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Pädagogik und Didaktik in der einklassigen
Dorfschule des Christian Ley, in Niederbreidenbach,
Rheinprovinz, von 1838 bis 1885
Joachim Bröcher
Europa-Universität Flensburg
Abteilung Pädagogik und Didaktik zur Förderung der emotionalen und sozialen Entwicklung
Christian Ley integrierte die mündlichen Überlieferungen der Dorfbewohner in seinen Un-
terricht: „In Niederbreidenbach hat Ley seines Amtes gewaltet. In Niederbreidenbach, da
die Hofschule stand, waren zu der Zeit, als er die Chronik seines Lebens schrieb, sechsund-
dreißig Hausnummern. Der freundlich in einem Wiesengrund hingesäte Ort muß eine recht
alte Siedlung sein. Die Alten aus dem Hofe wußten dem Lehrer allerlei aus der Vergangen-
heit zu berichten, das er geschickt und mit packender Ausmalung im Unterricht verwerten
konnte“ (S. 11).
Schon früher gab es in dem Dorf eine Schule, doch die Pädagogik als Wissenschaft war
noch wenig entwickelt: „Da Niederbreidenbach ein größerer Ort war, hat er schon im 18.
Jahrhundert eine Art Schule bekommen, in der in den Wintermonaten die Kinder im Lesen,
Schreiben und den Grundrechnungsarten unterrichtet wurden. Von `Methode´ konnte man
nicht reden. Und doch haben die sogenannten Handwerkerlehrer… mancherlei geleistet.
Auch von dieser Art Schulmeister gab es unrühmliche und `berühmte´“ (S. 12).
Das Auswendiglernen spielte eine zentrale Rolle in der Schulpädagogik: „Nach dem Maß
der Gedächtnisbegabung tarierte man den Wert oder Unwert eines Schülers. Von sinnvol-
lem, kraftauslösendem und wirklich bildendem Unterricht war keine Rede“ (S. 12 f.).
Die 1865 in Niederbreidenbach gebaute Schule steht bis zum heutigen Tage: „Nachdem
mehrere Geschlechter Lehrer in Niederbreidenbach gewesen und sein Amtsvorgänger der
eigene Vater war, hat Christian Ley ein Menschenleben an der Schule gedient. Die alte Hof-
schule steht noch. Es ist kein Prachtbau, aber ein Haus, an das sich wie verwelkte schöne
Rosen die Überlieferung rankt“ (S. 13).
Christian Leys Pädagogik war sehr naturnah und ging mit den Jahreszeiten: „So ein echter,
bodenständiger Landlehrer kennet die Pflänzlein in Wiese, Feld und Garten, kennt ihr lie-
bendes Geben und ihr leidvolles Harren im zermürbenden Kampf ums Dasein… Er versteht
die Vogelsprache und die intimsten Lebensäußerungen der Tierwelt… Er `erlebt´ jene Stim-
mung, wenn im sonnendurchgluteten Juli die Forelle springt; und wenn zur tiefschwarzen
Nacht der Uhu schreit und der Fuchs heiser bellt…“ (S. 14).
Christian Ley löste seinen Vater, der zuvor Lehrer an der Dorfschule war, ab: „Am 2. No-
vember 1842 wurde der Lehrer Christian Ley als Nachfolger seines Vaters in Niederbrei-
denbach eingeführt“ (S. 30).
Christian Leys Pädagogik war streng: „Ein noch lebender, damals blutjunger Amtsgenosse
gab über Ley das Gesamturteil ab: `Er war einer von den Schulmeistern von echtem Schrot
und Korn!´ Das zeigte sich außerordentlich in der strengen Schulzucht, die aber auch drin-
gend nötig war bei seinen hundertvierzig Schulkindern. Man faßt sich heute an den Kopf;
und man fragt sich: Wie war es möglich, diese Herde im Zaume zu halten und dabei noch
Ersprießliches zu leisten? Möglich ist es gewesen durch… Strenge. Es will recht verstanden
und nicht ausschließlich bewertet werden, wenn der Lehrer in der Schulchronik schreibt,
daß er ohne den Erziehungsgehilfen `Birkenholz´ nicht auskommen könne. In seinem
Kampf um Entlastung und in seinem energisch betriebenen Ringen um eine zweiklassige
Schule kam er nicht durch, so daß er lebenslang… Lehrer einer einklassigen Schule blieb,
jener `Normalschule´ mit ihren angehäuften Schwierigkeiten. Wenn man dazu rechnet, daß
den Lehrer Ley die große Familie und das überaus kärgliche Gehalt an freien Nachmittagen
auf den Acker oder in die plackende Mühe der Privatstunde trieb…“ (S. 45 f.).
Prügelstrafen und später `Ehrenstrafen´ spielte eine wesentliche Rolle in dieser Schulpädago-
gik: „…daß er nicht weichlich mit seinen Buben und Mädels umging. `Es ist doch oft vorge-
kommen, daß wir der Reihe nach gründlich verprügelt wurden, wenn wir nicht pünktlich
vom Spiel in den Pausen zur Stelle waren, oder wenn uns eine Schneeballschlacht oder eine
Rutschbahn das Hören und Sehen beschlagnahmt hatten´, so erzählt ein früherer Schüler. Im
Alter hatte ihn seines Gottes Erziehungsschule milde gemacht. Da wandte er mehr Ehrenstra-
fen an, zu der auch die gehörte, daß Faulenzer mit von Niederbreidenbach nach Alsbach ge-
hen mußten, um dort auf der Steinmauer, vor dem Hause des Lehrers `am Pranger´ zu sitzen.
Und das wirkte“ (S. 46).
Ley wandte bereits 1838-1885 didaktische Methoden an, die später durch die Reformpäda-
gogik (1900-1933) in besonderem Maße kultiviert wurden: „Die innere Verfassung einer ein-
klassigen Schule bedingt eine Meisterschaft in der planmäßigen Selbstbeschäftigung der ein-
zelnen Abteilungen und ein geschicktes Anwenden des sogenannten Helfersystems. Diejeni-
gen Buben, die er sich für den Lehrerberuf ausersehen hatte und bei deren Vätern er den
Geldbeutel erstürmte, daß sie Ja dazu sagten, die mußten im letzten Schuljahr bei den Klei-
nen im Lesen und Rechnen `abhören´. Er beherrschte und übersah das Ganze. – Es ist ständi-
ge Bewegung und unaufhörliche Arbeit in solch einer Schulgemeinde. Niemals hat der Leh-
rer eine Minute Ruhe, denn diese eine Minute kann und muß noch benutzt werden“ (S. 46
f.).
Jahrgangsübergreifendes Lernen, Differenzierung nach dem Lernniveau und didaktische Va-
riation als Prinzip und Methode waren also bereits zu jener Zeit bekannt und wurden gerade-
zu in den großen einklassigen, sich über viele Altersstufen hin erstreckenden Lerngruppen
entwickelt, wenngleich ein solcher, auf sich allein gestellter Lehrer höchsten Kräfteeinsatz
leisten musste: „Gewiß, es ist diese Schulart auch in mancher Beziehung eine Hilfe. Hören
doch die Kleinen schon die Stoffe der Großen. Prägt sich doch einem hellen Kopf manches
dadurch ein, daß er es während der acht Schuljahre achtmal hört, so lag darin aber für den
geistreichen Lehrer Ley auch die Nötigung, die Stoffe in jedem Jahr anders, von einer ande-
ren Seite und nach anderen Gesichtspunkten durchzunehmen. Darum wissen es die wenigen
Schüler, die heute noch leben, daß ihr Lehrer niemals langweilte, daß der Stoff immer wieder
vor ihre Seele trat, als hörten sie ihn ganz neu… daß alles einer mühevollen, fleißigen Vorbe-
reitung bedarf… welch eine nervenverbrauchende Tätigkeit! Alle Abteilungen müssen
gleichzeitig überwacht werden; die augenblickliche Darbietung verlangt die strengste Kon-
zentration, jedes Einzel-Ich muss gefesselt werden. Und der Lehrer muß das Instrument der
zu behandelnden Lektion spielen können wie ein Meister, je nachdem ein unvorhergesehener
Augenblick kommt, einmal wieder ganz anders. Und nun noch die verbrauchte Luft… Ah-
nen und verstehen wir die Riesenleistung eines solchen Schulmeisters?... Ist es ein Wunder,
daß der alternde Lehrer Ley von einem fast unerträglichen Kopfleiden geplagt wurde bis
zum Verzweifeln? Aber die Befriedigung ist auch eine überaus herrliche. Sieht doch der Leh-
rer in der einklassigen Schule die Früchte seiner Mühewaltung langsam aber sich heranrei-
fen. Und vor allem sieht der, der die Buben und Mädel acht Jahre lang unter seinem Einfluß
hat, der Erziehung herrlichsten Lohn später im Leben und in der Gemeinde“ (S. 47).
Christian Leys Pädagogik hatte einen intensiven Bezug zur Heimatregion. Er zeichnete eine
Karte des Kreises und unternahm zahlreiche Gänge ins Gelände. Naturbeobachtungen waren
ein wichtiger Bestandteil seiner Schulpädagogik: „Die von ihm entworfene Karte des Kreises
Gummersbach wird heute noch gebraucht… Die rührende Blumenpflege im Garten zu Als-
bach, die auf Gängen und im Unterricht meisterhaft gebotene Betrachtung der Naturzusam-
menhänge… und die Starenkästlein in der `Schuleiche´ und in den Birnbäumen des Lehrer-
gartens… die erzählten soviel bei guter Beobachtung, die vom Lehrer geleitet wurde… Und
die Obstbaumzucht darf nicht vergessen werden. – Jeder Junge lernte das Veredeln der Bäu-
me“ (S. 49).
Lebensgeschichte, Berufsleben, Familienleben sowie soziales und kulturelles Wirken
des Landschullehrers Christian Ley spielten im Bergischen Land, östlich von Köln und
südlich von Wuppertal, in der von 1815 bis 1918 bestehenden Rheinprovinz. Die Rhein-
provinz war zunächst Teil des Königreichs Preußen, ab 1871 des Deutschen Reiches.
Christian Ley wurde 1818 als Sohn eines Dorfschullehrers in Alsbach, einer Ansamm-
lung von damals vier, fünf Höfen und zur Gemeinde Nümbrecht gehörend, geboren. Er
starb in Alsbach 1892. Die Schule befand sich in Niederbreidenbach, das Dorf hatte da-
mals ca. 36 Häuser, nur einen Steinwurf entfernt. Nach einer Zeit des Wanderns und des
Lernens als Praktikant an anderen Schulen sowie der später folgenden Ausbildung im
Studienseminar in Neuwied bei Koblenz kehrte Christian Ley wieder in seine Heimat
zurück und war über vier Jahrzehnte in Niederbreidenbach als Lehrer an der einklassi-
gen Dorfschule tätig. Er unterrichtete dort, bei schmalem Gehalt, bis zu 140 Kinder und
musste sich in pädagogischer und didaktischer Hinsicht etwas einfallen lassen, um diese
Aufgabe überhaupt zu bewältigen. Darüber hinaus leitete er Gesangsvereine und Chöre,
hielt Bibelstunden ab, gab Privatunterricht und betrieb eine kleine Landwirtschaft, um
sein Gehalt aufzubessern. Er zeichnete Karten der Region, gab eine Anleitung zum Obst-
baumschnitt und Obstbaumveredeln heraus, kooperierte eng mit dem Nümbrechter Pfar-
rer Engels und vieles andere mehr. Die Rolle dieses Lehrers war eine durchaus öffentli-
che. Neben dem Pfarrer war er eine respektierte Autoritätsperson, die den Kindern und
Familien Halt und Orientierung gab. Seine gesamte Erziehungsphilosophie und Lebens-
auffassung war durch den christlich-lutherischen Glauben geprägt. Seine Frau Eleonore,
geborene Holländer, stammte aus dem benachbarten Mildsiefen. Gemeinsam hatten die
beiden acht Kinder. Rektor Wilhelm Ley forschte in den 1920er Jahren zur Lebensge-
schichte von Christian Ley und wertete dessen handschriftlichen Nachlass aus. Die Er-
gebnisse dieser Recherche sind 1927 in Buchform erschienen. Auf der Basis dieser Ma-
terialien haben sich Christian und Eleonore sehr für ihre eigenen Kinder engagiert, und
ein lebendiges, erfülltes Familienleben gehabt. Allerdings mussten ihre eigenen Kinder
auch als Vorbilder für alle anderen Kinder auf den umliegenden Dörfern dienen, und
wurden deshalb einer strengen, jedoch liebevollen Erziehung unterworfen. Christian hat
auch über die Härten und Herausforderungen des Familienlebens geschrieben, bis hin zu
Krankheit und Tod. Eine Einschränkung mag darin liegen, dass wir bei alldem auf die
Zusammenfassungen und Interpretationen, oftmals auch Idealisierungen und Überhö-
hungen des Protagonisten seitens des Autors Wilhelm Ley angewiesen sind, und lesen
also alles aus seiner Perspektive. Ansatzpunkte für demokratisches und freiheitliches
Denken suchen wir in dieser Lebensbeschreibung vergeblich. Solche sind weder im
Denken des Protagonisten noch im Denken des Chronisten präsent. Andererseits sind
Wilhelm Leys Aufzeichnungen von unschätzbarem Wert, weil wir anders gar nichts
mehr über Christian Ley wüssten. Eine direkte verwandtschaftliche Beziehung zwischen
den beiden Leys besteht übrigens nicht, wenngleich es als wahrscheinlich gilt, dass die
Familien der beiden aus einem gemeinsamen früheren Stammbaum hervorgegangen
sind. Kurz vor Christians Tod wurde in Niederbreidenbach ein Knabe geboren, der den
Namen Ley, allerdings im Negativen, weltweit bekannt machen sollte, am 15. Februar
1890, auf einem Hof gleich neben der Dorfschule: Robert Ley (Sohn des Fritz Ley, En-
kel des Johannes Ley). Auch er begann seinen Weg in der Schule in Niederbreidenbach
und stieg bis in die Führungsspitze des nationalsozialistischen Machtapparates auf. Ro-
bert Ley erhängte sich am 26. Oktober 1945, nach seiner Festsetzung. Eine direkte Ver-
bindung mit der Familie des Lehrers Christian Ley besteht nicht, wenngleich auch hier
ein, weiter zurückliegender, gemeinsamer Stammbaum bestehen wird.
Die unten stehenden Zitate entstammen der folgenden Quelle: Ley, Wilhelm (1927). Christian Ley, der Lehrer aus
Alsbach. Barmen: Emil Müller´s Verlag
Der unterhalb der Niederbreidenbacher Schule fließende Alsbach im Februar (Foto: J.B.)
und der zur Schule gehörende Bauerngarten im Sommer (Foto: Karin Jung-Bröcher)
8. Juni 1818 geboren in Alsbach
1830-1836: Praktikant in verschiedenen ländlichen Schulen der weiteren Region
1836-1838: Lehrerseminar Neuwied (bei Koblenz)
1838-1842: sechs Wochen Militär; Vertretung des Vaters in Niederbreidenbach für einen
Winter; Lehrertätigkeit in Leuscheid und Kölln an der Saar
1842-1885: Lehrer an der einklassigen Dorfschule in Niederbreidenbach
1865: Fertigstellung der neuen Schule in Niederbreidenbach
23.9.1885 Abschied von der Schule
1.Oktober 1892: gestorben in Alsbach
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Schule in Niederbreidenbach, Baujahr 1865 bzw. 1885 (Foto: J.B.), Blick aus der Lehrerwohnung (Foto: K. J.-B.)