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Fotos: Daniel F. Lorenz (KFS)
Dr. Cordula Dittmer, Daniel F. Lorenz, Jessica Reiter und Dr. Bettina Wenzel sind
wissenschaftliche Mitarbeiterinnen der Katastrophenforschungsstelle (KFS) der Freien Universität Berlin
im Projekt „TIV-Milieu" im Verbund INVOLVE. Das Teilprojekt wird von Prof. Dr. Martin Voss geleitet.
Drei Jahre nach dem Deichbruch:
■ ■
Uber die Gegenwart einer nicht
abgeschlossenen Katastrophe
Während des Elbehochwassers 2013 wurde die Gemeinde
Elbe-Havel-Land in Sachsen-Anhalt durch einen Deichbruch
komplett überflutet. Diese Katastrophe ist für die lokale
Bevölkerung in der Region immer noch präsent - nicht nur
in Form „objektiver" Schäden - sondern vor allem in ihren
psycho-sozialen Folgen sowie in sich tradierenden lokalen
Erzählungen und Deutungsmustern.
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Hochwasser im Elbe-Havel-Land
Während des Elbehochwassers 2013 brach am
10. Juni der Deich in Fischbeck und eine Vielzahl
an Orten in der Verbandsgemeinde Elbe-Havel-
Land wurde überflutet. Das Wasser stand vieler
orts mehrere, in einigen Senken sogar bis zu neun
Wochen. In der Folge wurden mehrere Orte zu
Inseln, auf denen die Bewohnerinnen ausharrten
und sich den von behördlicher Seite angeordneten
Evakuierungen widersetzten, um ihr Hab und Gut
zu retten. Andere, die der Evakuierung gefolgt
waren und in privaten Unterkünften oder in Not
unterkünften in Stendal, Jerichow oder Havelberg
unterkamen, kehrten nach Wochen in z.T. kaum
bewohnbare Wohnungen und Häuser zurück.
Gehört diese Katastrophe für die bundesdeutsche
Öffentlichkeit längst der Vergangenheit an, ist
für die Menschen vor Ort auch drei Jahre danach
die materielle, vor allem aber die psychosoziale
Be- und Verarbeitung dieses Ereignisses nicht
abgeschlossen. Im Folgenden werden die ver
meintliche „objektive" Seite der Betroffenheit und
Bearbeitung des Ereignisses dargestellt und daran
anschließend am Beispiel der Evakuierung und
der Suche nach Erklärungen für den Deichbruch
aufgezeigt, wie unterschiedlich und heterogen die
Aufarbeitungen verlaufen und welche konkreten
Auswirkungen sie auf das Zusammenleben der
Menschen in der Region haben. Die Ausführungen
beruhen auf Forschungen der Katastrophenfor
schungsstelle (KFS) der Freien Universität Berlin
in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Roten
Kreuz (DRK) in der Region im Rahmen des Projekts
INVOLVE (www.involve-project.com). Sie stützen
sich insbesondere auf Ergebnisse von Interviews
und einer Bevölkerungsbefragung vor Ort.
„Objektive" Betroffenheit
der Bevölkerung und Bearbeitung
der Schäden
Die Menschen in der betroffenen Region leben
seit Jahrhunderten mit den schwankenden Was
serständen der Elbe. Bereits die ersten Siedlungen
im 9. und 10. Jahrhundert wurden mit Wällen
versehen, um die Dörfer vor der mäandernden
Elbe zu schützen. Die Schifffahrt und die Möglich
keit des Handels spielten historisch eine große
Rolle für die ansässigen Menschen. Die Elbe war
zugleich „Nil" und „Feind" für Landwirtschaft und
Bauern. Einen durchgängigen Hochwasserschutz
in Form von Deichen gab es in der Region bereits
im 14. Jahrhundert. Otto von Bismarck perfekti
onierte schließlich nach einer verheerenden Flut
samt Deichbruch 1845 den Deichbau, indem er
standardisierte Bauverfahren und Deichwachen
einführte. Noch heute sind viele Menschen davon
überzeugt, dass der Deich, so wie er damals von
Bismarck ausgebaut wurde, bis 2013 gehalten
habe, obwohl es seitdem vielfältige Ausbesse
rungen des Deiches gab. Diese erfolgten immer
wieder als Reaktion auf zumeist unbekanntere,
da weniger Schäden verursachende Deichbrüche.
Das Vertrauen in die Deiche und die Tatsache, dass
die Region auch 2002 vom Hochwasser verschont
blieb, führten dazu, dass der Deichbruch für viele
Menschen recht unterwartet kam und sie keinerlei
Vorsorgemaßnahmen getroffen hatten.1
Gleichwohl eine abschließende Bewertung noch
aussteht, wird die Gesamtschadensbilanz des
Hochwassers für Sachsen-Anhalt auf 1,5 bis
2 Mrd. Euro geschätzt (Stand 2013) (Landesregie
rung Sachsen-Anhalt 2014). Ein großer Anteil der
Schäden entfällt dabei auf die Gemeinden von
Elbe-Havel. Die Verteilung der Schäden innerhalb
der Bevölkerung fällt dabei höchst unterschiedlich
aus: Vielmals entschieden kleinräumige Höhen
unterschiede sehr viel stärker über den Grad der
direkten Schäden als die Entfernung zur Deich
bruchstelle. Somit verliefen die Grenzen zwischen
Leid und „Glück" teils innerhalb der direkten Nach
barschaft und es traten viele Kilometer entfernt
vom Deich, wo sich viele Menschen in Sicherheit
glaubten, noch sehr schwere Schäden auf. Diese
reichten von direkten und quantifizierbaren materi
ellen Schäden an Hab und Gut, über Versorgungs
probleme mit Strom, Wasser, Lebensmitteln usw.
bis hin zu starken psychischen Belastungen sowie
psychischen und gesundheitlichen Langzeitfolgen.
Während Versorgungsprobleme mit dem Rückzug
des Wassers schnell behoben waren, zeigten sich
psychische und gesundheitliche Langzeitfolgen
häufig erst mit Zeitverzug. Es treten auch nach wie
vor neue Schäden an Gebäuden auf (z. B. Risse im
Gemäuer durch Veränderungen im Erdreich), die
bis dato nicht sichtbar waren. Diese fallen nicht
mehr unter die Fristen der Entschädigungspro
gramme, womit für die Betroffenen eine weitere
psychische und finanzielle Belastung einhergehen
kann. Für diese sog. zweite Welle der Betroffenheit
steht - bis auf wenige Ausnahmen - kaum mehr
Hilfe zur Verfügung. Die Schäden des Hochwas
sers variieren daher sowohl in Quantität und Quali
tät, aber auch - und das ist bisher wenig reflektiert
- in der Temporalität ihres Auftretens.
Für die eingesetzten Hilfsorganisationen stellte
und stellt die Situation vor Ort eine besondere He
rausforderung dar: In der akuten Phase während
der Überschwemmung musste vielfach über das
gewohnte Maß hinaus improvisiert werden, um
überhaupt einen Überblick über die überfluteten
Häuser, ihre Bewohnerinnen und ihre Bedürfnisse
zu bekommen. Dies erwies sich als besonders
schwierig in der dünn besiedelten, ländlichen Regi
on, für die es keine detaillierten Karten und wenige
ortskundige Katastrophenschützerinnen gab, in der
überflutete Straßen zu langen Umwegen zwangen
und Kommunikationsnetze nicht funktionierten.
Eine der größten Herausforderungen war die
Versorgung sowohl der evakuierten wie nicht-eva-
kuierten Bevölkerung mit Unterkünften, Lebensmit
teln sowie Medikamenten, aber vor allem auch mit
Informationen und Kommunikationsmitteln. Eine
besondere Situation ergab sich für landwirtschaftli
che Betriebe, deren Nutztierbestand lediglich eine
nachgeordnete Priorität von Seiten des Katastro
phenschutzes eingeräumt wurde, sodass diese
sich zumeist selbst helfen mussten.
Auch nach Rückgang des Wassers und nach
Abschluss der Aufräumarbeiten setzten Hilfsorga-
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nisationen ihre Arbeit fort und reagierten mit teils
neuen Angeboten auf zuvor unbekannte Hilfsbe-
darfe in der Bevölkerung. Bis heute sind einige
Hilfsorganisationen in der Region im Einsatz und
unterstützen nach dem Auslaufen der Verteilung
von Spenden und der Beantragung und Abrech
nung von Hilfsgeldern vor allem mit psychosozialer
Beratung und Betreuung. Diese Unterstützung
wird langfristig benötigt und auch drei Jahre nach
dem Hochwasser noch intensiv nachgefragt.
Neben „objektiven" Schäden und Hilfeleistungen,
die in der Region zu beobachten waren und sind,
entwickelten sich verschiedene zentrale lokale
„Narrationen", also eher „subjektive", aber geteilte
Erzählstränge, die die Gespräche vor Ort und die
retrospektive Wahrnehmung des Hochwassers
dominieren. Dazu gehören erstens die Erzählun
gen über die Zeiten der Evakuierung und zweitens
Reflexionen darüber, warum der Deich gerade vor
Ort gebrochen ist. Wir interpretieren diese Erzäh
lungen als Modus der Deutung, Sinnstiftung und
lokalen Identitätsstiftung, die es den „postkatast
rophalen Gemeinschaften" ermöglicht, das Erleb
te besser zu verarbeiten und sich in der neuen
sozialen gesellschaftlichen Ordnung zu orientieren
(Geenen 2012). Die Narrationen deuten dabei
aber auch auf das sehr ambivalente Verhältnis der
Bewohnerinnen der Region gegenüberstaatlichen
Institutionen hin sowie deren Agieren im Kontext
des Hochwassers und danach.2
Evakuierung als Notwendigkeit,
Konflikt und „schrecklich schöne" Zeit
Die Evakuierung ist auch heute noch ein wichtiges
Thema für die Bewohnerinnen der Region, indem
sich auf vielfältige Art und Weise materielle, aber
vor allem auch emotionale Aspekte des Hochwas
sers, in Form von Ängsten, massiven Vertrauens-
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Verlusten in Behörden, Ohnmachts-, aber auch
intensive Gemeinschaftserfahrungen spiegeln.
Gemeinhin existiert die Vorstellung, dass Evaku
ierungen allein ein behördlich angeordneter und
organisiert durchgeführter Vorgang sind, bei dem
für einen bestimmten Zeitraum Menschen aus ei
nem gefährlichen Gebiet in ein sicheres verbracht
werden (Hempel 2012). In der Realität finden sich
jedoch gerade bei längeren Großlagen, wie dem
Hochwasser 2013, viele dynamische Einflussfakto
ren (Zeitpunkt, Dauer, Ort, emotionale Bedeutung),
die die Evakuierung zu einem sehr vielschichtigen
Sachverhalt mit sehr unterschiedlichen Ausprä
gungen werden lassen. Aufgrund der ungleichen
Betroffenheit sowie der zeitlichen Entwicklung der
Lage finden sich unterschiedliche Evakuierungs
zeitpunkte mit sehr voneinander abweichenden
Vorbereitungszeiten und entsprechend heteroge
nen Erfahrungen für die Betroffenen: Während
einige Personen nur wenige Minuten bis Stunden
zur Evakuierung hatten, konnten sich andere über
Stunden und Tage auf eine mögliche Evakuierung
vorbereiten. Während einige nur wenige Tage das
Hochwassergebiet verließen, dauerte die Evaku
ierung für andere Wochen. Vielfach retteten sich
die Betroffenen selbst ohne Unterstützung des
Katastrophenschutzes, andere wiederum wurden
mit Bussen in einem organisierten Notfallverfahren
aus dem Gefahrengebiet gebracht - gerade bei
stationären Pflegeeinrichtungen zeigten sich hier
zum Teil massive Probleme. Auch bei den Evakuie
rungszielen findet sich eine große Bandbreite: Die
meisten Betroffenen kamen bei der Familie oder
Bekannten außerhalb des betroffenen Gebietes
unter, wie dies auch aus anderen Katastrophen
bekannt ist (Drabek 2010). Die Personen, die nicht
zu Familienangehörigen oder Bekannten auswei-
chen konnten, lebten in Notunterkünften in der
Region. Aufgrund der dynamischen Lage waren
teilweise mehrfache Evakuierungen notwendig, da
zu späteren Zeitpunkten auch Evakuierungsemp
fehlungen für vormals als sicher geltende Gebiete
ausgesprochen wurden.
Vielfach wird die Evakuierungsaufforderung und
-erfahrung von den Betroffenen als ängstigendes
Ohnmachtsmoment beschrieben. Die getroffenen
Schutzmaßnahmen reichten nicht mehr hin, der
ansonsten als besonders sicher geltende Ort des
eigenen Zuhauses wurde plötzlich unsicher. Die
Notwendigkeit, wie bspw. in Schönhausen, kurz
fristig nachts evakuieren zu müssen (Primus 2015,
Hermann 2013), verunsicherte die Betroffenen
teilweise massiv bis hin zu Ansätzen von Retrau-
matisierungen aufgrund von vergangenen Fluchter
fahrungen im Kontext des 2. Weltkriegs.
Bei weitem nicht alle Bewohnerinnen kamen der
Aufforderung zur Evakuierung nach. Die Gründe,
warum Personen die Evakuierungen ablehnten,
decken sich im Kern mit anderen Katastrophen
ereignissen: Schutz des Eigentums, Versorgung
von Haus- und Nutztieren (Gladwin et al. 2001),
sowie die Angst vor (vermeintlichen) Plünderungen
(Fischer 1998). Hinzu kommt, dass aufgrund der
relativ langen Vorwarnzeit Personen in der Region
durchaus kurzfristig eigene Schutzmaßnahmen ge
troffen hatten und nicht verstehen konnten, warum
sie dennoch evakuieren sollten. Um der Durchset
zung der Evakuierung zu entgehen, versteckten
sich Personen in einigen Fällen in ihren Häusern
bzw. in höher gelegenen Wäldern der Umgebung.
Andernorts verweigerten sich die Flutopfer den
offiziellen Aufforderungen mit der Folge konflikt
behafteter Aushandlungen zwischen Behörden
und Betroffenen, bei denen angeordnete Evaku
ierungen am Widerstand Letzterer scheiterten
(Ternieden et al. 2013) und nach Vermittlung von
Symbolpersonen der Verbleib im eigentlichen Eva
kuierungsgebiet am Ende doch geduldet wurde.3
Zumindest in den ersten Tagen waren die „Evaku
ierungsverweigerer" (die Rede ist von ca. 150 Per
sonen allein im Ort Schönhausen, Hermann 2013)
auf sich allein gestellt, in späteren Zeiten erfolgte
z.T. eine Versorgung auch durch Hilfsorganisatio
nen von außen. Die „Insulaner" (Primus 2015: 26)
organisierten in ihrem „Inselstaat" während ihrer
„Robinsonade" - wie sie diese Zeit selbst tauften
- die Versorgung mit Booten, halfen sich gegen
seitig, teilten die verbliebenen Lebensmittel sowie
Ressourcen, organisierten Notverkäufe, schützten
Eigentum vor (vermeintlichen) Plünderungen und
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versorgten pflegebedürftige Personen, die nicht
evakuiert worden waren. Die Personen beschrei
ben die Erfahrungen, die mit der Notwendigkeit,
sich selbst helfen zu müssen, einhergingen, als
„schrecklich schön" (Primus 2015: 26) und als
utopische Zeit der Vergemeinschaftung (vgl. Solnit
2009) jenseits eines staatlichen Zugriffs, die sich
bis heute als identitätsstiftend für die entsprechen
den Personen zeigt und damit eine sehr wichtige
Narration in der Wiederaufbau- und Verarbeitungs
phase darstellt.
Die Erfahrungen der Evakuierten in den Notunter
künften fallen dagegen sehr unterschiedlich aus:
Einerseits bildeten sich auch hier Notgemeinschaf
ten, die gar nicht mehr auseinandergehen wollten;
andererseits kam es zu besonderen emotionalen
Belastungszuständen, zu Vereinzelung und Kon
flikten. Einige Personen sahen sich aufgrund ihrer
Erfahrungen in den Notunterkünften veranlasst,
bereits vor der Aufhebung der Evakuierung wieder
ins Katastrophengebiet zurückzukehren. Gerade
die hier beschriebene Evakuierungsverweigerung
stellt eine der zentralen Narrationen dar.
Diese vielfältigen Evakuierungserfahrungen und
-Wahrnehmungen bestimmen die Deutung der
Katastrophe. Aufgrund der damit verbundenen
extremen Erfahrungen von Angst, Ohnmacht, Ver
trauensverlust, Enttäuschung, aber auch exklusiver
Gemeinschaftserfahrung finden sich kaum kollektiv
einigende Erzählungen und Verarbeitungen. Die
Identitätsstiftung zeigt sich sowohl im Sinne einer
geteilten Gruppenerfahrung als auch in der Ab
grenzung einerseits zum staatlichen Katastrophen
schutz, dessen ausbleibender Hilfe und seinen
Versuchen einer Zwangsevakuierung, andererseits
auch in der Abgrenzung zu Mitbürgerinnen, die
sich evakuieren ließen und so symbolisch die
Region und ihre Menschen im Stich ließen.
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Mit der Wahrnehmung der Evakuierung als
Zwangsmaßnahme geht zudem ein großer Vertrau
ensverlust gegenüber staatlichen Stellen und Kata
strophenschutzbehörden einher. Die Zwangsevaku
ierung bzw. ihre Androhung werden als Verletzung
der verfassungsgemäßen Grundrechte sowie
Verrat am staatlichen Schutzversprechen gedeutet,
weil die Behörden - aus Sicht der Betroffenen -
ohne Kenntnis der genauen Lage vor Ort keinen
billigenden Unterschied machten, den Evakuie
rungsverweigern in der Stunde ihrer größten Not
keine oder nur verspätete Hilfe vor Ort zu Teil wur
de4, und partiell massiver Druck ausgeübt wurde,
um Personen von der Evakuierung zu überzeugen.
Die Folge sind ein „Ordnungs- und Legitimitätsver
lust" sowie eine „politische Katastrophe [...], denn
nicht ein Unfall oder ein schreckliches Naturer
eignis gefährde[te]n [...] die Sozialität, sondern
vielmehr das Misslingen der in der Evakuierungs
zone vergegenständlichten Ordnungsmaßnahmen"
(Hempel 2012: 96).
Opfer(ungs) - Mythos -
Verschwörungstheorien -
Erklärungen für den Deichbruch
Für viele vom Hochwasser betroffene Menschen
war nicht das Hochwasser an sich das Problem,
sondern die Wucht, mit der sich das Wasser
durch den Deichbruch in die Region ergoss, und
die Niederung „wie eine Badewanne" volllaufen
ließ. Zwei Fragen beschäftigen die Menschen
noch heute: „Wieso ist der Deich gebrochen?"
und „Warum hat es so lange gedauert, bis die
Bruchstelle wieder geschlossen wurde?" Als
Erklärung findet sich ein breites Spektrum an Ver
mutungen, (Halb-)Wissen und Spekulationen, das
sehr eng mit der emotionalen Belastung und Ver
arbeitung der Folgen des Hochwassers zusam
menhängt. Die sicherlich extremste Erklärungs
form ist die absichtliche Sprengung des Deiches,
um stromabwärts gelegene wohlhabendere Orte
oder das Atommülllager Gorleben zu schützen.
Andere vermuten, dass die Ausbesserungen am
Deich, die nach dem Hochwasser 2002 vorge
nommen wurden, schadhaft waren oder dass
bewusst Soll-Bruch-Stellen im Deich gelassen
wurden, was die DIN-Norm des Deichbaus auch
tatsächlich als Vorkehrung vorsieht. Auch fatalis
tische Einstellungen sind zu finden: „Der Deich
breche sowieso alle 100 Jahre durch", oder „Die
Elbe hole sich einfach nur das zurück, was ihr
durch den Menschen genommen wurde". Relativ
einig zeigen sich die Menschen darin, dass von
behördlicher Seite viel zu spät mit der Schließung
der Bruchstelle begonnen wurde.
Aus katastrophensoziologischer Sicht lassen
sich diese Deutungsversuche aus unterschied
lichen Perspektiven beleuchten. Sie können mit
Luhmann allein den Anschluss an bestehende
Kommunikationen und Diskurse darstellen - man
redet halt über das, über das alle reden - schafft
damit Grundlagen für Anschlusskommunikation
und kann sich damit als Teil einer Gruppe definie
ren, die sich über wichtige, die Gruppe und die
Region betreffenden Themen austauscht (Luh
mann 1984). Sie können aber auch viel tiefgrei
fender den betroffenen Menschen Sinnstiftungs
und Erklärungsmodi an die Hand geben, die ihnen
das Unerklärliche der Katastrophe beibringen und
somit die erlittenen materiellen, emotionalen und
psychischen Schäden nicht als grundlos deklarie
ren. Sie wären dann Teil einer psychischen Bewäl
tigungsstrategie, um die aus den Fugen geratene
soziale Ordnung wiederherzustellen. In der Un
tersuchungsregion lassen sich die kursierenden
Erklärungsmuster einbetten in einen die gesamte
Region durchziehenden „Opferdiskurs", der sich
aus dem Gefühl einer jahrzehntelangen Benach
teiligung speist. Die Aussage, man sei das „Bau
ernopfer" gewesen, um andere Deichstellen zu
entlasten, ist ein gängiger Topos in den Erzählun
gen der vom Hochwasser betroffenen Menschen.
Dieser reiht sich ein in historisch vorhandene
Negativerfahrungen in der Region, wie die Ent
eignungen von Landwirten und gesellschaftliche
Ächtung durch die sowjetische Besatzungsmacht
oder die Rückführung von Besitztümern nach der
Wende in den 1990er Jahren.
Die politischen Entscheidungsträger sind - so
scheint es - bisher daran gescheitert, den
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Deichbruch für die Betroffenen glaubwürdig und
authentisch zu erklären. Dies hat auch damit zu
tun, dass sich die politischen Akteure auf Landes
ebene in vielen Situationen in der Wahrnehmung
der Bevölkerung als überfordert zeigten und damit
das vermutlich auch vor dem Hochwasser kaum
vorhandene Vertrauen in die staatlichen Organe
noch mehr beschädigt wurde.
Lessons learned - Ein Zwischenfazit
Die lebhaften Erzählungen über die Katastrophe,
die Evakuierung und den Deichbruch in der Region
verdeutlichen, wie präsent die Ereignisse und ihre
Verarbeitung auch heute noch in der Region sind.
Auch drei Jahre nach dem Hochwasser zeigen sich
mit deutlicher zeitlicher Verzögerung immer noch
neue Folgen der Katastrophe. Eine abschließende
Einordnung und Bewertung lässt sich nur bedingt
vornehmen und es stellt sich grundlegend die
Frage, ob solche Katastrophen, wie die beschrie
bene, überhaupt jemals gänzlich abgeschlossen
sind. Dessen ungeachtet können auch jetzt schon
bestimmte Lessons learned aus der Katastrophe
und ihrer Bearbeitung gezogen werden, was mit
Blick auf mögliche zukünftige Hochwasserereignis
se auch dringend geboten scheint.
So zeigt sich insgesamt, dass Schäden und Grade
der Betroffenheit sehr vielfältig ausfallen, zeit
versetzt auftreten und daher nur äußerst schwer
„objektiv" zu erfassen sind. Eine der größten
Herausforderungen besteht darin, die Formen der
psychosozialen Betroffenheit zu erfassen. Sie ist
weder sichtbar noch quantifizierbar oder leicht
in Statistiken abzubilden. Die Erfahrungen der
Befragung vor Ort machen deutlich, dass überra
schend viele Bewohner auch drei Jahre nach dem
Ereignis noch so stark emotional involviert sind,
dass es ihnen nicht möglich war, über das Erlebte
zu sprechen. Es bleibt offen, ob diese Menschen
gegenwärtig durch bestehende Angebote erreicht
werden.
Diese Problematik zeigt sich auf anderer Ebene
auch für die vor Ort tätigen Hilfsorganisationen.
Kurz- und langfristige Folgen einer Katastrophe und
damit einhergehende Bedürfnisse der Betroffenen
lassen sich zwar eine in grobe zeitliche Struktur
bringen und finden sich in Phasenmodellen von
Katastrophen sowie darauf aufbauenden Konzep
ten von Hilfsorganisationen wieder. Jedoch zeigt
sich zum einen, dass Hilfe vor Ort häufig sehr viel
länger und vielfach auch in anderer Form benötigt
wird, als von den Hilfsorganisationen angenom
men. Zum anderen wird deutlich, welche großen
Ungleichzeitigkeiten bei den Schäden und deren
Bewältigung innerhalb der Bevölkerung existieren.
Während einige Personen fast wieder vollständig
in ihrem Alltag angekommen sind, beginnt bei an
deren die Verarbeitung des Geschehens erst jetzt.
Für ein solches Spektrum geeignete und differen
zierte Hilfsangebote vorzuhalten, ist eine große
Herausforderung.
Die Wahrnehmung der Hilfsorganisationen und
Behörden fällt sehr unterschiedlich aus. Dort, wo
die Hilfsorganisationen im Einsatz waren, wurden
sie meist sehr positiv von der Bevölkerung wahr
genommen. Die Erzählungen über die Evakuierung
und den Deichbruch belegen jedoch deutliche
Vertrauensverluste in staatliche Stellen. Mit einer
schnellen und einfachen Rückgewinnung des Ver
trauens ist aus den oben genannten Gründen nicht
zu rechnen. Gerade dieses verlorengegangene
Vertrauen kann sich als Hypothek für kommende
Katastrophen erweisen. Aus der Forschung (Wa-
chinger et al. 2013) ist bekannt, dass Vertrauen in
zuständige Entscheidungsträger und Expertinnen
die Risikowahrnehmung und damit das zukünftige
(Vorsorge-)Verhalten von Bürgerinnen maßgeblich
beeinflusst. Beschädigtes Vertrauen kann unter
anderem zu einem verstärkten Unsicherheitsgefühl
führen und die Handlungs- und Vorsorgebereit
schaft negativ beeinflussen, wenn Informationen
nicht mehr als glaubwürdig angenommen werden
(Paton et al. 2008) oder eine allgemeine Legitima-
tions- und Kommunikationskrise zwischen Behör
den und der Bevölkerung jegliche zukünftige Risi
ko- und Krisenkommunikationsprozesse unmöglich
macht (Voss und Lorenz 2016). Die Bewältigung
dieser unsichtbaren und hintergründigen Katastro
phenfolgen wird die Region daher noch für Jahre,
wenn nicht Jahrzehnte beschäftigen.
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Fußnoten
1 Hier zeigt sich ein Phänomen, welches in der wissen
schaftlichen Literatur auch als Paradox der Risikowahr
nehmung beschrieben wird (Wachinger et al. 2013).
Dabei wird immer wieder beobachtet, dass persönliche
Erfahrungen mit Extremereignissen, nicht zwangsläufig
zu einem höheren Risikobewusstsein und damit verbun
denen Vorsorgemaßnahmen führen, sondern bei ausblei
benden Schäden, wie 2002, danach Gegenteiliges eintritt
(Green et al. 1991; Scolobig et al. 2012).
2 Eine weitere wichtige Erzählung für die Verarbeitung
des Hochwassers, auf die hier nicht ausführlicher
eingegangen werden kann, ist die Kritik am Agieren der
Katastrophenschutzbehörden. Mangelnde Kenntnis der
Situation vor Ort, Überforderung und schlechtes Manage
ment in der Katastrophe sind nur einige der Kritikpunkte
der lokalen Bevölkerung an den Behörden. Dabei ist zu
beobachten, dass die Fehler tendenziell auf höheren
und somit für die Bevölkerung weniger transparenten
Entscheidungsebenen verödet werden, wohingegen
Akteure vor Ort, deren Engagement häufig sichtbarer war,
positiver gesehen werden. Insgesamt zeigte sich jedoch
ein Vertrauensverlust gegenüber staatlichen Behörden
und eine transparente Aufarbeitung der Ereignisse steht
- zumindest aus Sicht der Betroffenen - bis heute aus.
3 An anderen Orten, wurde das Personal, das eigentlich die
Evakuierung durchsetzen sollte, zum Helfer der Personen vor
Ort und unterstützte diese bei deren Schutzanstrengungen.
4 Der Bericht zum Hochwasser (Ministerium für Inneres
und Sport 2014) sieht vor, zukünftig eine bessere Versor
gung dieser Personengruppe zu organisieren. m
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