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BEETHOVENS KLAVIERVARIATIONEN ÜBER
GOD SAVE THE KING ALS BATTAGLIA^
Claus BOCKMAffiR
Universitat Miinchen
Abstract
After some explanations about God save the King as
a
hymn,
originally used in England, but soon also in Germany, Beethoven's
piano-variations about this theme will be examined
closely.
Although it might not be obvious at first glance, the composition turns
out
to
be batde music at
its
centre. In particular, variations
no.
IV to VI correspond directly to the typical sequence: attack and fight -
lament about the victims - march of victory. Around this kind of musical concentration, an attitude of cheerfull keyboard playing is
dominating. The idea behind the music, however, brings us especially to an understanding of the eventful character of the music
itself.
This can be recognized in certain factors of suspense of which variation no. I already gives warning.
Abstrakt
Nach Erlauterungen zur Bedeutung der Hymne God save the King werden Beethovens Klaviervariationen über dieses Lied
einer naheren Betrachtung unterzogen. Obwohl es auf den ersten Blick nicht den Anschein hat, erweist sich die Komposition in
ihrem Kern als Battaglia. Die Variationen IV bis VI namlich entsprechen der typischen Folge: Angriff und Schlacht - Klage über
die Opfer - Siegesmarsch. Vor und nach dieser Verdichtung dominiert eine eher unbeschwerte Spielhaltung. Die auBer-
musikalische Vorstellung bringt uns aber vor allem der innermusikalischen Geschehensvorstellung auf die Spur, die sich in
besonderen Spannungsmomenten auBert und so schon in der ersten Variation zu erahnen ist.
„Ich muB den Englandern ein wenig zeigen, was in der God save the King fur ein Segen ist". Diese
kurze Notiz trug Ludwig van Beethoven 1813 in sein Tagebuch ein
.
Es war dies das Jahr der endgültigen
Befreiung Spaniens von den Franzosen durch die Englander, durch den Sieg des Herzogs von Wellington in
1.
Dieser Beitrag wurde im Dezember 1999 auf dem Symposium anlaBlich des 70. Geburtstags von
Prof.
Dr. Theodor
Gollner an der Universitat Miinchen als Referat vorgestellt.
2.
Maynard Solomon, Beethovens
Tagebuch
(Abschrift Anton Grâffer, Wien 1827), hrsg.
v.
S. Brandenburg, Mainz 1990,
Eintrag
16,
S.
49.
Es folgt eine Notierung des Preises fur „ein Buch Notenpapier", dann wiederum eine aufschluBreiche Bemerkung
über das Komponieren: „Das man gewiB schoner schreibt[,] sobald man fur das Publikum schreibt[,] ist gewiB[,] eben so[,] als
wenn man geschwind schreibt".
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CLAUS BOCKMAIER
der Schlacht bei Vittoria. Der englische Militarerfolg brachte in Wien den Konstrukteur mechanischer Mu-
sikapparate, Johann Nepomuk Malzel, auf den Gedanken, das dort freudig aufgenommene Ereignis als Bat-
taglia fur sein Panharmonicon in Musik setzen zu lassen - eben von Beethoven, mit dem er schon langer in
engerem Kontakt stand . Beethoven machte sich an die Arbeit, um die Komposition nach Malzels Vorga-
ben auszufiihren. Die Konigsymne war als SchluBthema vorgesehen, so da6 Beethovens Tagebuchvermerk
hier unmittelbar zur Umsetzung kommen konnte. Bekanntlich wurde dann aus der Partitur doch ein vérita-
bles Orchesterstück (op. 91), das schlieBlich, neben der 7. Symphonie, in einem Konzert zugunsten ôster-
reichischer und bayerischer Invaliden am 8. Dezember im Saal der Universitât seine vielbeachtete
Urauf-
fiihrung erlebte .
Mit God save the King hatte sich Beethoven allerdings nicht erst 1813 befaBt. Schon imKafkaschen
Skizzenkonvolut, einer Sammlung musikalischer Aufzeichnungen Beethovens, die alie noch aus der Zeit
vor 1800datieren, stoBtmanauf einenentsprechendenEintrag: einenBearbeitungsansatzzumzweitenTeil
der Hymnenmelodie in Klaviemotation (G-Dur, mit einer chromatisch ansteigenden BaBbewegung in
Sechzehnteltriolen)
.
Wenn auch in den schlieBlich 1803 verfaBten
C-Dur-Variationen
über
das
Lied (WoO
78) diese Passage so nicht wiederkehrt, dürften mithin die Überlegungen zu einer solchen Klavierkompo-
sition schon weiter zuriickgereicht haben. Parallel zu den
God-save-the-King-WdxidiúonQXi,
also ebenfalls
1803,
hat Beethoven in den D-Dur-Variationen über Rule Britannia (WoO 79) auch die Hymne des briti-
schen Empire beriicksichtigt- die spater in Wellingtons Sieg ihrerseits die Schlachtszene als Marsch musi-
kalisch eroffnen sollte. Die beiden Klavierstiicke kamen dann im Marz bzw, Juni 1804 im Wiener Bureau
des
Arts et d'Industrie in den Druck
.
Die Konigsymne wurde schlieBlich 1814 von Beethoven nochmals in
einer Liedbearbeitung fur Solostimme und Chor mit Klaviertriobegleitung aufgenommen (WoO 157, Nr.
1).
Über die besondere Bedeutung, die allgemein das Lied God save the King erlangte (nebenbei gesagt
auch als Anregung fur Joseph Haydn zur Komposition der Kaiserhymne ), braucht man nicht viel Worte zu
Q
verlieren. Wenn sich die Mélodie spurenweise bis ins frühe 17. Jahrhundert zurückverfolgen laBt , so kam
ihre hymnische Bestimmung als Gebet fur den englischen Konig Mitte des
18.
Jahrhunderts auf, als Gebet
3.
Vgl. Alexander
W.
Thayer, L
v.
Beethovens Leben, deutsch bearb. v. Hermann Deiters, 2. Aufl. neu bearb. und erg. v.
Hugo Riemann, Lepizig 1911, Bd. 3, S. 382 ff.
4.
Vgl./Z7/i/^m,
S.391ff.
5.
London, British Museum, Additional Manuscript 29 801, fol. 82; Joseph Kerman (Hrsg.),
L.
v. Beethoven: Autograph
Miscellany from circa 1786 to 1799, London 1970, Bd. 2, S. 89.
6. Beethoven Werke VII/5, hrsg. v. J. Schmidt-Gorg, München-Duisburg 1961, S. 165 ff.
7.
Vgl. Liesbeth Weinhold, „Die Erst-und Frühdrucke von Beethovens Werken in den Musiksammlungen der
Bundsrepublik Deutschland und
West-Berlins:
Verzeichnis und Kommentar", Beitrage zur Beethoven-Bibliographie: Studien und
Materialien zum Werkverzeichnis von Kinsky-Halm, hrsg. v. K. Dorfmüller, München 1978, S. 240.
8. Vgl. Hans Jürgen Hansen, Heil Dir im Siegerkranz: Die Hymnen der Deutschen, Oldenburg-Hamburg 1978, S. 15.
9. Nach Quellenvergleichen des englischen Musikgelehrten Richard Clark schon im 19. Jahrhundert; vgl. Paul Nettl,
National Anthems, iranslaitd by A. Gode, New York 1952, S. 36; Malcolm Boyd, „National Anthems", New Grove Dictionnary of
Music and Musicians, London 1980, Bd. 13, S. 56 f.
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BEETHOVENS KLAVIERVARIATIONEN ÜBER „GOD SAVE THE KING" ALS BATTAGLIA
daher zunachst fur den volksfremden Hannoveraner Georg
IL,
der 1727 den britischen Thron bestiegen bat-
te.
Ihm wurde das Lied in dieser Weise vielleicht 1739 zum erstenmal vorgetragen, beim Festmahl
anlaBlich eines Siegs der englischen Marine in Mittelamerika
.
Sicher ist, da6 die Hymne am
28.
Septem-
ber 1745 in London erklang, im koniglichen Theater Drury Lane - und zwar nach Bekanntwerden einer
Niederlage der koniglichen Truppen gegen den Thronanwarter Charles Stuart bei Edinburgh . Den Satz
dazu hatte Thomas Augustine Ame besorgt, der Schopfer von Rule Britannia. Aus dem gleichen Jahr
stammt eine Bearbeitung von Charles Bumey, dem Schiiler Ames, nach welcher im Covent Garden gesun-
12
gen wurde . Und am 30. Oktober 1745 ehrte man mit God save the King auch den Konig an seinem Ge-
13
burtstag . Bezug auf die Theateranlasse nimmt eine Publikation des Liedes aus demselben Monat im
Gentlemen's Magazine, eingerichtet fur zwei Singstimmen; doch war schon im Vorjahr eine ahnliche
Fassung mit Flôtenarrangement in der Liedersammlung Harmonía Anglicana bzw. Thesaurus Musicus,
ediert von John Simpson, in London erschienen .
Fur die rasch gewachsene Popularitat des Liedes wie fur seine besondere hymnische Qualitat mag
auch sprechen, da6 man Ende des
18.
Jahrhunderts über die Autorschaft zu streiten begann. Allgemein gilt
Henry Carey, 1743 verstorbener Komponist galanter Lieder, als Dichter des gewohnten Textes und
Schopfer der Mélodie, was aber zweifelhaft ist
.
Zumal bei der Mélodie kann nach ihrer schon wenigstens
bedingten Zugehorigkeit zum musikalischen Gemeingut hochstens von einem Redaktor die Rede sein. So
bleibt auch die im einzelnen nicht belegbare Gegen these fragwiirdig, die Mélodie stamme urspriinglich von
Lully und sei schlieBlich von Handel nachgestaltet worden .
Zur weiteren Geschichte des Liedes sei nur mehr an die besondere Verbreitung auBerhalb Englands
erinnert - die sich etwa in einer Adaptation als danische Konigshymne mit deutschem Text von Heinrich
17
Harries 1790 zuspitzte , aus der etwas spater wiederum die bekannte Fassung Balthasar Gerhard Schuma-
1
o
chers hervorging: „Heil Dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands"
.
Mit diesen Worten sang man das
Lied erstmals 1795 in Berlin fiir den preuBischen Konig Friedrich Wilhelm
II.
Schon 1782 war auch Joseph
II.
mit der Hymne bedacht worden; hier lautete die Anrede „Heil, Kaiser Joseph heil, Dir, Deutschlands Va-
ter, heil" . Davon abgesehen wurde mit je individuellem Te^ctzuschnitt der Gesang mehr und mehr zur
Huldigung einzelner deutscher Landesfiirsten in Gebrauch genommen, so auch fur Max Joseph von Bayern
10.
Vgl. Ulrich Ragozat, Die Nationalhymnen der
Welt:
ein kulturgeschitUches Lexikon, Freiburg 1982, S. 101.
11.
Yg\. ibidem, S. 102.
12.
Vgl. Nettl, op. c/r.,S. 38.
13.
Vgl. Ragozat, op. cit., S. 99.
14.
Vgl. Nettl, op. cit., S. 38; Boyd, op. cit., S. 56.
15.
Vgl. Nettl, o/?, dr., S. 37.
16.
Vgl. ibidem, S. 34 ff.; Ragozat, op. cit., S. 100.
17.
Fur den damais schon regierungsunfáhigen Christian VIL von Danemark und Norwegen, Herzog von Schleswig und
Holstein, vorgestellt im Flensburger Wochenblatt vom 27. Januuar 1790; vgl. Hansen, op. cit., S. 8 f.
18.
AhgeámckiináQrSpenerschenZeitungvom 17.Dezember 1793;vgl.Hansen,op.
cit.,S.
11;Ragozat,op.
cit.,S.
103.
19.
Durch den Kieler Studenten August Niemann in dessen Akademischem Liederbuch; vgl. Hansen, op. cit., S. 7.
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20
alias Konig Maximilan
1.
.
Die bereits friihe Bekanntheit der Hymne auf dem Kontinent mag unterdessen
mit der Herkunft Georgs IL und mit dessen haufigen Aufenthalten
in
seinem Stammhaus Hannover zusam-
menhângen.
Kaum
zu
liberblicken
ist
dementsprechend
das
musikalische Repertoire
an
God-save-the-King-Zi-
21
taten, -Bearbeitungen, -Variationen
. Von den
bekannteren Komponisten ware
der
„Londoner" Bach
zu
erwahnen,
mit
Variationen
fur
Klavier solo sowie
als
Finalsatz seines D-Dur-Klavierkonzerts op. 1, Nr.
6
(1762).
Aus der
Beethoven-Zeit kann
man den
SchluBteil
der
Jubel-Ouvertiire Carl Maria
von
Webers
(1818) anführen, der wiederum mit „Heil dir im Siegerkranz" iiberschrieben ist. Ende des
19.
Jahrhunderts
wurde von Antonin Dvorak eine eigene Abwandlung der Mélodie in der Kantate The American Flag ( 1892)
22
sogar
als
amerikanische Nationalhymne empfohlen
.
Stellvertretend
fur die
Verwendungen
im
20. Jahr-
hundert
sei
schlieBlich
auf
den selbst noch komponierenden Begriinder
der
Miinchner akademischen
Mu-
sikwissenschaft hingewiesen: auf Adolf Sandberger, dessen Konigsmarsch
fur
Orchester von 1915 mit der
Hymne schlieBt.
Zu Beethovens Klaviervariationen
von
1803.
Auf
den schlicht gehaltenen
und
gleichwohl bewuBt
„gebauten"
C-Dur-Satz
des zweiteiligen Themas (2x6 + 2x8 Takte) folgen
7
Veranderungen und eine Coda.
Letztere bringt
im
Grunde noch eine weitere Variation,
aus der
heraus
das
Stuck virtuos
zu
Ende geführt
wird. Ich mochte zuerst kurz das Thema betrachten
und
dann einen Überblick über die pragenden musika-
lischen Vorgange
in den
Variationen geben.
Das Thema erscheint gesanglich-hymnisch
in
seinem Dreivierteltakt;
die
Vorstellung syllabischer
Deklamation, als rhythmisch einheitliche Bewegung der Stimmen, bildet den Ausgangspunkt
(Bsp.
1).
Der
Satz bleibt aber nicht statisch, sondern
er
entfaltet sich hier bereits
als
Vorgang
mit
Geschehensanzeichen:
Die erste Zeile
(God
save
our
Lord
the
King)
ist
durchsichtig dreistimmig;
mit der
zweiten Zeile jedoch
(Long live our gracious King) tritt Vierstimmigkeit
ein.
Dabei gewinnt die Melodieführung
in
T.
5-6
durch
ihre gegebene Achtelpunktierung und dann auch durch einen freien Achtelvorhalt, zum Ansatz der Sentenz
God save the
King,
Kontur gegenüber den Begleitstimmen. ErwartungsgemaB zeigt sich der
BaB
am Ende
dieses ersten Teils durch seine Nachschlagswendung eigenstandig instrumental. Nach
der
Wiederholung
kommt auch
in der
Oberstimme eine „silbenlose" Überleitungsfigur,
als
Drei-Achtel-Anlauf
in Se-
kundschritten, hinzu.
20.
Vgl.
Hansen, op.
cit., S. 11 ff.
21.
Armin Raab weist darauf
bin,
daB
im
Handbuch
der
musikalischen Litteratur von 1817 (von C. Fr. Whistling und
Fr.
Hofmeister) unter der Rubrik „ Variationen
fur
das
Pianoforte" vierzehnmal God save the King nebst einmal Heil dir im Siegerkranz
erscheint: „7 Variationen über ,God save the King
'
C-Dur
fur
Klavier WoO
78",
Beethoven: Interpretationen seiner
Werke,
hrsg.
v.
A. Riethmiiller,
C.
Dahlhaus,
A. L.
Ringer, Laaber
1994, Bd. 2, S. 475.
Bekannt waren
z. B.
schon Johann Nikolaus Forkels
Klaviervariationen über die Hymne von
1791,
zumal wegen der kritischen Rezension durch den Abbé Vogler: Verbesserungen
der
Forkelschen Veranderungen über das englische Volkslied God save
the
King (Frankfurt
a. M.
1793);
vgl.
auch Ludwig Finscher,
„Variation
als
Kommentar", Text
und
Kommentar, Archaologie
der
literarischen Kommunikation
IV,
hrsg.
v. J.
Assmann,
B.
Gladigow, München 1995,
S. 485 f.
22.
Vgl.
Nettl,o/7.
c//.,S.46f.
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Bsp.
1: Thema (mit hinzugefügtem Text)
God save our Lord, the King, Long live our gra - cious King, God— save the King! Send him vie -
"¿y
lO - ri-ous. Hap
Z w—
py and glo ri-ous, Long to rei - gn 0 - VCT US, God
3
save the
J
King!
1 . - Il2 . 1
=1
ËΗî__i—u
Im zweiten Teil wirkt die eigene Rolle des Basses in seinen Dreiklangsaufstiegen mit einfaehem
OktavspmngabsehluB weiter. Zur Terzenfiihrung der Oberstimmen tritt nun das bestandig mit anzusehla-
gende g , als Achston gleiehsam in Horn-Funktion. Klangliehe Weitung trotz differenzierender Stimm-
rüeknahme bringt noeh der - freilich fast obligatorische - Aehtel-Sextensatz in
T.
11,
nach den bisherigen
Parallelgangen des anfangliehen Basisdezimensatzes sowie der Diskantterzen aus T. 3 und 7-10. Im we-
sentlichen aber: zuerst ein achtsames Anstimmen der Hymne, dann Gesang der vollen Gemeinsehaft,
sehlieBlieh zusatzliches Hervortreten instrumentaler, ja orehestraler Momente.
Bsp.
2-10: Variationsanfange
Zum Teil wie im style brisé lost Variation I den Satz in ein kontrapunktisch verkniipftes drei- bis
vierstimmiges Gewebe auf, das sich komplementarrhythmiseh zum Aehtelkontinuum fiigt. Damit wird die
Hymne sogleich nicht nur auf eine besondere „Kunstebene" gehoben, sondem durch die Anspielung auf
musikalisch Alteres gewissermaBen auch in ihrer gesehichtliehen Dimension vorgefiihrt .
23.
Vgl. auch Raabs Bemerkung zu diesem Charakter der ersten Variation: „vielleicht eine Verbeugung vor dem Alter der
Mélodie, das Beethoven bewuBt gewesen sein dürfte" (Raab, op. cit., S. 477).
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Mit Variation II steigert sich die Bewegungsintensitat zum Sechzehntelkontinuum, bei spielerischer
Ausbreitung zunâchst im zweistimmigen Kontrapunkt, dann aber unter bestimmten Verdichtungen, auch
klanglicher Art.
Jetzt von Akkordbrechungen ausgehend, setzt Variation III das flinke Sechzehntelspiel mit neuen
motivischen Impulsen fort. Uber standig veranderten bzw. mit melodischen Wendungen kombinierten
Alberti-Bassen losen sich diese Impulse in der rechten Hand bis zu achtmalig nachschlagenden
Doppelgriffolgen auf.
Var.
1
II
Clf
p-
•p-
_ -^
T-î-m-T
*^ m
Von Anfang an akkordisch vollstimmig verlauft Variation IV, und dies nun in markanten,
hámmernden Repetitionsschlâgen auf Sechzehntel- und Achtelebene, die im Tonraum stetig wechseln.
In abrupten Kontrast dazu tritt Variation V, die in c-Moll steht und das Thema con espressione in
durchgehend triolischer Bewegung verarbeitet, jetzt wieder primar in Sekundgangen der rechten Hand, mit
begleitenden Dreiklangsfíguren der linken.
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Als schneller Marsch, und zwar im Viervierteltakt, kehrt daraufhin mit Variation VI das
C-Dur
zu-
rück. Ihr gleichfôrmig akkordischer Satz wird zum Ende von Teil zwei von einem BaBlauf unterminiert, der
das Kontinuum der Sechzehntel wiederherstellt.
Var VI
Allegro. Alia marcia
1
k—[ 1
~[
^
J.
J
[
"^
J iji' J,
1
1
J.
J
é'
Auf dieser rhythmischen Ebene vollzieht sich auch der Übergang zu Variation VII, die den Viervier-
teltakt beibehalt und in Sechzehntel-Klangbrechungen und -Laufbewegungen das glanzvolle Finale einl-
autet. Dabei treten aus dem differenzierten Spielvorgang mehrfach kombinierte Melodieführungen, etwa
von Ober-und Mittelstimme, heraus.
Harmonisch fixiert sich diese Variation am Ende auf die IV Stufe, auf den F-Klang, und mündet so
in eine Coda. Metrum und Tempo werden verwandelt: Wieder im Dreivierteltakt, aber adagio, erklingt wie
aus fremder Umgebung akkordisch das Liedthema - als tiefliegende F-Dur-Melodie, jedoch mit verdich-
tender d-MoU-Harmonik! Der sechste Takt bringt dann die unmittelbare Riickmodulation liber einen
HalbschluBaufG.
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Im Allegro setzt auf C die eigentliche SchluBvariation ein: eine furiose Figuralvariation nochmals,
die aber im zweiten Teil in der rechten und dann in der linken Hand wieder klar die Themenmelodie horen
laBt, bevor der Satz mit der letzten Liedkadenz in eine sechstaktige kronende SchluBgruppe miindet.
Es wird deutlich,
daB
die Veranderungen zunachst eine Steigerung der Spielintensitat mit sich brin-
gen, bis einschlieBlich Variation IV Nummer
V,
die Mollvariation, setzt ein Kontrastmoment dagegen. Der
anschlieBende Marsch wird zum Ausgangspunkt eines zweiten Steigerungsvorgangs, in den das tonal ent-
femte Adagio-Zitat des Themas unterbrechend einschneidet, der sich ansonsten aber bis zur SchluBstretta
durchzieht. Diese Anlage kommt nicht von ungefahr. Insbesondere die zentrale Konstellation mit den Va-
riationen IV bis VI - Spiel mit wuchtigen Akkordrepetitionen, elegisches Moll, freudiger Marsch - erinnert
unmittelbar an einen Kembestand von Battaglia-Kompositionen der
Zeit:
Angriff und Schlachtgetiimmel,
Klage über die Opfer, Siegesmarsch. In ihrer Arbeit über Musikalische Schlachtengemalde (Tutzing
1986) ist Karin Schulin nâher auf entsprechende Satzcharaktere eingegangen. Demnach hat sich
z.
B. „die
Darstellung von Trauer, Verzweiflung und Klage", vorzugsweise als langsamer Mittelsatz, „im letzten
25
Drittel des
18.
Jahrhunderts zu einem festen Bestandteil von Schlachtenmusikentwickelt"
.
DemmuB na-
türlich, in welcher Form auch immer, eine Vertonung des eigentlichen Kampfgeschehens vorangehen.
Nicht weniger selbstverstandlich ist die Einbeziehung von Marsch. Dabei ware zu unterstreichen, daB
Marsche nicht allein im musikalischen Zusammenhang der Riistung zum
Kampf,
sondem haufig auch nach
der Schlacht bzw. nach der Klage im Kontext des zu feiemden Sieges erscheinen .
Als (beliebiges) Vergleichsbeispiel kann etwa die Bataille de Neerwinde fur Klavier angefiihrt wer-
den, deren Komposition offenbar auf den Franzosen Pierre Antoine César zurückgeht (Bataille de Gem-
map),
wâhrend sonstige (auch anonyme) Ausgaben unter dem Automamen von Daniel Steibelt rangie-
27
ren
.
Das Stuck stammt aus den neunziger Jahren des
18.
Jahrhunderts. Hier setzt nach dem „anhaltenden
Canonenfeuer" des Schlachthôhepunktes ein Adagio lamentabile con expressione ein, namlich das „Weh"
klagen der Verwundeten und Sterbenten"; dann kommen zwei Siegesfanfaren, gefolgt eben von einem
triumphalen Marsch.
24.
in der Zeit von 1756 bis 1815, Eichstâtter Abhandlungen zur Musikwissenschaft III.
25.
Ibidem, S. 109.
26.
Vgl./¿7/i/^m, S. 94 ff.
27.
So auch in RIS M; vgl. Schulin, op. cit., S. 271 f.
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BEETHOVENS KLAVIERVARIATIONEN ÜBER „GOD SAVE THE KING" ALS BATTAGLIA
Da6 Beethovens Variation IV tatsachlich als Battaglia-Satz aufzufassen ist, darauf verweisen nicht
nur die donnernden Oktav- bzw. Akkordrepetitionen, die man unmittelbar mit SchuBsalven in Verbindung
28
bringen kann , sondern vor allem auch die tonraumlichen Gegenüberstellungen dieser Schlage, die so
Je-
wells wie Feuer und Gegenfeuer wirken. Als einfaches Analogon zu den von zwei Seiten her aufeineinan-
derstoBenden Streitkraften gehort raumliches Versetzen entsprechender Motive von Anfang an zu den Mit-
teln der Battaglia-Komposition. So beinhaltet auch schon das alteste reprasentable Beispiel einer
originaren Schlachtszene fur das Tasteninstrument, namlich William Byrds The Battel aus My Ladye Ne-
29
veils Booke von
1591,
in dem entscheidenden Marche to the Fight eine solche Faktur
.
In diesem Fall han-
delt
es
sich primar noch um Signalmotive - wohingegen Beethoven zwei Jahrhunderte spater in seinen Kla-
viervariationen gleich regelrecht den Geschiitzdonner hin und her tonen laBt.
Nach der elegischen Mollvariation leitet der „Geschwindmarsch" in Dur die musikalische Sie-
gesfeier ein, die mit der darauf folgenden Variation in unbeschwerten Jubel iibergeht - wenn man so will -,
Oder jedenfalls in triumphierendes Klavier-Spiel. Der Bezug zur Battaglia ist in diesem SchluBteil des Stük-
kes weniger zwingend, so
daB
man auch zu der Einschatzung kommen konnte, die Musik entferne sich nach
der vorausgegangenen Zuspitzung wieder von jener
Sphare.
Doch scheint mir der Gedanke an Siegesfreude
immerhin noch naheliegend. Nur: wie sollte man dann den kontrastierenden Adagio-Einschub des Themas,
genauer gesagt seines ersten Sechstakters, mit tiefer F-Transposition der Mélodie bei verfremdender
d-MoU-Harmonik^^
verstehen (Bsp. 11)?
Bsp.
11: Coda (Adagio)
Das subdominantische BaB-f mit hinzutretendem
d-Sextakkord
bildet hier
als
Tiefton eine Klammer
vom ersten zum sechsten Takt, die den dazwischenliegenden Ablauf in bewuBter Spannung halt. Das Seine
28.
An Derartiges muB man überhaupt bei Çeethoven wohl nicht seiten denkèn. Um auf etwas weniger Bekanntes
aufmerksam zu machen: siehe T. 27-34 des Scherzos der 1802 entstandenen
c-Moll-Sonate
fur Klavier und Violine (op. 30/2).
29.
Música Britannica XXVIII, hrsg. v. A. Brown, London 1971, S. 182 ff.
30.
Vgl. dazu SchuHn, op. cit., S. 103 f.
31.
Die entsprechende Idee an sich ist nicht neu; z. B. enthalten schon Forkels
God-save-the-King-WdiÚ2iúontn
(vgl. oben
FuBn. 21) eine h-Moll-Variation mit der Themenmelodie in
D-Dur.
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dazu tut der herbe chromatische Leitklang auf erstem und zweitem Viertel des dritten Takts sowie
anschlieBend der zweimalige c-cis-d-Aufstieg des Basses, der in der Taktposition wechselt und erst beim
zweitenmal zur d-Moll-Grundstellung auf der Schwerzeit fiihrt. Musikalisch wird dadurch jedenfalls eine
33
bewuBte Distanz inszeniert, die den Satz zum Vollzug einer Riickkehr zwingt : harmonisch-tonal nach
C-Dur,
klanglich zur Diatonik, von der Bewegung her zum Sechzehntelrhythmus im schnellen Tempo. Die
Riickleitung erfolgt durch eine Art unmittelbarer Sequenzierung der melodischen SchluBwendung unter
harmonischem Umsprung in die C-Dur-Kadenz, wobei über dem Dominantseptakkord mit Fermate ein
Quartvorhalt stehenbleibt. Nach dessen kurzer Auflosung setzt auf Schlag eins in
C-Dur
sogleich die Spiel-
bewegung der eigentlich letzten, achten Variation ein.
Eine Riickkehr nach Hause vollzieht aber nach der beendeten Schlacht auch die siegreiche Kompa-
nie.
So gesehen lieBe sich dieses Geschehen als das Heimkehren der Solda ten aus der Fremde, aus dem
Grauen des Krieges, deuten - der Soldaten, die nun jubelnd im Vaterland empfangen werden. Bei Beetho-
ven scheint sich damit womoglich noch ein galoppierender Aufzug der Kavallerie zu verbinden, erweckt
doch das dichte Zusammenspiel von Sechzehntelrepetitionen der linken und Akkordbrechungen in Sexto-
len der rechten Hand den Eindruck nahenden Pferdegetrappels. Dazwischen ertont, vokal sozusagen, als
Volksgesang, zweimal die Passage Send him victorious, Happy and glorious, also der Anfang des zweiten
Hymnenteils: einmal in der rechten Hand und einmal in der linken, mit der Mélodie als Akkordoberstimme.
Die Fortsetzung, Long to reign over us, geht beim erstenmal im Figurenspiel unter; erst beim zweitenmal
wird sie noch als „syllabische" Akkordfolge ausgefiihrt
(Bsp.
12).
Der
SchluB,
das zusammenfassende
God
save the King, ist melodisch als solches nicht mehr herauszuhoren: Der Satz gerát letztlich ganz in den Sog
des virtuosen Spiels, das sechs Takte spater zur fmalen C-Dur-Kadenz fiihrt.
Bsp.
12: Schlufi-Allegro (Ausschnitt)
32.
Mit querstándiger Wirkung des BaB-c gegenüber dem vorherigen cis im „Alt".
33.
Übrigens setzt unser Thema in der „Siegessymphonie" von Wellingtons Sieg, dort zum erstenmal erklingend,
gleichfalls auf fremder Stufe ein: innerhalb eines D-Dur-Kontextes auf
B
namlich (Andante grazioso). Auf
D
erscheint es dann als
Einleitung des Allegro-SchluBteils (Tempo di Minuetto moderato). Insofern kônnten unsere Klaviervariationen durchaus Pate fur
diese Losung in der spateren Orchester-Battaglia gestanden haben.
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BEETHOVENS KLAVIERVARIATIONEN ÜBER „GOD SAVE THE KING" ALS BATTAGLIA
In seiner durcliaus lesenswerten Besprechung der beiden Klavierkompositionen über
die
englischen
Hymnen in dem 1994 erschienenen Band Beethoven: Interpretationen seiner Werke (II) hat Armin Raab
den Rule-Britannia-Va.Ymtiontn ein Moment „programmatisch aufgeladener Spannung" zugeschrieben
und sie damit als „Vorstudie zur spateren Schlachtensymphonie" eingestuft
;
zu God save the King dage-
gen fmdet man bei Raab keinen Hinweis auf eine Battaglia-Vorstellung. Zumal aber diese Hymne ihrerseits
Zusammenhange mit militarischen Ereignissen kennt - schon in ihrer friiheren Geschichte, wie eingangs
auch angedeutet - und in Anbetracht ihrer allgemein haufigen Verwendung in programmatischen Schlacht-
musiken (die bei Karin Schulin belegt ist ) liegt ja der Bezug schon genauso in der Luft. Durch die Anlage
seiner Variationenfolge bestatigt ihn Beethoven explizit: Wie zu zeigen war, wird die Entsprechung unmit-
telbar evident, wenn man sich den Typus der Battaglia in jener Zeit konkret vergegenwartigt.
Bliebe man jetzt bei diesemErgebnis stehen, um damit den zahlreichen Versuchen, versteckte „Pro-
gramme" zu Beethovenschen Kompositionen aufzuspüren, einen weiteren hinzugefügt zu haben, ware
aber der Sache selbst noch kein groBer Dienst erwiesen. Womoglich konnte das Abheben auf Tonmalerei
bei einer Beurteiíung der Komposition sogar negativ zu Buche schlagen. Allerdings mag uns die auBermu-
sikalische Vorstellung dabei helfen, gerade dem innermusikalischen Geschehenscharakter der Variationen
náher auf die Spur zu kommen, der sie
m.
E. in der Tat als gültiges Werk der Wiener Klassik ausweist. Daher
sei nun im letzten Teil dieser Untersuchung noch auf Einzelheiten des musikalischen Ablaufs eingegangen.
Gewisse Merkmale eines gestaffelten Vorgangs in der Zeit lieB ja bereits Beethovens Gestaltung des
Variationsthemas erkennen. Und gerade die erste Variation verlauft keineswegs glatt und eben
(Bsp.
13).
Bsp.
13: Variation I
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34.
Raab, c/7.c//.,S. 478.
35.
Schulin, op. dr., S. 114.
Anuario
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CLAUS BOCKMAIER
Aus der subtil kontrapunktischen Verflechtung der drei Stimmen heraus kommt es liier im vierten
Takt zu einer festeren Formierung, bei der die rechte Hand sich in Terzen synkopisch zum Viertelabstieg
des Basses verhalt. Mit dem nachsten Takt, zur Kadenz bin, erfolgt eine Verscharfung dieses rhythmischen
Musters durch nunmehr kurz abgezogene Vorhalte in der rechten und Verwandlung der Synkopen
in trocken nachschlagende Achtelakkorde in der linken Hand - der letzte stoBt dann hart an den
Kadenzzielklang auf der folgenden Takt-Eins. Ebenfalls mit Hilfe des synkopischen Impulses fmdet zum
Ende des zweiten Teils eine heikle Verdichtung des inzwischen latent um eine Stimme erweiterten Satzes
statt, wobei zum erstenmal auch eine Sechzehntelfigur auftritt. Bereits in dieser bewuBt kunstvollen
Anfangsvariation steckt also ein mogliches „Konfliktpotentiar' - iibrigens auch in harmonischer Hinsicht,
wie sich spater zeigt.
Im Sechzehntel-Bewegungsablauf von Variation II fallt hingegen erst im Klangspiel des zweiten
Bearbeitungsteils ein kleiner Sforzato-Impuls auf, der zunachst eine Spitzentonfolge
g-fis-g
bzw. hernach
f-e-f quasi synkopisch pointiert - ein Element immerhin mit Signalcharakter. Die Vorbereitung der
SchluB-
kadenz hebt sich dann schon markanter ab, da nach einem Auseinanderstreben der Spielstimmen in beid-
seitiger Sechzehntelbewegung mit anschlieBender Fixierung der Takt-Eins durch einen Terzgriff der linken
Hand in tiefer Lage wieder ein sprachlicher, ein „silbischer" Impuls einsetzt, gemâB der betreffenden Vers-
stelle ... over us. Der Kadenzvorgang selbst vollzieht sich dann in diffiziler Sechzehntelkombination.
Die durchbrochene, diskontinuierliche Motivik von Variation III samt Verdichtung zu nachschla-
genden Sechzehntelimpulsen signalisiert nunmehr deutlich die Intensivierung des musikalische Gesche-
henscharakters (Bsp.
14).
Ein Sforzato-Akzent, wie er zuvor mehrfach auf der „Drei" plaziert
war,
fallt jetzt
im SchluBtakt des ersten Teils bereits auf die „Zwei" - nachdem auch am Variationsbeginn diese Zahlzeit
schon als Zielpunkt der Eroffnungsfigur nebst Einsatz der linken Hand pointiert worden ist.
Bsp.
14: Variation III
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BEETHOVENS KLAVIERVARIATIONEN ÜBER „GOD SAVE THE KING" ALS BATTAGLIA
Im zweiten (und vierten) Takt von Teil zwei tritt an die Stelle des Sechzehntel-Achtel-Viertel-Mo-
tivs iiberraschend eine Art durchgehender Sechzehntel-Blitz, und zwar über einem Sextakkord auf cis als
Leitklang. Die harmonische Spannungssteigerung knüpft an den entsprechenden Passus in Variation I an,
wobei auch eine analoge Sequenzierung der Klangverbindung A-d nach G-C folgt (vgl. oben Bsp. 13).
Durch die angriffige Motivik erscheint aber dieser Vorgang jetzt erregend zugespitzt.
Nach der Riickwendung zur Tonika dann kommt es zum hervorstechenden
Ereignis:
ein b-Einschlag
der linken Hand auf der Takt-Eins , in zwei Achteln als Oktavsprung, und nach kurzem Absetzen noch ein
markanter Drei-Achtel-Impuls, der taktzeitlich bewuBt kontrar zu den bisherigen Motiven steht, d. h. be-
sonders zu dem von
T.
2. Der
Ton
b,
als Leitton zur Subdominantterz, ist bisher in den Variationen zwar im-
mer beilaufig vor der Kadenzsubdominante speziell des fünften Takts vorgekommen, jedoch noch nie
klangtragend unmittelbar auf einem Taktschwerpunkt. Ebenfalls erst im nachsten Vorfeld der Kadenzsub-
dominante wurde in Variation II im betreffenden drittletzten Takt auch das b berührt. Hier nun erzwingt das
1 2
plotzlich herausstechende b die Einschaltung eines F-Klangs (a-c -f ) bereits in diesen Takt, bevor dann
12 2
Über einen Tonikasextakkord (e-c -g bzw. -gis ) die regulare Kadenzsubdominante erreicht wird. - Zu-
sammen mit der rhythmisch-motivischen Profilierung also ein aufrüttelndes Geschehensmoment. (DaB
man dies bereits auf die Battaglia-Vorstellung beziehen kann, braucht nicht betont zu werden.)
In der „Schlacht"-Variation IV hat das Ereignis aus Variation III seine weitere Konsequenz (Bsp.
15):
Der b-Einschlag rückt, und zwar jetzt einen ganzen Takt pragend, direkt an den Anfang von Teil zwei!
Darüber hinaus zieht das b nun ein as nach sich, als BaBton eines beiBenden moll-subdominantischen Terz-
quartakkords - ein Kulminationspunkt im musikalischen Geschehensablauf. Der
Ton
as war, nicht zufallig,
in der ersten Variation schon aufgetreten: und zwar im gleichen Zusammenhang des zweiten Teils, dort
durch ÜbermaBigen Sekundschritt eingeführt, wie vorher das b, und als Durchgangston doch gleichsam
versteckt
(vgl.
oben
Bsp.
13). Damit wird aber in Variation IV jenes Konfliktpotential dramatisch offenbar,
das tatsachlich bereits Variation I in sich barg. Auch gilt dies fur die schroffe Ausweichung zur d-Stufe
schon im Anfangstakt der Battaglia-Variation, indem sie namlich auf den Teil-zwei-Beginn der ersten Va-
riation (wie entsprechend der dritten) Bezug nimmt.
36.
Im Thema
usw.
ist dies die Situation der beim Taktiibergang ausnahmsweise stehenbleibenden Tonikastufe c im BaB,
nach der Seitenbewegung des melodischen Sextensatzes; damit bringt die Variation hier zum erstenmal eine dezidierte
Klangveranderung.
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CLAUS BOCKMAIER
Bsp.
15: Variation IV
Das b als BaBimpuls auf dem Taktschwerpunkt, das hier also den aufregenden Geschehenshohe-
punkt eingeleitet
hat,
kehrt sogar noch einmal wieder: gegen Ende der Marsch-Variation
VI.
Es ist dort wie-
der auf den drittletzten Takt zurückgefallen - um selbstverstandlich keinen neuerlichen musikalischen
Schlagabtausch zu initiieren, sondem um vielmehr die „Siegesfreude" auszulosen, die sodann Variation
VII und Coda bestimmt. Konkret geschieht dies durch den aus dem b des Basses gleichsam heraussprudeln-
den
Sechzehntellauf,
indem so fur das Folgende die adaquate rhythmische Bewegung vorgezeichnet wird.
Solcherart umgedeutet wirkt
das
„b-Ereignis" noch im SchluBteil der Variationen nach, wenn bei dem quasi
vokalen Aufleuchten der Liedpassage Send him victorious, d.h. wiederum mit Beginn von Teil zwei, aber-
mals b erklingt. Der Rest bleibt, abgesehen von sekundaren Leittonen auf Dure hgangsebene in Achteln, rei-
nes
C-Dur.
Das God save the King hat nun einiges durchgemacht auf seinem Weg durch die Komposition, und
dies in einem bemerkenswert planvollen, zielbewuBten
Gesamtablauf,
der auch den leichtgewichtigeren
Variationen ihren Sinn gibt - da sie zeitliche Spannungsdistanzen schaffen zwischen den konzentrierten,
„aussagestarken" Partien Variation I, Variation III bis V und dem d-Moll-Teil der nach F versetzten The-
menmelodie samt Rückkehr nach C. Die Musik hat sich dabei in den ersten Variationen bis zur Batta-
glia-Struktur verdichtet, um hemach wiederum in heiteres, locker-virtuoses Spiel auszumiinden. GewiB
handelt es sich bei diesem „beilâufigen" Klavierwerk Beethovens nicht um eine herausragende Komposi-
tion; aber ein Beispiel fur Wiener klassische Pragung von Musik gibt es allemal, vielleicht sogar ein beson-
ders anschauliches und lehrreiches. So gesehen hat das kleine Werk auch sonstigen Variationen iiber die
Hymne von Beethovens komponierenden Zeitgenossen (soweit ich sie kenne) immer noch Wesentliches
voraus.
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