungsmiel. Für das
Volk, Erlangen 1850, S. 189.
35 Heyll, Wasser, S. 59–60.
36 Künzle, Johannes: Blütenlese aus
«Salvia», Monatshefte für giftfreie
Kräuterheilkunde des Kräuterpfarrers
Joh. Künzle Zizers bei Chur (Schweiz),
1. Teil, Feldkirch 1930, S. 3–4.
30
Medizin
Umgekehrt veränderte die Naturheilkunde auch die
akademische Medizin. Ihr therapeutisches Programm fand in
Form der Physikalischen Therapie Eingang in die Universi-
tätsmedizin. Die Ärzte benutzten dabei technische Miel
wie Duschkatheter oder elektrisches Licht, um die naturheil-
kundlichen Reize kontrolliert anzuwenden. Diese Anglei-
chung des Therapieangebots konnte den Gegensatz zwischen
Ärzten und Naturheilkundigen verschärfen, weil sie sich nun
noch direkter konkurrierten. In Tablat focht Hahn in den
1870er Jahren eine Fehde mit Wilhelm Dock (1833–1907) aus,
der einige Zeit nach Hahns Neustart mit der Kuranstalt Obere
Waid die Leitung der Kuranstalt Untere Waid übernommen
hae. Dock, ein Lehrer aus der Umgebung von Strassburg,
hae 1869 in Zürich ein Medizinstudium begonnen – pikan-
terweise ein Jahr, nachdem sein Schwager, Gofried Fischer
(† 1876), Hahn die Kuranstalt Waid abgekauft hae. Ob die
familiäre Bande zwischen Fischer und Dock dazu führte, dass
Hahn seine erste Kuranstalt verliess, ist nicht bekannt. Fi-
scher
und Dock behielten Hahns Geschäftsmodell aber bei,
der Betrieb blieb eine naturheilkundliche Einrichtung. In
Vorträgen pries Dock den Vegetarismus als Teil einer «natur-
gemässen Lebensweise».
Die Erndung der naturheilkundlichen
Kräutermedizin
Wie wurden nun Heilkräuter zu einem Angebot auf dem Ge-
sundheitsmarkt? Der Erndung der naturheilkundlichen
Kräutermedizin voraus ging die Umcodierung der Heilpan-
zen vom Arzneimiel schlechthin zum zerlegbaren Rohsto.
Mit dem Einuss der Alchemie auf die Medizin haen Pan-
zen im 17. Jahrhundert ihren medizinischen Stellenwert
ver
loren. Ärzte, Alchemisten und Apotheker nutzten neue
tech
nische Fertigkeiten zur Herstellung komplizierter
Arznei-
gemische, ohne sich auf panzliche Grundstoe zu beschrän-
ken. Neue Arzneibücher ersetzten die Kräuterbücher, die
nicht nur von Medizinern konsultiert worden waren, sondern
auch die Selbstmedikation angeleitet haen. Im 18. Jahrhun-
dert entwickelten Naturforscher dann eine Botanik, welche
die Panzenwelt losgelöst vom medizinischen Verwertungs-
zusammenhang ordnete. Damit setzten der Verwissenschaft-
lichungsprozess und die Zerlegung von Panzen in vielfältig
verwertbare Stoe ein. An der Wende zum 19. Jahrhundert
entstand die Pharmakochemie, deren Vertreter Substanzen
37 Heyll, Wasser, 109–116; Ingold, Licht-
duschen, S. 23 und 55–58.
38 Blum, «Ich bin», S. 55; Hahn, Theodor:
Zum Doktortitelkultus, in: Der Haus-
arzt 1, 1876, 10, S. 156–159. Zu Docks
Lebenslauf siehe Friedrich Wilhelm
Dock †, in: Correspondenz-Bla für
Schweizer Ärzte 38, 1908, 10, S. 338.
39 Dock, Friedrich Wilhelm: Ueber natur-
gemässe Heil- und Lebensweise. Vor-
trag gehalten in Zongen, Zürich 1874.
40 Für nachfolgende Ausführungen siehe
Jüe, Geschichte, S. 164–166 und
169–170.
31
Medizin
wie Morphin, Koein und Nikotin isolierten. Hundert Jahre
später prägte die Pharmakognosie die wissenschaftliche Ausei-
nandersetzung mit Heilpanzen. Zu ihren Forschungsfeldern
gehörten neben der makro- und mikroskopischen Beschrei-
bung von Panzen auch die chemische Analyse der Inhaltsstof-
fe und Züchtungsversuche. Die Ergebnisse dieser Drogenkun-
de interessierten Chemieunternehmen, die ab den 1880er
Jahren ebersenkende, schmerzlindernde und desinzierende
Stoe synthetisierten. Chemiker extrahierten im Labor panz-
liche Gifte und verwendeten sie zur Entwicklung neuer Medi-
kamente.
Die naturheilkundliche Kräutermedizin gewann etwa
zur gleichen Zeit an Kontur. Wichtige Protagonisten ihrer
Erndung waren Sebastian Kneipp (1821–1897) und Martin
Glünicke (1851–1897). Kneipp, wie Künzle ein katholischer
Geistlicher, behandelte im bayerischen Wörishofen Hilfesu-
chende, setzte dabei auf kurze Wassergüsse, verschrieb aber
auch Kräuter, einerseits als Badezusatz, andererseits als Tee.
Glünicke, der eigentlich Jurist war, befasste sich wegen einer
langwierigen Krankheit mit den medizinischen und alterna-
tivmedizinischen Angeboten seiner Zeit. Nachdem weder
akademische Medizin noch Homöopathie oder Hydrothera-
pie geholfen haen, entwickelte Glünicke eine panzliche
Saftkur. An der Universität Berlin begann er ein Medizinstu-
dium, das er allerdings abbrechen musste, weil die Professo-
ren sein Buch Mein Heilsystem oder Eine neue Cellular-Therapie
mittels giftfreier Pflanzensäfte (1891) als Angri auf die natur-
wissenschaftliche Medizin lasen. Der Rauswurf schadete
seiner Karriere als Kräutermediziner indes nicht: Auf dem
wenig regulierten Gesundheitsmarkt des Deutschen Reiches
konnte Glünicke ohne Approbation als Heiler tätig werden.
1898 erschien dann die Schrift, die der naturheilkundlichen
Kräutermedizin den Namen gab. Unter Bezugnahme auf
Kneipp und Glünicke veröentlichte der ehemalige deutsche
Militärarzt Karl Kahnt (*1859) das Buch Phytotherapie. Eine
Methode innerlicher Krankheitsbehandlung mit giftfreien, pflanz-
lichen Heilmitteln nach den Grundsätzen des Naturheilverfahrens.
Ob diese neue Panzenheilkunde wirklich ein Natur-
heilverfahren sei, wurde noch vor Künzles Kräuterkarriere dis-
kutiert. Für strenge Anhänger der Naturheilkunde verletzte
die Kräutermedizin die Forderung nach möglichst einfachen
Behandlungsmethoden, die den Körper lediglich darin unter-
stützten, die Krankheit zu überwinden. So schrieb der Dich-
41 Zu Kneipp siehe Heyll, Wasser,
S. 168–169. Zu Glünicke ebd., S. 253.
Für nachfolgende Ausführungen siehe
auch Jüe: Geschichte, S. 166–168.
32
Medizin
ter Johannes Reinelt (1858–1906) alias Philo vom Walde – ein
Sympathisant der Wasserkur nach Vincenz Priessnitz (1799–
1851) – 1899 in der Zeitschrift Der Naturarzt, dass der «Geist
der Arzneiheilkunde und der Kräuterheilkunde […] genau
derselbe» sei. Kräutermedizin war für ihn eine «Heilmit-
tel-Therapie», die letztlich immer nur Krankheitssymptome,
nie aber die Krankheitsursachen und den ganzen Organismus
behandle. Zudem unterstellte er den Kräutermedizinern,
nanzielle Interessen über Gebühr zu gewichten. Schliesslich
würden sie Badezusätze und Tees aus Kräutern zusätzlich
verrechnen.
Johannes Künzles Wandel vom Priester zum Kräuter-
pfarrer hing mit dieser kontroversen Neuerndung der Kräu-
termedizin zusammen. Das Heilkräuterkapitel in Kneipps
Buch Meine Wasserkur (1886) diente Künzle als Vorlage für
seinen 1911 erscheinenden Verkaufsschlager Chrut und Uchrut.
Laut Christine Künzle hae Kneipps Schrift bereits früher den
Ausschlag gegeben, dass Künzle Behandlungen mit Heilkräu-
tern ausprobierte. Aus seiner Ausbildungszeit und durch
seinen Vater, der als Hilfsgärtner gearbeitet hae, war Künzle
botanisch gebildet und in der Lage, die Panzen aus Kneipps
Rezepten zu nden. Künzle versuchte sich bald nach Erschei-
nen von Kneipps Buch als Kräuterheiler. Er versah Ende der
1880er, Anfang der 1890er Jahre in den abgelegenen Land-
pfar
reien Amden und Libingen den Pfarrdienst, wo der nächs-
te Arzt mehrere Stunden entfernt war. Häug will er sich als
Kräuterheiler aber erst auf der Pfarrstelle von Herisau (1907–
1909), also kurz vor seinem Wechsel nach Wangs, betätigt
haben, wie er 1937 in einem Radiointerview sagte. Der Histo-
riker Beat Frei geht davon aus, dass ein altes Kräuterbuch,
verfasst von Jakob Theodor Tabernaemontanus (1522–1590),
Künzle half, sich zu Beginn seiner Wangser Zeit von Kneipp
mit eigenen Rezepten zu emanzipieren. Ab 1911 schrieb Künz-
le in der Zeitung Sarganserländer regelmässig über Kräuter,
zuerst anonym, dann – bis nach dem Erscheinen von Chrut und
Uchrut im November 1911 – unter dem Pseudonym «Kräuter-
mann am Fuss der grauen Hörner». 1913 veröentlichte er im
Verlag von Jacob Gyr-Niederer im zürcherischen Uster einen
Bilderatlas zum Kräuterbuch und 1914 das «praktische Kräu-
ter-Büchlein» Der junge Botanist, das für den Schulunterricht
gedacht war. Künzles bekannteste Schrift blieb aber Chrut
und Uchrut. Im deutschsprachigen Raum erreichte es noch vor
dem Ersten Weltkrieg, als in Deutschland Autarkieüberlegun-
42 Huerkamp, Claudia: Medizinische Le-
bensreform im späten 19. Jahrhundert.
Die Naturheilbewegung in Deutsch-
land als Protest gegen die naturwissen-
schaftliche Universitätsmedizin, in:
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirt-
schaftsgeschichte 73, 1986, S. 158–182,
hier S. 161. Siehe auch Heyll, Wasser,
S.
79.
43 Für dieses und nachfolgende Zitate
siehe Walde, Philo vom [d.i. Johannes
Reinelt]: Ueber Heilkräuter, in: Der
Naturarzt, 1899, S. 66–68/89–92, hier
S. 68 und 89.
44 Für nachfolgende Ausführungen siehe
Frei, Wangs, S. 31–35.
45 Ebd., S. 28.
46 Künzle, Johannes: Der junge Botanist.
Praktisches Kräuter-Büchlein, Uznach
1914.
33
Medizin
gen zu einer Aufwertung der Kräutermedizin führten, die
hohe Auage von 270 000 Exemplaren. 1920 waren es
446 000 Exemplare, 1930 720 000 und 1962 1,1 Millionen.
Kräuter als nationale Importware und
lokale Verdienstmöglichkeit
Als die entstehende Pharmaindustrie und die naturheilkund-
liche Kräutermedizin am Ende des 19. Jahrhunderts für ein
neues Interesse an Heilpanzen sorgten, waren Kräuter in der
Schweiz eine Importware. Für das Jahr 1883 belief sich die
Einfuhr von «medizinischen Blüthen, Bläern, Samen, Rin-
den u. s. w.» in die Schweiz auf 121
300 Kilogramm und 1884
auf 144
300 Kilogramm, ausgeführt wurden 29
800 Kilo
gramm
beziehungsweise 33
900 Kilogramm. 1912 rechnete der Che-
miker und Aargauer Unternehmer Kurt Siegfried (1873–1945)
vor, dass die Schweiz jährlich für 110
000 Franken Panzen
importiere, die sich «mit Leichtigkeit» innerhalb der Landes-
grenzen sammeln liessen. Das lohnte sich aber wegen des
bereits hohen durchschnilichen Pro-Kopf-Einkommens und
anderen Arbeitsangeboten nicht. Hae das «Wurzelgraben»
um 1850 herum noch als lukrative Tätigkeit für «Bauern und
Taglöhner» gegolten, fanden diese Leute am Jahrhundertende
«leichteren Verdienst in der jetzt rasch aulühenden Frem-
denindustrie».
Die Kräuterhandelsbilanz blieb im 20. Jahrhundert nega-
tiv. Ein Autor der Neuen Zürcher Zeitung trauerte 1930 dem
Kräutergarten des Klosters Sankt Gallen «mit seinen 49 ver-
schiedenen Panzenarten» nach und stellte fest: «Es klingt
unglaublich, paradox, aber ist doch wahr, daß wir Schweizer
sogar Alpenkräuter und Essenzen aus Amerika beziehen.»
Die Siegfried AG, in deren Geschäftsleitung der oben erwähn-
te Kurt Siegfried sass, war eine der wenigen Firmen, die in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz über einen
längeren Zeitraum hinweg Panzen anbauten. Als Vorausset-
zung für eine grössere einheimische Kräuterproduktion wur-
de immer wieder die Notwendigkeit anderer Rahmenbedin-
gungen geltend gemacht. Zwischen 1932 und 1947 dachten die
Mitglieder des Schweizerischen Heilpanzenverbandes (SHV)
über Bundessubventionen für Panzer und Schutzzölle nach.
Dazu fehlte aber der politische Wille, weil solche Massnah-
men den Preis panzlicher Rohstoe allgemein erhöht häen.
Fotos von kräutersammelnden Kindern in Kräuterbüchern
romantisieren folglich eine ökonomische Realität:
Ohne die
47
Siehe dazu die Angaben im Biblio-
thekskatalog www.swissbib.ch [Stand:
24.7.2018]. Zur Aufwertung der Kräu-
termedizin in Deutschland während
des Ersten Weltkrieges siehe Jüe, Ge-
schichte, S. 170–172. Nach 1933 wurde
die Kräutermedizin zu einem wichtigen
Pfeiler der «Neuen Deutschen Heil-
kunde», welche die nationalsozialis-
tische Gesundheitspolitik anfänglich
bestimmte. Im Konzentrationslager Da-
chau liess das Regime einen Heilpan-
zengarten einrichten, der von mehr als
1000 Häftlingen bestellt werden musste
und das Land unabhängig vom Ausland
machen sollte. Siehe Jüe, Geschichte,
S. 172–173.
48 Eintrag «Medizinalpanzen», in:
Furrer, Alfred: Volkswirthschaft-Le-
xikon der Schweiz, Bd. 2: Handels-
expeditionen – Schiedsgerichte, Bern
1889, S. 408–412, hier S. 412. Für einen
konzisen Überblick zur Geschichte
der Heilpanzen in der Schweiz siehe
Steinke, Hubert: «Chrut und Uchrut».
Alpenkräuter, in: Felix Graf/Eberhard
Wol (Hg.): Zauber Berge. Die Schweiz
als Kraftraum und Sanatorium, Baden
2010, S. 79–85.
49 Siegfried, Kurt: Über Arzneipanzen-
kulturen, in: Schweizerische Wochen-
schrift für Chemie und Pharmazie 50,
1912, 46/47, S. 689–691, 701–704, hier
S. 702.
50 Amberg, K.: Pharmazeutische Botanik
in praxi, in: Schweizerische Apothe-
ker-Zeitung 66, 1927, 36, S. 461–464,
hier S. 463. Zur Höhe des Durch-
schniseinkommens siehe Tanner,
Jakob: Geschichte der Schweiz im
20. Jahrhundert, München 2015
(Europäische Geschichte im 20. Jahr-
hundert), S. 44.
51 K., H.: Arzneipanzenzucht, in: Neue
Zürcher Zeitung, 11.11.1930, Miags-
ausgabe, Bla 4.
52 Siegfried, Bert: Der Arzneipanzen-
anbau in der Schweiz. Eine historische
Studie über den Zeitabschni 1908 bis
1983, Zongen 1984, S. 23.
34
Medizin
53 Frei, Wangs, S. 59.
54 Ebd., S. 17–18.
billige Arbeitskraft der minderjährigen Gehilfen war die lokale
Rohstoeschaung sehr teuer.
In Wangs nahm das Kräutersammeln Anfang der 1910er
Jahre schnell zu und bildete die Grundlage für das wachsende
lokale Kräutergewerbe. Die Politische Gemeinde Vilters, zu
der Wangs gehört, erliess bereits 1912/13 erste Kräutersam
mel-
verbote für bestimmte Alpen. Verwertung fanden die Kräu-
ter zunächst im Volksbad Wangs. Die Idee zur Schaung
einer
solchen Einrichtung war in einem von Künzle gegrün
deten
Leseverein entstanden und von einer Privatperson, Alois
Freuler, 1910 umgesetzt worden. Nach dem schnellen Erfolg
von Chrut und Uchrut begann der Ausbau dieses
Angebots.
Volksbadbetreiber Freuler gründete die «A.-G. Kurhaus und
Volksbad Wangs» mit dem Ziel, ein Hotel mit sechzig Been,
Restaurant und Badeanlage zu bauen und zu betreiben.
Künz-
les Ruf als Kräuterkundiger diente als Lockmiel für Investo-
ren. In einem Emissionsprospekt vom Juli 1913 heisst es:
«Un-
ter dem Hinweis des von Herrn Pfarrer Küenzli [sic!]
verfassten,
in vielen tausend Exemplaren verbreiteten Büchleins Chrut
und Uchrut sind heute schon die Anfragen und Anmeldun
gen
für den Kurgebrauch so reichlich, dass, wäre der Bau
fertig,
derselbe ganz besetzt werden könnte. Die beste Reklame liegt
Ohne minderjährige Ar-
beitskräfte lohnte sich
das Kräutersammeln in
der Schweiz kaum.
Künzle, Johannes: Das grosse Kräu-
terheilbuch. Ratgeber für gesunde
und kranke Tage nach der giftfreien
Heilmethode und den Originalrezep-
ten, Mit Beiträgen von Jakob Zum-
wald et al., Olten 1945, S. 32.
35
Medizin
55 SWA, Kurhaus und Volksbad – Wangs,
Kurhaus & Volksbad Wangs AG: Emis-
sionsprospekt, Juli 1913.
56 Für nachfolgende Ausführungen siehe
Frei, Wangs, S. 41–44.
57 Künzle, Johannes: Chrut und Uchrut.
Praktisches Heilkräuter-Büchlein,
250 001 – 270 000, Wangs 1914, S. 76.
Siehe auch Frei, Wangs, S. 39.
58 Frei, Wangs, S. 40–41.
59 «Pfarrer Künzle’s Kaee Ersatz»
[Inserat], in: Neue Zürcher Zeitung,
10.7.1915, Viertes Miagbla; «Rezept»
[Inserat], in: Neue Zürcher Zeitung,
29.10.1915, Erstes Miagbla.
60 Frei, Wangs, S. 76.
61 Für dieses und nachfolgende Zitate
siehe Mermet, Alexis: Der Pendel als
wissenschaftliches Instrument. Eine
Einführung in die Pendellehre und
eine Anleitung zum Gebrauch des Pen-
dels. Deutsche Ausgabe, Colmar 1937,
S. 245.
also schon in dem oben genannten Büchlein und in den
Erfol-
gen der letzten Jahre, die im Privatetablissement von Herrn
A. Freuler, der die Leitung des Kurhauses übernimmt, erzielt
wurden.» Künzle und Freuler arbeiteten in den folgenden
Jahren zusammen und verbanden Kräutermedizin und Tou-
rismus. Gemeinsam boten sie Heilkräuterkurse an, deren
Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Freulers Kurhaus lo
gier-
ten. Abgesehen von diesem Kräutermedizinzentrum
stiegen
lokale Geschäfte ins Kräutergewerbe ein und verkauften
allerlei Kräutersalben und Tinkturen. Ein im Frühling 1914
erstmals durchgeführter und dann jeweils im Herbst stan-
dender Kräutermarkt festigte Wangs‘ Ruf als Kräuterdorf.
Künzle seinerseits baute ein eigenes Vertriebsnetz auf.
Im Sarganserland verkaufte die Drogerie A. Reichlin in Mels
Kräuter, «die alle unter unserer Aufsicht gesammelt sind».
Hinzu kamen Geschäfte in Zürich, Romanshorn und Au im
Rheintal. Ab 1913 half ihm ein Sekretär beim Vertrieb seines
anfänglich im Eigenverlag erscheinenden Kräuterbuchs, 1914
kamen ein Magaziner und ein Packer für den Versandhandel
hinzu. Bereits während des Ersten Weltkriegs diente Künz-
les Name als Gütesiegel für panzliche Nahrungsmiel. So
bewarb die Oltener Nährmielwerke Aktiengesellschaft 1915
«Pfarrer Künzle’s Kaee-Ersatz ‹Virgo complet›» und «Pfar-
rer Künzle’s Miela», einen «Alpenkräuter-Sirup». 1917 stieg
Christine Künzle in das wachsende Unternehmen ein und
übernahm die Geschäftsführung. Zu diesem Zeitpunkt
orierten nicht nur Künzles Kräuterprodukte, sondern auch
seine alternativmedizinische Praxis, in der er die verhängnis-
volle Pendeldiagnose anwendete.
Das Strafverfahren gegen den Kräuterpfarrer
Hae mit Kneipp ein Geistlicher Künzles Verwandlung in ei-
nen Kräuterpfarrer inspiriert, so regte ihn ein weiterer Pfar-
rer zur Pendeldiagnose an: Alexis Mermet, Priester in Jussy
bei Genf. Er will die Diagnose von Krankheiten per Pendel
«in den Jahren 1905/06» erfunden haben, nachdem er über
zwanzig Jahre lang Wasser und andere Dinge miels Wün-
schelrute und Pendel aufgespürt hae. Daher rührte die Idee,
auch den menschlichen Körper mit dem Pendel zu untersu-
chen: «Liessen sich die Venen und Arterien des Körpers nicht
mit unterirdischen Wasserläufen vergleichen? Wiesen
Fleisch,
Knochen und Nerven nicht Analogien mit den verschiede-
nen Schichten der Erdkruste auf? Und ich machte mich ans
36
Medizin
Das Angebot des Kurhau-
ses Bad Wangs verband
Kräutermedizin und Tou-
rismus.
Pfarrer Künzle’s Volkskalender 1940,
S. 32.
Werk und beobachtete die Strahlungen des menschlichen
Körpers und seiner Organe.» Strahlung gehörte anfangs des
20. Jahrhunderts zu den physikalischen Phänomenen, die in
der Öentlichkeit Anlass zu utopischen Entwürfen künftiger
medizinischer Möglichkeiten gaben. Dennoch begab sich
Mermet auf heikles Terrain. In okkulten Kreisen galten Pen-
del und Wünschelruten als «Empfangsapparate von allerlei
Wellen und Impulsen […], die von fernen oder unsichtbaren
Intelligenzen [Hervorhebung im Original] herrühren».
Künzle tauschte sich mit Mermet aus, sprach aber nicht
von Strahlen, sondern von magnetischen Feldern, auf die das
Pendel reagiere. Anfang Oktober 1918 kündete er in der ka
tho-
lischen Zeitung Neue Zürcher Nachrichten eine eigene
Schrift
62 Dazu Studer, Dominic: Von gemein-
nützigen Stiftungen und kolonialem
Rohstoandel. Die Versorgung der
Schweizer Krebsmedizin mit Radium,
1920–1945, in: Niklaus Ingold/Sibylle
Marti/Dominic Studer: Strahlenme-
dizin. Krebstherapie, Forschung und
Politik in der Schweiz, 1920–1990,
Zürich 2017, S. 23–70, hier S. 23–29.
63 Surya, G. W. [d.i. Demeter Georgie-
vitz-Weitzer]: Okkulte Diagnostik
und Prognostik, Berlin 1921 (Okkulte
Medizin 5), S. 104–105.
37
Medizin
64 Künzle, Johannes: Automatische Dia-
gnose, in: Neue Zürcher Nachrichten,
14. Jg., Nr. 275, 5.10.1918, 3. Bla.
65 Stimmen aus dem Publikum, in: Neue
Zürcher Nachrichten, 14. Jg., Nr. 286,
16.10.1918, 2. Bla. Für nachfolgende
Ausführungen siehe Jüe, Geschichte,
S. 103–109.
66
BiASG E 50 Wangs, 1 g, Robert Bürkler
an Johannes Künzle, 20.10.1918, S. 1.
67 BiASG E 50 Wangs, 1 g, Robert Bürkler
an Rudolf von Reding, 30.05.1920.
68 Der entsprechende Brief fand – unge-
fragt und deshalb sehr zum Befremden
des Bischofs – Eingang in den Werbe-
prospekt Zeugnisse über die Wirkung
des Lapidars. BiASG E 50 Wangs, 1 g,
Robert Bürkler an Johann Künzle,
16.07.1919. Zu den Lebenspillen Lapi-
dar siehe Frei, Wangs, S. 60.
zur Pendeldiagnose an und liess dabei verlauten, dass er zu
Mermets Arbeit «ein zweites Naturgesetz» entdeckt habe:
«Jede Störung und jede Unregelmäßigkeit in irgendeinem
Organismus produziert den entgegengesetzten Magnetis-
mus.» Diese Erklärung der Pendeldiagnose machte die
Abgrenzung gegenüber der okkulten Medizin noch schwieri-
ger. Anders als Theodor Hahn fünfzig Jahre früher in seiner
Begründung des Vegetarismus bezog sich Künzle auf Wissen,
das längst als problematisch eingestuft war. Die Leserschaft
der Neuen Zürcher Nachrichten sah in seinen Ausführungen eine
Zustimmung zum «tierischen Magnetismus». Diese Theorie
hae der Mediziner Franz Mesmer in den 1770er Jahren in
Wien entwickelt. Sie behauptete die Existenz einer
feinen
Substanz, die alle Lebewesen, die Erde und die Gestirne
miteinander verbindet. Krankheiten verstand Mesmer als
Folge der ungleichen Verteilung dieser Substanz im Körper.
Durch Magnetisieren mit einem Magnet oder durch Striche
mit der Hand liess sich seiner Meinung nach der Heilungs-
pro
zess einleiten. Wissenschaftliche Anerkennung fand diese
Theorie nie, stadessen galt das Magnetisieren bereits im
19. Jahrhundert als okkulte Praktik.
Das war Bischof Robert Bürkler (1863–1930), dem kirch-
lichen Vorgesetzten des Kräuterpfarrers, bekannt. Nachdem
er von dessen Plan einer Publikation zur Pendeldiagnose
gelesen und den Text erhalten hae, schrieb er Künzle: «Der
Schri vom Magnetismus zum Aberglauben ist bekanntlich
klein & leicht, & der Priester darf da keinen Vorschub leis-
ten». Diese Warnung hielt Künzle nicht von der Verbreitung
seiner Ansichten über die Pendeldiagnose ab. Im April 1920
erschien in der Neuen Zürcher Zeitung ein anonymer Bericht zu
einem Besuch bei Künzle, demzufolge der Kräuterpfarrer
dem Autor zum Abschied eine Schrift aushändigte, die den
Titel trug: Die Wunder des Pendels oder automatische Diag
nose bei
Menschen, Vieh, Pflanzen. Wichtig für Aerzte,
Veterinäre, Krimi-
nalbeamte usf. Der Schilderung von Bischof Bürkler zufolge
wurde diese Schrift der Sankt-Galler Sanitätskommission und
dem Regierungsrat zugespielt. Nun stieg der Druck auf den
Bischof, Künzles Tätigkeit als Heiler Einhalt zu gebieten.
Bürkler war kein grundsätzlicher Gegner von Künzles
Tätigkeit als Kräuterkundiger. Im Februar 1918 hae er ihn
selbst um eine Kostprobe seines bekanntesten Produkts, der
«Lebenspillen» Lapidar gebeten. Bis 1920 hae er davon
abgesehen, Künzle die Kräuterpraxis zu untersagen, obwohl
38
Medizin
69 Frei, Wangs, S. 61–62 und 65–66.
70 BiASG E 50 Wangs, 1 g, Robert Bürkler
an Rudolf von Reding, 30.05.1920. Die
Sachlage war verworren, weil Künzle
selber nicht als Autor der Broschüre
auftrat. Der Bischof erkundigte sich
deshalb bei der Druckerei über den
Auftraggeber. Die Antwort ist nicht
archiviert. Vgl. BiASG E 50 Wangs, 1 g,
Robert Bürkler an Tit.
K. Oberholzers Buchdruckerei,
Uznach, 29.05.1920.
sich der Pfarrer damit angreiar machte. Die weltlichen
Behörden schienen nun aber durchgreifen zu wollen. Wie
der Bischof an einen Fürsprecher Künzles schrieb, habe ein
Regierungsvertreter die Bistumsverwaltung darauf aufmerk-
sam gemacht, «dass bei der Sanitätskommission Klage gegen
Pfarrer Künzle eingegangen sei, dass unter Umständen der
Staatsanwalt sich mit der Sache befassen müsse und ein
ärzt-
licher Untersuch auf den Geisteszustand von Pfr. Künzle
angeordnet werden könne». Dem Bischof wurde nahegelegt,
«seinen Geistlichen in die richtigen Schranken zu weisen».
Im Mielpunkt stand dabei Künzles Pendeldiagnose, nicht
die Kräutermedizin. Der Bischof schrieb: «Dieses Procedere
erfolgte wohl nicht deswegen, weil man Pfr. Künzle eine Fahr-
lässigkeit mit tötlichem [sic!] Ausgange nachweisen kann, aber
ganz sicher wegen seiner Theorie und tatsächlichen Verwen-
dung des Pendels in Rücksicht auf die ärztliche Diagnose.»
Der Kräuterpfarrer selber sah den Grund für den Druck
seitens der Gesundheitsbehörden freilich nicht in seiner
An-
eignung einer Diagnosepraktik, die Zeitgenossen der okkul-
ten Medizin zurechneten. In den Briefen, die das Bischöiche
Ein Kaee-Ersatz gehör-
te ab dem Ersten Welt-
krieg zu den Produkten,
die mit dem Namen des
Kräuterpfarrers bewor-
ben wurden.
Pfarrer Künzle’s Volkskalender 1930,
S. 115.
39
Medizin
71 BiASG E 50 Wangs, 1 g, Brief von
Johannes Künzle an Robert Bürkler,
15.05.1920.
72 BiASG E 50 Wangs, 1 g, Brief von
Thomas Bossart an Robert Bürkler,
16.05.1920.
73 BiASG E 50 Wangs, 1 g, Brief von
Johannes Künzle an Robert Bürkler,
26.05.1920, S. 2.
74 BiASG E 50 Wangs, 1 g, Brief von
Johannes Künzle an Robert Bürkler,
24.06.1920.
75
Jahres-Bericht über die Verwaltung
des Medizinalwesens und über die
öentliche Gesundheitspege des
Kantons St. Gallen im Jahre 1920,
Erster Teil, S. 12.
Archiv des Bistums Sankt Gallen auewahrt, führte er im
Mai 1920 den «Neid der Aerzte» als Grund für «eine öentl.
Klage» an. Dem Bischof schlug er vor, sich nach Walzenhau-
sen im Kanton Appenzell Ausserrhoden zurückzuziehen. Da
das Sanitätsgesetz des Nachbarkantons die Ausübung der
Heilkunde nicht von einem Arztdiplom abhängig machte,
wäre Künzle in Walzenhausen vor einer Strafverfolgung
sicher
gewesen. Gegen diesen Plan regte sich aber Widerstand. Über
den Abt des Klosters Einsiedeln schaltete sich die Priorin des
bei Walzenhausen gelegenen Klosters Grim
menstein ein, die
befürchtete, dass Künzles Zuzug dem Ruf der Klosterapothe-
ke schaden würde. In einem Schreiben vom 26. Mai 1920
unterbreitete Künzle dem Bischof dann die Idee, vom Bistum
Sankt Gallen ins Bistum Chur zu wechseln. Er brauche «unbe-
dingt Luftveränderung», ansonsten
werde er wohl an Lun-
gentuberkulose sterben, schrieb Künzle. Nach mündlicher
Unterredung wurde dieses Vorgehen umgesetzt: «Bezug
nehmend auf Ihre mündlich geäusserte Erlaubnis resigniere
ich hiermit auf die Pfarrpfründe in Wangs; ich gedenke, bis
Anfangs August hier wegzuziehen u. mich in Zizers dauernd
niederzulassen […].» Für die Sankt-Galler Gesundheitsbe-
hörde war das Strafverfahren damit erledigt: «Das Einschrei-
ten gegen einen als Kräuterarzt stark in Anspruch genomme-
nen Geistlichen erübrigte sich mit dessen Wegzug aus dem
Kanton.»
Ein gesundes Leben ermöglichen und vorgeben
Die Legalisierung von Künzles Kräuterpraxis im Kanton
Graubünden durch die stimmberechtigten Männer 1922 war
seit den 1870er Jahren die erste Auockerung des ärztlichen
Behandlungsmonopols in einem Schweizer Kanton. In ande-
ren Kantonen handhabten die Behörden die bestehenden
Regeln zwar nachlässig. Nirgends schate es die damalige Na-
turheilkundebewegung aber, das medizinische Versorgungs-
regime grundlegend zu verändern. Hingegen beeinusste die
naturheilkundliche Hinwendung zu Wasser, Luft, Licht und
Ernährung das medizinische Therapieangebot durchaus.
Am Anfang des 20. Jahrhunderts sahen Naturheilvereine im
Ausbau der Physikalischen Therapie an Kantonsspitälern eine
Umsetzung ihrer Anliegen. Die Annäherung setzte ein. An
naturheilkundlichen Zusammenkünften beteiligten sich sym-
pathisierende Ärzte, die auch im Verbandsorgan, der Zeit-
schrift Volksgesundheit, regelmässig publizierten.
40
Medizin
76 Für die Erweiterung des Angebots der
Kantonsspitäler siehe zum Beispiel
Naturheilverein Zürich: 50 Jahre
Naturheil-Verein Zürich, S. 4–5. Mit
Adolf Keller-Hörschelmann, Chefarzt
der Vereinigten Kuranstalten Monte
Bré in Ruvigliana und Cademario bei
Lugano, war ein Arzt langjähriger
Volksgesundheit-Redaktor. Er war
Mitautor von Künzles letztem Buch
Das grosse Kräuterheilbuch (1945).
77 Jüe, Geschichte, S. 177.
78 Zu den Vertriebszahlen der Kräuter-
pfarrer Künzle AG von 1978 siehe
Eglo, Joh. Künzle, S. 23.
79 Linse, Geisterseher, S. 216.
Vor allem aber war die Naturheilkundebewegung der
Zeit um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert mit ihren
Ratschlägen zur gesunden Lebensführung, durch das Thema-
tisieren der Essgewohnheiten und durch die Erndung von
neuen Körpertechniken wie dem Luft- und Sonnenbaden
wichtig für die Entstehung eines spezisch modernen Um-
gangs mit dem Körper. Das individuelle Streben nach Ge-
sundheit war dabei zunehmend auf kommerziell vermielte
Angebote ausgerichtet. Wie der Historiker Robert Jüe fest-
stellt, wird Künzles Chrut und Uchrut im Einzelfall tatsächlich
das Sammeln von Heilkräutern für den Eigenbedarf oder den
Selbstanbau im Garten inspiriert haben. Viel häuger werden
die in den Ratgebern empfohlenen Heilkräuter aber über den
Versandhandel oder von der örtlichen Apotheke bezogen
worden sein. Die giftfreien Kräutermischungen reihen sich
ein in eine Palee von Waren, die einen gesunden Lebensstil
zugleich ermöglichten wie auch ausgestalteten und vorgaben:
von Vitaminpräparaten über Ruderapparate bis zu Sonnen-
lampen. Wie sich das neue Angebot längerfristig auf die
einheimische Kräuterproduktion auswirkte, wäre eine loh-
nenswerte Untersuchung. 1978 vertrieb die Kräuterpfarrer
Künzle AG 50
000 Kilogramm Heilkräuter, also bei weitem
mehr, als die Schweiz hundert Jahre davor an Medizinalpan-
zen exportiert hae, und rund ein Driel der Menge der
damals importierten Blüten, Bläer, Samen und Rinden.
Der seit den 1970er Jahren anhaltende Fitnessboom und
die digitalen Selbstbeobachtungstechniken der Gegenwart
vermieln auf kommerzielle Art und Weise neue Vorstellun-
gen davon, was es zu tun gilt, um den Körper unter veränder-
ten ökonomischen, sozialen und technischen Bedingungen
gesund zu erhalten beziehungsweise zu verbessern. Daneben
wird auf dem Gesundheitsmarkt nach wie vor Gewagtes wie
Künzles Pendeldiagnose angeboten. Der westliche Okkultis-
mus ist dabei durch neue Inspirationsquellen abgelöst wor
den.
Der Historiker Ulrich Linse beschreibt eine Globalisierung des
Übernatürlichen: «Weltkulturen und Weltreligionen werden
nach ‹Rezepten› des Heils ‹geplündert›». Auch wenn sich die
Erzählungen über «übernatürliche Mächte» seit den
Zeiten
des Sagensammlers Jacob Kuoni verändert haben
mögen, die
«Entzauberung der Welt» geht nach wie vor mit ihrer Verzau-
berung einher.
41
Medizin
Exkurs: Ein Webstuhlernder als
Financier eines Vegetariers
Theodor Hahn starb 1883 nicht als
reicher Mann, obwohl seine zweite
Kuranstalt in Tablat, die 1870 bezo-
gene Obere Waid, sicher gut ge-
bucht war. Es handelte sich dabei
um einen komfortablen Betrieb be-
achtlicher Grösse. Die Einrichtung
der hundert Gästezimmer bestand
aus Bett, Nachttisch, Waschtisch,
Spiegel und wahrscheinlich einem
Polster- oder Rohrsessel. Für ge-
mütliche Stunden in den Gemein-
schaftsräumen standen neben wei-
teren solchen Sesseln mehrere
Sofas bereit, es gab eine Bibliothek,
einen Billardtisch und zwei Pianos.
Die Korrespondenz liess sich an
zehn Sekretären erledigen. Ver-
schiedene oene oder geschlossene
Pferdewagen und ein Schlitten
dienten dem Transport der Gäste.
Das Kurangebot bestand aus vege-
tarischer Ernährung, Wasser- und
Dampfbehandlungen, Sonnenbä-
dern, Abreibungen und Barfussge-
hen. Die Anstalt war bereits 1871
derart gut gebucht, dass Hahns
Familie in ein Wohnhaus stadtein-
wärts umzog.
1882 setzte ein Treppensturz
Hahns Tätigkeit jedoch ein jähes
Ende. Der 58-Jährige erkrankte
schwer. In der Zeitschrift Der Natur-
arzt, deren Schriftenleiter er zeit-
weise gewesen war, führte
Hahn
seinen Zustand auf eine Imp
fung
und langjährige Arzneimittelbe-
handlungen während seiner Kind-
heit zurück – nur dank seiner Hin-
wendung zur Naturheilkunde habe
er diese Arzneivergiftung, die ihn
jetzt eingeholt habe, überhaupt
überlebt. Bei seinem Tod Anfang
März 1883 war der Kurbetrieb insol-
vent, das bewegliche Inventar kam
unter den Hammer. Die Liegen-
schaft hingegen kaufte der Ingeni-
eur und Fabrikant Louis Schönherr
(1817–1911) aus Chemnitz, der mit
der Entwicklung mechanischer
Webstühle ein Vermögen gemacht
hatte.¹ Er war Stammgast bei Hahn
gewesen und hatte ihn zu Lebzeiten
grosszügig unterstützt.
Schönherr stammte aus einer
Weberfamilie und hatte bereits als
Zwölfjähriger in Maschinenfabriken
zu arbeiten begonnen. 1833/34 -
nanzierte ihm die sächsische Re-
gierung eine Ausbildung am Poly-
technikum in Dresden. Gemeinsam
mit seinem älteren Bruder Wilhelm
Schönherr (1802–1876) tüftelte er
an mechanischen Webstühlen und
heuerte bei Maschinenfabriken an.
1851 gründete er mit einem Teilha-
ber die erste eigene Fabrik. War es
Hahn nur mit Schönherrs nanziel-
ler Unterstützung möglich gewe-
sen, im Kurgeschäft tätig zu sein?
Dass Hahn häug Geldprobleme
hatte oder mit nanziellen Engpäs-
sen rechnete, legen verschiedene
Handänderungen des Haupthauses
auf der Oberen Waid nahe. Von 1873
bis 1878 gehörte das Kurhaus ozi-
ell
Hahns Schwiegersohn und von
1878 bis 1879 beziehungsweise 1880
bis 1881 je einem Sohn. Merkwürdig
ist allerdings, dass Hahn im gleichen
Jahr, in dem er das Kurhaus dem
Schwiegersohn überschrieb, selbst
eine weitere Liegenschaft in Tablat
erwarb. Hatte er sich damit nanzi-
ell übernommen? Ein Zeitungsinse-
rat, das Hahn bereits 1862 in der
Zei
tung Neues Tagblatt aus der öst-
lichen Schweiz veröentlicht hatte,
rückt zudem seine erste Ehefrau,
Margaretha Schmidt, in ein schlech-
tes Licht: Hahn liess die «Warnung»
abdrucken, seiner Frau «auf meinen
Namen oder meine Rechnung irgend
zu kreditieren, da ich alle meine
ökonomischen Angelegenheiten
selbst besorge und somit für Ver-
bindlichkeiten, welche meine Frau
eingehen sollte, in keiner Weise ein-
stehe».² 1864 trennten sich Hahn
und Schmidt.
Schönherr war möglicherweise
von Beginn an in den Aufbau von
Hahns Kurbetrieben in Tablat in-
vol
viert. Denn Hahn dankte dem
Stammgast 1870 oder 1883 in einer
Auage seiner Schrift Makrobioti-
sches Kochbuch dafür, dass er ihm
«mit gutem Rat und Vorschlägen,
häuger noch mit freigebigster
Tat» seit «bald 30 Jahren» zur Seite
stehe.³ Dem Geldgeber lag einiges
an der Oberen Waid. Er überführte
die Liegenschaft nach 1883 in die
Aktiengesellschaft Sanatorium
Oberwaid, die die Kuranstalt 1887
neu erönete und bis 1914 betrieb.
Geld, das mit der Entwicklung einer
die Industrialisierung antreibenden
Produktionstechnik angehäuft
worden war, trug damit zur Etablie-
rung von kommerziellen Kur- und
Erholungsangeboten bei, die erst
aufgrund der gewandelten Lebens-
bedingungen Sinn ergaben. Als der
Erste Weltkrieg die Reisemöglich-
keiten in Europa einschränkte, wur-
de aus dem Kur- ein Gasthaus.
80 Wo nicht anders vermerkt beruhen
nachfolgende Ausführungen auf
Wirth, Entstehung, S. 23–24 und
27–29; Heyll, Wasser, S. 137–141;
Gemperli, Stefan: Hahn, Theodor,
in: Historisches Lexikon der Schweiz
(HLS), Version vom 26.11.2007, www.
hls-dhs-dss.ch/textes/d/D42375.php
[Stand: 21.9.2018]; Bezirksgerichts-
kanzlei Tablat: Gerichtliche Fahrniss-
ganten, in: Die Ostschweiz, 8.7.1883,
S. [5]; Bezirksamt Tablat: Erbschaft-
und Verzicht-Leistung, in: Die Ost-
schweiz, 11.5.1883, S. [4].
81 Zu Schönherrs Biograe siehe Heß,
Ulrich: Schönherr, Louis in: Neue
Deutsche Biographie 23, 2007,
S. 415–416, www.deutsche-biographie.
de/pnd126801142.html#ndbcontent
[Stand: 21.9.2018].
82 Hahn, Theodor: Warnung, in: Neues
Tagbla der östlichen Schweiz,
7.10.1962, S. 928.
83 Zitiert nach Wirth, Entstehung, S. 28.
Wirth gibt nicht an, ob die Widmung
in der ersten Auage, zirka 1870, oder
in der zweiten Auage von 1883 er-
schien.
42