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„Verurteilen“
Debatte über das
aktuelle Buch von
Geoffroy de Lagasnerie
TOA-MAGAZIN
Fachzeitschrift zum Täter-Opfer-Ausgleich
Interview mit Geoffroy de
Lagasnerie
Mit Beiträgen von
Christa Pelikan &
Katrin Kremmel,
Gerry Johnstone,
Brunilda Pali,
Frank Winter,
Karl-Ludwig Kunz
und David Scott
Wir stellen vor:
The Foresee Research Group
International:
Marian Liebmann über
Restorative Cities in England
Rechtliches:
Johannes Kaspar und Isabel
Kratzer-Ceylan diskutieren Wie-
dergutmachung bei mehreren
Geschädigten
Nr. 03/ Dezember 2018
Bezugspreis 7,50
Servicebüro für Täter-Opfer-Ausgleich
und Koniktschlichtung
TOA-Servicebüro im DBH-Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik
Prolog........................................................................................3
Thema:
Geoffroy de Lagasnerie im Gespräch mit Theresa M. Bullmann:
Eine andere Justiz ist möglich..............................................................4
Karl-Ludwig Kunz: Eine heilsame Irritation für Strafrechtler.................................9
Katrin Kremmel und Christa Pelikan: Zum Problem des staatlichen Gewaltmonopols........12
Gerry Johnstone: Kriminalität neu denken ................................................16
Brunilda Pali: Restorative Justice sozialisieren ............................................ 20
David Scott: Die Kritik der Strafjustiz zu ihrem logischen Schluss bringen:
eine abolitionistische Perspektive ........................................................24
Frank Winter: Gerechtigkeit an und für sich gibt es nicht ................................. 29
Rechtliches:
Johannes Kaspar und Isabel Kratzer-Ceylan:
Unvollständige Wiedergutmachung bei mehreren Geschädigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .33
Wir stellen vor: The Foresee Research Group...................................................36
International:
Marian Liebmann: Von Restorative Justice zu ‚Restorative Cities‘ ...........................39
Literaturtipps:
Hendrik Middelhof/Winfried Priem:
Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendstrafrecht – Das Handbuch für die Praxis .................43
David Scott: Against Imprisonment. An Anthology of Abolitionist Essays. .................. 44
Film:
Sieben Stunden ..........................................................................45
Impressum..................................................................................47
Inhaltsverzeichnis
2TOA-Magazin · 03/18
Liebe Leser*innen,
eine differenzierte Kritik an der westlichen
Justizpraxis war der Motor für die Entwicklung
von Theorie und Praxis der Restorative Justice.
Erst durch diesen Perspektivwechsel kam der
interpersonelle Konfliktcharakter von Strafta-
ten zum Vorschein. Seitdem werden in der RJ
Rahmenbedingungen geschaffen, in denen
Konflikte im gesamten Kontext – individuell
wie sozial – aufgearbeitet, verstanden und im
Sinne der Beteiligten lebensweltnah bearbei-
tet werden können.
In seinem aktuellen Buch „Verurteilen – Der
strafende Staat und die Soziologie“ (2017, Suhr-
kamp) formuliert der französische Soziologe
Geoffroy de Lagasnerie eine radikale Kritik am
‚strafenden Staat‘. Im Zentrum seiner Arbeit
steht die Infragestellung von Gerichtsprozes-
sen und Gerichten. Sein Ziel besteht darin zu
zeigen, „bis zu welchem Grad die Modalitäten,
durch die der Strafrechtsapparat sich entfaltet,
in eine allgemeinere Ökonomie der Mächte
und Wahrnehmungen eingebettet sind“ (S. 17).
Auf der Grundlage mehrjähriger Beobachtun-
gen von Pariser Gerichtsverhandlungen stellt
er z. B. Transzendenz, Allgemeinheit und Neut-
ralität als ‚Gründungsmythen‘ der Rechts- und
Staatsordnung dar (S. 180) und dechiffriert
die herrschende Justizpraxis als verschleierte
Gewaltzufügung. Weiter beanstandet er die
dekontextualisierte Individualisierung von
Schuld und Verantwortungszuschreibung.
Sein Postulat: Ein anderes Strafsystem, das „die
Begriffe von Verantwortung, Strafbarkeit, Ver-
brechen, Strafe“ (S. 38) im Sinne eines „zivilen,
horizontalen, singulären Rechts“ (S. 237) neu
ausfüllt und ‚wirkliche‘ Gerechtigkeit schafft.
Man könnte meinen, dass de Lagasnerie hier-
mit eine Steilvorlage für kriminalpolitische
Schlussfolgerungen im Sinne einer RJ liefert.
Irritierenderweise stellt er in seinem Buch je-
doch keine Verbindung zwischen beidem her.
Für die einen ist „Verurteilen“ eine der bes-
ten, tiefgründigsten Kritiken des Strafrechts-
systems seit Michel Foucault (Brunilda Pali).
Für andere ist es ‚alter Wein in neuen Schläu-
chen‘, der sich nur als neu und facettenreich
verkaufen lässt, solange der gesamte Diskurs
kritischer Kriminologie, Psychoanalyse und
‚Antipsychiatrie-Bewegung‘ ausblendet wird
(Frank Winter). Ungeachtet dieser und ande-
rer Bewertungen sind Kritik und Fragen, die
de Lagasnerie in seinem Buch aufwirft, für
den deutschsprachigen Diskurs über eine al-
ternative Justizpraxis hochaktuell und ver-
langen eine differenzierte, selbstkritische
Auseinandersetzung. Mit dieser Ausgabe des
TOA-Magazins schaffen wir hierfür ein Forum:
Im Kontext des Themenschwerpunktes setzen
sich international renommierte Wissenschaft-
ler*innen aus angrenzenden Disziplinen mit
de Lagasneries Kritik, ihren Forderungen und
den daraus folgenden Implikationen für Recht,
Soziologie, Kriminologie, Psychologie und RJ
auseinander. Bevor Beiträge über de Lagasne-
rie folgen, lassen wir den Autoren in einem In-
terview zunächst selbst über die Kernelemen-
te seiner Theorie und seiner Mahnung an die
‚RJ-Community‘ zu Wort kommen.
Darüber hinaus: Nachhaltig inspiriert von der
10th International Conference des European
Forum for Restorative Justice in Tirana (siehe
Bericht in Heft Nr. 2/18), greifen wir in dieser
Ausgabe u. a. zwei von vielen Tagungshigh-
lights auf: Dr. Marian Liebmann schreibt über
die „Entwicklung von Restorative Cities in Eng-
land“ und wir stellen Ihnen die diesmaligen
Gewinner*innen des European Restorative Ju-
stice Awards vor: The Foresee Research Group
aus Ungarn.
Wir wünschen Ihnen eine spannende, irritie-
rende und inspirierende Lektüre!
Im Namen der Redaktion
Christoph Willms,
Köln im November 2018
Prolog
3
TOA-Magazin · 03/18
Interview mit Geoffroy de Lagasnerie,
Autor von „Veruteilen“
Eine andere Justiz
ist möglich
TOA-Magazin: In Deinem Buch schreibst Du:
Verurteilen ist Gewalt. Worin besteht denn die
Gewalt der Justiz?
Geoffroy de Lagasnerie: „Rechtsstaat“ und
„Gewalt“ werden oft als Gegensätze präsen-
tiert und man vergisst, in welchem Maße ein
Strafverfahren gewalttätig ist. Aus der Sicht
des „Delinquenten“ betrachtet, stellen sich die
justiziellen Vorgänge als sehr gewaltförmig
dar: Von der Polizei festgenommen zu werden,
bedeutet, Handschellen angelegt zu bekom-
men, der Freiheit beraubt und in einen Käfig
gesteckt zu werden. Anschließend wirst du
gezwungen, vor Gericht zu erscheinen, wo al-
les darauf ausgerichtet ist, dich zu enteignen.
Deine Worte werden mit den Worten des Staa-
tes ersetzt und es wird für dich gesprochen.
Schließlich entscheiden Menschen, denen du
dies niemals erlaubt hast, über den Fortgang
deines Lebens. Was könnte gewaltvoller sein?
TOA-Magazin: Du schreibst auch vom Verlust
der Macht über die Interpretation deiner Ge-
schichte. Sie wird reinterpretiert.
Geoffroy de Lagasnerie: Wenn man Institutionen-
kritik betreibt, ist eine der wichtigsten Operatio-
nen, ihre vorgebliche Funktion der tatsächlichen
gegenüberzustellen. Foucault zeigte beispiels-
weise, dass die scheinbare Funktion des Gefäng-
nisses die Strafe ist, eine seiner wirklichen Funk-
tionen aber in der Produktion von Rückfälligkeit
besteht. Die Institutionen tun also etwas anderes,
als sie sagen. Und ich glaube, dass ein Gerichts-
prozess nicht der Feststellung der Schuld des An-
geklagten dient, denn diese ist meist offensicht-
lich, sondern dass seine wirkliche Funktion das
Erzählen einer Geschichte ist. Es geht darum, im
Nachhinein eine justizielle Narration der Straftat
zu erschaffen, die sie so rekonstruiert, dass die
Strafe gerechtfertigt ist. Dieser Vorgang enthebt
Beschuldigte und Geschädigte jeder Möglich-
keit, die Wahrheit über das, was vorgefallen ist
und wie sie es erlebt haben, auszusprechen. Nils
Christie hat es treffend beschrieben: Die Angehö-
rigen der Justiz sind professionelle Diebe. Daran
gehindert zu werden, in eigenen authentischen
Worten über die Tat zu sprechen, ist ein Akt sym-
bolischer Gewalt.
Geoffroy de Lagasnerie
ist Soziologe und Philosoph. Er ist Professor an der
École Nationale Supérieure d’Arts in Paris-Cergy und
Autor von ‚Verurteilen. Der strafende Staat und die
Soziologie‘ von ‚Denken in einer schlechten Welt‘
und ‚Die Kunst der Revolte‘.
4TOA-Magazin · 03/18
staat, die Mediation, den Minderheitenschutz
etc. Im Staat kämpfen diese beiden Prinzipien
miteinander, und er gehört weder der einen
noch der anderen Seite vollständig.
TOA-Magazin: Wie kann sich nun die Restorati-
ve Justice darin positionieren, ohne Komplizin
zu werden?
Geoffroy de Lagasnerie: Als erstes finde ich es
wichtig, den Grundsatz zu verteidigen, dass es
keine Delikte ohne Opfer gibt. Das würde den
Staat daran hindern, stets neue Straftatbe-
stände zu erfinden. Wenn man bedenkt, dass
achtzig Prozent der Inhaftierten in den USA
aufgrund von Drogendelikten einsitzen, dann
macht das schon sehr viel aus. Zweitens gibt
es einen Punkt, bei dem man aufpassen muss:
Die Restorative Justice tendiert dazu, Strafta-
ten als per se negativ zu beschreiben, als gäbe
es einen Zustand des sozialen Gleichgewichts,
der durch die Tat gestört wurde. Man kann es
aber auch so sehen, dass die Gesellschaft selbst
nicht im Gleichgewicht ist und die Handlung
einen Ausgleich hergestellt hat. Wenn man
sich etwa einen Armen vorstellt, der Schmuck
klaut, fällt es mir schwer, hier von der Störung
eines Gleichgewichts zu sprechen, das nun
wieder hergestellt werden muss. Ich halte es
für wichtig, dass die Restorative Justice sich
nicht die staatliche Definition dessen, was
Unrecht ist, zu eigen macht und sich so an der
Entpolitisierung der Frage beteiligt. Ich meine
damit nicht, dass es okay ist, Leute anzugrei-
fen, aber ich sage, dass es es eine bestimmte
Abhängigkeit von den Auffassungen des Staa-
tes gibt, die wir auflösen müssen.
TOA-Magazin: Ich würde gerne noch auf ein
anderes, ebenfalls sehr ambivalentes Thema zu
sprechen kommen, nämlich die Verantwortung.
Du kritisierst, dass die Idee der individuellen
Verantwortung nicht dienlich ist beim Versuch,
sogenannte Straftaten oder andere Konflikte zu
erklären oder zu behandeln, da die Frage der
sozialen und gesellschaftlichen Verantwortung
dabei ausgeklammert wird. Gleichzeitig ist
Verantwortungsübernahme durch das Indivi-
duum ein zentraler Pfeiler von Restorative-Ju-
stice-Prozessen. Es scheint also schwierig, Frie-
den zu schließen zwischen dem Problem, das Du
nennst, und der Tatsache, dass wir individuelle
Verantwortung brauchen, damit es zu einem
Dialog zwischen TäterIn und Opfer kommen
kann.
TOA-Magazin: …an dem die PsychologInnen mit
schuld seien. Die Psychologie kommt in Deinem
Buch sehr schlecht weg.
Geoffroy de Lagasnerie: In Frankreich haben
die PsychologInnen und PsychiaterInnen eine
sehr prominente Stellung am Schwurgericht.
Sie setzen ahistorische und apolitische Konzep-
tionen ein, um zu belegen, dass jeder kriminelle
Akt letztlich Ausdruck von Charakterfehlern der
Angeklagten ist. Sie bedienen sich dabei einer
Vorgehensweise, die ich „Endogenisierung der
Welt“ nenne, sprich, sie tun so, als ob die Welt
nicht existiert und das Verhältnis eines Indivi-
duums zur Welt letztlich nur sein Verhältnis zu
ihm selbst ist. Ein Bankräuber algerischer Her-
kunft, der in einem Elendsviertel lebt, wird etwa
nicht als Produkt der ökonomischen und ras-
sistischen Unterdrückung in Frankreich ange-
sehen, sondern, dank der PsychiaterInnen wird
der Grund für seine Handlungen in sein Inneres
verlegt und als Habgier definiert. Demgegen-
über leugnet die Soziologie zwar nicht, dass es
psychische Dynamiken gibt, sie wird aber stets
die Realität aufgrund sozialer Faktoren rekons-
truieren und sich somit in Konfrontation zum
Repressionsapparat befinden. Das heißt nicht,
dass es keine psychologischen Mechanismen
gibt, aber wenn man die Psychologie von der
Soziologie trennt, wird man zwangsweise zum
Komplizen der justiziellen Vorgänge.
TOA-Magazin: Du beharrst darauf, dass es nicht
darum geht, den Staat als solches anzugreifen,
sondern vielmehr von ihm zu verlangen, dass er
die Prinzipien des Sozialstaats auch in der Jus-
tiz anwendet. Warum gehst Du nicht, wie viele
AbolitionistInnen*, einen Schritt weiter? Der
Staat bleibt ja ein Herrschaftsinstrument.
Geoffroy de Lagasnerie: Das ist eine sehr wich-
tige Frage. Ich glaube ganz und gar nicht an
eine Art Essentialismus, dass es den Staat ‚als
solches‘ gibt. Ich denke, dass der Staat ein In-
strument ist, den man verschiedenartig ein-
setzen kann. Im Staat, wie er heute existiert,
gibt es bereits nichtrepressive Prinzipien. Das
Strafrecht ist selbst weniger auf der Idee der
Strafe als auf dem Prinzip der Schuldlosigkeit
aufgebaut. Es hat Kriterien entwickelt, um die
Menschen der Strafe zu entziehen, darunter
Minderjährigkeit, Unzurechnungsfähigkeit,
Notwehr. Tatsächlich, meine ich, ist der Staat
ein inkohärentes Gebilde mit zwei Gesichtern.
Das eine ist das der Repression, Strafe, Kont-
rolle. Es gibt aber auch das zweite, den Sozial-
* Abolitionismus: Bewegung zur
Abschaffung der (Gefängnis-)
strafe, entstanden aus der
Bewegung zur Abschaffung der
Sklaverei.
5
TOA-Magazin · 03/18
wie man die soziale Umgebung und die sozi-
alen Umstände verinnerlicht hat – und der
Struktur der Möglichkeiten. Der gleiche männ-
lich-sportliche Habitus kann einen großen
Fußballer oder einen Bankräuber hervorbrin-
gen. Man muss also die Struktur der Möglich-
keiten ändern, wenn man will, dass die Men-
schen anders leben und handeln. Abgesehen
von der Frage der Verantwortung kritisiere ich
aber vor allem die Individualisierung in der
Wahrnehmung, also die Tatsache, dass wir den
Grund für das, was uns widerfährt, in einem
Individuum verorten und nicht in den sozialen
Strukturen und Machtverhältnissen. Soziale
Strukturen sind jedoch genauso real wie In-
dividuen. In der Wirtschaftswelt ist das aner-
kannt, hier gibt es die ‚juristische Person‘, und
die kann auch belangt werden, ohne dass die
‚natürlichen Personen‘, die in ihr arbeiten, ver-
urteilt werden. Das gleiche passiert in Bezug
auf Entschädigungszahlungen nach Mensch-
heitsverbrechen, da werden ganze Staaten zur
Verantwortung gezogen. Man kann also Struk-
turen verantwortlich machen.
TOA-Magazin: Möglicherweise geht es hier auch
um eine Begriffsverwirrung. Im Bereich der
Restorative Justice versuchen wir die Begriffe
Schuld und Verantwortung auseinander zu
halten, indem wir Schuld als etwas Rückwärts-
gewandtes definieren, das auf Bestrafung aus
ist, während wir Verantwortung eine zukunfts-
orientierte Bedeutung geben, in der es um
Lösungssuche und Wiedergutmachung geht.
Schuld schafft Ohnmacht, da man die Vergan-
genheit nicht ändern kann und somit bleibt nur
die Bestrafung. Und Verantwortung schafft die
Möglichkeit der Wiedergutmachung.
Geoffroy de Lagasnerie: Eine zukunftsgewand-
te Antwort auf Unrecht liegt in der sozialen
Veränderung, während der Staat in der Ge-
schichte des Beschuldigten wühlt und ihn für
seine Vergangenheit bestraft, einverstanden.
Aber ich fürchte, dass wir, wenn wir die Idee
der individuellen Verantwortung beibehal-
ten, der Straflogik nicht entkommen. Zudem
scheint es mir, als hinderten uns die Themen
‚Straftaten‘ und ‚Leiden‘ am Denken. Ich illus-
triere die Fragen von Nichtverantwortlichkeit
und Entschuldigungsgründe an einem ande-
ren Beispiel, nämlich der Kritik Bourdieus an
den Auswahlverfahren an den Schulen. Bour-
dieu zeigt, dass Jungen aus den unteren Ge-
sellschaftsschichten ab ihrem 13. Lebensjahr
Geoffroy de Lagasnerie: Die Kritik der Verant-
wortlichkeit ist gar nichts Abstraktes, sie exis-
tiert sogar im Strafrecht selbst mit den Recht-
fertigungs- und Entschuldigungsgründen. Das
Buch geht von der Beobachtung aus, dass der
Staat ständig mit der Konstruktion von Nicht-
verantwortlichen befasst ist, ob nun als Unzu-
rechnungsfähige, Kindern oder aus Notwehr
Handelnden. Es gibt sogar eine Wissenschaft,
die einst die Verantwortlichkeit der Individu-
en kritisierte, und das ist die Psychiatrie. Im
19. Jahrhundert war sie es, die die Menschen
vor dem strafenden Staat schützte, indem sie
argumentierte, dass sie nicht urteilsfähig sei-
en und es daher einer Therapie und nicht der
Strafe bedürfe. Könnte man sich nicht eine
ähnliche Argumentationsfigur vorstellen, die
die sozialen Bedingungen und die Rolle der so-
zialen Interaktionen nutzt, um das Verhalten
der Menschen zu erklären, und somit das so-
ziologische Wissen benutzt, um die individuel-
le Verantwortlichkeit in Frage zu stellen?
Die statistischen Fakten sind klar. Sie las-
sen erkennen, dass Gewaltverbrechen
und Drogendelikte hauptsächlich von
Menschen aus den unterdrückten ge-
sellschaftlichen Schichten, und zwar
aus den prekarisierten Fraktionen die-
ser Schichten, begangen werden. Zum
Beispiel Mord: In Frankreich, den USA
und England geschehen 95 Prozent
der Morde im prekarisierten Teil der
Arbeiterklasse, sie bringen sich dort
gegenseitig um. Als Soziologe inter-
pretiere ich das als Auswirkung von
bestimmten Lebensbedingungen.
Die Situation schafft den Mörder,
nicht die individuelle Psychodyna-
mik oder die Persönlich-
keit. Und wenn man nun
davon ausgeht, dass die
Situationen stärker ver-
antwortlich sind als die
Individuen …
TOA-Magazin: … muss
man die Situationen be-
strafen … (beide lachen)
Geoffroy de Lagasnerie: … muss man die Situ-
ationen verändern, und das heißt, die sozia-
len Bedingungen transformieren! Tatsächlich
halte ich die Individualverantwortung für ei-
nen Mythos. Eine Interaktion besteht immer
aus der Begegnung des Habitus – also der Art,
Geoffroy de Lagasnerie
Veruteilen.
Der strafende Staat und die Soziologie
Originaltitel:
Juger. L’état pénal face à la sociologie
Suhrkamp, Berlin 2018, 271 Seiten, 26,- e.
6TOA-Magazin · 03/18
auf Straftaten zu reagieren: es psychologisch
herunterzukochen und als unangenehmen
Moment im Leben abzuhaken. Es gibt ja vieles
im Leben, worunter wir leiden, was nicht im
geringsten mit Kriminalität zu tun hat.
TOA-Magazin: Mir wäre es wichtig, die Definiti-
on darüber, ob etwas schlimm ist oder nicht, den
Leuten selbst zu überlassen. Bei der Frage der in-
dividuellen Verantwortung kommen wir beide
vermutlich nicht überein: Es gibt die persönliche
Geschichte, die Struktur der Gesellschaft und die
Tat selbst, darin sind wir uns einig, aber ich fin-
de doch, ob man nun die Wahl hatte oder nicht,
man muss zu seinen Handlungen stehen und
die Konsequenzen tragen.
Geoffroy de Lagasnerie: Die Wahrheit dessen,
was geschehen ist, anzuerkennen, ist sehr
wichtig, und bedeutet doch gerade, die soziale
Totalität, den Moment und die Geschichte zu
sehen. Das ist aber nicht das Gleiche wie die
Idee der persönlichen Verantwortung, die ein
juristisches oder politisches Konstrukt ist, um
sagen zu können: Du hast die Tat gewählt, du
hättest sie auch unterlassen können.
TOA-Magazin: Auch wenn ich meine Handlun-
gen vielleicht nicht bewusst gewählt habe, so
bleiben es doch meine Handlungen. Niemand
hat sie an meiner Stelle ausgeführt. Vielleicht
hatte ich aus vielen verschiedenen Gründen
keine andere Wahl, aber es bin doch ich, die sie
vollbracht hat. Wie gehen wir damit um?
Geoffroy de Lagasnerie: Andersrum: Wie kön-
nen wir am Begriff der individuellen Verant-
wortung festhalten, ohne den Diskurs zu be-
dienen, der die Strafe rechtfertigt? Es erscheint
mir schwierig, eine Kritik der Strafjustiz zu
systematisch aus dem Schulsystem aussortiert
werden. Sie scheitern an allen Prüfungen etc.
Wenn man also nachweist, dass es eine sys-
tematische schulische Auslese der Söhne der
Arbeiterklasse gibt, wird man ja nicht sagen,
dass sie letztlich trotzdem verantwortlich da-
für sind, dass sie in der Schule versagt und sich
nicht genug angestrengt haben! Die soziologi-
sche Logik legt daher nahe, die Idee der indivi-
duellen Verantwortung aufzugeben.
TOA-Magazin: Aber was bringt den Urheber ei-
ner Tat in den Dialog mit der von ihm geschä-
digten Person? An wen kann sie sich wenden?
An die Gesellschaft? Sie hat ja schließlich trotz-
dem ihre Fragen, das Bedürfnis nach Auskunft
oder Selbstmitteilung.
Geoffroy de Lagasnerie: Ja, das verstehe ich
sehr gut. Ich stelle nur Fragen an Restorative
Justice. Eine weitere betrifft den Umgang mit
Traumatisierung und Opferstatus. Ich verste-
he das politische Projekt, Leiden und Trauma
ins Zentrum zu stellen, aber ich denke, man
kann auch ein anderes politisches Projekt er-
denken, und zwar die Entdramatisierung der
Kriminalität, dass man also Traumatisierung
nicht kultiviert und die Leute sich nicht über
die Maße auf die Frage des Traumas konzent-
rieren. Es gibt sehr schwere Verbrechen, ohne
Zweifel. Aber wir sollten nicht die justizielle
Konstruktion der Kriminalität als etwas stets
Schreckliches übernehmen. Ich betone in mei-
nem Buch immer wieder, dass der Staat über-
dramatisiert. Er verwandelt einen Handta-
schendiebstahl in einen Angriff auf die ganze
Gesellschaft. Die Restorative Justice sollte sich
nicht an diesem Manöver beteiligen. Die Ent-
dramatisierung ist auch eine geeignete Art,
Der Gerichtssaal, Ort der Enteignung und der Gewalt?
7
TOA-Magazin · 03/18
Dazu fällt mir auch die Vorgehensweise der
Luftfahrtsbehörde ein, wenn Linienpiloten
Fehler machen. Sie erhalten Strafimmunität,
wenn sie sich dazu verpflichten, die Wahrheit
zu sagen. Die Behörde weiß, das die Leute nicht
die Wahrheit sagen werden, wenn sie eine
Strafe fürchten, sondern versuchen werden,
dieser mit Lügen zu entgehen. Aber um Fehler
in Flugzeugen und in der Pilotenausbildung
korrigieren zu können, müssen sie erfahren,
was wirklich passiert ist. Das zeigt doch, um
zu korrigieren und zu verändern, ist es besser,
nicht zu strafen. Also: Betroffene, Pluralismus,
Wahrheit.
TOA-Magazin: Und in Bezug auf die Konsequen-
zen?
Geoffroy de Lagasnerie: Flip the script. Aus der
Logik aussteigen. Wir müssen auf Gewalt und
Trauma mit Frieden, Gewaltfreiheit und Ent-
dramatisierung reagieren.
TOA-Magazin: Am Ende des vierten Kapitels
rufst Du zu einer solchen „anderen Justiz“ auf
und sagst: „So etwas haben wir noch nie erlebt.“
Aber es gibt Restorative Justice!
Geoffroy de Lagasnerie: Das stimmt. Aber wir
haben die Prinzipien einer Restorative Justice
noch nie den Platz der Strafjustiz voll einneh-
men gesehen. Sie existiert bislang nur an der
Seite, als Zusatz oder als Experimentierfeld.
TOA-Magazin: Ich danke Dir für die Diskussion.
konzipieren, solange wir an der Idee der indi-
viduellen Verantwortung festhalten, denn die
Strafjustiz gründet ja auf der Annahme, dass
die Strafe abschreckende Wirkung hat, indem
sie durch die Antizipation der Sanktion die
Handlung verhindert.
TOA-Magazin: Wie kommen wir hier weiter?
Welche nicht verhandelbaren Bedingungen
würdest Du für ein „Recht, das Gerechtigkeit wi-
derfahren lässt“, wie Du es gegen Ende des Bu-
ches forderst, aufstellen?
Geoffroy de Lagasnerie: Als erstes: die Betrof-
fenen ins Zentrum. Damit würde der Staat
den Menschen dienen, anstatt sich ihrer zu
bedienen, um seine eigenen Interessen zu
verfolgen, wie es heute mit uns geschieht. Wir
werden instrumentalisiert und müssen daher
den Staat wieder auf seinen Platz verweisen,
als ein Instrument, das uns nutzt. Zweitens:
„Pluralität“. Das heißt, dass niemand im Vo-
raus definieren kann, was Gerechtigkeit für
jemanden bedeutet. Es gibt keine Evidenz
dessen, was es heißt, ein Opfer zu sein. Und
der dritte Punkt ist die Wahrheit. Ich bin über-
zeugt davon, dass die erste Reaktion auf eine
Leidzufügung Wahrheit sein muss, sprich,
dass die Person, die die verletzende Handlung
begangen hat, sagt, was sie getan hat und wa-
rum etc. Es gibt da einen Widerspruch, über
den nie gesprochen wird. In sozialen Bewe-
gungen wird ja oft „Gerechtigkeit und Wahr-
heit“ gefordert, und dabei wird aber verges-
sen, dass die Justiz der Wahrheit im Weg steht.
Sie zwingt die Menschen geradezu, nicht die
Wahrheit zu sagen, da jedes Wort ihre Strafe
erhöhen könnte. Sie lügen also die ganze Zeit,
und für die Betroffenen ist das der Horror. Aus
meinen Beobachtungen kann ich sagen, dass
das, was ihnen am meisten Frieden schenkt,
die Anerkennung als Opfer ist. Die Wahrheit
wirkt wesentlich heilender als die Strafe. D. h.
wir brauchen Praktiken, um die Wahrheit
aussprechen zu können – und dann finden
wir auch die stärkeren Lösungen als die, die
die Repression zu bieten hat. Die Verletzung
durch Wahrheit anstatt durch Strafe zu heilen,
halte ich für eine wunderschöne Utopie. Und
die Wahrheit ist komplex, sie ist sozial, poli-
tisch, aber auch lokal. Sie ist weiträumig. Es
gibt da eine schöne Formel von Bourdieu: Die
Wahrheit einer Interaktion liegt nie in der In-
teraktion selbst, sondern in der sozialen Welt,
die die Interaktionen strukturiert.
Interview und Übersetzung
aus dem Französischen:
Theresa M. Bullmann
Ab dem christlichen Mittelalter und der Neuzeit steht Justitia in Kunst
und Literatur für die strafende Gerechtigkeit oder das Rechtswesen
8TOA-Magazin · 03/18
‚Verurteilen‘ aus juristischer Sicht
Eine heilsame Irritation
für Strafrechtler
Von Karl-Ludwig Kunz
1. Inhalt
Die Kritik des Buchs am strafenden Staat ist
radikal und eindrücklich. Das Strafrecht wird
als Dispositiv und Machtpraxis verstanden,
welche sich auf allgemeinere Weise der Wirk-
lichkeit bemächtigt, unseren Blick ausrichtet
und unser Verhältnis zum gesellschaftlichen
Geschehen prägt. Strafrecht verfestige da-
nach ein individualisierendes Verständnis von
Geschehen, demzufolge wir Ursachen einem
Individuum zuschreiben und mit dessen Be-
strafung die Angelegenheit als erledigt be-
trachten.
Strafrecht eröffne einen Weg für die Reflexion
auf die politische Ordnung. Im Strafen enthül-
le sich die Essenz des Staates, indem er in sich
selbst konzentriert eine repressive Gewalt aus-
übe, die von einem multiplizierenden Diskurs
der Rechtswissenschaft und der Politischen
Philosophie verstärkt und fiktiv als rational
und legitim ausgegeben werde. Die Gewalt
des strafenden Staates werde hinter dem ab-
lenkenden Kunstprodukt eines Vokabulars aus
Beratung, Dialog, Urteilen versteckt. Mystifizie-
rende Fiktionen einer höheren, transzendenten
und irreduziblen Instanz dienten dazu, uns als
Staatsbürger aufzufassen, die diese versteckte
Gewaltausübung als notwendig und gerecht
verstehen. Noch das verräterische Vokabular
von Re-aktionen auf vorangehende Straftaten
durch die re-pressiven Instanzen lasse die of-
fizielle Gewalt als Gegengewalt nachgeordnet
und zugleich notwendig erscheinen. Das logi-
sche Dispositiv der Gerichtsverhandlung ma-
che dessen Rahmenbedingungen nicht mehr
sichtbar. Solche Mechanismen der ideologi-
schen Umdeutung erlaubten der Justiz, ohne
rationale Erklärung der Strafe auszukommen
und gleichsam im Leerlauf zu funktionieren,
ohne soziale Kontexte von Tat und Täter wirk-
lich zu berücksichtigen. Die Bestimmung der
Äquivalenz von Verletzung und Bestrafung,
von Art und Ausmaß der Strafe geschehe weit-
gehend selbstbezüglich durch Orientierung an
Gesetz und früheren Urteilen, wobei auf kon-
krete Umstände der Tat, ihrer Schwere, ihrer
Schäden und der Lebensumstände des Täters
nur in obligatorischen Floskeln eingegangen
werde. Die Strafjustiz ziehe unseren Blick zu
den Individuen hin, so de Lagasnerie, abstra-
hiere von historischen und sozialen Bezügen
und betreibe Entpolitisierung. Das Unbeha-
gen, das auch manche Juristen am Strafrecht
haben, wird hier eindrücklich in Worte gefasst.
Eine Dekonstruktion dessen, so de Lagasnerie
weiter, verlange eine Analyse der vom Straf-
recht vorausgesetzten und unterstützten
Funktion individueller Verantwortung. Die
Aufgabe des Strafapparats impliziere, uns
nicht so sehr an das Gesetz als an uns selbst zu
binden, so dass wir als „Urheber“ unseres Tuns
betrachtet und somit der Bestrafung unter-
worfen werden können. Das Individuum werde
als willentlicher Urheber seiner Handlungen
vorausgesetzt, so dass es als verantwortlich
bestraft werden könne und die Strafe zur Ab-
schreckung geeignet werde. Kennzeichnend
für die Gesetzestechnik sei die Bestimmung
mangelnder Verantwortlichkeit, bei deren
Fehlen man positiv von persönlicher Verant-
9
TOA-Magazin · 03/18
2. Auseinandersetzung
Mit großer Geste und lebhafter Sprachgewalt
wird im Stil eines Essays rhetorisch beeindru-
ckend ein Kosmos von strafrechtlichen, so-
ziologischen, politisch-philosophischen und
erkenntnistheoretischen Gedanken entfaltet.
Die Vielzahl der nicht immer zwingend zusam-
menhängenden Überlegungen schließt es aus,
sich mit allen auseinanderzusetzen. Immerhin
sei erwähnt, dass ich bei den positiven Beurtei-
lungen des Regelungsmodells des Zivilrechts,
mehr noch bei Darstellung der neoliberalen
und libertären Tradition und erst recht bei der
Wiedergabe von Gary Beckers ökonomischem
Ansatz deutliche Fragezeichen setze. Obwohl
die Entgegensetzung einer internen affirmati-
ven und einer nach anderen Welten suchenden
kritischen Erkenntnishaltung aufschlussreich
ist, scheint mir die zum Schluss vorgebrachte
allgemeine Kritik an Soziologie, Ethnographie,
Anthropologie, einerlei ob sie qualitative oder
quantitative Methoden verwenden, undiffe-
renziert und teilweise unberechtigt.
Die Kritik am Strafrecht und dem von diesem
reproduzierten Wirklichkeitsverständnis ist
nicht neu, aber originell. Viele der Argumente
sind bekannt und durch andere Autoren, von
denen einige stellvertretend erwähnt wer-
den, belegt. Man mag daran zweifeln, ob die
individualisierend zuschreibende Strafgewalt
stets illegitim ist, ob eine individualisierende
Zuschreibung auch bei Verbänden und juris-
tischen Personen möglich ist, ob bei fehlender
Zurechenbarkeit nicht nach Rechtfertigung
und Entschuldigung differenziert werden
müsste … Jedenfalls ist die Arbeit eine eloquen-
te Streitschrift, die erfrischend einen faszinie-
renden Pauschalangriff auf den strafenden
Staat unternimmt. Strafrechtskritiker werden
sich dadurch kompetent bestätigt, Strafrecht-
ler wenigstens heilsam irritiert sehen.
So einsichtig die Kritik ist, so undeutlicher
bleibt die vorgeschlagene Alternative zu ei-
ner Justiz, die sich von der Logik der straf-
rechtlichen Vergeltung befreit. Die vorsichtige
Formulierung, es sei möglich, von der Fiktion
oder sogar dem Streben nach einer alterna-
tiven Justiz auszugehen (S. 237), zeigt nur die
Wegrichtung, ohne Wegpunkte zu setzen.
Durch wen und wie eine strafersetzende Re-
aktion ohne Vorwurf erfolgen soll, bleibt un-
wortung ausgehe. Der Apparat des Strafrechts
bringe eine keineswegs selbstverständliche in-
dividualisierende Erzählung zur Geltung, der
zufolge die Ursachen des Geschehens in einer
Handlung eines Individuums zu suchen seien.
Die Strafjustiz singularisiere die Gründe eines
Ereignisses, statt sie zu verallgemeinern, zu
politisieren. Ihre wesentliche Funktion beste-
he darin, sich durch individuelle Verantwor-
tungszuschreibung einer kollektiven Verant-
wortlichkeit zu entledigen. Dabei werde sie
von den forensischen Psycho-Wissenschaften
unterstützt. Der „Psy-Diskurs“ bestätige die
strafrechtliche Konstruktion der Welt, die die
handelnden Individuen isoliere und sie ent-
sozialisiert mit Geschehen verbinde. Zudem
reproduziere der Strafrechtsstaat den Zyklus
der Gewalt und erzeuge durch die Vorstellung
einer Gesellschaftsschädigung ein weiteres
imaginäres Opfer neben dem Opfer.
Kennzeichnend für das Strafrecht sei die Vor-
stellung, die Straftat verletze nicht nur Ein-
zelinteressen, sondern schädige vor allem
die Gesellschaft. Dementsprechend bilde der
Staatsanwalt als deren Vertreter die zentrale
prozessuale Figur. Dadurch füge das Strafrecht
dem individuellen Opfer den Staat als weiteres
Opfer hinzu, indem es betone, dass jedes Ver-
brechen als eine Schädigung der Gesellschaft
zu verstehen sei. Damit werde dramatisierend
ein Trauma suggeriert, das nach Schmerzzu-
fügung als Reaktion auf die Straftat verlange
und den Zyklus der Gewalt reproduziere.
Hingegen sei eine andere Praxis der Macht
denkbar, in der die Justiz einzig als Schieds-
richter Privatkonflikte bewerte und Logiken
der Vergebung, des Einvernehmens, der Wie-
dergutmachung folge. Diese Logiken finde
man ansatzweise in der Idee der kollektiven
Verantwortung sozialer Risiken, im Sozialstaat
und im an Schadenswiedergutmachung orien-
tierten Zivilrecht. Auch in der neoliberalen und
libertären Tradition seien Straftaten private,
singuläre Angelegenheiten zwischen spezifi-
schen Akteuren, die rein ökonomisch zu be-
werten seien und „bevorzugt“ nach Schadens-
ersatz verlangten.
10 TOA-Magazin · 03/18
Fehlern und Unrecht ist eine andere als dieje-
nige rechtmäßigen Verhaltens. Schadensersatz
als Reaktion auf individuell zurechenbares Un-
recht benötigt eine andere Rechtfertigung als
eine Steuerschuld für alle.
Trotz dieser Vorbehalte verlangt die vom Autor
gezeichnete Perspektive große Aufmerksam-
keit. Das herkömmliche Strafjustizsystem hat
zu viele Fehler und Unzulänglichkeiten. Vor al-
lem wird, worauf der Autor gar nicht eingeht,
der von ihm vorgeschlagene Weg durch ver-
schiedene Praktiken der Restorative Justice mit
Erfolg begangen. Um diese zarten Pflänzchen
nicht von der Strafjustiz überschattet und ver-
drängt zu sehen, verdienen jene Praktiken kom-
pensatorisch Begleitung und Unterstützung.
Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung des
Mediationsverfahrens täte Not. Dringend er-
wünscht ist ein dem Strafverfahren obligato-
risch vorgeschaltetes Restitutionsverfahren, so
dass das Strafverfahren nur zum Zuge kommt,
wenn der Mediationsversuch scheitert. Um
die Möglichkeiten der Verfahrensbeendigung
ohne Strafe vorrangig ins Bewusstsein zu he-
ben, sollten deren materielle Voraussetzungen
im Strafgesetz bei den Rechtsfolgen der Tat
zuerst und vor den Strafen erwähnt werden.
Klärungsbedarf besteht, wann Entschädi-
gungszahlungen ausreichen, um die Wogen
der Empörung gegen Rechtsbrüche zu glätten.
Verweise auf erfolgte Wiedergutmachungs-
zahlungen bei Völkermord und die erfolgreiche
Aufarbeitung von Verbrechen der Apartheid
durch die Wahrheits- und Versöhnungskom-
mission (Truth and Reconciliation Commission)
Südafrikas könnten helfen, die Mediation auch
bei schwerwiegenderen Gewaltdelikten vorzu-
sehen.
Das besprochene Buch befasst sich nicht mit
Techniken der bürokratischen Durchsetzung
seiner Anliegen, sondern appelliert im Kern an
die Allgemeinheit: Keine unhinterfragte Ak-
zeptanz staatlicher Obrigkeit, mehr Bürgerver-
antwortung, Zuwendung und Solidarität, in
Zusammenhängen und Alternativen denken,
Strafen in jeder Form ächten, auf Vergeltung
verzichten. Dieser Appell wird in eine Ausei-
nandersetzung mit dem strafenden Staat ge-
kleidet, richtet sich aber in Wahrheit zunächst
gegen die Bereitschaft in uns, vorzuwerfen, zu
tadeln und zu vergelten.
klar. Inwieweit dabei die individualisierende
Perspektive des Systems der Gerichtsbarkeit
aufrechterhalten oder preisgegeben würde,
wäre zu klären: Auch eine restitutiv orientierte
Entscheidungsinstanz richtet sich an indivi-
duelle Angeklagte und rekonstruiert das Tat-
verhalten als Schädigung eines individuellen
Opfers. Fraglich erscheint, ob die Alternative
zum geltenden Bestrafungssystem ganz ohne
den Ausdruck symbolischer Missbilligung
der Tat durch die Gesellschaft auskommt. Zu-
mindest bei Gewalttaten mit geringer Entde-
ckungswahrscheinlichkeit dürfte das Interes-
se an Prävention künftiger Taten nicht allein
durch den Schadensersatz befriedigt werden.
Reaktionen auf Straftaten allein am inter-
personalen Schadensausgleich auszurichten,
ignoriert sozialschädliche Delikte ohne indivi-
duelles Opfer wie die Planung terroristischer
Anschläge, die illegale Abfallentsorgung oder
die Geldfälschung. Die soziale Bewertung von
Prof. Dr. em.
Karl-Ludwig Kunz
ist emeritierter Professor
für Strafrecht und Krimi-
nologie an der Universi-
tät Bern.
Seine private Homepage:
http://kaluku.blogspot.ch/
Maat: altägyptische Königin von Gerechtigkeit und
Wahrheit, die Straußenfeder auf dem Kopf symbolisiert
die Wahrheit. Vor dem Gericht der Götter wird das Herz
der Verstorbenen gegen die Feder der Maat gewogen.
11
TOA-Magazin · 03/18
Das Buch Juger von Geoffroy de Lagasnerie, das nun
auch auf Deutsch vorliegt, gilt als aufregend, das
kritische Denken über den Staat, das Recht und das
staatliche Strafen inspirierend.
Zum Problem des
staatlichen Gewaltmonopols
Von Christa Pelikan und Katrin Kremmel
Wir wollen uns hier einem Aspekt dieser kriti-
schen Auseinandersetzung widmen, den wir
für wichtig und zudem für meist wenig beach-
tet halten. Es handelt sich um das Thema ‚Ge-
waltmonopol‘. Es spielt eine wichtige Rolle in
de Lagasneries Überlegungen. Der Autor weist
vor allem auf die Gewalttätigkeit des Staates
hin und benutzt – in der deutschen Überset-
zung – dafür deutliche Worte: Kidnapping,
Diebstahl, Mord. Er weist darauf hin, dass der
Staat, in Bezugnahme auf sein Gewaltmono-
pol für sich in Anspruch nimmt, solche Gewalt-
handlungen legitim, gerechtfertigt zu setzen
– in Abwehr entsprechender Übergriffe seiner
BürgerInnen auf das Eigentum und auf die
physische Integrität von MitbürgerInnen.
Die Bezeichnung ‚Gewaltmonopol‘ ist im Deut-
schen geläufig. Es lässt sich nicht leicht und
nur unbefriedigend übersetzen: mit ‚monopo-
ly on violence‘, im Englischen, oder ‚the legiti-
mate use of physical force‘. Einer der Gründe
dafür ist die Vielschichtigkeit des deutschen
Worts ‚Gewalt‘. Die Wurzel ‚walten‘ benennt
sowohl die Ausübung von Aktivitäten der ‚Ver-
waltung‘, meint obwalten, aber auch über-
wältigen. Und schließlich ist mit der Gewalt
auch die Verletzung angesprochen, sowohl die
physische als auch psychische. Hier greifen die
romanischen Sprachen – ebenso wie das Engli-
sche – auf das lateinische ‚violare‘ zurück. Das
hat jedoch eine andere Qualität, es indiziert ei-
nen Eingriff in die physische und/oder psychi-
sche Integrität eines anderen. Der Franzose de
Lagasnerie rekurriert auf eben diese Zufügung
von Verletzungen an StaatsbürgerInnen, den
‚Gewaltunterworfenen‘. Dieses Gewaltmono-
pol ist ein Bestimmungsstück des staatlichen
Rechts; rechtliche/gerichtliche Entscheidungen
können mit Hilfe des staatlichen Gewaltmono-
pols durchgesetzt werden. Im Strafrecht sind
die Inhalte der Entscheidungen selbst gewalt-
förmig, verletzend: Festsetzen, Freiheitsentzug,
Zwangsbehandlung, aber es geht auch um die
Durchsetzung der Zahlung von Geldbußen. Im
Zivilrecht ist es die für die Exekution gebrauch-
te Zwangsgewalt – also wiederum das Gewalt-
monopol –, die den gerichtlichen Entscheidun-
gen Nachdruck verleiht. Das ist grundsätzlich
anders als bei ‚privaten‘ Vereinbarungen; ihre
Einhaltung ist vom ‚good will‘ der Beteiligten
abhängig. Es gibt ebenfalls private Eintrei-
bungsagenturen, eine Gewaltanwendung
durch sie ist eindeutig illegitim und kann – ‚im
Prinzip‘ – gerichtlich verfolgt werden.
In dem Augenblick, in dem wir dieser staatli-
chen Gewaltanwendung, und ihren Erzwin-
gungsmitteln, der Festsetzung/Arretierung
selbst, Gefängnisstrafe, der Bußgeldzahlun-
gen, aber auch der Wiedergutmachungszah-
lungen, die seitens des Staates durchgesetzt
werden, die Legitimität absprechen, fallen sie
zusammen mit den Kategorien illegaler Ge-
waltanwendung, sie erscheinen als ‚Raub‘, als
‚Kidnapping, als ‚Tötung/Mord‘. Und dieses
Gedankenexperiment unternimmt de Lagas-
nerie. An diesem Punkt sprechen dann auch
wohlwollende bis begeisterte Rezensionen von
‚Übertreibungen‘ – obgleich es doch nur die
12 TOA-Magazin · 03/18
können wir feststellen: Die Machtvermehrung
und -festigung, die die Zentralmacht durch
die Anmaßung des Gewaltmonopols für sich
erfahren hat, sollte also durchaus auch Schutz
bieten vor der Willkür der Ausübung der Ge-
richtsbarkeit durch die Lokalgewalten. Die Pro-
zessregeln mit klaren Rollenzuweisungen und
einem strengen Zeitregime sollten – idealiter:
auf dem Papier – diesen Schutz vor Willkür,
die Sicherung des Angeklagten vor dem ‚unge-
rechtfertigten‘ Zugriff der Justiz sicherstellen.
De Lagasnerie führt nun aus – und das ist ja
keineswegs neu und überraschend – wie im
Gerichtsprozess mit seinen Kautelen, die ein
‚ordnungsgemäßes Verfahren‘ gewährleisten
sollen, über weite Strecken hinweg das Ge-
genteil passiert; wie die ‚Schwächeren‘, die so-
zial Benachteiligten und Marginalisierten ein
weiteres Mal unter die Räder kommen. Nicht
Schutz wird ihnen zuteil, nicht die Berücksich-
tigung ihrer Lebensumstände, die ihnen kei-
nen Ausweg offenlassen; vielmehr werden die-
se Lebensumstände nochmals gegen sie selbst
gerichtet, machen sie zu Personen, die sich für
den Weg des Gesetzesbruchs, des ‚Verbrechens‘
entschieden hätten‚ und so Schuld auf sich
geladen hätten und daher ‚verurteilt‘ und be-
straft werden müssten. Der Mechanismus, das
Dispositiv, mit dessen Hilfe das bewerkstelligt
wird, ist die ‚Individualisierung‘, das Konstrukt
der individuellen Schuld. Das ist das andere
große Thema des Buches, und es nimmt recht
breiten Raum ein. Wir wollen es hier jedoch
nicht weiterverfolgen.
Wir gehen vielmehr nochmals zurück zum
Gewaltmonopol des Staates, seinem Verhält-
nis zum Recht, zum Strafrecht und zum Stra-
fen im engeren Sinn. Recht insgesamt beruht
auf der staatlichen Durchsetzungsgewalt; es
greift zur faktischen Durchsetzung der in den
Foren des Rechts – den Gerichten – gefällten
Entscheidungen immer auf Zwangshandlun-
gen zurück: Falls gerichtlich vereinbarte Zah-
lungen nicht erbracht werden, greift das Exe-
kutionsverfahren; falls schuldhaftes Verhalten
gerichtlich festgestellt wird, kommen Bußgeld,
Freiheitsentzug, Zwangsbehandlung zum
Zug. Wenn man diesen Wirkweisen des staat-
lichen Gewaltmonopols also ins Auge blickt
und sie in ihren Konsequenzen durchdenkt,
dann muss man weiter fragen, worauf man
verzichten könnte und sollte und welche Pro-
zeduren einer Konfliktbearbeitung zu etablie-
folgerichtige Weiterführung des ersten Kritik-
schrittes, des In-Frage-Stellens der Legitimität
eines Gewaltmonopols ist. Hinter diesen ers-
ten Schritt zurückgehend, müsste man sich
vielmehr fragen: Wie kommt diese Legitimi-
tät zustande? Oder anders herum: Was ist so
verwerflich daran, ein solches Gewaltmonopol
zu installieren? Das ist eine herrschaftstheore-
tische Frage und eine rechtshistorische Frage.
Warum? Wann? Unter welchen Umständen?
Es ist weitgehend unbestritten, dass die Ent-
stehung des Gewaltmonopols mit der Heraus-
bildung des zentralistischen, des absolutisti-
schen und des Anstaltsstaats zu tun hat; mit
der Zurückdrängung der Mediat- oder Partial-
gewalten, also der nachgeordneten ‚Herrschaf-
ten‘ eines adeligen Oberherrn, eines Freiherrn,
Baron oder Grafen. Ihnen oblag die Recht-
sprechung in Kriminalsachen in ihrem Herr-
schaftsbereich. Diese wurde beseitigt, eben-
so der ihnen zustehende Vollzug der an den
patrimonialfürstlichen Gerichten gefällten
Urteile in deren eigenen Gefängnissen oder
Schuldtürmen. (Die sogenannte Blutgerichts-
barkeit hatte der Zentralherr, der Souverän, ja
schon viel früher an sich gezogen.) Überhaupt
sollte es keine besonderen Bereiche geben, die
vom Zugriff dieses staatlichen Rechts ausge-
nommen waren. Zuletzt ist die Beseitigung
eines solchen Sonderbereichs der Jurisdikti-
on und der Ausübung der Züchtigungs- und
Strafgewalt für den Bereich der Familie, der
Partnerbeziehungen und der Eltern-Kind-Be-
ziehungen geschehen. Die doch recht lange
Zeitdauer bis zur Durchsetzung eines elterli-
chen Züchtigungsverbots und die damit ein-
hergehenden Diskussionen beleuchten jenen
Aspekt des staatlichen Gewaltmonopols und
der Einschränkung privater Gewaltverhältnis-
se, bei dem die Gewährung des Schutzes von
Schwächeren augenfällig ist. Der Zugriff des
Staates, und das heißt die Durchsetzung des
staatlichen Gewaltmonopols, wurden hier ve-
hement eingefordert – von den AdvokatInnen
dieser Schwächeren, letztlich aber als Ergebnis
einer politischen Mobilisierung der der Son-
dergewalt Unterworfenen.
Dass de Lagasnerie das Gewaltmonopol als
das benennt, was es ist, halten wir für eine
wichtige Leistung: Es ist Mahnung und Erin-
nerung daran, dass das Recht letztlich auf Ge-
walt zurückgreift, um seinen Entscheidungen
zum Durchbruch zu verhelfen. Resümierend
Dr. Christa Pelikan
geboren 1942. Studium
der Sozialgeschichte an
der Universität Wien.
Seit seiner Gründung
1973 wissenschaftliche
Mitarbeiterin am IRKS.
Vorsitzende des Exper-
tenkomitees „Mediation
in Strafrechtsangelegen-
heiten“ beim Europarat.
1999-2003 Mitglied des
Criminological Scientific
Council beim Europarat.
13
TOA-Magazin · 03/18
den entsprechenden Beitrag „Out-of-Court but
close to Justice“ vorgeschlagen. In Frankreich
finden wir zumeist gerichtsnahe Programme
einer kriminalrechtlichen Mediation – neben
jenen Aktivitäten, die in den ‚Maisons de Ju-
stice‘ oder ähnlich gemeindebasierten Pro-
gramme geschehen.
Die pragmatischen Lösungen, wie sie sich in
den meisten europäischen Ländern finden,
nehmen also auf das staatliche Gewaltmono-
pol Bezug – gerade wenn es um die Zurück-
drängung des staatlichen Strafens geht. Damit
jedoch nicht genug: Wo die Etablierung von RJ
angestrebt wird, stoßen wir immer wieder auf
die Forderung nach der expliziten Statuierung
der Möglichkeit, auf die staatliche Durchset-
zungsgewalt zurückzugreifen. In den Diskussi-
onen nimmt manchmal diese Frage eine ganz
zentrale Stellung ein und erscheint wichtiger
als die nach der Gestaltung der RJ-Verfahren
und der Stellung und den Möglichkeiten einer
aktiven Partizipation der Konfliktbeteiligten.
Faktisch wird hier der Raum für eine alterna-
tive Form der Konfliktbearbeitung, auf dem
lebensweltlichen Verständnis der Beteiligten
beruhend, von ihnen selbst getragen und auf
Wiedergutmachung anstelle auf das Strafen
gerichtet, auf einen kurzen Zeitraum inner-
halb des gesamten Verfahrens und auf einen
eng umrissenen Gegenstand eingeschränkt.
So verstanden gerät Restorative Justice zum
bloßen Anhängsel, zu einem Zierrat des kon-
ventionellen Strafverfahrens. (Siehe dazu die
entsprechenden Kapitel im UN-Handbook on
Restorative Justice programmes).
ren wären, die ohne oder mit einem Minimum
an staatlicher Zwangs- und Gewaltausübung
auskommen könnten.
Wir möchten daher an dieser Stelle die von
de Lagasnerie offen gelassene Frage nach den
Alternativen zum staatlichen Verurteilen im
Rahmen des Strafrechts, seiner individualisie-
renden Betrachtungsweise von Fehlverhalten
und Verbrechen und der darauf gesetzten
Reaktionsform der Strafe stellen. Wir wollen
von der Restorative Justice sprechen und da-
von, wie man sich hier den Problemen des
(Ver-)Urteilens, der selektiven Repression der
‚Straftäter‘ und der staatlichen Strafe stellt. Im
Rahmen dieser Bewegung gab es die Diskus-
sion um ‚maximalistische‘ auf der einen und
‚puristische‘ Programme und Praktiken auf der
anderen Seite. Dahinter stand die Frage: Wel-
ches ist die entscheidende, die unverzichtbare
Qualität solcher Verfahren? Gemäß einer pu-
ristischen Auffassung ist es die freiwillige, par-
tizipatorische Bearbeitung von Konflikten und
von Unrechtshandlungen. Nur dort, wo eine
solche partizipatorische Lösung angestrebt
wurde und zustande kam, sollte man ‚wirklich‘
von Restorative Justice sprechen. Dem gegen-
über ist auch eine maximalistische Sichtweise
auf Restorative Justice innerhalb eines Straf-
rechtssystems denkbar und praktizierbar. Hier
geht es vor allem um die möglichst weitgehen-
de Zurückdrängung staatlichen Strafens. Wo
es zu einer Entscheidung kommt, die solche
strafenden Elemente weitgehend ausschaltet,
konnte und sollte das staatliche Recht zu ihrer
Durchsetzung herangezogen werden. Mit an-
deren Worten: Das staatliche Gewaltmonopol
wurde in Dienst genommen, um ‚restorativen‘
anstelle von retributiven Reaktionsweisen
zum Durchbruch zu verhelfen. Die Kontrover-
se rührt an die Auseinandersetzung über den
Ort, an dem Restorative Justice angelagert
sein soll: innerhalb oder außerhalb des Straf-
rechtssystems. Im gesamten Spektrum der
entsprechenden Programme sind faktisch die
innerhalb des Systems angesiedelten RJ-Ver-
fahren in der Mehrzahl; Norwegen und Finn-
land sind Beispiele für außerhalb lokalisierte,
‚gemeindenahe‘, von Freiwilligen getragene
Programme, beide allerdings doch mit engen
Beziehungen zum Strafrechtssystem; und was
Österreich betrifft, so hatte Ivo Aertsen für den
Band Restorative Justice Realities als Titel für
Katrin Kremmel
ist PhD Studentin am
Institut für Kultur- und
Sozialanthropologie der
Universität Wien. Von
2012 bis 2016 hat sie für
das Projekt ALTERNATIVE
(Developing alterna-
tive understandings
of security and justice
through restorative
justice approaches in
intercultural settings
within democratic socie-
ties), finanziert durch das
7. Rahmenprogramm der
Europäischen Kommissi-
on, am Institut für Rechts
und Kriminalsoziologie
gearbeitet.
14 TOA-Magazin · 03/18
Es bleibt offen, was Braithwaite unter ‚ritual se-
riousness‘ versteht. Es klingt nicht nach staatli-
cher Durchsetzungsgewalt als einer Manifesta-
tion des staatlichen Gewaltmonopols. Eigentlich
weicht er der Frage nach der staatlichen Durch-
setzungsgewalt aus. Die Entkoppelung von Ver-
fahren, in denen über die Schande und Schänd-
lichkeit (wir erachten die Übersetzung des
englischen Konzepts ‚shame‘ mit Schande, ital.
‚vergogna‘ als treffender als die mit ‚Scham‘) von
Verbrechen verhandelt wird, von strafenden Re-
aktionen ist für Braithwaite entscheidend.
Im deutschsprachigen Bereich hat eine Kriti-
sche Rechtstheorie die Kontrolle des Einsatzes
des Rechts und der Durchführung der Verfah-
ren als zentrale Aufgabe definiert, mehr noch:
die Essenz des Rechtsstaates liegt in dieser
Kontrolle des im Recht wirksamen Gewaltmo-
nopols. Das bleibt auch die Aufgabe des Rechts
in Bezug auf den Einsatz der Restorative Ju-
stice. De Lagasneries entschiedener und dra-
matischer Hinweis auf die Wirksamkeit des
Gewaltmonopols sollte auch für die alternati-
ven RJ-Verfahren wirksam sein.
Ein letztes Beispiel für die Virulenz der Frage
nach dem Verhältnis von staatlichem Strafen
und dem Einsatz des staatlichen Gewaltmono-
pols ist die Debatte im ersten Heft von Restora-
tive Justice. An Internationales Journal. Es eröff-
net mit einem kurzen Artikel von Nils Christie,
der den Titel ‚Words on Words‘ trägt. Darin
plädiert er dafür, das Vokabular der Restorative
Justice zu überdenken und die Begriffe ‚justice‘,
‚restorative‘, ‚mediations‘ ebenso wie die aus
dem Strafrecht stammenden Begriffe ‚Täter‘
und ‚Opfer‘ aufzugeben. Sein Vorschlag geht
dahin, es bei ‚handling of conflicts‘ zu belassen,
und er nennt die norwegischen Konflikträte als
Beispiel für eine Konstruktion. Die Herausge-
ber des Journals hatten eine Reihe von Kolle-
gInnen eingeladen, darauf zu reagieren und ei-
nen Kommentar zu verfassen. In der Mehrzahl
sprachen sich die AutorInnen dafür aus, die
Konzepte beizubehalten und so die Anbindung
an das Strafrechtssystem aufrecht zu erhalten.
John Braithwaite wurde hier sehr deutlich. Er
sagte: „Indeed, for me the concepts crime and
justice are great inventions of human visi-
on.“ Und weiter: „Theoretically, what delivers
practical value to the crime concept is not that
it tracks us to punishment. On the contrary,
we might seek to uncouple crime and justice
from any necessary connection to punishment.
The concept has most use when crime is con-
stituted as distinctively serious and shameful
wrongdoing. We need a strategy that retains ri-
tual seriousness for the crime concept: one that
regularly renews the shamefulness of crime
through ceremonies that are not stigmatising,
and that advances the struggle to uncouple cri-
me and justice from hard treatment.“
„Ensemble pour la Paix et la Justice,“ Bronzestatue von Xavier de la Fraissinette im Park Tete d'or, in Lyon
Bibliographie:
Braithwaite, John.
(2013) Western Words. In: Restorative Justice. An International Journal
1[1], S. 18-20.
Christie, Nils.
(2013) Words on Words. In: Restorative Justice. An International Journal, 1,
14-17.
Pelikan, Christa
. (1999) Gewalt-Verhältnisse. Über private Gewalt und staatliche Gegenge-
walt. In: Fehervary, J./Stangl, W. (Hrsg.). Gewalt und Frieden. Verständigungen über die
Sicherheitsexekutive. Wien: Universitätsverlag, S. 47-72.
Pelikan, Christa/Sousa Pereira, Sónia
. (2005) Structuring the Landscape of Restorative
Justice Theory. Scientific Report. University of Maastricht.
UN Handbook on Restorative Justice programmes.
(2006), New York: United Nations.
Vanfraechem, Inge, Aertsen, Ivo., Willemsens, Jolien. (Hrsg.)
. (2010) Restorative Justice
Realities, The Hague: Eleven International Publishing.
15
TOA-Magazin · 03/18
Kriminalität neu denken
Von Gerry Johnstone
Zu Beginn seines Grundlagenwerkes Punish-
ment and Modern Society argumentiert David
Garland, dass die modernen Strukturen der
Bestrafung „ein Gefühl der Unausweichlich-
keit“ hervorrufen (1990, S. 3). Sie entheben
uns „der Notwendigkeit, grundsätzlich über
Strafe nachzudenken“ (ebd.). Die Institution
der gerichtlichen Strafe schafft ihr eigenes
„Wahrheitsregime“, das autoritär darüber
bestimmt, was Kriminalität ist und wie sie zu
sanktionieren sei (ebd., S. 4). Andere Umgangs-
weisen werden damit weitgehend undenkbar
gemacht. Um also kritisch über Kriminalität
und Gerechtigkeit nachzudenken, müssen wir
unsere Vorstellungskraft befreien: Wir müssen
die Annahme aufgeben, dass der gegenwär-
tige institutionelle Rahmen, seine Kategori-
en und Handlungsformen selbstverständlich
sind.
In Verurteilen nimmt de Lagasnerie diese Her-
ausforderung an. Er will sowohl herausfinden,
wie der Strafrechtsapparat Macht über uns
ausübt, als auch „sich vorstellen, was nicht
existiert“ (S. 270): „eine andere Auffassung des
Strafrechts“ (S. 35). In diesem Kommentar will
ich mich auf die vielleicht schwierigste und
zentrale Aufgabe dieses Unterfangens konzen-
trieren: „Kriminalität“ neu zu denken.
Es gibt zahllose Debatten darüber, was als kri-
minell zu verstehen sein soll und was nicht;
warum manche Leute Straftaten begehen;
wie Verantwortung für kriminelle Handlun-
gen festgelegt werden soll; wie Kriminalität
reduziert werden kann; und wie mit Gesetzes-
brecherInnen umzugehen sei. Diese Diskussio-
nen kreisen jedoch um ein Konzept, das selbst
selten in Frage gestellt wird: das Konzept der
Kriminalität. Wie viele WissenschaftlerInnen
auch immer herkömmliche Überzeugungen
zum Thema Kriminalität hinterfragen, schreibt
Robert Reiner, das Konzept selbst wird meist als
unproblematisch angesehen.
„Vor einer Weile fragte mich ein Freund, wo-
ran ich arbeitete. Ich sagte ihm, dass es ein
Buch über das Konzept der Kriminalität sei. Er
antwortete: ‚Das muss das kürzeste Buch aller
Zeiten sein.‘ Kriminell sei, was gegen das Straf-
recht verstoße. Was gäbe es da hinzuzufügen?“
(Reiner, 2016: 12).
Der Aspekt des Kriminalitätskonzepts, auf den
sich de Lagasneries Kritik konzentriert, ist die
Vorstellung, dass eine Straftat mehr sein kön-
ne als die Verletzung eines je individuellen
Opfers: ein Angriff auf etwas Übergeordnetes,
und Abstrakteres, wie die ‚Gesellschaft‘ oder
die ‚Nation‘ (Kapitel IV/3). Wie wir sehen wer-
den, teilen viele FürsprecherInnen der Restora-
tive Justice, darunter besonders Howard Zehr
(2015) diesen Fokus, und ein Vergleich der bei-
den Abhandlungen stellt sich als interessant
heraus. Doch fangen wir mit der Konzeptuali-
sierung von Kriminalität als öffentliches Un-
recht an.
Nicht alles Fehlverhalten wird vom Gesetz als
kriminell behandelt. Tatsächlich sind die meis-
ten der ernsthaft schlimmen Dinge, die Men-
schen tun – wie Verlogenheit, Selbstsucht, Geiz,
Grausamkeit, Heuchelei oder Feigheit – für das
Gesetz nicht von Belang. Katz beschreibt dies
16 TOA-Magazin · 03/18
nen. Beide Versionen kommen zu dem Schluss,
dass daher die Community wie auch das ‚di-
rekte Opfer‘ Interesse an Entschädigung und/
oder Verurteilung der Tat haben. Die Kategorie
Straftat and der Apparat der Strafjustiz sind
also nötig, damit die Gemeinschaft ein Mittel
an der Hand hat, um Entschädigung und Sank-
tionierung von Unrechten, die nicht nur priva-
ten Interesses sind, durchzusetzen.
In dem für die Restorative-Justice-Bewegung
grundlegenden Text Changing Lenses (2015)
stellt Howard Zehr die Idee, dass Untaten eine
öffentliche Dimension haben und die Gesell-
schaft ein Interesse an Entschädigung und
Sanktionierung hat, nicht in Frage. Er weist je-
doch darauf hin, dass mittlerweile die Strafjus-
tiz unsere Wahrnehmung von Unrecht und sei-
ner Bewältigung diktiert und wir den privaten
als den Unterschied zwischen einer Übeltat
und einer Unrechtstat. Doch selbst wenn et-
was als unrechtmäßig angesehen wird, wird es
nicht notwendigerweise als kriminell angese-
hen. Denn das Recht unterscheidet weiter zwi-
schen Dingen, die ‚ziviles‘ Unrecht darstellen
und solchen, die strafrechtlich relevant sind.
Vereinfacht gesagt, wenn eine Tat nur als zi-
vil unrechtmäßig definiert ist, kann a) nur die
geschädigte Partei rechtliche Genugtuung ver-
langen, wofür sie b) einen Prozess anstrengen
muss und die typische Form der Genugtuung
c) in einer Entschädigungszahlung der beklag-
ten Partei an die klagende besteht (auch wenn
noch andere Rechtsinstrumente wie Verfügun-
gen möglich sind). Manche der Unrechtstaten
werden nun als Straftaten klassifiziert. In die-
sem Fall kann a) der Staat rechtliche Genug-
tuung ersuchen, was b) wiederum die direkt
verletzte Person gar nicht tun muss, damit ein
Strafverfahren eröffnet wird – es wird erwar-
tet, dass der Staat sich darum kümmert, und c)
besteht die typische Form der Genugtuung in
der Bestrafung des Täters.
Um dieser Unterscheidung in der rechtlichen
Behandlung von Fehlverhalten Sinn zu verlei-
hen, erklären JuristInnen und andere gerne,
dass sie notwendig sei, um private von öffent-
lichen Unrechten zu unterscheiden. Erstere
könne man zivil verhandeln, was für zweitere
jedoch unangemessen sei, da für eine öffent-
liche Unrechtstat nur die Bestrafung in Frage
kommt. Der Staat muss daher die Zuständig-
keit für die Strafverfolgung reklamieren und
darauf bestehen, alleinig zuständig zu sein.
Wie jedoch wird etwas zu einer ‚öffentlichen
Untat‘? Laut Grant Lamond (2007) gibt es zwei
Antworten auf diese Frage. Beide argumen-
tieren, dass sich manche Unrechtstaten nicht
nur gegen die direkt betroffene Person richten,
sondern auch das weitere Umfeld schädigen.
In der ersten Version dieser Begründung tun
sie dies, indem sie dort Angst verbreiten, oder
indem sie dazu führen, dass andere Mitglie-
der der Gemeinschaft ihr normales Verhalten
ändern, um sich vor unberechenbarem Verhal-
ten zu schützen. In der zweiten Variante geht
es um die Werte, mit denen sich die Gemein-
schaft identifiziert, welche durch die Taten
verletzt wurden, so dass diese auch als Angriff
auf die Gemeinschaft gewertet werden kön-
In der Spätantike versinnbildlicht Justitia die auf der althergebrachten, göttlichen
Ordnung bestehende, sowie die strafende, rächende Gerechtigkeit (Bild: Statue im Iran)
17
TOA-Magazin · 03/18
und verdrängt hat, wie etwa auf welche Art
das direkte Opfer geschädigt wurde und was
es für seine Genesung braucht. Zehr weist je-
doch wie erwähnt die Idee, dass es auch eine
öffentliche Dimension von Unrechtstaten gibt
und es gesellschaftlich relevant ist, wie damit
umgegangen wird, nicht zurück: „Straftaten
haben oft eine größere soziale Dimension. Sie
wirken sich rundherum aus und berühren vie-
le weitere Menschen. Die Gesellschaft spielt
also bei der Bewältigung eine Rolle und hat
auch ein eigenes Interesse“ (ebd.). Es geht ihm
eher darum, dass diese öffentliche Dimension
nicht der Ausgangspunkt unseres Nachden-
kens über den Umgang mit Unrecht sein soll.
Changing Lenses lässt sich als Versuch einer
neuen Ausbalancierung unseres Verständ-
nisses von Unrecht, und wie darauf reagiert
werden soll, lesen. Während die modernen
Strafrechtssysteme fast ausschließlich auf die
Wiedergutmachung und Sanktionierung des
öffentlichen Anteils fokussieren, weist Zehr auf
die Existenz und den Wert anderer Formen der
Unrechtsbewältigung hin, welche die Heilung
der geschädigten Beziehung zwischen Täte-
rIn und Opfer einer kriminellen Handlung ins
Zentrum rücken.
Anteil von Straftaten vernachlässigt haben.
Anstatt Verbrechen als „tragische Konfronta-
tion zweier Individuen“ und „menschliche Tra-
gödie mit realen Beteiligten“, wie er in Kapitel
eins schreibt (ebd., S. 23 f.), zu behandeln, mysti-
fiziert und mythologisiert unsere Gesellschaft
solche Vorfälle zu Zusammenstößen zwischen
zwei Abstraktionen: dem ‚Kriminellen‘ und der
‚Gesellschaft‘. Daher ist die zentrale Aussage in
Changing Lenses – und das zentrale Thema der
Restorative Justice – dass „Untaten vor allem
die Verletzung einer Person durch eine andere
Person“ sind (ebd., S. 185).
„Kriminelle Handlungen sind nicht vor allem
ein Angriff auf die Gesellschaft und noch viel
weniger auf den Staat, sondern Übergriffe auf
Menschen, und hier sollten wir ansetzen“ (ebd.).
Für Zehr steht fest, dass wir uns eine andere
Unrechtsbewältigung erst dann vorstellen
können, wenn wir uns von der Idee befreien,
dass als Straftaten gelabelte Untaten vor allem
oder zu allererst Angriffe auf die Gesellschaft
darstellen. Dann können wir beginnen, unsere
Bewältigung der Straftaten auf Punkte aus-
zurichten, die die Strafjustiz vernachlässigt
Übersetzung aus dem
Englischen:
Theresa M. Bullmann
Die selbstherrliche Justiz – der monströse Palais de la justice thront über Brüssel
18 TOA-Magazin · 03/18
stice-Bewegung geht es um die Errichtung
neuer Verfahren der Unrechtsbewältigung,
welche den realen Schaden, der eben kein my-
thischer Schaden an einer abstrakten Entität,
sondern eine echte Verletzung im Leben ech-
ter Menschen ist, wiedergutmachen sollen.
De Lagasnerie dagegen zeigt vergleichsweise
wenig Interesse an einem solchen reformeri-
schen Vorhaben. Tatsächlich sagt er an einer
Stelle, dass sein Ziel ist, eine Form der Justiz zu
denken, die weder strafrechtlich noch resto-
rativ oder zivil ist (S. 237). Sein Hauptanliegen
ist eher, in einer genauen Analyse dessen, wie
Kriminalität vom staatlichen Strafsystem kon-
struiert und behandelt wird, zu enthüllen, wie
tief wir, die Menschen in modernen Gesell-
schaften, in antidemokratischen Herrschafts-
strukturen gefangen sind und wie bestimmte
Erzählungen sich ineinanderfügen, um diese
Strukturen zu stützen, die so eine ideologische
Aufgabe erfüllen.
Weder Zehr (und die RJ-Bewegung im Allge-
meinen) noch de Lagasnerie befassen sich mit
der Frage, wie wir eine Alternative zur Auffas-
sung der Straftat als öffentliche Unrechtstat
entwickeln können, welche in der Lage ist, das
Gefühl, das viele von uns haben, anzuerken-
nen und zu berücksichtigen, dass doch viele,
wenn auch nicht alle Handlungen, die als kri-
minell gelabelt werden, mehr sind also nur
Privatübel, denen man mit Zivilverfahren bei-
kommt. Das Wichtige an de Lagasneries Buch
ist aber, dass es nicht nur auf diese Frage hin-
weist, sondern dass es aufzeigt, wie ernsthafte
Versuche, diese Frage zu beantworten, erstens
zu einem besseren Justizsystem führen könn-
ten und uns zweitens dazu anregen, uns eine
andere Gesellschaftsordnung vorzustellen.
De Lagasneries Kritik des Konzepts der Krimi-
nalität in Verurteilen ist wesentlich kompro-
missloser. Ihm geht es um die antisoziologi-
sche Dimension der Strafgerichtsbarkeit, in
der die Tatsache, dass kriminelle Handlungen
soziale Ursachen haben, verdrängt wird, um
ein relativ machtloses Individuum für schul-
dig zu befinden und zu bestrafen (siehe auch
Norrie, 2014). Dem stellt er gegenüber, wie die
Strafjustiz sich „fiktionaler“ sozialer Einheiten
wie Nation oder Gesellschaft bedient, um eine
Unrechtstat als etwas zu definieren, das viel
mehr ist als nur die Verletzung eines direkten
Opfers.
Indem das Strafrechtssystem kriminelle Hand-
lungen als etwas definiert, das die Gesellschaft
gefährdet, die Rechtsordnung schwächt und
den Staat in Frage stellt, überhöht es ihre Be-
deutung (S. 209 f.). Alle Taten werden politisch:
als Angriffe auf den sozialen Körper (S. 222). Die
Bewältigung kann also nicht den unmittelba-
ren Opfern allein überlassen werden, und sei-
ne Entschädigung ist keine adäquate Antwort.
Vielmehr muss der Staatssouverän öffentlich
seine Autorität wiederherstellen, und das tut
er mit Hilfe seiner strafenden Macht über das
Individuum, das mit der Verletzung einer an-
deren Person einen Akt der Rebellion began-
gen hat, der, wenn man ihn nicht unterdrückt,
die ganze Gesellschaft bedroht. (Ebd.)
Wie schon Zehr gefällt auch de Lagasnerie die
Idee, dass man kriminelle Handlungen weni-
ger als Störungen der öffentlichen Ordnung
und eher als Privatangelegenheiten begreift:
Verletzungen, die eine BürgerIn einer anderen
zugefügt hat und worauf Wiedergutmachung
die geeignete Antwort ist. Hier kommen wir
jedoch an einen wichtigen Punkt in der Inten-
tion der Kritik. Für Zehr und die Restorative-Ju-
Bibliographie:
De Lagasnerie, G. (2017) Verurteilen. Der strafende Staat
und die Soziologie. Aus dem Französischen von Jürgen
Schröder. Berlin: Suhrkamp Verlag.
Garland, D. (1990) Punishment and Modern Society. A Stu-
dy in Social Theory. Oxford: Clarendon Press.
Katz, L. (2002) ,Villainy and Felony: A Problem Concerning
Criminalization‘ Buffalo Criminal Law Review, 6(1), 451-482.
Lamond, G. (2007) ,What is a Crime?‘, Oxford Journal of
Legal Studies, 27(4), 609-632.
Norrie, A. (2014) Crime, Reason and History. A Critical Intro-
duction to Criminal Law, 3rd Edition. Cambridge: Cambrid-
ge University Press.
Reiner, R. (2016) Crime: The Mystery of the Common-Sense
Concept. Cambridge: Polity Press.
Zehr, H. (2015) Changing Lenses: Restorative Justice for Our
Times, 25th Anniversary Edition.
Harrisonburg, VA: Herald Press.
Gerry Johnstone
ist Juraprofessor an der
University of Hull in
Großbritannien. Er ist
Autor zahlreicher Pub-
likationen zum Thema
Restorative Justice, dar-
unter Restorative Justice.
Ideas, Values, Debates
(2. Aufl., Routledge, 2012).
Sein neuestes Buch, das
er zusammen mit Iain
Brennan verfasst hat,
trägt den Titel Building
Bridges. Prisoners, Crime
Victims and Restorative
Justice und soll Anfang
2019 bei Eleven Internati-
onal Publishing erschei-
nen.
19
TOA-Magazin · 03/18
Verurteilen aus einer restorativen Perspektive
und für die restorative Praxis
Restorative Justice
‚sozialisieren‘
Von Brunilda Pali
Einleitung
In Verurteilen. Der strafende Staat und die Sozio-
logie liefert Geoffroy de Lagasnerie eine beste-
chende soziologische Kritik der Strafjustiz. Dabei
handele es sich, so der Autor, um ein völlig legiti-
mes Unterfangen, schließlich sei der Staat (und
das Recht) kein ein für alle Mal bestehender, un-
veränderlicher Gegenstand, sondern eine durch
Entscheidungen, Erfindungen, Experimente und
Neuschaffungen der Verwandlung unterworfe-
ne Konstruktion (S. 34). Daher dürften wir die ge-
genwärtigen Formen und Funktionsweisen des
Justizsystems nicht als selbstverständlich und
nicht kritisierbar hinnehmen (S. 39), vielmehr sei
es unser Recht, es zu kritisieren. Mehr noch, es
sei auch unsere Pflicht, denn der Strafjustiz sind
Gewaltlogiken inhärent, die zu schrecklicher
Enteignung führen und uns jederzeit treffen
könnten (S. 55-60). Die Strafjustiz ist also eine
Institution, die uns alle zutiefst angeht.
Auch wenn unsere Rechtsvorstellungen in Stein
gemeißelt erscheinen, so war es doch über Zeiten
und Räume immer wieder möglich, „völlig neue
Dispositive in Anschlag zu bringen, die auf an-
dere Weise kodifizieren, was Rechtsprechen be-
deutet, indem die Frage nach der Justiz mit poli-
tischen Problemen (…) verknüpft wurde“ (S. 38).
Als Wissenschaftlerin, die zu Restorative Justice
arbeitet, war es für mich sehr erfrischend, dieses
Buch zu lesen, da es unsere legitime Suche nach
anderen Formen der Unrechtsbewältigung be-
stärkt. Zwar erwähnt der Verfasser RJ nie expli-
zit, doch man kann seiner Analyse mit Hilfe der
drei Kernprinzipien der Restorative Justice – Le-
benswelt, Beteiligung und Wiedergutmachung
(siehe Pelikan 2003, 2007) – folgen.
Lebenswelt
Die Strafjustiz konstruiert, wie de Lagasnerie
zeigt, bestimmte Interpretationen unserer
Handlungen und Narrative unseres Lebens.
Dabei werden andere mögliche Darstellungen
delegitimiert und wir gewaltsam von unserer
Wahrheit über unser Leben getrennt (S. 26 f.).
Dem Recht geht es um abstrakte Begriffe wie
das ‚Allgemeinwohl‘ oder das ‚übergeordne-
te Gesellschaftsinteresse‘, welche niemand je
gesehen, erfahren oder gefühlt hat. Somit, so
seine Argumentation, führt die Strafe zu einer
Verwandlung der Handlungsbedeutungen,
so dass aus Taten, mit denen sich Individuen
gegenseitig schädigen, solche werden, die der
ganzen Gesellschaft schaden (S. 208). Darüber
hinaus bedarf die Logik der Bestrafung auch
einer Überdeterminierung, denn „im Straf-
recht wird ein Verbrechen im Grunde niemals
als das beurteilt, was es wirklich ist. Die Hand-
lung wird systematisch so konstruiert, als
würde sie eine globale Wirklichkeit betreffen,
die durch das Recht und im Verlauf des Pro-
zesses performativ konstruiert wird“ (S. 221).
Auch TheoretikerInnen der RJ beschreiben das
Strafrecht und die Strafjustiz als komplexitäts-
reduzierend, depersonalisierend und kontext-
vernachlässigend. RJ dagegen erkennt Urhe-
berInnen und Geschädigte einer Unrechtstat
in ihrer Individualität und ihrem sozialen
Kontext (der Lebenswelt) an, statt die Straftat
in eine allgemeine oder abstrakte rechtliche
Kategorie einzuordnen. Schließlich ist Justiz,
so Derrida, „immer eine Sache von Singulari-
täten, von konkreten Fällen, von besonderen
Situationen“ (zitiert S. 246).
20 TOA-Magazin · 03/18
Wiedergutmachung
Und sobald wir unsere Aufmerksamkeit auf
das tatsächliche Opfer richten, entfernen wir
uns von der Straflogik und nähern uns der Wie-
dergutmachung, wir ‚zivilisieren‘ mithin die
Strafjustiz. Ziviljustiz, schreibt de Lagasnerie,
„beschränkt sich darauf, die interindividuelle
Wiedergutmachung der durch die strafbare
Handlung verursachten Schäden zu organisie-
ren, um die urspüngliche Situation wiederher-
zustellen, während die Strafjustiz etwas hinzu-
fügt: sie ahndet die Handlung und bestraft den
Urheber“ (S. 195, Hervorhebungen im Original).
Die absurdeste Idee, die hinter der Bestrafung
als menschlicher Leidzufügung steht, ist die
Vorstellung, man könne menschliches Leid
messen und in Zahlen ausdrücken. De Lagas-
nerie bezeichnet das Ritual der Strafzumes-
sung als „soziale Magie“, da hier Schuld in Zeit
und Geld verwandelt wird (S. 18). Mit diesem
Begriff will er auf die tatsächliche Unmöglich-
keit der anmaßenden Umwandlung von zuge-
fügtem Leid in Strafe, unter Verwendung der
Formel „ich beantrage also soundso viele Jahre
Gefängnis“ hinaus (S. 20). Jedoch sind wir von
den ‚Waagschalen der Justiz‘ geradezu beses-
sen und suchen rastlos nach Genauigkeit, wo
keine zu finden ist, weil geometrische Rigoro-
sität und menschliches Verhalten noch nie gut
miteinander zu vereinbaren waren. Im Bereich
der Restorative Justice besitzen wir nicht die
Arroganz, zu glauben, wir könnten Schmerz
messen und ihn in Strafe aufwiegen, sondern
wir gehen mit der Unumkehrbarkeit mensch-
lichen Handelns um. Was geschehen ist, kann
nicht ungeschehen gemacht werden, es gibt
kein Gleichgewicht des Leids, und Verbrechen
und Strafe heben einander nicht auf.
Das Algebra des Leids, schreibt Anna Messuti
in Zeit als Strafe, ist: Minus mal Minus gleich
Mehr, Negativ mal Negativ gleich Positiv. Glau-
ben wir denn wirklich, dass wir Leid lindern,
indem wir mehr Leid hinzufügen? Restorative
Justice versucht nicht, Unrecht nachzuahmen,
sondern es draußen zu halten. Sie kann Gewalt
begegnen, ohne sie zu benutzen und damit zu
legitimieren. RJ ist die Justizia ohne Schwert,
da sie nach Alternativen zur Gewalt sucht; der
Staat hingegen verstetigt sie mit seiner Strafe
(Mannozzi 2003). Mit anderen Worten, RJ ver-
sucht die Leidspirale anzuhalten.
Beteiligung
Eine Unrechts- oder Straftat als Interaktion
in der Lebenswelt aufzufassen, bereitet die
Grundlage für einen Dialog aller davon betrof-
fenen, die somit zu Prozessbeteiligten werden.
TheoretikerInnen und PraktikerInnen der RJ
argumentieren bereits seit Langem, dass die
beste Art der Unrechtsbewältigung ein ge-
meinsamer, freiwilliger und gleichberechtigter
Prozess ist, in dem alle Konfliktparteien ihre
Betroffenheit ausdrücken, Informationen aus-
tauschen, Klarheit herstellen und Ideen, Nor-
men oder Lösungen in einem unterstützenden
Rahmen diskutieren können. Eine der grundle-
genden Kritiken von RJ an der Strafjustiz ist da-
her, ihre enge Architektur der Vertretung und
ihre damit einhergehende herrschaftsbasierte
Legitimierung.
Sich auf Nils Christies Schrift Konflikte als Eigen-
tum beziehend, zeigt de Lagasnerie, wie „der
Staat uns durch die Logik des Strafrechts bes-
tiehlt“ (S. 241). Die Metapher von den Konflik-
ten als Eigentum hat früh die RJ-Bewegung be-
feuert, da sie der restorativen Vorstellung, dass
man sich einige der Hauptaufgaben der Straf-
justiz aneignen könnte, Legitimität verlieh.
Sobald man Straftaten als Konflikte begreift,
kann man argumentieren, dass die Menschen
sich ihre Konflikte vom ‚Diebesstaat‘ zurückho-
len sollten. Christies Denken war stets darauf
aus, die staatliche Einmischung in die Lebens-
welt der Menschen anzugreifen und soweit
als möglich zurückzudrängen. Dies bedeutet
nun nicht, führt de Lagasnerie aus, dass man
sich zurückbewegt zu Formen der Privatjustiz,
sondern es geht darum, vorwärts zu gehen in
Richtung einer demokratischen und pluralis-
tischen Konzeption von Recht und Justiz. Das
ist eine radikale Idee, denn sobald wir uns die
Konflikte zurückholen, stoßen wir das geschä-
digte Subjekt, den Staat, der sich zum Opfer er-
nannt hat, vom Thron und ersetzen ihn durch
das tatsächliche Opfer.
In der Antike wird Justitia oft als Aequitas dargestellt:
mit den Attributen Waage, mit deren Hilfe jedem
das Seine zugemessen wird, und Füllhorn, das den zu
verteilenden Reichtum spendet
21
TOA-Magazin · 03/18
wir den Kontext und die Lösung ausreichend
sozialisiert? Man kann Restorative Justice in
der Tat vorwerfen, dass sie auf die Unmittel-
barkeit des Konflikts oder der Leidzufügung
reagiert, ohne diese in einen breiteren Kontext
zu stellen, und somit ignoriert, dass sogenann-
tes kriminelles Verhalten oft Ausdruck tiefer
liegender sozialer Probleme ist. Gegenwärtig
sind RJ-Praktiken noch schlecht darin, soziale
Gerechtigkeit in die Strafjustiz zu tragen, da
sie selbst, wie die Strafjustiz, die Individuen als
autonom und selbstbestimmt betrachtet, ver-
antwortlich für ihre Taten und für ihr Schick-
sal. Von dieser individualisierenden Herange-
hensweise aus propagiert sie Beteiligung und
Wiedergutmachung als restorative Schlüssele-
lemente und begünstigt somit jene problema-
tische Auffassung von Verantwortung, die von
de Lagasnerie kritisiert wird.
Anstatt Beteiligung als eine Art Aufforderung
zum Selbermachen zu verstehen oder als Mit-
tel zur ‚Befriedung‘, sollten wir den Begriff
der Konfliktbeteiligung, wie ihn Nils Christie
vorgeschlagen hat, innerhalb der restorativen
Praxis wieder ernsthaft in Erwägung ziehen.
Es gibt keine ‚ideale Sprecherposition‘, denn
Machtverhältnisse sind nie ausgeschaltet, da-
her muss es bei restorativen Verfahren nicht
darum gehen, Konsens und Vereinbarung zu
erzeugen, sondern dem Nicht-einverstanden-
Sein und dem Dissens konstruktiven Ausdruck
zu verleihen. Wir müssen also aufhören, die
Eindämmung des sozialen Konflikts zu beto-
nen und diese stattdessen vielmehr pflegen
und kultivieren, indem wir Foren ‚endloser
Normklärungsprozesse‘ schaffen und der
Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Zivilge-
sellschaft meint nicht zivilisiert im Sinne von
gesittet und anständig. In starken Zivilgesell-
schaften sind Misstrauen und Kritik an Hand-
lungen des Souveräns allgegenwärtig, und
moralische Empörung existiert fortwährend,
da Behörden und Institutionen notwendiger-
weise die Normen, die die Zivilgesellschaft für
Gerechtigkeit setzt, verletzt. Je demokratischer
eine Gesellschaft ist, desto mehr erlaubt sie
einzelnen Gruppen, ihre Lebensweise selbst
zu definieren, sowie den Individuen, die Form
der Gruppen zu wählen, denn diese legitimiert
letztlich die unausweichlichen Interessenskon-
flikte, die zwischen den Gruppen entstehen.
Restorative Justice und die Soziologie…
Aber de Lagasnerie bestätigt die RJ nicht nur,
sondern fordert sie auch heraus, was seinen
Beitrag so besonders wertvoll für Wissen-
schaftlerInnen im Kontext der RJ macht. Noch
einmal zurück zur Lebenswelt. Auch RJ geht
vom individuellen Kontext aus, aber geht sie
soweit, die Narrative und Setzungen der Straf-
justiz anzuzweifeln? Produziert sie wirklich
eine „soziale Kritik des Rechts und der Strafe“
wie de Lagasnerie fordert?
Vor Gericht, schreibt de Lagasnerie, wird „die
Wahrheit, dass die verurteilten Handlungen
in weitere soziale Kontexte eingebettet sind“,
unterdrückt und ignoriert (S. 12). Obendrein
„fixiere [das Gesetz] die Identitäten, stabili-
siere das Ich“, womit eine individualisierende
Konstruktion der Vorgänge eingesetzt wird
(S. 96 ). „Es gibt eine Gewaltsamkeit des Staa-
tes, die aus seiner Verneinung und seiner
Leugnung der soziologischen Sichtweise der
Welt stammt, einer Sichtweise, gemäß der
man einzelne Handlungen eben nicht isolieren
und individuell betrachten kann“ (S. 159). De
Lagasnerie stellt hier zurecht die nach wie vor
verbreitete Idee in Frage, dass menschliches
Fehlverhalten einzig und allein durch indivi-
duelle Pathologie zu erklären und nicht von
sozialen Bedingungen und Strukturen beein-
flusst ist. Diese Vorstellung grenzt unser Den-
ken ein und unterstützt und legitimiert Ideen,
die die Entmenschlichung von Individuen und
sozialen Gruppen rechtfertigen und somit ih-
rerseits zu sozialen Verhältnissen beitragen, in
denen Gewalt und Leid perpetuiert wird. Un-
sere Aufmerksamkeit wird so von den sozialen,
politischen und ökonomischen Bedingungen
und Machtstrukturen, sowie den Ungleichhei-
ten und Verletzbarkeiten, die sie hervorbrin-
gen, abgelenkt. Daher fragt de Lagasnerie zu-
recht: „Gibt es nicht andere Möglichkeiten, sich
das vorzustellen, was in der Welt geschieht, (…)
die im Übrigen nicht unbedingt im Gegensatz
zueinander stehen, sondern vielleicht komple-
mentär sind?“ (S. 110).
Wir befinden uns also in Bezug auf de Lagas-
neries Vorschlag auf halber Strecke: Für Ver-
treterInnen der Restorative Justice ist Unrecht
nichts, was dem Staat widerfährt, sondern
einem konkreten Opfer. Wir haben also die
Situation bereits individualisiert. Aber haben
Übersetzung aus dem
Englischen:
Theresa M. Bullmann
22 TOA-Magazin · 03/18
Doch auch wenn die Hintergründe von Straf-
taten zu einem großen Teil struktureller Natur
sind, sind ihre Auswirkungen größtenteils per-
sönlich. Daher ist es nicht sinnvoll, alle Ansätze,
die sich auf die individuelle Dimension bezie-
hen, über Bord zu werfen, vielmehr müssen sie
durch strukturelle Ansätze ergänzt werden.
Für Restorative Justice besteht die Herausfor-
derung daher vielleicht darin, eine Ausgewo-
genheit zwischen der Besonderheit der Hand-
lung und dem Ausmaß des Kontextes, in dem
sie stattfand, zu finden. De Lagasnerie führt
aus, dass emanzipatorische intellektuelle Vor-
haben strategisch operieren müssen: „Da der
Strafrechtsstaat die Ursachen individualisiert,
um verurteilen zu können, erfordert die Kritik
der Operationen des Rechts die Reflexion auf
die Wirkungen der Gewalt, die diese Verdun-
kelung der sozialen Kräfte hervorbringt. Aber
andererseits ist es auch notwendig, ihm eine
libertäre Sichtweise entgegenzustellen, die die
Wahrnehmungen auflöst, die von totalisieren-
den Begriffen wie denen der Gesellschaft, des
Kollektivbewusstseins etc. verfestigt werden,
da ja der Staat die interindividuellen Handlun-
gen und ihre Wirkungen zum Zwecke der Ver-
geltung sozialisiert“ (S. 235).
Gleichzeitig darf Beteiligung nur dann geför-
dert werden, wenn sie die Mitverantwortung
der sozialen AkteurInnen und Institutionen
voraussetzt, die dazu nötigen Ressourcen und
Strukturen aktiviert und kein reines ‚Selber-
machen‘ ist. Restorative Verfahren müssen
daher mit dem Aufdecken sozialer Bedürfnisse
und Verletzlichkeiten einhergehen, und die re-
levanten strukturellen Rahmenbedingungen
müssen geschaffen werden. Auch wenn Re-
storative Justice kein Allheilmittel für soziale
Gerechtigkeit sein kann, sollte sie aufpassen,
nicht in die Falle zu tappen, die sie eigentlich
vermeiden will, indem sie Straftaten und ihre
Beantwortung isoliert und individualisiert.
Kurz, Kriminalität ist mehr als individuelle
Leidzufügung, sie ist vielmehr ein soziales Pro-
blem, das mit anderen sozialen Zuständen eng
verbunden ist und für das nicht ein Individu-
um allein, sondern die ganze Gesellschaft ver-
antwortlich ist. Individuelle Verantwortung,
schreibt Judith Butler, kann nur im Lichte ihrer
kollektiven Bedingungen betrachtet werden.
Anstatt dem Beschuldigten zu erlauben, sich
selbst als Opfer der Verhältnisse darzustel-
len, um sein Verhalten zu rechtfertigen, ver-
langt dieser Imperativ, die Verletzlichkeit des
Beschuldigten anzuerkennen, ohne die Tat
zu entschuldigen, in einer Art ‚zweispurigen
Denkens‘, in dem wir die Gewalt verurteilen,
aber auch danach fragen, wie sie entstanden
ist. Nur ein solches duales Denken kann eine
neue Ordnung der Verantwortlichkeit für die
sozialen Verhältnisse fördern. Individuelle Fäl-
le dienen dann als ‚Türöffner‘, um dahinter-
liegende Thematiken und sich in ihnen kreu-
zende Faktoren zu untersuchen. Dann wird
sich zeigen, dass weder Strafprozesse noch
Dialogprozesse allein ideale Antworten auf
diese Herausforderung sind. Denn sie bieten
keine Lösungen für die sozioökonomischen
und anderen kulturellen Hintergründe eines
Konfliktes. Immerhin fördern Dialogprozesse
eine Reflexion, die über den direkten Konflikt
hinausgeht und im Umkehrschluss zu neuen
kooperativen und transformativen Formen so-
zialen Verhaltens sowie zu sozialer Verantwor-
tungsübernahme führt.
Bibliographie:
Butler, Judith. (2004). Precarious life. The
powers of mourning and violence. London:
Verso.
Christie, Nils. (1977). Conflicts as property.
British Journal of Criminology, 17(1):1-15.
Pelikan, Christa. (2003). Different systems
different rationales. Restorative justice
and criminal justice. In F. M. Marques
(Hg.), Apoio à Vitima, Project DIKÈ, Semi-
nar: Protection and Promotion of Victim’s
Rights in Europe, 223-229. Lissabon: APAV.
Pelikan, Christa. (2007). The place of
restorative justice in society. Making
sense of developments in time and spa-
ce. In R. Mackay, M. Bosnjak, J. Deklerck, C.
Pelikan, B. van Stokkom, M. Wright (Hg.),
Images of restorative justice theory, 35-56.
Frankfurt/Main: Verlag für Polizeiwissen-
schaft.
Mannozzi, Grazia (2003). La giustizia
senza spada. Uno studio comparato su
giustizia riparativa e mediazione penale.
Milano: Giuffré.
Messuti, Ana (2008). Time as punishment.
Aurora, CO: The Davies Group Publishers.
Brunilda Pali
ist promovierte wissen-
schaftliche Mitarbeiterin
am Institut für Krimi-
nologie in Leuven, wo
sie, finanziert vom FWO
Fonds voor Wetenschap-
pelijk Onderzoek – Vla-
anderen (Flandrischer
Forschungsfond) an dem
Projekt Restorative uto-
pias in dystopian times.
The shaping of restora-
tive justice in the Euro-
pean penal systems and
policies arbeitet. Derzeit
ist sie auch Vorstands-
mitglied des European
Forum for Restorative
Justice (EFRJ). Brunil-
da hat an der Bosporus
Universität Psychologie,
an der Central European
University Gender Stu-
dies, an der Universtität
Bilgi Kulturwissenschaf-
ten und an der KU Leuven
Kriminologie studiert.
Ihre Schwerpunkte sind
Geschlecht, kritische Sozi-
altheorie, soziale Gerech-
tigkeit, Restorative Justice
und Kunst.
23
TOA-Magazin · 03/18
Die Kritik der Strafjustiz
zu ihrem logischen Schluss bringen
Eine abolitionistische
Perspektive
Von David Scott
Verurteilen von Geoffroy de Lagasnerie ist
ein willkommener und wertvoller Beitrag
zur Debatte um die begrenzte Fähigkeit des
Strafrechts, den Menschen Gerechtigkeit wi-
derfahren zu lassen. Er macht sich für die Ent-
wicklung einer soziologischen Analyse stark,
die es vermag, vorherrschende Rechtsnarrative
zu dekonstruieren und den Raum für alterna-
tive Sichtweisen auf Gerechtigkeit und Ver-
antwortung zu öffnen. „Die Rolle des Intellek-
tuellen besteht darin, bis zum Ende dessen zu
gehen, was die Reflexion vorschreibt, anstatt
sein Denken im Namen der Bewahrung einge-
bürgerter sozialer Riten ohne Rechtfertigung
plötzlich anzuhalten“ (S. 160) beschreibt eine
Kernaussage des Buches. Angesichts dessen
mag man meinen, dass der Autor die Argumen-
te der als Abolitionismus bekannten Denktra-
dition zu vertiefen trachtet. Implizit tut er dies
auch im ganzen Buch, explizit aber versucht
er, Ausmaß und Implikationen seiner Analyse
diesbezüglich zu begrenzen. Er schreibt (S. 130):
„Diesen Konflikt und Antagonismus auszu-
sprechen bedeutet nicht, wie man schon ahnt,
zu behaupten, dass die Annahme eines sozio-
logischen Gesichtspunkts dazu führen sollte,
dass man für so etwas wie die Abschaffung der
Gerichte oder des Strafrechtssystems plädiert.
Ein solcher Vorschlag wäre absurd und ohne
großen Nutzen.“
Hinweise darauf, warum er zu diesem Schluss
kommt, finden sich in der Behauptung, dass
eine abolitionistische Vision „schwer vorstell-
bar, ja vielleicht unmöglich“ ist und „jedenfalls
im Hinblick auf jene Verletzungen eines prak-
tischen Sinnes zu entbehren [scheint], die Ag-
gressionen und Vergehen gegenüber Personen
betreffen: Vergewaltigungen, Schläge und Ver-
letzungen, erst Recht Morde, Raubmorde etc.“
(S. 236 f.). Sich eingehender mit diesem Punkt
auseinanderzusetzen, hätte de Lagasnerie von
seinem Hauptthema, dem Gerichtsverfahren,
weggeführt, dennoch kann man von mangeln-
der Vorstellungskraft bei ihm sprechen, wenn
er glaubt, dass damit automatisch die Unmög-
lichkeit des Strafabolitionismus bewiesen ist.
Vielmehr hat jene ‚soziologische Vorstellungs-
kraft‘ (Mills, 1959) die kritische Kriminologie
seit den späten sechziger Jahren genährt (Bar-
ton et al., 2006) und ethisch-politische Grund-
lagen des Abolitionismus, die sich solch haari-
gen Fragen widmen, entwickelt, gefestigt und
vertieft (Moore et al., 2014).
Trotz des Versuchs des Autors, sich von der
abolitionistischen Tradition zu distanzieren,
möchte ich auf einige Parallelen zwischen sei-
nem Buch und dem Strafabolitionismus einge-
hen. Tatsächlich glaube ich, dass dies dienlich
wäre, um seine Analyse ‚so weit wie möglich‘
zu treiben und existierende ‚soziale Riten‘ zu
destabilisieren. Parallelen mit dem Strafabo-
litionismus bestehen etwa in der Übernahme
der Foucault’schen Methode der Problemati-
sierung; in der Dekonstruktion der Kriminali-
tät und der damit einhergehenden Mystifizie-
rung des Strafverfahrens; in der Förderung von
gleichberechtigtem und rationalem Dialog; in
der Benennung des Strafverfahrens als einer
Form staatlicher Leidzufügung; im Überden-
ken der Bedeutungen, der Ethik und des Ein-
satzes der Idee von Verantwortung; und im
Entwerfen von opferzentrierten Alternativen
zum Strafverfahren. Lassen Sie uns diese Punk-
te eingehender betrachten.
24 TOA-Magazin · 03/18
Im Anschluss an die Problematisierung und
Dekonstruktion der existierenden ‚unlogi-
schen‘ und nicht rechtfertigbaren Behauptun-
gen und Praktiken des Gerichtsprozesses for-
dert de Lagasnerie eine „rationalere Ordnung“
(S. 192), die sich auf eine soziologische Beweis-
führung stützt. Diese dürfe nicht länger „die
staatliche Konstruktion des Wirklichen, und
die Aufteilungen, die das System der Gerichts-
barkeit erzeugt,“ bestreiten. Vielmehr sei es
die Aufgabe dieser neuen Ordnung, „unsere
Wahrnehmung neu zu konfigurieren und das,
was in der Welt geschieht, anders zu benen-
nen. Die Frage, die sich für jede kritische Ana-
lyse der Gerichtsbarkeit notwendig stellt, wird
daher zu einer Frage der Sichtweise: Wodurch
lässt sich die Sicht des Strafrechts ersetzen?
Was könnte es bedeuten, das, was uns zustößt,
anders zu verstehen und unseren Blick anders
auszurichten?“ (S. 162).
Problematisieren, dekonstruieren
und vernunftbasierten Dialog för-
dern
Bezugnehmend auf den großen abolitionis-
tischen Philosophen Michel Foucault (1977)
verficht de Lagasnerie einen soziologischen
Ansatz, der sich die „Problematisierung“ (S. 49)
des Strafapparats des kapitalistischen Staates
zur Aufgabe macht. Er bezweifelt die Legitimi-
tät der Strafjustiz, indem er Mystifizierungen
entlarvt, nach dem Wert gegenwärtiger staat-
licher Praktiken fragt und hinter die Oberflä-
chen schaut, wo er beunruhigende Annahmen,
Stillschweigen und Auslassungen im Gerichts-
verfahren entdeckt. Seine Aufgabe sei es nicht,
zu beschreiben, sondern zu denken, argumen-
tiert er (S. 264). Es geht ihm darum, die Logik
des Gerichtsverfahrens zu enthüllen und diese
hiernach einer Dekonstruktion zu unterziehen,
um so Raum für ein anderes Denken zu öffnen.
Die soziale Konstruktion der Straftat und des
Straftäters im Strafverfahren ist ein zentraler
Gegenstand. De Lagasnerie erinnert uns dar-
an, dass „die strafrechtliche Konstruktion der
Wirklichkeit (…) sich in erster Linie auf die Wei-
gerung [gründet], in Begriffen der Totalität zu
denken“ (S. 136). Die StraftäterInnen werden in-
dividualisiert und „atomisiert“ betrachtet, um
sie zu isolieren und „unter Absehung von ihrer
Umgebung“ (S. 159) zu betrachten. Ähnlich wie
der einflussreiche holländische Abolitionist
Louk Hulsman (1986) sieht de Lagasnerie die
Individualisierung und Aufspaltung einzelner
Bestandteile der rechtswidrigen Handlungen
durch das Strafrecht. Der Täter wird verant-
wortlich gemacht und weitere soziale, ökono-
mische Kontexte sowie kollektive Dynamiken,
die möglicherweise hinter der Straftat stehen,
werden ausgeblendet. Die Handlung wird ver-
dinglicht und durch die künstliche Brille und
Logik des Strafrechts rekonstruiert, um eine
neue, wahre Version isolierter Ereignisse in je-
nem Moment, der der Tat vorausging, zu schaf-
fen. Eine solche verrechtlichte Erzählung kann
aber die ganzen verschiedenen Faktoren hinter
einer ‚Straftat‘ gar nicht erfassen. Somit tilgt
die Rechtslogik sozioökonomische und politi-
sche Logiken, und bringt sie zum Schweigen
(Scott, 2018).
Heute wird Justitia meist als Jungfrau dargestellt, die in der linken Hand eine Waage, in der
Rechten das Richtschwert hält. Seit Ende des 15. Jahrhunderts trägt sie zudem eine Augenbin-
de als Symbol der Unparteilichkeit.
25
TOA-Magazin · 03/18
weil „der Staat (…) die Instanz [ist], der es ge-
lingt, ihre gewaltsamen Handlungen als nicht
gewaltsam auszugeben“ (S. 74). Um das inhä-
rent problematische Wesen dieser Gewaltaus-
übung zu verstehen, ist es daher essenziell,
das Gerichtsverfahren als das anzuerkennen
und zu benennen, was es ist – eine Form staat-
licher Leidzufügung – und eine Gewalt, die
nicht nur andere Gewalt beantwortet, sondern
diese eskaliert. Um die Mystifizierungen der
Staatsmacht zu umgehen, sollten wir daher
„gewöhnliche Wörter“ (S. 87) benutzen, um so
die wahre und potenziell tödliche Wirklich-
keit des durch das Strafrecht zugefügten Leids
auszudrücken: „Man muss akzeptieren, dass
man vom Staat nicht sagt, dass er ‚zum Tode
verurteilt‘, sondern dass er mordet; nicht dass
er Privatpersonen verhaftet, sondern dass er
sie ‚kidnappt‘; nicht dass er sie ins Gefängnis
steckt, sondern dass er sie ihrer Freiheit be-
raubt; nicht dass er ihnen Bußgelder auferlegt,
sondern dass er sie ‚ausraubt‘.“ (S. 82 f.)
Verantwortung in Frage stellen
und neu denken
Eines der Hauptthemen des Buches ist die
Gründung des Strafrechts auf der Idee der
‚individuellen Verantwortung‘. De Lagasnerie
führt aus: „Die Weigerung in Begriffen sozialer
Kräfte zu denken, die dem Subjekt äußerlich
sind, zwingt dazu, in Begriffen von inneren
Trieben und individuellen Abweichungen zu
denken.“ (S. 148 f.) Wenn jemand nicht als für
seine Taten verantwortlich angesehen wird,
Das heißt, dass de Lagasnerie uns dazu auf-
ruft, uns von unseren alten Vorstellungen frei
zu machen und neue Wege der Wirklichkeits-
konstruktion anzubieten. Hauptsächlich aber
betont er eines der Hauptanliegen des aboli-
tionistischen Denkers Willem de Haan (1990),
dass nämlich das, was wir brauchen, eine
rationalere Grundlage für die Betrachtung
menschlicher Konflikte, Schwierigkeiten, Pro-
bleme und schädigenden Verhaltens ist, und
dass, wenn wir gemeinsam einer rationaleren
Herangehensweise folgen, die Begründungen
im Gerichtsverfahren zusammenfallen wer-
den wie ein Kartenhaus.
Das Problem beim Namen nennen:
das Strafrecht als staatliche
Leidzufügung
Wir werden von de Lagasnerie daran erinnert,
dass wir beim Analysieren damit beginnen
müssen, das Wesen des Problems zu erken-
nen – d. h. dass die Anwendung des Strafrechts
und der justiziellen Schuldfeststellung auf
staatlicher Leidzufügung basieren. Das ist
vielleicht zunächst schwer einsehbar, da wir
das Strafverfahren meist nicht als gewalttätig
wahrnehmen. Wenn wir uns aber die leidvol-
len Ergebnisse, die das Strafrecht produziert,
ansehen, dann wird es leichter zu verstehen,
warum sich eine Strömung gebildet hat, die
diese dem Strafrecht inhärente Gewalt scharf
kritisiert und ein Teil dieser Strömung für die
Abschaffung des Strafrechts plädiert (Scott,
2018). In der Argumentation von de Lagasne-
rie (S. 26) entsteht die Gewalt des Gerichts-
prozesses aufgrund der „Tatsache, dass der
Strafrechtsstaat auf uns Anwendung findet,
indem er uns zwingt, einem Bild des Subjektes
zu entsprechen, das eine Diskrepanz mit unse-
rer wirklichen Existenzweise aufweist“ (Hervor-
hebung im Original). Er geht aber noch weiter
und hilft unserem Verständnis dieser Gewalt
auf zwei Arten auf die Sprünge. Erstens legt er
dar, wie der Staat seine Gewalt als „nachgeord-
net und notwendig“ rechtfertigt (S. 68). Denn
„die Gewalt des Staats wird als Gegengewalt
wahrgenommen, als Gewalt gegen die Ge-
walt“. Die Gewaltausübung des Staates wird
also als legitim vorgestellt, weil sie als Rache
auf bereits bestehende Gewalt erscheint und
Justitia mit Waage und Ölzweig als Symbol des Frie-
dens, der durch den Ausgleich zwischen umstrittenen
zivilrechtlichen Interessen – versinnbildlicht durch die
Waage – erreicht werden soll.
Medaille von Giovanni Hamerani (cc Landesmuseum
Württemberg · Foto Adolar Wiedemann)
Übersetzung aus dem
Englischen:
Theresa M. Bullmann
26 TOA-Magazin · 03/18
zu bestrafen. Vor allem geht es darum, nicht
alle anderen zu bestrafen. Das Ziel ist, uns zu
ermöglichen, uns als Subjekte mit fehlender
Verantwortung zu erschaffen und zu bewerk-
stelligen, dass man für das, was ein Individu-
um vollbringt, nicht das Kollektiv, in das es
eingebunden ist, für verantwortlich hält – d. h.
jedermann.“ (Ebd.)
Viele StrafabolitionistInnen haben sich um
eine ‚Ethik der Verantwortung‘, d. h. ein Ge-
fühl der gemeinsamen Verantwortung für
soziale Gerechtigkeit und eine Ethik der Sor-
ge um (möglicherweise unbekannte) andere,
bemüht. Sie betonen ihr eigenes Verantwor-
tungsgefühl, gerade auch in Bezug auf die Auf-
gabe, die Ursachen für soziale Ungerechtigkeit
zu benennen. Und das, so schreibt de Lagasne-
rie, geht nur mit einem sozialen und struktu-
rellen Ansatz. Tatsächlich ähnelt die Art, wie er
Verantwortung neu konzipiert, manchen Vor-
stellungen von AbolitionistInnen wie Barbara
Hudson (1987), die sich mit der Beziehung zwi-
schen Verantwortungsethik und der Bedeu-
tung von Gerechtigkeit befasst haben.
Verantwortung muss, so de Lagasnerie, nicht
mehr individuell, sondern kollektiv gedacht
werden. Als Beispiel nimmt er die Entwicklung
der Diskussion um Arbeitsunfälle (S. 125). Er
zeigt, wie diese im 19. Jahrhundert durch die
Brille der individuellen Verantwortung und
somit als individuelle Fehler, die aus Nachläs-
sigkeit oder Disziplinlosigkeit der ArbeiterIn-
nen entstanden, gesehen wurden, und nicht
als „mit den materiellen Strukturen, mit den
Arbeitsbedingungen des Arbeitsplatzes ver-
bunden“ (S. 125). Kollektiver Widerstand und
gewerkschaftliche Organisierung führten zu
einer Veränderung des Verantwortungspara-
digmas, weg vom Individuum hin zu einem
sozialeren Verständnis derselben und einer
Verantwortlichkeit der Mächtigen, also der Ar-
beitgeberInnen und nicht der ArbeiterInnen.
Dabei änderte sich auch die Richtung der Maß-
nahmen, weg von einer nachträglichen Bestra-
fung der Arbeitenden für ihre Verletzung hin
zu einem Modell der Vorsorge und Prävention,
was zu einer stärkeren Regulierung der Indus-
trie und mehr Gesundheits- und Sicherheits-
maßnahmen am Arbeitsplatz führte. Für de
Lagasnerie ist dieser Wandel im Verständnis
kann er auch nicht verurteilt, also bestraft,
werden. Die Legitimationsgrundlage von Stra-
furteilen wird untergraben, wenn keine Ver-
antwortung festgestellt werden kann. Dabei
macht de Lagasnerie die wichtige Feststellung,
dass das „Recht auf Nichtverantwortlichkeit“
ein Dreh- und Angelpunkt des Strafrechts ist
(S. 98-100) und listet eine lange Reihe an Bei-
spielen für diese „Nichtverantwortlichkeit“ im
Recht auf. Verantwortung steht erst dann fest,
wenn alle Gründe für Nichtverantwortlichkeit
ausgeräumt sind.
Somit kommt der Autor zu dem Schluss, dass
es in den Urteilen der Strafjustiz weniger um
Verantwortung als um Individualität geht.
Eine rechtswidrige Handlung muss einem In-
dividuum zugeordnet werden können. „Das
Dispositiv der individuellen Verantwortung
scheint uns selbstverständlich zu sein. Aber
diese Selbstverständlichkeit ist eine Folge der
Tatsache, dass wir Teil eines Dispositivs der
Macht sind, das uns dazu führt, eine Erzählung
des Geschehens in Form eines Kausalitätsur-
teils zu konstruieren, das von einem singulä-
ren Akteur zu einer Handlung übergeht – d. h.
es führt uns beim Auftreten einer Handlung
zu der Behauptung, dass ein singuläres Indivi-
duum deren Kausalakteur ist, und zu dem Ver-
such, ihn zu identifizieren: Ein Individuum hat
die Handlung verursacht. Es ist verantwort-
lich“ (S. 114 f.). Und weiter: „Sobald sich diese
Wahrnehmung eingebürgert hat, entsteht die
Möglichkeit des Verurteilens.“ (S. 105)
Seine Analyse der „Nichtverantwortlichkeit“
liegt an diesem Punkt eng bei der Argumen-
tation gegen die Verantwortung von Strafa-
bolitionistInnen wie Stanley Cohen (2001). De
Lagasnerie überlegt auch, ob nicht „die Funk-
tion des Strafrechtssystems darin [bestünde],
uns unserer Verantwortlichkeit zu entledigen“
(S. 119). Die Individualisierung nimmt uns die
„bedingungslose Verantwortung“ für das Leid
und die Probleme, die uns begegnen. Durch sie
wird die moralische Position, nicht für die an-
deren verantwortlich zu sein, gestärkt:
„Im Grunde könnte es so sein, dass die we-
sentliche Funktion der Individualisierung der
Wahrnehmungsweisen nicht darin besteht,
die ,Verantwortlichen‘ und ausschließlich sie
Dr. David Scott
ist Mitarbeiter der Open
University. Er hat mehr
als einhundert Artikel,
Buchkapitel und Bücher
veröffentlicht. Er ist ehe-
maliger Mitkoordinator
der European Group for
the Study of Deviance
and Social Control so-
wie Mitbegründer und
Redakteur der Zeitschrift
Justice, Power and Re-
sistance.
27
TOA-Magazin · 03/18
Wie viele AbolitionistInnen (Moore et al, 2014;
Scott, 2018) stellt sich auch de Lagasnerie an-
dere Formen der Konfliktlösung als Alternati-
ve zum Strafprozess vor, die auf nichtpuniti-
ven Werten und Prinzipien beruhen und „die
Möglichkeit der Vergebung, der Verhandlung,
der Wiedergutmachung, der Wortergreifung
behaupten würden. Für das Opfer sowie für
den Schuldigen könnte dieses neue System zur
Entstehung eines anderen Verhältnisses zur
Welt, zu sich selbst, zu den Verletzungen füh-
ren im Vergleich zu demjenigen, das uns das
System der Strafe aufzwingt. Es könnte eine
Justiz hervorbringen, die nicht mehr völlig den
klassischen Logiken der Restitution und der
Vergeltung gehorchen würde, und die sogar –
warum nicht? – je nach Fall und dem Willen ei-
nes jeden unterschiedliche Formen annehmen
könnte.“ (S. 245)
Diese Vision stimmt nicht nur weitgehend mit
jener des Strafabolitionismus überein, son-
dern stellt etablierte soziale Rituale in Frage
und ist es wert, von uns gemeinsam gefördert
und erkämpft zu werden.
von Verantwortlichkeit „eine Errungenschaft
der soziologischen und politischen Vernunft,
der Großzügigkeit gegen die spontanen Wahr-
nehmungen in Begriffen individueller Ent-
scheidungen, persönlicher Verantwortung
und somit der Nichtfürsorge (…). Mit der Folge
dass andere Errungenschaften in anderen Be-
reichen, die sich heute wohl an der spontanen
Wahrnehmung stoßen, nicht als unmöglich
dekretiert werden können.“ (S. 129)
Anders denken und opferzentrierte
Wiedergutmachung fördern
Damit kommen wir zu einer weiteren Par-
allele zwischen dem Denken de Lagasneries
und dem Abolitionismus: Beide befördern
Vorstellungen zur Einführung echter utopi-
scher Alternativen in der Justiz (Scott, 2018). De
Lagasnerie stellt eine Reihe an radikalen Alter-
nativen zum Strafprozess vor, inklusive solcher,
die Leidzufügung komplett neu konzipieren,
wie oben dargelegt. Ähnlich den Positionen
Louk Hulsmans (1986) und Willem de Haans
(1990) ruft de Lagasnerie zur „Erfindung einer
neuen Sprache“ (S. 224) auf, um Unrechtstaten
und unsere Antworten darauf anders zu ver-
stehen. Seine zentrale Forderung sind opfer-
zentrierte Prozesse der Wiedergutmachung
für erlittenes Leid, die vor Zivil- statt vor Straf-
gerichten verhandelt werden können (S. 228).
Bibliographie
Barton, A., Corteen, K., Scott, D., Whyte, D. (Hg.) (2006)
Expanding the Criminological Imagination. London:
Routledge.
Cohen, S. (2001) States of Denial. Cambridge: Polity Press.
De Haan, W. (1990) The Politics of Redress. London: Un-
win Hyman.
De Lagasnerie, G. (2017) Verurteilen. Der strafende Staat
und die Soziologie. Berlin: Suhrkamp.
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Hudson, B. A. (1987) Justice Through Punishment. Lon-
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Hulsman, L. H. C. (1986) „Critical Criminology and the
Concept of Crime“, in Contemporary Crisis 10/1, S. 63-80.
Mills, C. W. (1959) The Sociological Imagination. Oxford:
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Moore, J., Rolston, W., Scott, D., Tomlinson, M. (Hg.)
(2014) Beyond Criminal Justice. London: EG Press.
Scott, D. (2018) Against Imprisonment. Winchester: Wa-
terside Press.
Der Xie Zhi der chinesischen Mythologie steht für
Fairness, Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit. Mit seinen
scharfen Augen kann er Recht von Unrecht und Gut
von Böse unterscheiden. Wenn Minister*innen oder Be-
amt*innen ungerecht handeln, spießt er sie mit seinem
Horn auf und isst sie.
28 TOA-Magazin · 03/18
... Recht beruht auf Absprachen von Menschen. (Epikur)
Gerechtigkeit an und
für sich gibt es nicht,
Von Frank Winter
Einleitung
Dass das Strafrecht bzw. die „Institution[en]
Verbrechen und Strafe“ (Cremer-Schäfer/Stei-
nert 1998) Herrschaftsinstrumente sind, die
zur „Enteignung der Konflikte“ (Christie 1995)
missbraucht werden und in strafprozessualen
Ritualen Übel zufügen und damit auch zur
Darstellung von Macht taugen, ist hierzulande
nicht neu. De Lagasnerie kritisiert in seiner Mo-
nografie Verurteilen. Der strafende Staat und
die Soziologie (2017) das System der französi-
schen Strafrechtspflege radikal, drastisch und
umfassend. Er betont zwar, dass seine Kritik
des Strafrechtssystems keine „antistaatliche
Position“ (33) sei, aber in Zeiten massiver An-
griffe durch Populisten auf Demokratien und
Rechtsstaatlichkeit (Mounk 2018) mutet seine
Form der Verurteilung des Strafrechtssystems
seltsam an: „Man muss den Staat seinerseits
vorladen und verlangen, dass die Kräfte, die auf
uns angewendet werden, rationalen, rechtfer-
tigbaren, verständlichen Logiken unterstehen“
(21). Literarisch hatten u. a. Dostojewskij (1999),
Genet (1993) und Kafka (1976) eindrucksvoll
das Strafrechtssystem, Haft und Zwangsarbeit
kritisiert und aufgezeigt, wie Menschen darin
deformiert werden.
De Lagasnerie leitet seine Verurteilung des
Strafrechtssystems aus Philosophie und So-
ziologie u. a. über Bourdieus „symbolische Ge-
walt“ her, die durch das Strafrechtssystem als
ausführendes Organ Ungleichheit fortschreibt
und zementiert. Er behauptet, es gebe „nur
wenige Schriften, die eine kritische Untersu-
chung des Justizapparates, (…) der Schuld, der
Verantwortung, des Strafrechts, der Bestra-
fung vornehmen“ (22). Das ist schlicht unwahr:
Hunderte kritischer Kriminologen haben über
Degradierungszeremonien und die Exklusion
beschuldigter Personen aus ihrer legitimen
Ordnung, über Strafe als pure Übelzufügung
und den Missbrauch der Geschädigten für
punitive Zwecke veröffentlicht – nicht nur Abo-
litionisten wie Becker (1973), Hess (1987), Sack
(1975), Schumann (1988), Stehr (1984), Steinert
(1987, 1990). Den Ansatz des labeling appro-
ach – Kriminalität als Zuschreibungsprozess
(Matza 1973) – gibt es seit den später 1960er
Jahren. Es irritiert, dass de Lagasnerie nicht da-
rauf eingeht, obwohl er Derrida und die Aboli-
tionisten durchaus erwähnt (76 ff.).
Der Staat als Übelzufüger?
De Lagasnerie identifiziert „Staat“ und des-
sen Institutionen als Übelzufüger und möchte
„eine Art widerspenstiger Einstellung gegen-
über dem Staat (…) beleben“ (31). „Können wir
uns nicht ein gerechteres Recht vorstellen“,
fragt er, „ein Recht, das unmittelbar plural und
verstreut ist und das (…) Akteuren die Mög-
lichkeit gäbe, durch sich selbst zu bestimmen,
was geschehen ist, wie sie es erleben und was
Gerechtigkeit widerfahren lassen bedeutet“
(246)? Da wundert es, dass de Lagasnerie die
gesamte Entwicklung der Restorative Justice,
der wiederherstellenden „heilenden Gerech-
tigkeit“ (Winter 2004) oder Ansätze der „he-
althy justice“ (Ochmann u. a. 2016) nicht er-
wähnt. Auch seine Kritik der ‚Psychologie‘ als
Erfüllungsgehilfin des strafenden Staates für
„Repression“ (28 ff.) und „Endogenisieren“
(143 ff.) bleibt hohl. Dass eine „Gesellschaft (…)
29
TOA-Magazin · 03/18
tem im Bereich der RJ Gerechtigkeit herstellt,
aber auch Ordnungs- und Kontrollfunktionen
wahrnimmt. Es ist also auch ein Verharren in
infantilen Positionen, wenn sich TOA-Einrich-
tungen nach dreißigjährigem Bestehen noch
immer nicht vom Tropf des Strafjustizsystems
lösen und gleichzeitig niedrige Fallzuweisun-
gen beklagen.
Psychiatrie/Psychologie
De Lagasnerie gründet seine Kritik der Psy-
choanalyse auf Foucault (2003) und Deleuze/
Guattaris Anti-Ödipus (1974). Er lässt Lacan, die
moderne französische Psychoanalyse und die
Antipsychiatrie-Bewegung ebenso unerwähnt
wie die revolutionäre Kraft der frühen Psycho-
analyse (Springer 1997), die Analytiker Reich,
Bion, Bernfeld und die Tradition psychoanaly-
tischer Sozialarbeit (2012) oder Freuds politi-
sche Schriften (Das Unbehagen in der Kultur).
Auch psychoanalytische Kriminologie (Moser
1971, Reinke 1979, Böllinger u. a. 1993) erwähnt
er nicht. Das mag kurzweilig sein, ist aber zu
wenig: Gerade die Psychoanalyse wäre für die
Forderung nach anderen Formen von Gerech-
tigkeit so auf ihre Füße zu stellen, wie es im
Rahmen der Bremer TOA-Einrichtung seit 1990
geschieht (Matt/Winter 2002, Winter/Dziom-
ba 2014, Bruns/Winter 2014). Dazu später.
Er sieht Psychologie und Psychiatrie in „Kom-
plizenschaft“ (214) mit der Strafjustiz und
stilisiert diejenigen, die er als von beiden zu
Tätern gebrandmarkt ansieht, mit soziologi-
scher Interpretation zu Opfern eines Systems
(150 ff.). Opfer-Täter-Dynamiken und deren un-
bewusste Wirkweisen sind originäre Themen
der Psychoanalyse: Über destruktive Impulse
und „antisoziale“ Persönlichkeitsanteile ver-
fügt jeder Mensch; jede/r hat sadistische Ge-
lüste, Zerstörungs- und Tötungsfantasien oder
-wünsche; jede/r will sich stark fühlen und
wird dies bis zum gewissen Grad an anderen
ausagieren – in Opfer- wie in Täterpositionen.
Und keineswegs immer haben – wie der erste
Schein nahelegt – Täter eine machtvollere Po-
sition. Die Schicht jeder Zivilisierung ist dünn:
In der Ausprägung destruktiver Impulse und
deren Umsetzung unterscheiden wir uns.
In Kind, Familie und Umwelt. Einige Aspekte
der Jugendkriminalität stellt Winnicott die Fra-
ihre Verbrecher braucht“ (Ehebald 1971, 9) – und
deren Opfer – ist u. a. von der Psychoanalyse
hergeleitet. Die Ablenkung von Gewalt aus
einer Gemeinschaft auf Opfer ist zentraler
Gründungsmechanismus des Staates: Das Hei-
lige und die Gewalt seines Landsmanns René
Girard (1992) erwähnt de Lagasnerie ebenfalls
nicht. Selbst im deutschen Strafrechtssystem
wird der dem Religiösen entliehene Opfer-Be-
griff erst allmählich durch den des Verletzten
ersetzt.
Punitive Strafjustiz?
Sessar hatte empirisch ein Strafbedürfnis von
Strafjurist*innen belegt (1992). Aktuell sieht es
in Deutschland anders aus, und es sind – trotz
des Nord-Süd-Gefälles – paradoxer Weise ge-
rade Strafjurist*innen, die die Punitivitätsbe-
strebungen der (ver)öffentlich(t)en Meinung
eingrenzen (Cornel 2017). Sogar die am Risiko
orientierte Sozialarbeit mit ihrer Hinwendung
zu Messbarkeit, Sicherheitswahn und Omnipo-
tenzfantasien (Verhaltenstherapie und „Ma-
nuals“ zur Rückfallvermeidung) befindet sich
im Zustand einer Vorverurteilung von „Ge-
fährdern“: Das System deutscher Strafjustiz
lässt sich – so Cornels Zahlen – dennoch nicht
zu mehr Verurteilungen, längeren Haftstrafen,
geringeren Strafaussetzungen zur Bewährung
o. ä. hinreißen. Es sind die „AfD-Positiven“, aber
auch Akteur*innen der Sozialarbeit, die sich
zunehmend für Kontroll- und Sicherheitsinte-
ressen hergeben.
Im Umgang mit Strafe und Haft spiegelt sich
jede Gesellschaft. Folter und Todesstrafe sind
hierzulande überwunden und die Fragen, die
unser Strafjustizsystem beschäftigen, lauten:
Wie viel Strafe oder Gefängnis braucht unse-
re Gesellschaft und wie kann Haft so gestaltet
werden, dass mit Haftantritt die Wiederein-
gliederung der Inhaftierten in die Gesellschaft
beginnt? De Lagasnerie möchte die Ideologie
des Neoliberalismus auch auf das Strafrechts-
system angewendet wissen, jedoch: Es gibt kei-
nen abstrakten „Staat“, wie er ihn mit dem Bö-
sen identifiziert, sondern wir verkörpern den
Staat (Lipsky 1980) und durch unser Handeln
auch dessen Veränderung: TOA und TOA-Ser-
vicebüro sind Teil des Strafrechtssystems.
Vom Handeln, von der Kreativität ihrer Ak-
teure hängt somit ab, wie das Strafrechtssys-
30 TOA-Magazin · 03/18
Alternativen
‚Healthy Justice‘ als weiterführende Idee bein-
haltet „Überlegungen zu einem gesundheits-
fördernden Rechtswesen“, das alle – Opfer
wie Täter – in den Blick nimmt (Ochmann u. a.
2016). Verfahren der RJ gehören dazu: Durch ih-
ren TOA-Versuch können Beschuldigte wie Ge-
schädigte auf Strafverfahren direkt einwirken.
Er bietet die Chance, aktiv gestaltend im direk-
ten oder indirekten Kontakt und Austausch
über das Vorgefallene unter der Moderation
neutraler Vermittler*innen eine an den eige-
nen Bedürfnissen orientierte Konfliktlösung
im Rahmen unseres Strafrechtssystems und
zugleich ein wenig außerhalb dessen herbei-
zuführen. Vorzuwerfen ist den Akteur*innen
des Strafrechtssystems wie der RJ, dass TOA
nach wie vor eine „marginale Form des Um-
gangs mit Straftaten [ist]. Er ist – verglichen
mit traditionellen, eher punitiv orientierten
strafrechtlichen Sanktionen – ein alternati-
ves Element zur Übelzufügung durch Strafe
und zielt auf restitutive Gerechtigkeit (…) [Das
durch die] Straftat gestörte Gleichgewicht soll
(…) unter freiwilliger Mitwirkung der Betroffe-
nen wieder hergestellt werden. Nach erfolgter
Wiederherstellung des sozialen Friedens soll
oder kann die Justiz ihren Strafanspruch zu-
rücknehmen“ (Winter 2009, 477).
Armutskriminalität vs. Kriminalisie-
rung von Armut
Dem Kriminologenstreit Pfeiffer/Sack liegt
zugrunde, dass die Verdrängten, Armen und
Ausgegrenzten eher zu Objekten der Straf-
justiz werden. Auf Grundlage der psychoana-
lytischen Theorien Bernfelds und Winnicotts
und der Praxis der gemeindenahen Psychiatrie
wird im TOA Bremen daher seit 1990 die von
mir begründete Soziale Mediation umgesetzt
(Winter 1994): Möglichst weit im Vorfeld von
Strafanzeigen, Kriminalisierung und Stig-
matisierung besteht unmittelbar in sozialen
Brennpunktquartieren und dort an neutralen
niedrigschwelligen Orten ein kostenloses Ge-
sprächs- und Schlichtungsangebot: Bremer*in-
nen geben daher strafrelevante Konflikte in
zahlreichen Fällen gar nicht erst aus der Hand.
Wenn sie nicht weiter wissen, rufen sie nicht
(oder nicht sofort) die Polizei, sondern suchen
zur Regelung der Konflikte/Straftaten eine der
ge nach einem „etwas“, das Delinquente ge-
meinsam haben (1991, 204). Er meint: „An der
Wurzel jeder antisozialen Tendenz begegnen
wir immer dem Erlebnis eines Verlustes“ (218).
„Wenn ein normales Kind Vertrauen zu Vater
und Mutter hat, überschreitet es dauernd die
ihm gesetzten Grenzen. Im Laufe der Zeit pro-
biert es seine Kräfte aus, etwas zu zerstören, zu
erschrecken, niederzudrücken, zu verschwen-
den, zu überlisten und sich etwas anzueignen.
Alles, was die Erwachsenen zum Richter oder
in die Gefängnisse führt, hat sein Äquivalent
in der ersten und frühen Kindheit und in der
Beziehung zwischen Kind und Elternhaus (…)
[Denn] Tests müssen angestellt werden, beson-
ders wenn das Kind Grund hat, an der Stabilität
der elterlichen Beziehung und der Familie zu
zweifeln“ (204). Was macht aber ein Kind, das
diese Grenzen, Sicherheit und Stabilität weder
zuhause noch in seiner unmittelbaren Umge-
bung (Familie, Nachbarschaft, Schule) findet?
Winnicott: „Das antisoziale (…) Kind, das das
Glück nicht hatte, eine gute ‚innere Umwelt’ zu
entwickeln, braucht unbedingt die Kontrolle
von außen, wenn es überhaupt glücklich und
fähig werden soll, zu spielen und zu arbeiten“
(1988, 204). In diesem Sinne schreibt er krimi-
nellen Akten Hoffnung zu, denn „antisoziales
Verhalten ist häufig nichts anderes als ein
SOS-Ruf nach starken, liebevollen und vertrau-
enden Menschen“ (206). Er geht in Anlehnung
an Melanie Klein davon aus, dass Kriminalität
eine verzweifelte (unbewusste) Suche nach
der lebens- und glückspendenden hinreichend
guten Mutter ist, die jedoch durch den Vater
vor den zerstörerischen Impulsen geschützt
werden muss, die die primitive Liebe des Kin-
des charakterisieren. Er sieht Delinquenz jun-
ger und adoleszenter Menschen grundsätzlich
als – wenn auch sehr subtile – Äußerung von
Hoffnung und in der reparativen, echten Wie-
dergutmachung, die auf Liebe und Respekt für
das Objekt in seiner Ganzheit basiert, demzu-
folge die einzig wirksame Form der Heilung
– sowohl nach innen wie nach außen. Hierin
liegt die psychoanalytische Begründung der
RJ, und diese wäre eben genau eine, der von de
Lagasnerie eingeforderten neuen Formen von
Gerechtigkeit (246, 267), denn „Gewalttätiges
Handeln [verweist] zumeist auf ein Scheitern
individueller Entwicklungsprozesse [und Stra-
fe] birgt das Risiko, weitere Gewalttaten nach
sich zu ziehen, statt sie zu verhindern“ (Taub -
ner 2008, 15).
Dipl.-Psych.
Frank Winter
ist Leiter des TOA Bremen
und des Kriseninterven-
tionsteams Stalking und
häusliche Gewalt, Be-
gründer der Sozialen Me-
diation in Deutschland.
Er verfasste zahlreiche
Vorträge und Fachver-
öffentlichungen zu (ju-
gend)kriminalpolitischen
und psychoanalytischen
Themen.
31
TOA-Magazin · 03/18
Kriminalisierungsprozesse, Übelzufügung und
Stigmatisierung gestoppt und die (Re-)Integ-
rationen von Beschuldigten und Geschädigten
initiiert und gefördert. Bedauerlich, dass de
Lagasnerie solche Ansätze nicht erwähnt, denn
ironischerweise war es im Jahr 2000 gerade
die französische Präsidentschaft der EU, die in
Paris die Soziale Mediation des Bremer TOA als
europäische best practice auszeichnete. Média-
tion Sociale wird auch in Brennpunktquartie-
ren französischer Großstädte umgesetzt.
13 dezentralen Schlichtungsstellen des TOA auf
und bemühen sich um Regulierung jenseits
des Strafrechtssystems. So werden im Bremer
TOA jährlich fast 900 Akten mit etwa 2.000 Be-
troffenen abgeschlossen. Nur knapp die Hälfte
dieser Fälle wird aus dem Strafrechtssystem
zugewiesen.
Geben Betroffene ihre strafrelevanten Konflik-
te aber gar nicht erst an Strafverfolger ab, muss
das Strafrechtssystem diese Konflikte ihnen
auch nicht über den Weg der Diversion oder als
Auflage zurückgeben (Winter 2003). So werden
Bibliographie:
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32 TOA-Magazin · 03/18
Unvollständige Wiedergutmachung
bei mehreren Geschädigten
Von Johannes Kaspar und
Isabel Kratzer-Ceylan
§ 46a StGB ermöglicht bekanntlich bereits
dann eine Strafrahmenmilderung oder sogar
ein Absehen von Strafe, wenn der Täter in dem
„Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletz-
ten zu erreichen“ seine Tat nur „überwiegend“
wiedergutmacht. Bei § 46a I Nr. 1 StGB kann
sogar das bloße „ernsthafte Erstreben“ des Ta-
tausgleichs genügen. Auch eine unvollständige
Wiedergutmachung
1
, die nicht zu einem vollen
Ausgleichserfolg führt, kann also für die An-
wendung der Norm genügen. Problematisch
können in diesem Zusammenhang aber Fälle
mit mehreren Geschädigten sein. Ein aktuelles
Urteil des BGH gibt Anlass, dem näher nachzu-
gehen und die Praxis auf den in solchen Kon-
stellationen drohenden (und möglicherweise
für die Beteiligten überraschenden) Ausschluss
von § 46a StGB hinzuweisen.
Dabei handelt es sich um das Urteil des BGH
vom 7. Februar 2018.
2
Der Angeklagte hatte
den Fahrer eines Pizzalieferservices überfal-
len, nachdem er bei dem Lieferdienst zuvor
Waren im Wert von ca. 30 € bestellt hatte.
Bei Ankunft des Fahrers an der angegebe-
nen Adresse wurde dieser vom Angeklagten
aus kurzer Entfernung in Richtung Nase und
Mund mit Reizgas besprüht. Den Geldbeutel
des Fahrers konnte der Angeklagte zwar nicht
erbeuten, aber die bestellten Waren. Der Täter
entschuldigte sich später beim Opfer und be-
zahlte ein Schmerzensgeld in Höhe von 500 €.
Obwohl in dem Verfahren ein erfolgreicher
TOA stattgefunden hatte, sprach sich der BGH
gegen eine Strafmilderung zugunsten des
Angeklagten nach §§ 46a Abs. 1 Nr. 1, 49 Abs. 1
StGB aus, weil hierfür ein Ausgleich mit allen
Opfern, also auch mit dem Inhaber des Liefer-
service notwendig gewesen wäre, wurde die-
ser doch mindestens im Wert der bestellten
Waren geschädigt. Das Verfahren zeigt, wie
schnell in Verfahren mit mehreren Betroffe-
nen auf Opferseite einzelne Personen ‚durchs
Raster‘ fallen können. Denn in dem beschrie-
benen Fall ist der Schaden des Inhabers des
Lieferservice gegenüber demjenigen des Fah-
rers zu vernachlässigen. Da es an einem direk-
ten Kontakt zwischen Täter und Ladeninhaber
fehlte und sich die persönliche Betroffenheit
von letzterem in Grenzen hielt, erschien ein
klassischer TOA hier wenig sinnvoll. Eine rein
materielle Schadenswiedergutmachung gem.
§ 46a Nr. 2 StGB wäre vonseiten des Täters ge-
genüber dem Inhaber zwar unschwer möglich
gewesen; vermutlich hatten die Beteiligten
im Rahmen der Ausgleichsbemühungen aber
schlichtweg nicht daran gedacht, da dieser
Schadensposten äußerst gering war und klar
im Schatten der direkten Betroffenheit des
Fahrers stand.
Die Gefahr, einen Geschädigten im Rahmen
des Ausgleichsverfahrens zu übersehen, weil
Rechtliches
1 Dabei wird hier von „Wieder-
gutmachung“ als Oberbegriff
in Bezug auf die in § 46a StGB
genannten Varianten des TOA
sowie der Schadenswiedergut-
machung ausgegangen, siehe
dazu bereits Kaspar : Wieder-
gutmachung und Mediation im
Strafrecht, 2004, 2.
2 BGH NStZ 2018, 276. Ähnlich
auch BGH NStZ-RR 2017, 306.
Anmerkung der Redaktion:
Der Beitrag „Rechtliches“ ist
auch in Heft 2-18 von Prof. Dr.
Johannes Kaspar und Dr. Isabel
Kratzer-Ceylan in Co-AutorIn-
nenschaft verfasst worden. Auf-
grund eines Missverständnisses
wurde Frau Dr. Kratzer-Ceylan
letztes Mal nicht als Autorin er-
wähnt. Dies bedauern wir sehr!
TOA-Magazin · 03/18 33
3 BGH NStZ 2000, 205; Fischer
StGB, § 46a Rn. 8. Siehe dazu
auch Kaspar 2004, 106 ff.;
Kaspar/Weiler/Schlickum: Der
Täter-Opfer-Ausgleich, 2014, 25 f.
4 Zur umstrittenen Abgrenzung
der Varianten in § 46a Nr. 1 und
Nr. 2 StGB siehe nur Kaspar/Wei-
ler/Schlickum 2014, 19 ff.
5 BGH NStZ 2012, 439;
StV 2014, 480.
6 Vgl. MüKo/Maier StGB, § 46a
Rn. 1; Kett-Straub NStZ 2018, 276
(277).
7 SSW/Eschelbach StGB § 46a Rn. 3.
8 Vgl. BGH NStZ-RR 2009, 133;
Schönke/Schröder/Stree/Kinzig
StGB, § 46a Rn. 5; Kett-Straub
NStZ 2018, 276 (278).
StGB verwirklicht worden sein, um in den An-
wendungsbereich der Vorschrift zu gelangen.
5
Wenn der Täter in solchen Fällen durch seine
Wiedergutmachungsbemühungen den Groß-
teil des verwirklichten Unrechts abgedeckt
hat, erscheint es allerdings unbillig, ihm das
Tor zu § 46a StGB zu verschließen. Die Sicht-
weise der Rechtsprechung führt zu fragwürdi-
gen Resultaten, wie das oben genannte Urteil
aus dem Jahr 2018 verdeutlicht. Vorzugswür-
dig erscheint es, den Anwendungsbereich der
Norm auch auf Sachverhalte zu erstrecken,
bei denen zwar einzelne Tatopfer nicht vom
Ausgleich umfasst waren, bei denen aber
trotz allem aufgrund einer wertenden Ge-
samtbetrachtung von einem auf einen um-
fassenden Ausgleich gerichteten Bemühen
des Täters gesprochen werden kann. Derlei
Fälle kommen insbesondere dort in Betracht,
wo (wie im Pizzabotenfall) der nicht vom Aus-
gleich umfasste Teil marginal erscheint und
im zugrundeliegenden Gesamtgeschehen
praktisch kaum ins Gewicht fällt.
Für eine entsprechende Auslegung des § 46a
StGB kann zunächst der Sinn und Zweck der
Norm herangezogen werden. Sie dient zwar
in erster Linie der Wiederherstellung des
Rechtsfriedens und soll einen Ausgleich zwi-
schen Täter und (jedem) Opfer fördern bzw.
einen Anreiz für Ausgleichsbemühungen
des Täters schaffen. 6 Die Norm zielt dane-
ben aber auch darauf ab, dass sich der Täter
mit dem begangenen Unrecht auseinander-
setzt und seine Handlungen entsprechend
aufarbeitet.7 Der TOA verfolgt insofern einen
über den Ausgleichserfolg hinausgehenden
Zweck. Die Wiedergutmachung im Sinne des
§ 46a StGB darf daher auch nicht einfach mit
einem bloßen zivilrechtlichen Schadenser-
satz gleichgesetzt werden. 8 Diese Intention
des Gesetzes kann nun eben auch erfüllt sein,
wenn der Täter nur teilweise eine Wieder-
gutmachung leistet. Dass im Grundsatz eine
umfassende Ausgleichsbemühung gefordert
wird, leuchtet zwar ein, damit eine Auseinan-
dersetzung des Täters mit seiner gesamten
Tat erreicht werden kann. Dass „umfassend“
aber im Sinne eines „bis in jede Tatveräste-
lung reichend“ verstanden werden muss, ist
nicht zwingend. Solange die zutage getre-
tenen Bemühungen des Täters hinreichend
deutlich machen, dass dieser sich vom Un-
im Verhältnis zum ‚Hauptopfer‘ der Schaden
eines ebenfalls betroffenen ‚Nebenopfers‘ eher
geringfügig erscheint, besteht gerade dann,
wenn neben natürlichen Personen eine juris-
tische Person zum Kreis der Opfer zählt. Nach
der Rechtsprechung ist auch bei geschädigten
juristischen Personen in manchen Konstellati-
onen ein TOA gem. § 46a Nr. 1 StGB möglich;
3
bei materiellen Schäden
4
kommt unproble-
matisch jedenfalls die Schadenswiedergut-
machung gem. § 46a Nr. 2 StGB in Betracht.
Wird eine juristische Person mitgeschädigt,
muss dann aber folgerichtig auch eine der
beiden Wiedergutmachungsvarianten ihr ge-
genüber erfolgen. Insofern wirkt der weit ver-
standene Anwendungsbereich des § 46a StGB
nicht nur zugunsten des Täters, er verlangt
von diesem auch entsprechend breit gestreu-
te Ausgleichsbemühungen. Gerade beim Auf-
einandertreffen natürlicher und juristischer
Personen als Tatopfer kann letztere bei den
Ausgleichsbemühungen leicht in Vergessen-
heit geraten, weil sich die Aufmerksamkeit der
Beteiligten bspw. im Falle eines Überfalls auf
einen Supermarkt auf die Auseinanderset-
zung mit den bedrohten KassiererInnen oder
den traumatisierten KundInnen und weniger
auf das allenfalls monetär geschädigte Einzel-
handelsunternehmen richten wird, wie auch
der oben beschriebene vom BGH entschiedene
Fall zeigt.
In solchen Konstellationen wird vollumfassen-
de Wiedergutmachung nicht geleistet, weil
einzelne, im Verhältnis zum Hauptopfer nur
geringfügig Geschädigte (bewusst oder unbe-
wusst) übergangen wurden. Soll nun tatsäch-
lich die Anwendung des § 46a StGB insgesamt
wegen eines solchen ganz offensichtlich nicht
ins Gewicht fallenden ‚Restschadens‘ schei-
tern? Der BGH folgt hier einer restriktiven
Linie. Er geht – wie bereits der Gesetzgeber
seinerzeit – zwar davon aus, dass § 46a StGB
keinen vollständigen Ausgleich mit dem Opfer
fordert; dennoch verlangt nach seiner Auffas-
sung die Annahme eines erfolgreichen TOA,
dass die angestellten Bemühungen des Täters
auf der Grundlage „umfassender Ausgleichs-
bemühungen“ geleistet worden sein müssen.
Eine Teilwiedergutmachung genügt danach
nur, wenn dabei sämtliche Tatopfer in den
Ausgleichsprozess einbezogen wurden. Bei
mehreren Geschädigten müsse hinsichtlich je-
des Opfers mindestens eine Variante des § 46a
Prof. Dr. Johannes Kaspar
ist seit 2012 Inhaber des
Lehrstuhls für Strafrecht,
Strafprozessrecht, Krimi-
nologie und Sanktionen-
recht an der Universität
Augsburg. Er beschäftigt
sich mit unterschiedlichen
strafrechtlichen und kri-
minalpolitischen Fragen.
Einer seiner Forschungs-
schwerpunkte ist die
Bedeutung von Wiedergut-
machung und Mediation
im Strafrecht, die er in
zahlreichen Publikationen
untersucht hat. Unter
anderem ist er Mitautor
des 2014 erschienenen,
gemeinsam mit Eva Weiler
und Gunter Schlickum
verfassten einführenden
Werks „Täter-Opfer-Aus-
gleich“ (Beck-Verlag).
34 TOA-Magazin · 03/18
Dr. Isabel Kratzer-Ceylan
ist Rechtsanwältin mit
Tätigkeitsschwerpunkt im
Strafrecht und Traumabe-
raterin; in ihrer Promotion
befasste sie sich eingehend
mit sexueller Gewalt. Die
professionelle Vertretung
in Opferschutzsachen
ist ihr ein besonderes
Anliegen. Darüber hinaus
setzt sie sich dafür ein,
TOA-Maßnahmen mehr
Geltung zu verschaffen.
Insgesamt spricht somit vieles dafür, bei un-
vollständigen Wiedergutmachungsbemü-
hungen nicht nur formalistisch opfer- oder
tatzentriert zu denken, sondern den Blick
wertend auf das Gesamtgeschehen als Ein-
heit zu richten und hieran die Ausgleichsbe-
strebungen des Täters zu messen. Sofern in
den Bemühungen des Täters grundsätzlich
der ernstliche Wille zu einer umfassenden
Wiedergutmachung seiner Tat hinreichend
deutlich zum Ausdruck kommt und demge-
genüber nicht berücksichtigte Belange Drit-
ter praktisch nicht ins Gewicht fallen, sollte
die Möglichkeit einer Strafmilderung nach
§ 46a StGB offengehalten werden. Ob man
dies (vertretbar) unmittelbar auf den Wort-
laut der Norm stützt oder sie zu Gunsten
des Täters analog anwendet, ist demgegen-
über nicht entscheidend. Solange die Recht-
sprechung sich dieser Linie nicht anschließt,
sollte in der Praxis aber umso mehr versucht
werden, sämtliche Geschädigte einer Tat, also
auch diejenigen mit nur geringfügiger und
rein materieller Betroffenheit, in die Aus-
gleichsbemühungen einzubeziehen.
rechtsgeschehen insgesamt distanziert hat
und sich seiner Täterrolle und der Bedeutung
seines Handelns vollumfänglich bewusst ist,
spricht nichts gegen eine entsprechende Ho-
norierung, selbst wenn der Ausgleich nicht
alle Facetten eines Sachverhalts abdeckt. Für
ein weites Verständnis der Voraussetzungen
von § 46a StGB spricht auch, dass die Norm
keine automatische Vergünstigung des Tä-
ters vorsieht, sondern diese in das Ermessen
des Richters stellt. Schließlich zeigt auch das
Gesetz selbst, indem es ein „ernsthaftes Er-
streben“ und eine lediglich „überwiegende“
Wiedergutmachung unter Umständen für
eine Anwendung des § 46a StGB ausreichen
lässt, dass nicht nur der Output eines TOA zu
betrachten ist, sondern auch das Verhalten
und die Intention des Täters bei der Bewer-
tung eine Rolle spielen. Gerade das Merkmal
des „Erstrebens“ erlaubt es, den Täter insbe-
sondere in Fällen, in denen eine Versagung
von Strafmilderungen als unbillig erscheint,
trotz einer unvollständigen Wiedergutma-
chung von Milderungen nach § 46a StGB
profitieren zu lassen. 9 Bei der Bewertung der
Unbilligkeit sind freilich die gegebenenfalls
betroffenen oder übergangenen Opferinte-
ressen maßgeblich zu berücksichtigen, um
diesem Aspekt des Gesetzeszwecks hinrei-
chend Rechnung zu tragen.
9 MüKo/Maier § 46a StGB Rn. 21.
Nächste Ausgabe
des TM wird Tagungsdokumentation
des TOA-Forums
In eigener Sache
Liebe Leser*innen,
als erste Ausgabe im nächsten Jahr
planen wir eine Tagungsdokumen-
tation zum 17. TOA-Forum, das vom
7. bis 9. November 2018 unter dem
Thema ‚Selbstbestimmung statt Be-
dürftigkeit - Die Stärke der Beteilig-
ten‘ in Berlin stattfand.
Alle Abonennt*innen des TOA-Magazins
erhalten diese Tagungsdokumentation im
Rahmen ihres Abonnements - als eine der
drei Heftausgaben für das Jahr 2019.
Mit besten Grüßen,
die Redaktion des TOA-Magazins
35
TOA-Magazin · 03/18
„Foresee“ erhielt dieses Jahr den
European Restorative Justice Award
des European Forum for Restorative
Justice.
„Ich habe gelernt,
geduldig zu sein.“
TOA-Magazin: Herzlichen Glückwunsch zum
Restorative Justice Award! Was haben Sie ge-
dacht und gefühlt, als Sie den Preis erhalten
haben?
Borbála Fellegi: Ich war zunächst überrascht,
da der Preis bisher immer an Einzelpersonen,
zumeist AkademikerInnen, ging, und ich hatte
viele Ideen, wer es diesmal sein würde. Dann
war ich natürlich sehr glücklich und stolz auf
mein ganzes Team. Ich musste an all die Jah-
re unserer Arbeit denken, in denen wir ange-
sichts der politischen Entwicklungen in unse-
rem Land so manches Mal am Sinn unseres
Tuns gezweifelt haben. Der gegenwärtige
Zeitgeist scheint ja in eine andere Richtung als
die unsere zu gehen. Die Wertschätzung, die
durch den Award ausgedrückt wird, hat uns
daher überwältigt. Er hat uns gezeigt, dass un-
sere Arbeit sich lohnt und es Leute gibt, die sie
anerkennen.
TOA-Magazin: War das ganze Team bei der Ver-
leihung anwesend?
Borbála Fellegi: Nein, wir waren nur zu dritt.
Aber die anderen wussten, dass wir da sind.
TOA-Magazin: Was bedeutet denn der Name
„FORESEE“?
Borbála Fellegi: Wir sehen vier Schlüsselele-
mente in unserer Arbeit: community, conflict
resolution, cohesion, communication (Ge-
meinschaft, Konfliktbearbeitung, Zusammen-
halt, Kommunikation). Wenn man diese vier
Cs („four c“) miteinander verbindet, kann man
unserer Auffassung nach ein friedliches Zu-
sammenleben schaffen und erhalten. Und mit
dem Wort „Foresee“ wollen wir sagen, dass wir
eine friedliche Zukunft vorhersehen können.
TOA-Magazin: Wie ist das Foresee-Team aufge-
baut?
Borbála Fellegi: Wir sind eine kleine NGO in
Form einer gemeinnützigen GmbH, und uns
gibt es seit 2008. Wir arbeiten projektbasiert,
das heißt wir haben keine regelmäßige För-
derung oder feste MitarbeiterInnen, sondern
rekrutieren unsere Teammitglieder als freie
Honorarkräfte für die jeweiligen Projekte. Sie
arbeiten also in der Regel noch in anderen Jobs.
So entgehen wir dem Druck, ständig Geldquel-
len aufzutun. In den letzten zehn Jahren hat-
ten wir immer mindestens ein Projekt am
Laufen, manchmal sogar mehrere gleichzeitig,
dann waren zum Teil bis zu zehn Leute bei uns
beschäftigt. Aber wenn wir mal eine Projek-
Wir stellen vor: Die Foresee Research Group
(vertreten durch Borbála Fellegi)
36 TOA-Magazin · 03/18
fehlt. Ich fragte mich, wer sich eigentlich um
die Bedürfnisse der Opfer kümmert und wer
denn eine Brücke zwischen Opfern, TäterInnen
und der Community baut. Zu dem Zeitpunkt
wusste ich noch nichts über Restorative Ju-
stice, ich hatte einfach den Eindruck, dass es da
eine Brücke bräuchte. Und dann hörte ich 2001
vom European Forum Restorative Justice, das in
Belgien stattfinden sollte. Ich bin hingefahren
und war völlig überwältigt von all dem, was
in Europa bereits auf professioneller Ebene
in diesem Bereich existierte. Ich wollte tiefer
einsteigen und habe ein Kriminologiestudium
angefangen und eine Doktorarbeit über Resto-
rative Justice geschrieben. Damals gab es auf
internationaler Ebene nicht viele UngarInnen
in diesem Bereich, so dass ich schnell mit vie-
len KollegInnen aus anderen Ländern in Kon-
takt kam, die mich zu Kooperationsprojekten
einluden.
TOA-Magazin: Und FORESEE ist entstanden, weil
Du gerne in Ungarn im Team arbeiten wolltest?
Borbála Fellegi: Ich arbeitete zunächst eine
Weile für das European Forum in Belgien. Als
ich 2006 zurück nach Ungarn ging, habe ich
mir gedacht, dass wir doch mit den vielen ta-
lentierten KollegInnen in Ungarn und unserem
vereinten Wissen vor Ort etwas tun könnten!
Während der Forschungsarbeiten zu meiner
Doktorarbeit hatte ich viele RichterInnen und
StaatsanwältInnen getroffen und festgestellt,
dass sie nichts über RJ wussten, weil einfach
kaum Informationen auf ungarisch erhält-
lich waren und nur wenige von ihnen andere
Sprachen beherrschten. Aber wenn ich ihnen
von Restorative Justice und Mediation erzähl-
te, reagierten die meisten aufgeschlossen
und interessiert. Somit war meine erste Idee,
Literatur und Filme zu Restorative Justice auf
ungarisch zu übersetzen. Schließlich bekamen
wir die erste Förderung 2009 von der Europä-
ischen Kommission im Rahmen des internati-
onalen Forschungsprojektes „Mediation and
Restorative Justice in Prisons (MEREPS)“. Außer
Ungarn waren noch Deutschland, Belgien und
England beteiligt. Unsere Partnerorganisation
in Ungarn war das Nationale Institut für Kri-
minologie, damit hatten wir direkt ein gutes
Standing und die Leitungen der Gefängnisse,
in denen wir arbeiteten, begegneten uns mit
Offenheit und Interesse, manche wurden so-
gar enge Partner.
tidee nicht finanziert bekommen, dann setzen
wir sie nicht um, und die Leute kümmern sich
um ihre anderen Jobs. Als Gründerin und Ge-
schäftsführerin bin ich auch nicht bei Foresee
angestellt. Ich kümmere mich aber um die
Webseite, denn wir haben beschlossen, dass
wir sie immer aktualisieren wollen, auch wenn
wir sonst wenig läuft.
TOA-Magazin: Wie werden denn Beschlüsse ge-
fasst?
Borbála Fellegi: Wenn uns jemand zu einer Ko-
operation einlädt, kontaktiere ich die entspre-
chenden KollegInnen und frage sie, ob sie Lust
und Zeit haben, mitzumachen. Dann fällen
wir alle weiteren Entscheidungen als Gruppe.
Innerhalb der Organisation gibt es noch einen
dreiköpfigen Vorstand, der meine Aktivitäten
formell überwacht, aber nicht inhaltlich in die
Arbeit interveniert.
TOA-Magazin: Worin besteht Eure Arbeit?
Borbála Fellegi: Im Team gib es MediatorInnen,
SozialarbeiterInnen und WissenschaftlerIn-
nen. Wir versuchen, in allen Projekten Theorie
und Praxis miteinander zu verbinden, dabei ist
die Aktionsforschung eine wichtige Methode,
die wir schon oft eingesetzt haben.
TOA-Magazin: Arbeitet Ihr nur in Ungarn?
Borbála Fellegi: Der Fokus liegt schon auf Un-
garn, aber wir haben auch schon an internati-
onalen Kooperationsprojekten teilgenommen
und werden manchmal in andere Länder ein-
geladen, um Trainings zu geben.
TOA-Magazin: Wie bist Du überhaupt zur Resto-
rative Justice gekommen?
Borbála Fellegi: Ich habe Sozialarbeit studiert
und ein Praktikum als Bewährungshelferin
gemacht. Dabei ist mir aufgefallen, dass etwas
Die FORESEE Research Group ist ein junges, multidiszipli-
näres Team von WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen
aus Ungarn, das sich dem Kampf gegen soziale Ungleich-
heit und Ungerechtigkeit verschrieben hat und versucht,
Restorative Justice sowie andere innovative Konfliktlö-
sungswege voranzubringen.
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TOA-Magazin · 03/18
TOA-Magazin: Das Problem ist doch, dass viele
gar nicht wissen, dass es existiert, und die, die es
wissen, sind nicht unbedingt die, die es am drin-
gendsten brauchen.
Borbála Fellegi: Tatsächlich ist es viel wirkungs-
voller, mit der Arbeit anzufangen, solange al-
les noch okay ist. Also gut zu verhandeln, gut
mit sich widersprechenden Interessen umzu-
gehen, bevor sie in einen Konflikt eskalieren.
Denn zu diesem Zeitpunkt kann man noch sehr
unterschiedlich denkende Parteien an einen
Tisch bringen. Wenn aber bereits Spannungen
existieren und sich Vorurteile gebildet haben,
wird es schwieriger zu intervenieren. Wenn
es uns also gelingt, einen Gemeinschaftssinn
zu schaffen, solange die Dinge noch halb-
wegs in Ordnung sind, haben wir ein großes
Lösungspotenzial, wenn ein Konflikt entsteht.
Der andere Punkt ist, dass es für Menschen,
die gesellschaftlich marginalisiert sind, sehr
angstbesetzt sein kann, sich mit der anderen
Seite hinzusetzen und einen Dialog zu füh-
ren. Das ist etwas, das wir als MediatorInnen
aus der Mittelschicht akzeptieren müssen. Wir
erwarten oft zu viel. Was wir in solchen Fällen
häufig gemacht haben, sind Einzelinterviews,
Biographiearbeit. Lebenslaufinterviews sind
zwar eher eine Forschungsmethode, aber
manchmal hilft den Beteiligten das, besser zu
verstehen, zu reflektieren und Gemeinsamkei-
ten zu sehen. Das braucht aber viel Zeit. Daher
ist eine der wichtigsten Lektionen, die ich in
den 18 Jahren meiner Mediationsarbeit gelernt
habe, bescheiden und geduldig zu sein.
TOA-Magazin: Vielen Dank für das Gespräch.
TOA-Magazin: Du hast vorhin von Zweifeln und
Schwierigkeiten im Kontext mit der politischen
Situation in Ungarn gesprochen. Wie sieht es
dann aus, werdet Ihr unterstützt oder müsst Ihr
viel kämpfen?
Borbála Fellegi: Das ist eine wichtige Frage
und Gegenstand ständiger Diskussionen un-
ter uns. Ich persönlich kann nicht sagen, dass
man für Frieden kämpfen muss. Ich finde, das
ist ein Widerspruch in sich. Es gibt aber dies-
bezüglich keine allgemeine Foresee-Strategie.
Ich sehe es so, dass es bestimmte politische
Tendenzen und Machtdynamiken gibt, die un-
seren Ansatz ignorieren, vernachlässigen oder
sogar bestrafen, weil wir den Status quo und
die Mächtigen in Frage stellen. Wichtiger fin-
de ich aber die ‚normalen‘ Leute und Organi-
sationen, die sehen, welchen Einfluss Konflikte
auf ihr tägliches Leben haben und nach Wegen
suchen, sie zu überwinden und weiterzukom-
men. Man kann also nicht sagen, dass unsere
Arbeit keinen Sinn mehr macht, weil das Land
sich in Richtung einer Autokratie entwickelt.
Es gibt immer noch genügend Leute innerhalb
des Systems, die offen und interessiert sind,
und die finden den Weg zu uns. Das Haupt-
problem momentan ist, dass es nur wenig För-
derung oder offizielle Unterstützung gibt. Wir
müssen uns also mit der Bescheidenheit und
der kleinen Reichweite unserer Projekte zufrie-
dengeben. Ich habe aber festgestellt, dass das
auch eine sinnvolle Art ist, unsere Arbeit zu
tun. Für mich muss Restorative Justice nicht
mainstreamig und trendy sein. Ich kann mit
ihrer marginalen Position gut leben, solange
wir diejenigen erreichen, die uns suchen. Dann
sind wir da, und so lange wir nicht gestoppt
werden, werden wir weiter da sein.
Überreichung des Preises durch Tim Chapman und Edit Törsz (rechts im Bild, links Borbála Fellegi )
Interview und Übersetzung
aus dem Englischen:
Theresa M. Bullmann
38 TOA-Magazin · 03/18
England: Von Restorative Justice zu „Restorative Cities“
International
Von Marian Liebmann
Dieser Artikel soll einen kurzen Überblick über
die Entwicklung der „Restorativen Städte“ in
Großbritannien geben. Restorative Justice ist
als Konzept und Praxis in den meisten Ländern
Europas bekannt, die Idee der Restorativen
Stadt dagegen ist relativ neu. Sie wurde von
PraktikerInnen und TrainerInnen entwickelt,
die das Potenzial der Anwendung von RJ in an-
deren gesellschaftlichen Kontexten erkannten.
Restorative Praktiken und Werte
Mediation (in Strafsachen), Conferencing, Krei-
se, Konfliktklärung, Wiedergutmachungspro-
zesse oder Begegnungsgruppen für TäterInnen
und Opfer bilden zusammen eine Art ‚Verfah-
rensfamilie‘. Ihnen sind bestimmte Werte und
Prinzipien gemein, dazu gehören etwa:
• Verantwortung für die eigene Handlungen
übernehmen,
• gewaltfreie Konfliktlösung,
• Anerkennung des verursachten Schadens,
• Bereitschaft, um Verzeihung zu bitten und
wiedergutzumachen,
• Nachbarschaftlichkeit,
• keine körperliche Gewalt gegenüber Kin-
dern, PartnerInnen oder Älteren auszuüben,
• Konflikte durch gerechte Ressourcenvertei-
lung zu reduzieren,
• anderen mitzuteilen, wenn sie einen verletz-
ten,
• die Handlung, aber nicht den Menschen zu
verurteilen.
Ein wichtiger Aspekt bei der Entwicklung von
RJ hin zu restorativen Praktiken ist die pro-
aktive Herangehensweise, d. h. Beziehungen
herzustellen und zu pflegen, um Konflikten
vorzubeugen statt erst zu reagieren, wenn sie
entstanden sind.
Restorative Cities
Restorative Werte können also in vielen ver-
schiedenen Kontexten hilfreich sein. Insofern
ist die Entwicklung einer ‚Restorativen Stadt‘
ein logischer nächster Schritt. Sie definiert sich
folgendermaßen: Eine Restorative Stadt ist
eine Stadt, in der sich alle öffentlichen Organi-
sationen und Institutionen dazu verpflichten,
Konflikte restorativ und nicht strafend anzu-
gehen, unter Zuhilfenahme von Mediation
und anderen restorativen Verfahren.
Das Beispiel Hull
Die an der Nordostküste Englands liegende
Stadt Hull (vollständiger Name Kingston-
upon-Hull), deren 270.000 EinwohnerInnen
hauptsächlich vom Fischfang und dem Handel
mit Mitteleuropa und Skandinavien leben, war
die erste Stadt, in der die Idee einer Restorati-
ven Stadt aufkam.
Im Jahr 2002 war für die Grundschule Colling-
wood in Hull der Bedarf von „besonderen
Maßnahmen“ festgestellt worden (d. h. an der
Schule lief es so schlecht, dass spezielle Hilfen
notwendig wurden). Innerhalb von 24 Mona-
ten gelang es einer neuen Lehrerin namens
Estelle Macdonald, mithilfe von restorativen
Verfahren die Schule so zu verändern, dass
sie als „ausgezeichnet“ eingestuft wurde. Die
Ausschlüsse vom Unterricht reduzierten sich
um 98 Prozent, es wurden 75 Prozent weniger
rassistische Vorfälle gemeldet und die Pünkt-
lichkeit der SchülerInnen verbesserte sich um
87 Prozent. Macdonald wurde gebeten, ihre
Herangehensweise systematisch darzulegen
und für Weiterbildungen aufzubereiten. Der
Direktor des Jugendamtes, Nigel Richardson,
Dr. Marian Liebmann
arbeitet seit vielen Jahren
im Bereich der Restorati-
ve Justice, unter anderem
für Mediation UK und
Bristol Mediation. Sie ist
unabhängige Beraterin
für RJ-Angelegenheiten
in Großbritannien und
weltweit, sie engagiert
sich sehr für die Entwick-
lung von Bristol zur Re-
storativen Stadt. Sie hat
zwölf Bücher veröffent-
licht, darunter ‚Restorati-
ve Justice. How It Works‘.
39
TOA-Magazin · 03/18
Das Beispiel Bristol
Da ich selbst aus Bristol stamme und in die
Entwicklungen hier von Anfang an einge-
bunden war, werde ich etwas ausführlich auf
Restorative Bristol eingehen.
Der Stadtrat von Bristol hatte Ende des Jahres
2007 zu einer hochkarätigen Konferenz ein-
geladen, um Bristol als restorative Stadt zu
entwickeln. Denn obwohl es hier bereits viele
RJ-Initiativen gab, manche seit mehr als zwan-
zig Jahren, waren diese kaum miteinander in
Kontakt. Somit stellte sich die Frage, wie wir
andere vom Sinn unseres Anliegens überzeu-
gen konnten, wenn wir nicht einmal unterein-
ander zusammenkamen.
2010 begann eine kleine Gruppe von uns, an-
dere PraktikerInnen zusammenzutrommeln
und sich in Workshops mit je ca. dreißig Teil-
nehmerInnen zu treffen. Eine unabhängige
Organisation unterstützte uns dabei mit ge-
ringen Mitteln. Unser Ziel war:
• gemeinsame Prinzipien für Restorative Ver-
fahren zu identifizieren,
• Leute zusammenzubringen, um sich vom
Reichtum der vielen Initiativen inspirieren
zu lassen,
• ein ständiges RJ-Forum in Bristol zu schaf-
fen,
• eine gemeinsame Vision zu entwickeln und
nach Kooperationsmöglichkeiten zu suchen,
• Strategien zu entwickeln, wie aus Bristol
eine Restorative City werden kann.
Von 2010 bis 2012 hielten wir mehrere Work-
shops und Mini-Konferenzen ab und vertief-
ten unsere Zusammenarbeit. Unter den bear-
beiteten Themen war z. B. Restorative Justice in
Gefängnissen, restorative Praktiken in Schulen,
die Rolle der Polizei in Restorative Justice-Ver-
fahren, Mediation mit Obdachlosen, Umgang
mit Hassverbrechen etc. Wir hatten offen-
sichtlich einen Nerv getroffen, denn die Zahl
der Workshops nahm zu, und immer mehr
Fachkräfte unterstützten das Programm. Lei-
der trafen uns 2014 die Sparmaßnahmen des
Austeritätsprogramms und die sowieso schon
geringe finanzielle Unterstützung seitens der
Stadt wurde ganz eingestellt, so dass seitdem
keine Workshops mehr abgehalten werden, es
sei denn, wir erhalten gelegentlich finanzielle
Unterstützung.
war seinerseits so beeindruckt, dass er die
Verfahren an alle Fachkräfte, die mit Kindern
arbeiten, vermitteln und Hull zur ‚Restorativen
Stadt‘ machen wollte. Das führte zur Grün-
dung des Hull Centre for Restorative Practices,
das zwischen 2005 und 2012 Fortbildungen in
Conferencing mit Schulen, Jugendzentren, Kin-
derheimen, Pflegefamilien, Familienzentren,
Jugendherbergen, Krankenhäusern sowie bei
Angehörigen der Polizei, der Bewährungshilfe,
der Jugendhilfe und bei Gefängnismitarbeite-
rInnen durchführte.
Das Beispiel Leeds
Nigel Richardson wurde 2010 auf einen ähn-
lichen Posten in Leeds versetzt. Leeds ist eine
Industriestadt mit 750.000 EinwohnerInnen in
Nordostengland. Hier leben viele verschiedene
ethnische Minderheiten, insbesondere Men-
schen mit asiatischen Wurzeln. Restorative Ju-
stice wurde zu diesem Zeitpunkt in Leeds schon
seit Längerem eingesetzt, besonders im Be-
reich der Jugend- und Bewährungshilfe. Nigel
Richardsons Vorhaben, alle Einrichtungen, die
mit Kindern arbeiten, restorativ zu transfor-
mieren, wurde daher sofort willkommen ge-
heißen. Das Hauptanliegen war, mit den Eltern
zu arbeiten, um die Kinder möglichst in ihren
Familien belassen zu können. Der Einsatz von
Kreisverfahren in Schulen und Einrichtungen
der Sozialfürsorge sowie in internen Personal-
versammlungen wurde gefördert.
Die in Leeds angewandten formellen und in-
formellen restorativen Verfahren halfen Prak-
tikerInnen, MitarbeiterInnen der Verwaltung,
Kindern, Jugendlichen und deren Familien da-
bei, besser miteinander zu kommunizieren. Es
ging darum, Barrieren abzubauen und ein Ge-
fühl von Gemeinschaft, Verständnis, sozialer
Verantwortung und gegenseitiger Verpflich-
tung zu entwickeln. Eine Überprüfung im Jahr
2015 kam zu dem Ergebnis, dass „das Engage-
ment für Restorative Praktiken sich transfor-
mierend auf Kultur und Arbeit auswirkt.“
40 TOA-Magazin · 03/18
Restorative Projekte und Angebote in Bristol 2018
• Bristol Mediation. Gegründet 1987, bietet verschiedene Konfliktklärungsver-
fahren für Nachbarschaften und Communities in Bristol und Umgebung
an. Das Team besteht aus über vierzig ehrenamtlichen MediatorInnen, drei
SachbearbeiterInnen und einem „community engagement officer“. Es bear-
beitet über 150 Fälle pro Jahr.
• Bristol Police Youth Restorative Disposal. Pilotphase 2008-9 nachdem 700 Po-
lizeibeamtInnen darin geschult wurden, geringfügige Delikte mit Hilfe von
Restorative Justice zu bearbeiten. Jugendliche werden unter diesen Umstän-
den für Delikte nicht strafrechtlich belangt. Mittlerweile über 5000 Fälle pro
Jahr in Avon und Somerset (dem Polizeibezirk, zu dem Bristol gehört).
• Restorative Approaches Avon & Somerset (RAAS). Steht unter der Leitung von
Bristol Mediation und bietet im Rahmen von Strafverfahren (inklusive Se-
xualstraftaten und häusliche Gewalt) sowie an Schulen restorative Verfah-
ren an, darunter Conferencing, schriftliche Vermittlung und restoratives
Briefeschreiben. Gibt außerdem Workshops zu RJ. Bewährungshilfe und Poli-
zei überweisen Fälle an RAAS.
• CRC (Community Rehabilitation Company) South West bietet RJ an und leitet
Fälle an RAAS weiter.
• Bristol Youth Offending Team (Einrichtung der Jugendhilfe im Strafverfah-
ren). Arbeitet mit jugendlichen StraftäterInnen im Alter zwischen zehn and
17 Jahren und ermuntert sie, für den durch ihre Handlungen entstandenen
Schaden Verantwortung zu übernehmen und Wiedergutmachung anzustre-
ben.
• Bristol Reparation Service. Teil von Catch 22, einer landesweiten gemeinnützi-
gen Einrichtung. Arbeitet in Bristol mit dem Youth Offending Team und bie-
tet Wiedergutmachungsprojekte an.
• Hate Crime and Discrimination Initiative. Kooperationsprojekt von SARI
(Stand Against Racism & Inequality) und Bristol Mediation. Bietet eine Reihe
an restorativen Interventionen an.
• RESTORE, Teil des Forgiveness Project, arbeitet mit Straftäterinnen im Frauen-
gefängnis Eastwood Park.
• Vinney Green Secure Unit. Einrichtung für Jugendliche in prekären Lebensla-
gen, setzt restorative Methoden im Umgang mit deren herausforderndem
Verhalten ein.
• Grundschule Shirehampton. Verfolgt einen restorativen Ansatz weg von Stra-
fe und hin zu Bildung und Partizipation der SchülerInnen.
• Orchard Secondary School. Setzt restorative Verfahren bei Disziplinarfällen in
der Schule ein.
• Restorative Thinking Parenting Programme. Motiviert Eltern und ErzieherIn-
nen, über das Verhalten der Kinder nachzudenken sowie zu überlegen, was
sie damit ausdrücken wollen und welche Reaktionen ihre Bedürfnisse stillen
könnten.
• Resolution at Work. Bietet Mediationen im Arbeitsumfeld an, um Konflikte zu
lösen und die Beziehungen am Arbeitsplatz zu verbessern.
• Mehrere große öffentliche Einrichtungen haben ihre eigenen In--house- Me-
diationsdienste.
• Salaam Shalom bringt auf verschiedenen Wegen MuslimInnen und JüdIn-
nen zusammen, z. B. in Radioprojekten, Kunstausstellungen und Konfliktar-
beit an Schulen.
• Restorative Justice Week (jährlich im November) – wir stellen eine Reihe von
RJ-Projekten zusammen und bewerben diese, wie etwa Filme, Workshops,
Vorträge und Schulkonferenzen.
Wie Restorative Bristol
den Mainstream erreichte
Nachdem wir schon länger mit dem Stadtrat von
Bristol in Kontakt gestanden hatten, trafen wir
uns im August 2012 mit einigen VertreterInnen,
die restoratives Arbeiten stärker verankern woll-
ten. Sie gründeten einen Ausschuss zum The-
ma ‚Restorative Bristol‘, an dem die LeiterInnen
mehrerer Dezernate der Stadt teilnehmen und
der alle sechs Wochen tagen sollte. Einige Fach-
kräfte aus dem Bereich der Restorative Justice,
darunter ich selbst, waren auch beteiligt. Ziel war
es, die Arbeit voranzubringen und Mittel dafür
bereitzustellen. Schließlich wurde ein leitender
Angestellter der Bewährungshilfe damit betraut,
die restorativen Aktivitäten in Bristol zu erheben,
einen Bericht zu verfassen und eine große Konfe-
renz zu organisieren, um „Restorative Bristol“ of-
fiziell aus der Taufe zu heben. Die Konferenz fand
im Dezember 2012 in Anwesenheit mehrerer Re-
präsentanten der Stadt statt. Auf dem Programm
standen Vorträge zum Konzept von Restorative
Bristol, zur Rolle der Vergebung in Opfer-Täter-Be-
gegnungen, zum Stand der Restorative Justice
weltweit, zu restorativen Praktiken in Schulen
sowie Workshops von acht verschiedenen lokalen
Organisationen zu ihren Arbeitsweisen.
Die restorative Arbeit nahm 2013 an Fahrt auf.
Ein Projektkoordinator wurde eingestellt, um
binnen eines Jahres eine Strategie zur Wei-
terentwicklung der restorativen Angebote zu
entwickeln. Als Motto für Restorative Bristol
wurde „working together to resolve conflict
and repair harm“ (etwa: gemeinsam Konflik-
te lösen und Schaden wiedergutmachen) ge-
wählt. Eine Webseite wurde eingerichtet, ein
Mitgliedschaftssystem eingeführt und weite-
re Konferenzen abgehalten. Mit Zunahme der
Kürzungen im Rahmen der europäischen Fi-
nanzkrise wurde es in dieser Zeit jedoch immer
schwieriger, Veranstaltungen zu organisieren.
Projekte und Angebote
im Rahmen von Restorative Bristol
Im Laufe der Existenz von Restorative Bristol
sind – je nach Verfügbarkeit von Finanzmitteln
– zwar viele Projekte entstanden, wurden aber
auch wieder ,eingestampft‘. Zum Zeitpunkt, da
ich diesen Artikel schreibe, existierten die fol-
genden Projekte und Angebote:
41
TOA-Magazin · 03/18
Fazit
In diesem Text habe ich zwei Wege zur
Restorativen Stadt vorgestellt. Der erste
ist der ‚Trainingsweg‘: Restorative Ideen
verbreiten sich mit einer zunehmenden
Zahl an Fortbildungen zu Restorativen
Praktiken in verschiedenen Gruppen
und Abteilungen, bis sie immer stärker
in die jeweilige Arbeit integriert wer-
den. So war es in Hull (der ersten Stadt,
die sich zur Restorative City erklärt hat),
Leeds und einigen anderen Städten
und Regionen.
Der zweite Weg ist der, den Bristol ge-
gangen ist: Bereits existierende RJ-Pro-
jekte werden in einer Organisation
gebündelt, mit deren Hilfe weitere Initi-
ativen angestoßen werden. Diesen Weg
sind neben Bristol u. a. auch Durham,
Brighton und Southampton gegangen.
Was muss eine Stadt nun tun, um eine
‚Restorative City‘ zu werden? Hull hat
ein paar Empfehlungen zusammenge-
stellt, die dabei helfen können, restora-
tive Praktiken zu integrieren:
• EntscheidungsträgerInnen in Schlüs-
selpositionen ausfindig machen und
sie motivieren, gemeinsam Entschei-
dungen für den restorativen Wandel
zu treffen,
• Mittel bereitstellen (ggf. umvertei-
len),
• nicht aufgeben – kultureller Wandel
braucht Zeit,
• so inklusiv wie möglich arbeiten und
Menschen auf allen Ebenen in allen
Institutionen einbeziehen,
• Auswirkungen evaluieren.
Herausforderungen
für Restorative Städte
Seit Aufnahme der Arbeit tagt der Restora-
tive-Bristol-Ausschuss einmal im Vierteljahr,
allerdings haben wir durch Mittelkürzungen
Personal verloren und unser Projektkoordina-
tor muss sich neben Restorative Bristol mitt-
lerweile um etwa zehn weitere Projekte küm-
mern. Auch neue politische Richtlinien können
die restorative Arbeit untergraben, so etwa
‚Nulltoleranz‘-Politiken. Oft werden Angebote
auf das Minimum der legalen Anforderung re-
duziert, so dass sich die Akzeptanz für schlech-
tere Qualitätsstandards erhöht. Da restorative
Ansätze nicht mehr ‚schick und neu‘ sind, kom-
men sie oft in der gegenwärtigen ständigen
Umstrukturierung im Namen des Geldsparens
unter die Räder.
Übersetzung aus dem
Englischen:
Theresa M. Bullmann
Mpatapo das afrikanische Symbol der Konfliktsch-
lichtung. Die Knoten verbinden die Parteien zu einer
harmonischen, friedlichen und versöhnenden Lösung.
42 TOA-Magazin · 03/18
Das Buch gibt eine sehr gute Orientierungs-
hilfe für die Mediation im Jugendstrafrecht. Es
erläutert Hintergründe, bietet methodisches
und praktisches Erfahrungswissen, gibt Hil-
festellungen gleichermaßen für Berufsanfän-
ger*innen sowie für „alte Hasen“ und zeigt auf,
wie sich der Täter-Opfer-Ausgleich in jeder Ein-
richtung auf den Weg bringen lässt.
Middelhof und Priem leisten einen umfas-
senden Überblick von den Themen Jugend-
strafrecht, das Opfer im Strafverfahren, Tä-
ter-Opfer-Ausgleich und dessen praktische
Durchführung, Mediation im Strafrecht, Me-
thoden und Techniken, rechtliche Grundlagen
und Zivilrecht bis hin zu Kooperation, Etablie-
rung des TOA und dem Täter-Opfer-Ausgleich
als Aufgabe der Jugendhilfe. Dabei liefern sie
ausführliche (und hilfreiche) Informationen zu
den jeweiligen Feldern.
Neben den theoretischen Grundlagen geben
die Autoren in den Kapiteln IV und V den Le-
ser*innen konkretes Handwerkszeug für die
Praxis mit, indem sie die Durchführung eines
Täter-Opfer-Ausgleichs darlegen. Von Einla-
dungen, über Vorgespräche bis hin zum Aus-
gleichsgespräch, den Methoden und Techni-
ken sowie Abschlussberichten wird alles sehr
detailliert beschrieben und auch auf die Rolle
des Mediators/der Mediatorin eingegangen.
Den Abschluss des Buchs bilden die „empiri-
schen Verallgemeinerungen“ von Lutz Netzig
von der Waage Hannover, der Beschuldigte
und Geschädigte zum Täter-Opfer-Ausgleich
befragt hat.
Kritisch anmerken könnte man, dass die Au-
toren ausschließlich von Jugendgerichtshel-
fer*innen als Vermittler*innen ausgehen. Die
Möglichkeit eines spezialisierten Täter-Op-
fer-Ausgleichs durch Mediator*innen einer
(TOA-)Fachstelle wie zum Beispiel bei freien
Trägern der Jugendhilfe wird dabei gänzlich
außer Acht gelassen. Grundsätzlich untermau-
ert von Fallbeispielen gestaltet sich das Buch
jedoch besonders anschaulich, verständlich
und praxisnah.
Ein Handbuch von Praktiker*innen
für Praktiker*innen. (Lina Iden)
Literaturtipps
Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendstrafrecht –
Das Handbuch für die Praxis
Hendrik Middelhof/
Winfried Priem,
Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendstrafrecht –
Das Handbuch für die Praxis.
Mönchengladbach 2018, Forum Verlag Godesberg,
204 Seiten, 34,- e.
43
TOA-Magazin · 03/18
Eine der Kritiken an dem in diesem Heft so
ausführlich besprochenen Buch von de Lagas-
nerie ist, dass das ja alles nicht neu und bereits
tausendfach gesagt sei. Das stimmt, aber wie
heißt es so schön: Es ist zwar schon alles gesagt,
aber noch nicht von allen. Mehr noch: Es ist al-
les gesagt und mehr als einmal, aber es wurde
noch nicht gehört. Also muss man es weiter sa-
gen. So macht sich auch David Scott die Mühe,
ein weiteres Mal die gefängnisabolitionisti-
sche Position zu begründen. Das Scheitern und
die Sinnlosigkeit des Gefängnisses ist tausend-
fach belegt und analysiert, aber die Gefange-
nenzahlen sind nach wie vor hoch, in seinem
Buch von 2013 (Scott: Why prison?) belegt er
einen neuen Höchststand der Gefängnis-
insassen. Zudem werden ständig neue Knäste
gebaut. Von einer Abschaffung des Gefängnis-
ses sind wir also nach wie vor weit entfernt.
Das Gefängnis sei ein Erfolgsschlager, schreibt
Scott, das aber sei nichts anderes als ein zirku-
lärer Fehlschluss: weil es existiert, müsse es ja
funktionieren. Also macht man einfach weiter.
Zahlreiche Publikationen befassen sich, trotz
Foucault, Mathiesen, Hulsman etc., trotz aller
gegenteiliger Belege, wieder
mit dem Versuch,
das Gefängnis zu
reformieren. Es gibt
einen neuen Hype
der „Gefängnisuto-
pie“, wie Scott das
nennt.
Against Imprisonment
legt hier noch einmal
den Finger in die Wun-
de. In der Zusammen-
stellung verschiedener
Essays und Artikel, die
der Abolitionist David
Scott in den letzten Jah-
ren geschrieben hat, be-
trachtet er das Problem
aus verschiedenen Per-
spektiven: der überpro-
portional hohe Anteil von
Armen und Menschen aus
‚broken homes‘ und anderen schwierigen Bio-
graphien im Gefängnis (so ist der Anteil der
Heimkinder in der Gesellschaft ein Prozent,
im Gefängnis sind es 24 Prozent); das Labeling
und die Konstruktion von Kriminalität; Straf-
theorien und Rechtfertigungen; neue Entwick-
lungen im Diskurs über das Gefängnis etc.
Begonnen hatte Scott mit ethnografischen
Studien über Gefängnisangestellte und Ge-
fängnisgeistliche. Über längere Zeit begleitete
er Kaplane bei ihren Besuchen in 16 verschie-
denen Gefängnissen in England und versuchte
herauszufinden, wie sich das Personal an solch
„zutiefst unmoralischen Orten“ verhielt und
welche Rolle die Geistlichen im System Ge-
fängnis spielten. Er fühlte sich bei diesen Besu-
chen, als „wandele er zwischen lebendig Begra-
benen“. Aus diesen Eindrücken entstand eine
tiefe Abneigung gegen Strafe und Gefängnis.
Gefängnisse sind Orte des Leidens und des To-
des, schreibt er im Kapitel „Escaping the logic
of crime“. Mit diesem Todeshauch des Knastes
befasst er sich in dem eigenen Kapitel „Cont-
esting the spirit of death“. Neben der zivilen
Existenzvernichtung (man ist kein richtiger
Staatsbürger mehr) und der sozialen (man ist
aus der Gesellschaft ausgeschlossen) komme
die permanente Beschäftigung der Gefange-
nen mit der Vergänglichkeit der eigenen Exis-
tenz hinzu, weil das Leben in Haft dermaßen
sinnlos erscheine. Das wiederum kann man als
geistigen Tod bezeichnen, so dass in der Konse-
quenz permanent ein Hauch des Todes durch
die Gänge und Zellen der Gefängnisse weht.
Nicht zuletzt sterben auch die fleischlichen
Hüllen der Gefangenen irgendwann, und es
gibt nicht viele, die um sie trauern.
Diese Vielzahl an Perspektiven, der angenehm
lesbare sprachliche Stil und das Engagement,
mit dem Scott schreibt, machen das Buch zu
einer erfrischenden und lehrreichen Lektüre.
(TMB)
„Against Imprisonment“ von David Scott:
Ein lautes Nein zu Strafe und Gefängnis
David Scott
Against Imprisonment.
An Anthology of Abolitionist Essays.
Waterside Press, Sherfield on Loddon 2018.
265 Seiten, ca. 30,- e.
44 TOA-Magazin · 03/18
Sieben Stunden
Von Lisa Breitkopf
Im Spielfilm Sieben Stunden wird die Geschich-
te der Hannah Rautenberg erzählt, die auf der
literarischen Vorlage von Susanne Preusker
und deren realen Erlebnissen basiert. 1
Hannah arbeitet als Psychologin in der Lei-
tung der sozialtherapeutischen Abteilung
im Männervollzug. Dort wird sie nach einem
bisher ereignislosen Arbeitstag von einem In-
haftierten, Herrn Petrowsky, als Geisel genom-
men und mehrfach auf brutale Art und Weise
vergewaltigt. Die Tat hat Auswirkungen auf
das komplette Leben von Hannah. Die private
Beziehung zu ihrem Mann, am Anfang sehr
harmonisch inszeniert, der berufliche Werde-
gang, der Umgang mit Freund*innen, all das
ist plötzlich gehemmt, blockiert, verändert,
in Frage gestellt, einfach ungewollt über den
Haufen geworfen.
Recht und Gerechtigkeit – die Idee davon ist
universell, 2 und es ist fraglich, in welchem Ver-
hältnis sie zu Strafe und Versöhnung stehen.
Vielleicht stehen sie sich sogar in Wechselsei-
tigkeit gegenüber. Vielleicht sind sie losgelöst
voneinander und werden durch Rache und
Schuld in ein ganz neues Gefüge gebracht.
Dieser komplexe Sachverhalt kann auch mit-
hilfe des Filmes nicht geklärt werden, und
nur einzelne Szenen bringen hervor, wie diese
Konzepte scheinbar in Ansätzen zusammen-
hängen. Die Frage nach der Schuld scheint
angesichts der Tat für die Zuschauer*innen
zunächst geklärt. Dieses fast naive Verständ-
nis wird schnell erschüttert, indem Hannah
im Verlaufe des Filmes eine Mitschuld für das
Tatgeschehen gegeben wird. Gibt der Film da-
mit die Legitimation, dass das Opfer eine Mit-
schuld an dem Erlebten trägt oder ist für den
„allgemeinen Durchschnitt“ der Gesellschaft
erkennbar, welche gravierenden Folgen diese
Reviktimisierung und Infragestellung für das
Opfer bedeuten? Es ist zu bezweifeln.
Sowohl Hannahs Ehemann, ihr Sohn, ihre ei-
gene Mutter, aber auch ihre Kolleg*innen und
ihr Chef scheinen innerhalb kürzester Zeit ihre
Ressourcen für die Unterstützung Hannahs bei
der Aufarbeitung der Tat aufgebraucht zu ha-
ben. Hannah fühlt sich missverstanden und al-
leingelassen. Der Mann sucht sein Ventil im Al-
kohol, die eigene Mutter Begründungen für die
Tat in der Berufswahl der Tochter. Hierbei wird
die Stärke des Filmes deutlich. Sie liegt in der
Darstellung der (sekundären) Viktimisierung.
Insbesondere das Durchlaufen der verschiede-
nen Opferstadien wird den Zuschauer*innen
überzeugend dargestellt: So berühren Schock
und Kontrollverlust direkt nach der Tat sowie
die langwierigen und mühsamen Versuche
um die Wiederherstellung des Alltags, letzte-
res etwa am vermeintlich simplen Einfahren in
ein Parkhaus. Einmal mehr wird deutlich, was
Opfern einer Straftat auch nach dem Taterle-
ben noch zugemutet wird, sei es das Erledigen
anfallender Papierarbeit oder die Zahlung der
Einsatzkosten. Zweifel und Ängste, das „Böse“
in Hannahs Phantasie werden dabei filmisch
wiederkehrend durch die Rolle des Täters Pe-
trowskys umgesetzt.
Die filmische Inszenierung spielt stark mit Ste-
reotypen. So wird beispielsweise „die Frau“ in
ihrer Rolle im Vollzug hinterfragt, als schwa-
ches Glied und damit potenzielles Opfer dis-
kutiert. Darüber kann auch nicht hinwegtäu-
schen, dass Hannah zu Beginn des Filmes als
sehr stark, resolut, bestimmt und fordernd
in einer Art dargestellt wird, dass sie den
Zuschauer*innen fast unsympathisch und
krampfhaft aus dem „typischen“ Rollenbild
entfliehend erscheint.
Sicherlich bedingt durch das Buch Sieben Stun-
den im April ist die Perspektive des Filmes
stark opferbezogen. Das kann nachvollzogen
Film
1 Preusker, S. (2011): Sieben Stun-
den im April – Meine Geschichte
vom Überleben. München:
Goldmann Verlag.
2 Messmer, H. (1996): Unrechtsauf-
arbeitung im Täter-Opfer-Aus-
gleich. Sozialwissenschaftliche
Analysen zur außergerichtlichen
Verfahrenspraxis bei Jugend-
lichen. Zugl.: Bielefeld, Univ.,
Diss., 1993. Bonn: Forum-Verl.
Godesberg (Schriftenreihe der
Deutschen Bewährungshilfe e.V,
Band 32).
TOA-Magazin · 03/18 45
fochtenen Prinzipien von ihr über Bord gewor-
fen werden. Es zeigt aber auch, welche aufklä-
rerischen Chancen vertan wurden, die der Film
darüber hinaus gehabt hätte. Ohne einen Fil-
mabspann oder eine umfassend aufarbeiten-
de Diskussion im Anschluss zum Film besteht
die Gefahr, dass insbesondere Befürworter*in-
nen härterer Strafen und eines noch rigideren
Strafvollzuges ihre Bestätigung finden und
das Vertrauen in Polizei und Justiz angegriffen
wird. Dem Film gelingt es leider nicht, abgese-
hen von der Erhöhung der Sicherheit, weitere
und alternative Ansatzpunkte zu vermitteln,
die Gefährdungen im Vollzug abwenden kön-
nen. Man muss dem Film zugestehen, dass er
ein Anstoß ist, um miteinander ins Gespräch
zu kommen, da in ihm viele diskussionswür-
dige Themen, wie die Rolle des Geschlechts im
Vollzug, Opfer- und Täter*innenbilder, Viktimi-
sierung, Rache und Schuld sowie die Konzepte
Vergeben, Verzeihen und Gerechtigkeit einer-
seits auftauchen, aber andererseits unausge-
sprochen stehen gelassen werden.
Zum Schluss bleibt offen, ob Hannah ihren
Sprung in ein (neues) Leben nach der Tat
schafft. An dieser Stelle soll aber ein positiver
Ausgang gefunden werden, und dieser Beitrag
genau mit den Worten von Friedrich Schiller
enden, die Susanne Preusker für sich so pas-
send in ihrem Buch aufgegriffen hat: „Das Alte
stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben
blüht aus den Ruinen.“
Lange Zeit konnte man Susanne Preusker öf-
fentlich dabei beobachten, wie sie versuchte,
dieses neue Leben nach der Tat erblühen zu
lassen; Anfang dieses Jahres nahm sie sich das
Leben.
werden, verbaut so allerdings die Chance,
Täter*innen-Stereotype zu durchbrechen.
Wahrscheinlich muss man sich aufgrund der
Absicht, einen Spielfilm auf der Grundlage
der Geschichte Susanne Preuskers zu drehen,
damit abfinden, dass die Darstellung der Cha-
raktere insgesamt, aber auch Einzelszenen wie
beispielsweise die anfängliche Tanzeinlage
von Hannah und ihrem zukünftigen Ehemann
oder die aufgekratzten Gespräche zwischen
den Mitarbeiter*innen übertrieben inszeniert
wirken. Ist es realistisch, Teambesprechungen
aufgrund eines Kosmetiktermins kurzfristig
abzusagen? Fraglich ist auch, ob eine suspen-
dierte Mitarbeiterin in einem Hochsicherheits-
gefängnis ohne weiteres weiterhin ein- und
ausgehen kann.
Einen gelungenen Appell schafft der Film, in-
dem er die doppelte Funktion von Hannah
innerhalb der JVA thematisiert. Der Interes-
senskonflikt durch die Doppelfunktion Thera-
peutin und Stationsleiterin – das gemeinsame
Reden über Probleme und Sorgen bei gleich-
zeitiger Bestrafung abweichenden Verhaltens
– ist ein allgegenwärtiges Problem im Vollzug.
Ansatzweise skizziert der Film auch die Wich-
tigkeit fallübergreifender kollegialer Beratung,
externer Supervision und der stetig kritischen
Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit.
Durch das Auftreten von Hannahs Arbeitskolle-
gen Ulrich gibt es die kurzzeitige und fast pla-
kative Rückbesinnung auf professionelle Prin-
zipien: „Verachte die Tat, aber achte den*die
Täter*in“. Auf Grundlage wissenschaftlicher Er-
kenntnisse im Rahmen von Opferforschungen
gesteht man es Hannah ohne jeden Zweifel zu,
dass solche bis zum Zeitpunkt der Tat unange-
Lisa Breitkopf
hat nach dem Studium
der Sozialpädagogik ih-
ren Master an der Ostfa-
lia Hochschule für ange-
wandte Wissenschaften
im Bereich Kriminologie
& Kriminalprävention im
Jahr 2017 abgeschlossen.
Nach dem Studium be-
gann sie dort als wissen-
schaftliche Mitarbeiterin
im Projekt „Wiedergut-
machung in Haft“ zu ar-
beiten.
Sieben Stunden.
Regie: Christian Görlitz;
produziert von Arte, Deutschland 2018,
90 Minuten.
Erster Sendetermin:
28.11.2018 im Bayrischen Rundfunk
Weitere Sendetermine bzw. Verfügbarkeit in
Mediatheken bitte im Internet recherchieren.
Bild: BRh & v entertainment GmbH Barbara Bauriedl
Hanna Rautenberg (Bibiana Beglau) bricht zusammen.
46 TOA-Magazin · 03/18
Servicebüro für
Täter-Opfer-Ausgleich und
Konfliktschlichtung
DBH e. V. Fachverband für
Soziale Arbeit, Strafrecht
und Kriminalpolitik
Aachener Straße 1064
50858 Köln
Leitung: Johanna Muhl
Tel. 0221 - 94 86 51 22
E-Mail: jm@toa-servicebuero.de
Präsidentin: Prof. Dr. Kirstin Drenkhahn
Eingetragen beim AG
Berlin-Charlottenburg,
Nr. 95 VR 19048 B
USt-IdNr. DE171445920
Impressum Redaktion
Theresa M. Bullmann, Evi Fahl,
Johanna Muhl, Christoph Willms
VisdP
Johanna Muhl
Erscheinungsweise
3 Mal pro Jahr
Leser*innenbriefe, Artikel und Hinweise an
die Redaktion bitte an
tb@toa-servicebuero.de
Gestaltung
bik-kreativ.de
Bilder
Titelillustration der Kapitel:
fotolia.de
Wenn nicht anders angegeben:
zur Verfügung gestellt durch AutorInnen/
Organisationen oder gemeinfrei.
Buchtitel: Verlage
Druck
Wir machen Druck GmbH, Backnang
ISSN 2197-5965
Die veröffentlichten Artikel sind nament-
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Aus Gründen der Geschlechtergerechtig-
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