Available via license: CC BY-NC-ND 4.0
Content may be subject to copyright.
Vom musku lären Ideal zur Körperbildstörung zur Krankheit
Muskeldysmorphie
Robin Haliouaa,b, dipl. Arzt; Dr. med. Markus Deutschmannb; PD. Dr. med. Stefan Vettera;
PD. Dr. med. Matthias Jägerb; Prof. Dr. med. Erich Seifritzb; Dr. med. Malte Christian Claussenb
a Zentrum für Integrative Psychiatrie, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik,Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
b Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Das muskuläre Schönheitsideal für den Mann hat sich in den letzten Jahrzehnten
entwickelt. Ein negatives Körperbild – die Befürchtung, nicht muskulös genug
gebaut zu sein– ist Leitmotiv für ein strenges Trainings- und Diätregime. Führt
Letzteres zu Beeinträchtigungen im Alltag oder einem Leidensdruck, spricht man
von Muskeldysmorphie.
Einleitung
Unterlagen Männer anders als Frauen lange Zeit kei-
nem unrealistischen vorherrschenden Schönheits-
ideal, so ist seit den er Jahren ein Wandel hin zum
heutigen muskulären Schönheitsideal sowie dessen
Verbindung mit den männlichen Geschlechterrollen
zu beobachten. Gleichzeitig hat die Unzufriedenheit
mit dem eigenen Körper in den letzten Jahrzehnten
nicht nur bei Frauen, sondern auch bei Männern deut-
lich zugenommen. Gaben % der Männer in einer
grossen Umfrage im
Psychology Today
an, mit ihrem
Körper unzufrieden zu sein [], so waren es in
einer ähnlichen Umfrage bereits % []. Im selben
Zeitraum verdoppelte sich der Bizepsumfang der be-
liebten Actiongur G.I. Joe und erreichte einen Um-
fang von dem auch heutige Weltklasse-Bodybuilder
noch weit entfernt sind []. Doch nicht nur Actiongu-
ren sind in diesem Zeitraum deutlich muskulöser ge-
worden, auch das Covermodell des
Playgirls
weist
heute im Vergleich zu den er Jahren kg mehr
Muskel- und kg weniger Fettmasse auf []. Der Ein-
uss des propagierten Schönheitsideals auf die Ent-
wicklung einer Körperunzufriedenheit ist bei Frauen
gut untersucht [] und lässt sich auch bei Männern
nachweisen []. Essstörungen werden heutzutage nach
wie vor als vornehmlich weibliches Problem verkannt,
doch auch Männer reagieren mitunter auf den zuneh-
menden medialen Druck mit einem gestörten Essver-
halten, das aber durch die herkömmlichen Screening-
verfahren teilweise nur unzureichend erfasst wird.
Dieser Ar tikel beschäigt sich mit der Entstehung und
Entwicklung der Körperbildstörung bei Männern und
deren Einuss auf die Entwick lung der Muskeldysmor-
phie, die im Volksmund unter dem Namen «Adonis-
Komplex» bekannt ist und mit der DSM («Diagnostic
and Statistical Manual of Mental Disorders th ed.»)
erstmals in die Klassikation psychischer Erkrankun-
gen aufgenommen wurde.
Körperbildstörung
Ein negatives Kör perbild stellt ei n zentrales Merkm al der
Muskeldysmorph ie dar. Als Körperbi ld deniert ma n die
mentale Repräsentation des eigenen Körpers und der ei-
genen Figur sowie die Gefühle, Gedanken und das Ver-
halten, die mit dieser Repräsentation einhergehen [].
Bereits da s erste Diagnosekr iterium der Muskeldysmor-
phie beschreibt die Art der Körperbildstörung: Betrof-
fene leiden an der Vorstellung und Befürchtung, einen
nicht ausreichend musku lös gebauten Körper zu haben,
obwohl sie muskulös sind. Ähnlich den Anorexie-Pa-
tientinnen, die sich als zu adipös ansehen, nehmen sich
muskeldysmorphe Patienten als schmächtig und un-
trainiert wahr, obwohl sie von der Normalbevölkerung
als sehr trainiert und muskulös angesehen werden.
Doch woher kommt das?
Vor dem Hintergrund des aktuellen Schönheitsideals
müssen hierbei vorerst z wei wicht ige Komponenten der
Körperzusammensetzung unterschieden werden: Mus-
kel- und Fett masse []. Diese können unabhängig vonei-
nander verändert werden, sei es durch Training oder
Ernäh rung, und können s omit sowohl als eigenstä ndige
Dimensionen betrachtet werden als auch in deren Ver-
bindung, da der Fettgehalt Einuss auf die Sichtbarkeit
der Muskulatur nimmt. Sowohl bei Frauen als auch bei
Männern spielen die genannten Komponenten eine
entscheidende Rolle für die Zufriedenheit mit dem eige -
nen Körper, jedoch in unterschiedlichem Ausmass.
Während sich normalgewichtige Frauen tendenziell
eher als übergewichtig wahrnehmen und ein Schlank-
P
e
e
r
r
e
v
i
e
w
e
d
a
r
t
i
c
l
e
Robin Halioua
Das Edito rial zu die sem
Art ikel nden Sie au f S.
indies er Ausgabe.
SWISS M EDICAL FORU M – SCHW EIZERISCHES MEDIZIN-F ORUM 2019;19(9 –10):153–158
ÜBERSICHTSARTIKEL 15 3
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
heitsbestreben entwickeln, nehmen sich normalge-
wichtige Männer als eher untergewichtig wahr und zei-
gen häuger ein Muskulositätsbestreben [, ]. Dies
erklä rt, weshalb ein n icht unerheblicher Tei l der Männer
in der Umfrage vom
Psychology Today
angab, sich als zu
schmächtig wahrzunehmen und an Gewicht zunehmen
zu wollen []. Hierbei ist jedoch nicht die Zunahme von
Fett, sondern die Zunahme von Muskelmas se gemeint,
was in der Literatur a ls Muskulositätsbestreben bezeich-
net wird. Doch auch für Männern gilt übermässiges
Körperfett als wenig erstrebenswert und so fanden
sich in besagter Umfrage auch Männer, die angaben,
Gewicht verlieren zu wollen. Zusammenfassend lässt
sich feststellen, dass bei Männern sowohl ein Schlank-
heits- als auch ein Muskulositätsbestreben vorliegt,
und so kann es sein, dass ein Mann gleichzeitig an
Muskelmasse zu- und an Fettmasse abnehmen muss,
will er diesem Schönheitsideal entsprechen [, ].
Der Wunsch nach mehr Muskelmasse erklärt auch,
wieso der Berücksichtigung der spor tlichen Aktivitäten
in der Betrachtung der männlichen Körperbildstörung
eine wichtige Rolle zukommt. Während die Verfolgung
eines schlanken Körperideals über die Ernährung und
Restriktion von Kalorien gesteuert werden kann,
braucht es zum Auau von Muskulatur zw ingend eine
sportliche Betätigung, wobei hier das Muskelauau-
training mit Gewichten besonders er wähnt sei. Welche
Rolle der Sport in der Ausbildung einer Körperbild-
störung genau spielt, ist zurzeit unklar. Wichtig dabei
scheint jedoch zu sein, welche Ziele mit der sportli-
chen Ak tivität verfolgt werden. So konnten Hallswor th
et al. [] zeigen, dass Bodybuilder mit ihrem Körper
unzufriedener waren als ebenfalls mit Gewichten trai-
nierende Sportler. Dies wurde unter anderem damit er-
klär t, dass Bodybuilder primär der Optik und nicht der
Leistung wegen trainieren und somit tendenziell einer
grösseren Selbst-Objektizierung ausgesetzt sind. Die
Objektizierungstheorie wurde von Fredrickson und
Roberts [] entwickelt und besagt, dass Frauen kultu-
rell dazu angeleitet werden, ihren Körper anhand der
internalisierten Perspektive des anderen wahrzuneh-
men und ihn entsprechend zu objektizieren. Diese
objektizierte Selbstwahrnehmung des Körpers kann
auch auf Männer übertragen werden. Tatsächlich
konnten Studien zeigen, dass Männer m it einem höhe-
ren Mass an Selbst-Objek tizierung i hren Körper nega-
tiver bewerteten, sich einen muskulöseren Körper
wünschten und Sport eher aus optischen Gründen
praktizierten [, , ].
Die alleinige Betrachtung des Muskulositätsbestrebens
würde d ie Ver folgung des muskulä ren Schönheits ideals
nur unzureichend, gar einseitig, beschreiben. Nur we-
nige Männer streben n ach der Muskelmasse ei nes Wett-
kampodybuilders und auch das propagierte Schön-
heitsideal sieht eine derartige Muskelmasse nicht vor.
Neben dem Muskulositätsbestreben gibt es noch eine
zweite Komponente, die im Englischen als «drive for
leanness» bezeichnet wird. Hierbei geht es darum, den
Körperfettanteil zu senken, um die vorhandene Mus-
kulatur sichtbarer zu machen. Anders als das Schlank-
heitsbestreben, das hauptsächlich das Erreichen einer
schlanken/dünnen Statur vorsieht, beschreibt der
«drive for leanness» in erster Linie das Verhältnis zwi-
schen Muskulatur und Fettgehalt und nicht die Statur.
Je niedriger der Körperfettanteil, desto besser sichtbar
wird die darunter liegende Muskulatur. Zu Deutsch
wird hier von der Denition gesprochen. Welchen Ein-
uss der «drive for leanness» auf die Ausbildung einer
Körperschema- und Essstörung hat, ist derzeit nicht
genau bekannt. Denkbar wäre es jedoch, dass er ähn-
lich dem Schlankheitsbestreben positiv mit gestörtem
Essverhalten und der Ausbildu ng einer Essstörung kor-
reliert, da der Körperfettanteil hauptsächlich über die
Ernährung reguliert wird (Tab.).
Wie lässt sich dies nun in ein Erklärungsmodell
integrieren?
Neben den medialen Einüssen auf die Körperzufrie-
denheit konnten in Studien ebenfalls wichtige Ein-
üsse aus dem sozialen Umfeld von Jugendlichen auf-
gezeigt werden []. Hierbei seien besonders Freunde
und Familienmitglieder erwähnt, die zur Internalisie-
rung des vorher rschenden Schönheitsidea ls beitragen.
Nach dem Modell zur Entstehung von Körperbildstö-
rungen bei Männern (Abb. ) werden die Internalisie-
rung des Schönheitsideals sowie die Unzufriedenheit
mit der Muskel- als auch der Fettmasse als Mediatoren
zwischen den vorherrschenden Einüssen und dem
anschliessenden Verhalten zur Körpermodikation
verstanden. Die Unzufriedenheit mit dem Körperfett-
anteil korrelierte hierbei mit dem Aureten von ge-
störtem Essverhalten, die Unzufriedenheit mit der
Muskelmasse mit Muskelauauaktivitäten []. Wich-
tig hierb ei anzumerken ist jedoch, da ss die Internali sie-
rung des von den Medien propagierten Schönheitside-
als mit der Entwicklung ei nes Muskulositätsbestrebens
korreliert [], unabhängig davon, ob es zu einer Unzu-
friedenheit mit dem eigenen Körper führt oder nicht
[]. Dies scheint wichtig, denn nicht jede Internalisie-
Tabelle 1: Unterschiede der verschiedenen Bestrebungen.
«drive for muscularity» Beschreibt den Drang, einen
muskulösen Körper zu haben
«drive for leanness» Beschreibt den Drang, einen
definierten Körper zu hab en
«drive for thinness» Beschreibt den Drang, einen
schlankenKörper zu haben
SWISS M EDICAL FORU M – SCHW EIZERISCHES MEDIZIN-F ORUM 2019;19(9 –10):153–158
ÜBERSICHTSARTIKEL 15 4
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
rung des Schönheitsideals führt automatisch zur Un-
zufriedenheit mit dem eigenen Körper.
Für die Ausbildung und Aufrechterhaltung einer Kör-
perbildstörung scheint neben der Internalisierung des
propagier ten Schönheitsdea ls auch das häuge Bet rach-
ten oder Vergleichen des eigenen Körpers ausschlagge-
bend zu sein. So konnte gezeigt werden, dass häuges
Betrachten des eigenen Körpers im Spiegel («body che-
cking») sich negativ auf die Körperzufriedenheit aus-
wirkte [] und die Tendenz, Aufwärtsvergleiche zu be-
treiben (Vergleich des eigenen Körpers mit den Körpern
anderer, die als attraktiver wahrgenommen werden),
mit einer höheren Körperunzufriedenheit korrelierte
[]. Vor allem der Betrachtung des eigenen Körpers
scheint ei ne wichtige Rolle zuzukommen , da besonders
hierbei negative Aekte ausgelöst werden []. Dies
liesse sich unter anderem damit erklären, dass selbst-
bezogene Stimuli in hohem Masse negative Selbst-
Schemata aktivieren, die wiederum eine verzerrte
Wahrnehmung des eigenen Körpers zur Folge haben.
Dies führt dazu, dass bevorzugt unattraktiv empfun-
dene Körperstellen betrachtet und verglichen werden,
was schliesslich eine höhere Körperunzufriedenheit
nach sich zieht [].
Welche Faktoren genau für die Ausbildung einer Kör-
perbildstörung oder gar Muskeldysmorphie eine Rolle
spielen und wieso gewisse Männer eine solche entwi-
ckeln, während andere nur einfach gerne ins Fitness-
studio gehen, ist derzeit unklar.
Auch wenn von einem männlichen Schönheitsideal
gesprochen wird, stellt sich die Frage, ob es Männern,
die dieses Ideal verfolgen, tatsächlich um Schönheit
geht? Der männliche Körper muss nicht unbedingt
schön sein u nd trotzdem spielen Muskel n für die männ -
liche Körperlichkeit eine zentrale Rolle, da sie seine
Funktionalität unterstreichen. Die Funktionstüchtig-
keit des männlichen Körpers ist seit Jahrhunderten in-
tegraler Bestandteil der männlichen Geschlechtsrolle
[]. Männlichkeit deniert sich nach wie vor stark
über Macht, Geld und Leistung u nd so stehen Männern
einige Ausgleichsfelder zur Verfügung. So ist es durch-
aus vorstellbar, dass körperlich schwächer gebaute Jun-
gen durch i ntellektuel le Leistungen und techni sche Fer-
tigkeiten Männlichkeitswerte erzielen können [, ].
Im Lichte d ieser Per spektive k ann die Hinwendung zu m
muskulären Ideal als Versuch einer männlichen Identi-
tätsndung verstanden werden, die es anhand der Kör-
performung erlaubt, das Schicksal dem eigenen Han-
deln zu unterwerfen. Die Muskeldysmorphie stellt
hierbei möglicherweise die pathologische Koniktlö-
sung einer subjektiv bedrohten oder ungenügend aus-
gestalteten Männlichkeit dar. Tatsächlich konnte in ei-
ner Studie gezeigt werden, dass Patienten mit einer
Muskeldysmor phie in ihrer Kindheit und Jugend häu g
Opfer von Mobbing waren und aufgrund eines
schmächtigen Körperbaus, ungenügender intellektu-
eller Leistungen oder fehlenden Talents für Sport schi-
kaniert wurden []. Neben Geschwistern, Freunden
und Trainern w urde der Vater hierbei häug als zentra l
involvier te Person genannt. Die Ausbildu ng eines mus-
kulösen Körpers mag hierbei sowohl als Panzerung,
Schutz und Abgrenzung nach Aussen sowie der Kom-
pensation eines subjektiv empfundenen Mangels
männlicher Attribute dienen [].
Epidemiologie
Die genaue Prävalenz der Muskeldysmorphie in der
Allgemeinbevölkerung ist aktuell nicht bekannt [].
Neuere Untersuchungen gehen jedoch davon aus, dass
sie ungeähr derjenigen von Essstörungen bei Frauen
entspricht (,%) []. Diese Zahl muss als grobe Schät-
zung angesehen werden , da in genannter Untersuc hung
keine klinischen Interviews durchgeführt worden
waren. Obwohl die Erkrankung am häugsten bei jün-
geren Männern diagnostiziert wird, kann sie auch bei
Frauen vorkommen, hierfür liegen jedoch ebenfalls
Einfluss von Medien, Freunden, Familie
Internalisierung des Schönheitsideals
Unzufriedenheit
mit der Fettmasse
Unzufriedenheit
mit der Muskelmasse
Körperbildstörung
«drive for leanness» «drive for muscularity»
Gestörtes Essverhalten Muskelaufbautraining
Muskeldysmorphie
Abbildung 1: Modell zur Entstehung von Körperbildstörungen bei Männern (modifiziert
nach [18]). Das Modell beschreibt den Einfluss von Freunden, Medien und Familien auf die
Internalisierung des propagier ten Schönheitsideals sowie die Unzufriedenheit mit dem
eigenen Körper getrennt nach Muskel- und Fettmasse. Diese wiederum führt über das
Bestreben, Muskeln aufzubauen oder Fett abzunehmen, zu Verhaltens modifikationen,
die je nach Ausmass die Diagnosekriterien einer Muskeldysmorphie er füllen können.
SWISS M EDICAL FORU M – SCHW EIZERISCHES MEDIZIN-F ORUM 2019;19(9 –10):153–158
ÜBERSICHTSARTIKEL 15 5
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
keine zuverlässigen Daten vor. Das Durchschnittsalter
bei Erstdiagnose beträgt Jahre, als Risikopopulation
werden Bodybuilder angesehen [].
Klinik
Die Muskeldysmorphie wurde erstmals von Pope
et al. als «reverse anorexia» beschrieben, nachdem sie
den Steroidkonsum männlicher Bodybuilder unter-
suchten und feststellten, dass einige der Probanden
eine der Anorexia nervosa genau entgegengesetzte
Körperbildstörung aufwiesen []. Später wurde die
Störung in Muskeldysmorphie umbenannt und den
körperdysmorphen Störungen zugeordnet. Sie wurde
mit der DSM- erstmals in die Klassikation der
psychi atrischen Störungen aufgenommen.
Auch wenn die Diagnosekriterien (siehe Tab. ) haupt-
sächlich durch die Untersuchung an Bodybuildern ent-
wickelt wurden [], ist extensives Bodybuilding oder
Kratraining mit der Diagnose der Muskeldysmor phie
nicht gleichzusetzen. Für die Diagnosestellung sind
zwingend Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebens-
bereichen oder hoher Leidensdruck notwendig.
Betroene leiden unter der Befürchtung , nicht musku-
lös genug zu sein, obwohl sie meist deutlich muskulö-
ser sind als der Durchschnitt. Diese Befürchtung ist
Leitmotiv für einen Lebensstil, der durch exzessiven
Sport und eine minutiös geplante Diät geprägt ist und
dessen Verfolgung von vielen Betroenen als zwang-
ha erlebt wird []. Über % der muskeldysmorphen
Patienten beschreiben, keine Kontrolle mehr über
Training und Ernährung zu besitzen []. So kann
bereits das Auslassen einer Trainingseinheit oder ein
Abweichen vom Diätplan eine solche Anspannung zur
Folge haben, dass Betroene durch Gegenmassnahmen
wie Extra-Training oder Ernährungsanpassungen ge-
gensteuern müssen. Die quälenden Gedanken, nicht
muskulös genug zu sein, nehmen dabei einen wesent-
lichen Teil des Tages in Anspruch (bis zu ½ Stunden
pro Tag) [] und veranlassen Betroene zur strikten
Einhaltung des Trainings- und Ernährungsregimes, so-
dass soziale Kontakte, Beziehungen, Freizeitaktivitä-
ten und Beruf vernachlässigt werden, wenn sie mit
dem Muskelauautraining nicht vereinbar scheinen.
Da die Ernährung häug akribisch geplant wird und
Mahlzeiten vorgekocht und in entsprechenden Behäl-
tern auewahrt werden, vermeiden viele Betroene
das gemeinsame Essen mit Kollegen oder auch Restau-
rantbesuche, da hierbei der Makronährstogehalt o
nicht genau kontrolliert werden kann. Einige vermei-
den intime Beziehungen und Partnerschaen aus
Angst, aufgrund ihres schmäc htigen Körperbaus abge-
lehnt oder durch eine Beziehung in ihrem Trainings-
plan eingeschränkt zu werden [].
Entsprechend dem wahr genommenen Mangel an sic ht-
barer Muskulatur kann es vorkommen, dass Betrof-
fene versuchen, Situationen, in denen der Körper von
anderen gesehen wird, zu vermeiden oder durch das
Anziehen mehrerer Kleidungsstücke übereinander
muskulöser zu wirken. In der Literatur sind Extremäl-
len beschrieben, wo Betroene es beinahe gänzlich
vermieden, das Haus zu verlassen [].
Ein weiteres Symptom ist das so genannte «body che-
cking», bei dem sich der Bet roene im Spiegel ansch aut,
um sich zu versichern, noch ausreichend muskulös ge-
baut zu sein oder bestehende Mängel zu bestätigen.
Dies geschieht bei Muskeldysmorphie- Erkrankten im
Durchschnitt -mal pro Tag [].
Komorbiditäten
Zu den häugsten Komorbiditäten zä hlen aektive Stö -
rungen, Angsterkrankungen sowie Substanzabhängig-
keiten []. Die Lebenszeitprävalenz von aektiven Stö-
rungen l iegt bei Patienten mit e iner Muskeldysmorphie
zwischen –%, am häugsten scheint die schwere
depressive Episode vorzukommen. Die Lebenszeitprä-
valenz von Substanzabhängigkeiten ist ebenfalls mit
% sehr hoch, wobei der Anabolikakonsum hiervon
nur einen kleinen Teil ausmacht. Unter den komorbi-
den Angsterkrankungen ist besonders die Panikstö-
rung zu erwähnen, die hier am häugsten auritt.
Aber auch Zwangserkrankungen, Phobien und genera-
lisierte Angststörungen sind in der Literatur beschrie-
ben. Die Lebenszeitprävalenz von Suizidversuchen
wird in der Literatur mit % angegeben. Es ist hier
jedoch zu erwähnen, dass sich alle genannten A ngaben
auf Studien mit kleinen Fallzahlen stützen und somit
mit Vorsicht zu interpretieren sind [, ].
Tabelle 2: Diagnosekriterien der Muskeldysmorphie (nach [32]).
Die Person ist übermässig beschäftigt mit der Vorstellung, dass ihr Körper zu klein oder
nicht ausreichend muskulös gebaut ist, obwohl sie durchaus muskulös ist.
Die übermässige Beschäftigung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder
Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funk tionsberei-
chen, von denen 2 der folgenden 4 K riterien er füllt sein müssen:
– Vernachlässigung von sozialen Aktivitäten und beruflichen Verpflichtungen aufgrund
der strikten Einhaltung des Trainings- und Diätregimes.
– Vermeiden von Situationen, in denen der Körper von anderen gesehen wird oder
Erduldung solcher Situationen nur unter grosser Anspannung.
– Die übermässige Beschäftigung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden
oderBeeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktions-
bereichen.
– Die Person ver folgt trotz Nachweis von ge sundheitlichen Schäden ihr Trainings - und
Diätregime und/oder nimmt weiterhin leistungssteigernde Präparate zu sich.
Die übermässige Beschäftigung mit dem äusseren Erscheinungsbild kann nicht besser
durch Befürchtungen in Bezug auf Körper fet t oder -gewicht erklär t werden, wie sie bei
Personen auf treten, deren Symptomatik die diagnos tischen Kriterien für eine Essstörung
erfüllt.
SWISS M EDICAL FORU M – SCHW EIZERISCHES MEDIZIN-F ORUM 2019;19(9 –10):153–158
ÜBERSICHTSARTIKEL 15 6
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
Anabolikamissbrauch
Anabolika werden unterteilt in androgen-anabole Ste-
roide (AAS) und andere anabole Wirkstoe. Zu den AAS
gehören neben dem endogen produzierten männli-
chen Sexualhormon Testosteron Substanzen mit einer
dem Testosteron ähnlichen Wirkung, die synthetisch
hergestellt werden können. Anabole Steroide erhöhen
die Proteinsynthese (Muskelauau), verkürzen die Re-
generationszeit und vermindern den Körperfettanteil
[]. Neben den Nebenwirkungen auf das kardiovasku-
läre System [], den Lipidstowechsel und die Hepato-
toxizität [] haben Anabolika auch ausgeprägte psychi-
sche Nebenwirkungen: In einer an Bodybuildern und
Footballspielern durchgeführten Studie zeigten % der
Probanden u nter der Einnahme von A nabolika aek tive
Störungen und % eine psychotische Störung [].
Der genaue Zusammenhang zwischen dem Aureten
einer Muskeldysmorphie und dem Anabolikamiss-
brauch ist nicht abschliessend geklärt. Die Muskeldys-
morphie scheint dem Konsum von Anabolika häug
vorauszugehen, der dann in einem zweiten Schritt zur
Aufrechterhaltung der Muskeldysmorphie führen kann
[]. Wichtig zu erwähnen ist, dass dem Anabolikakon-
sum beinahe immer ein Konsum anderer Sub stanzen
wie Al kohol, Kokain oder Amphe tamine vorausgeht [].
Muskeldysmorphie – körperdysmorphe
Störung oder Essstörung?
Eine zentrale, noch unbeantwortete Frage ist, ob die
Muskeldysmorphie nicht eigentlich den Essstörungen
zugeordnet werden müsste. Zweitens stellt sich die
Frage, ob bei der Muskeldysmorphie, die hauptsächlich
junge Männer betri und auf eine Zunahme von Mus-
kelmasse ausgerichtet ist, eine Erfassung von allällig
gestörtem Essverhalten mit den herkömmlichen Fra-
gebögen überhaupt möglich ist? Diese zielen nämlich
alle auf ein Essverhalten ab, das dem Erreichen eines
sehr schlanken Schönheitsideals dient und hauptsäch-
lich Frauen betri.
Obwohl die Muskeldysmorphie zu Beginn als «reverse
anorexia nervosa» konzipiert und somit dem Spek-
trum der Essstörungen zugeordnet wurde, wird sie
heute innerhalb des DSM- als Unterform der körper-
dysmorphen Störungen klassiziert. Die Hauptüberle-
gung dahinter war, dass ein gestörtes Essverhalten im
Rahmen der Muskeldysmorphie allenfalls sekundär
auritt, das Hauptmerkmal der Erkrankung aber auf
dem exzessiven Training mit Gewichten beruht [].
Nichtsdestotrotz gibt es Argumente, die für eine noso-
logische Zuteilung innerhalb des Spektrums der Ess-
störungen sprechen. Allerdings muss h ierbei der Fokus
weg vom auf Schlankheit orientierten Essverhalten
hin zum auf Muskelauau orientierten Essverhalten
gelegt werden. So zeigen muskeldysmorphe Patienten
wie bereits erwähnt ein äusserst striktes Diätregime,
dessen Ein haltung rigide verfolgt w ird. So konnten Mur-
ray et al. ze igen, dass Patienten mit ei ner Muskeldysmor-
phie ein ähnlich gestörtes Essverhalten nachgewiesen
werden kan n, wenn die Fragen des «Eating D isorder Exa-
mination Q uestionnaire» ent sprechend dem Muskula ri-
tätsbestreben geändert werden. In Bezug auf die Ge-
samtpunktzahl ergab sich hiernach kein Unterschied
mehr zwischen den Patienten mit einer Muskeldysmor-
phie und solchen mit einer Anorexia nervosa [].
Diesem auf Muskelauau orientierten Essverhalten
kommt eine wichtige Rolle in der Verfolgung des mus-
kulären Schönheitsideals zu. Es unterscheidet sich je-
doch in gewissen Punkten deutlich vom gestörten Ess-
verhalten im Rahmen eines schlanken Schönheitsideals,
das hauptsächlich eine Kalorienre striktion zur Folge
hat. Die Ernährung ist proteinreich und je nach Auau-
oder Diätphase wird ein Kalorienplus oder eine Kalori-
enrestriktion angestrebt. Die aufgenommene Protein-
menge lieg t meistens bei ,–g Prote in pro Ki logramm
Körpergewicht, die Kohlenhydrat- und Fettmengen
werden je nach Philosophie (High- oder Low-Carb)
variiert. Dieses Essverhalten alleine kann noch nicht
als gestört betrachtet werden, sondern muss innerhalb
eines Kontinuums beurteilt werden, das von «gesund-
heitsbewusst» bis «dysfunk tional» respektive «schäd-
lich» reic ht. So stellt de r Konsum von Proteinshakes per
se kein gesundheitliches Problem dar, kann jedoch zu
einem gestör ten Essverhalten zählen, wenn das Auslas-
sen des Protei nshakes dazu fü hrt, dass der Pa tient mas-
sive Anspannung, Unruhe und Angst verspürt, da er
eine suboptimale Proteinversorgung des Körpers und
somit einen Muskelverlust fürchtet []. Auch das ge-
naue Wiegen von Nahr ungsmitteln und das Vorkochen
von mehreren Mahlzeiten (sog. «meal-prepping») wie
es im Bodybuilding häug vorkommt, ist für sich al-
leine noch nicht pathologisch, sondern muss im Kon-
text der damit verbundenen sozialen, beruichen und
psychischen Beeinträchtigungen interpretiert werden.
Im Rahmen der Muskeldysmor phie kann das meist un-
freiwillige Nichtbefolgen des Ernährungsplans zu ei-
ner Zunahme der psychischen Symptome und somit
zu Kompensa tionsstrategien wie zusätzlichem Trai-
ning oder Auslassen von Mahlzeiten führen.
Ausblick
Im transdiagnostischen Modell nach Fairburn et al.
werden die Kernpathologien von Essstörungen als die
Überbewertung von Essen, Körperform und Gewicht
denier t []. Sowohl die Kör perform als auc h das Essen
SWISS M EDICAL FORU M – SCHW EIZERISCHES MEDIZIN-F ORUM 2019;19(9 –10):153–158
ÜBERSICHTSARTIKEL 157
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html
spielen eine zentrale Rolle in der Entstehung und
Aufrec hterhaltung der Muskeldysmorphie. Vor diesem
Hintergrund ist die Kritik an der aktuellen nosologi-
schen Zuteilung, welche die Muskeldysmorphie den
körperdysmorphen Störungen zuordnet, durchaus be-
rechtigt [].
Es gibt bereits einige Fragebögen, welche die Körper-
unzufriedenheit bei Männern abbilden oder sich an
den Diagnosekriterien der Muskeldysmorphie orien-
tieren (Tab. ). Diese wurden jedoch vornehmlich an
nichtk linischen Probanden va lidiert, sodass keine ver-
lässlichen Cut-o-Werte für die klinische Praxis vorlie-
gen. Des Weiteren fehlen Fragebögen, die das auf Mus-
kelauau orientierte Essverhalten abbilden, bisher
völlig. Dies macht es schwierig , das wahre Ausmass ge-
störten Essverhaltens im Rahmen der Muskeldysmor-
phie zu erfassen, um sie gegebenenfalls tatsächlich als
Essstörung zu klassizieren. Ebenfalls liegen bis dato
kaum Studien mit klinischen Probanden vor, was es
schier unmöglich macht, valide Aussagen über Entste-
hung, Verlauf und Therapie der Muskeldysmorphie zu
tätigen. Ausserdem fehlen grosse epidemiologischen
Studien, um die genaue Prävalenz, Geschlechter- und
Altersverteilung zu untersuchen.
Es ist kaum zu erwarten, dass die mediale Präsenz trai-
nerter, muskulöser männlicher als auch weiblicher
Körper in näherer Zukun abnimmt. Es ist deshalb
wichtig zu verstehen, wie sich d ies auf die Körperwahr-
nehmung und -zufriedenheit und letztendlich auf das
Essverhalten auswirkt, damit wir die neu entstandene
Störung der Muskeldysmorphie besser verstehen und
in Zukun wirksame Präventionsstrategien und The-
rapien entwickeln können.
Spezialsprechstunde
Als erstes spezialisiertes Angebot in der Schweiz besteht
an der Psychiatrische Universitätsklinik Zürich eine
Spezialsprechstunde fü r Sportpsychiat rie und -psycho-
therapie. Schwerpunkte dieses Angeb ots sind die sport-
spezische psychiatrische Abklärung, Beratung und Be-
handlung von Leistungssportlerinnen und -sportlern
mit psychischen Problemen und Erkrankungen.
Disclosur e statement
Die Autoren haben keine nanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Literatur
Die volls tändige Liter aturliste nden Sie in der Onl ine-Version
des Ar tikels unt er https://doi.org/./smf...
Korrespondenz:
Robin Ha lioua, dipl . Arzt
Lenggstrasse
CH- Zürich
robin.halioua[at]puk.zh.ch
Tabelle 3: Fragebögen.
Was wird erfragt? Deutsche Version
verfügbar?
Drive for Musc ularity Scale (DMS)
[10]
Drang, einen muskulösen
Körper zu haben
Ja
Drive for Leanness Scale (DLS)
[46]
Drang, einen definier ten
Körper zu haben
Nein
Male Body Attitude Scale (MBAS)
[47]
Unzufriedenheit mit der
Muskel - und Fettmasse
Nein
Muscle dysmorphic disorder Inventory
[48]
Diagnosekriterien der
Muskeldysmorphie
Ja
Das Wichtigste für die Praxis
• Ein negatives Körperbild stellt ein zentrales Merkmal der Muskeldys-
morphie dar.
• Die Befürchtung, nicht ausreichend muskulös gebaut zu sein, ist Leit-
motiv für einen durch exzessiven Sport und minutiös geplante Diäten
geprägten Lebensstil. Treten dabei sozial oder beruflich Beeinträchti-
gungen auf oder entsteht ein hoher Leidensdruck, kann die Diagnose
einer Muskeldysmorphie gestellt werden.
• Zu den häufigsten Komorbiditäten zählen affektive Störungen, Angster-
krankungen und Substanzabhängigkeiten. Auch ist das Suizidrisiko
stark erhöht.
• Die Muskeldysmorphie wurde in der DSM-5 als körperdysmorphe Stö-
rung unter den Zwangsstörungen und verwandten Störungen klas-
sifiziert. Die hierbei vorkommende Überbewertung von Körperform und
Essen würden jedoch auch eine Klassifikation als Essstörung recht-
fertigen.
• Obwohl hauptsächlich bei Männern vorkommend, können auch Frauen
betroffen sein. Es ist wenig bekannt, wie sich die aktuelle Wandlung
des weiblichen Schönheitsideals von dünn/schlank zu athletisch auf die
Körperwahrnehmung und das Essverhalten von Frauen auswirkt.
SWISS M EDICAL FORU M – SCHW EIZERISCHES MEDIZIN-F ORUM 2019;19(9 –10):153–158
ÜBERSICHTSARTIKEL 15 8
Published under the copyright license “Attribution – Non-Commercial – NoDerivatives 4.0”. No commercial reuse without permission. See: http://emh.ch/en/services/permissions.html