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Memoria
Florian Brody; San Francisco und Wien
Wenn die Blätter auf den Stufen liegen
herbstlich atmet aus den alten Stiegen
was vor Zeiten über sie gegangen.
Mond darin sich zweie dicht umfangen
hielten, leichte Schuh und schwere Tritte,
die bemooste Vase in der Mitte
überdauert Jahre zwischen Kriegen.
Viel ist hingesunken uns zur Trauer
und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.
– Heimito von Doderer: Auf die Strudlhofstiege zu Wien
Vor fünf Jahren stellte ich in meinem Buch „Die Philosophen kom-
men“
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folgende Zeilen einem Interview voran, das ich dort mit
Florian Brody führte, einem Wiener Pionier und Experten für di-
gitale Medien, der seit über 20 Jahren im Silicon Valley lebt:
„… In unserem Zeitalter werden nicht nur immense Datenmengen
produziert, es gehen auch Informationen gigantischen Ausmaßes
verloren. Insbesondere Magnetbänder, auf denen immer noch ein
Großteil der Daten gespeichert wird, sind akut gefährdet…“
Wie steht er heute, fünf Jahre später, zu Erinnerung, Artificial Intel-
ligence, zu Archiven, digitalen Speichermedien und mehr?
Florian Brody: Das menschliche Gehirn dient unter anderem
auch der Erinnerung. Allein die Erinnerung an Vergangenes hat nur
bedingt mit Geschichtsschreibung oder vergangenen Tatsachen zu
tun.
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„Die Philosophen kommen“ von Marion Fugléwicz-Bren, 2013, tredition Verlag.
Die menschliche Erinnerung dient der Gegen-
wart: woran wir uns im Moment erinnern, ist
mitentscheidend für das, was wir im Moment
erleben, wie wir agieren und welche Entscheidun-
gen wir treffen.
Da es für Memoria keine geeignete Vokabel in der deut-
schen Sprache gibt und es gleichzeitig auch Anglizis-
men zu vermeiden gilt, bleibt der Titel lateinisch – was
dem geschätzten Leser sicher keine Schwierigkeiten bereiten wird.
Mit dem griechischen Begriff der ἀνάµνησις (anamnésis) verbinden
wir ein Vergessen dessen, was wir erinnern wollen. Einen Sonnen-
untergang am Meer. Den ersten Kuss vergessen wie sowieso nicht.
Und was wirklich erinnernswert ist, indem es unser Dasein defi-
niert, das liegt auf einer anderen Ebene der Erinnerung: „Jetzt habe
ich komplett vergessen, dass ich eher ein Einzelgänger bin und Par-
tys meide.“
Was bedeutet Erinnerung? Für uns persönlich, für uns
als Gesellschaft, für uns als Teil der Geschichte? Sind Ar-
chive wichtig?
FB: Erinnerung und Bewusstsein, vor allem auch die Fähigkeit, Er-
innerungen bewusst abzurufen, definieren, wie wir die Welt erleben.
Je nach Philosoph und Schule hat Erinnerung unterschiedliche Aus-
formung und Bezug zum Dasein. Gerade deswegen wird Erinne-
rungsverlust als massiv persönlichkeitsverändernd erlebt. Wir sind,
was wir erinnern. Unsere Erinnerungen sind das, was wir „ab ovo“
erwerben, aber auch das was wir ererben.
Viele Erinnerungen können wir abrufen, weitaus mehr Erinnerun-
gen sind gespeichert und nicht bewusst abrufbar. Diese Erinnerun-
gen lassen sich nicht durch Souvenirs und Setzkastenversatzstücke
objektivieren. Mit dem Tod gehen individuelle Erinnerungen verlo-
ren, …
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Florian Brody: Memoria. In: Marion Fugléwicz-Bren: Vom Erinnern, Träumen und
Nachdenken: Ein Setzkasten in Buchform, Tredition 2019. 248 S. 978-3748260653.
S. 149 – 167.