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THEMA
Beo rbeiten von Erfoh rung
du rch col loge-unterstütztes Zeichnen
Thero pie-orientierter Ku nstu nterricht
on der Schule fu r Erziehungshilfe (Klosse B/9)
Joachim Bröcher, Kö|n
Zur Situotion an Schulen für Erziehungshilfe bei denjenigen Schtilern zLrläßt. die sich beinl Zeichr.ren entweder
(schulen für rerhaltensouffallige SchUler) wenig zutrauen (das Zeichnen völlig verweigern) oder sich aus
Sogenannte verhaltelsanffällige Schüler durchlairf'en meist eine LlnterschiedlichenGri.indenhinterhochgradigkonventionalisierten
hochgradig probleu.ratische Adoleszenz. AufTülligkeiten in Ver- Bilcl-Mustern (vgl. Richter 1981 ,73) - etwa Er.r.rblenre von Pop-
halten lrnd E,rleben können nls Syn.rpton-re tiir innerpsychische/ gruppen oder Skateboardmarken - zirr[ickziehen.
psycho-soziale Kont'likte angesehen werden uncl als Er-uebnis Urn das Arbeiten mit diesetn Verfahren zu ermöglichen. sollte
gescheiterterSelbstverwilklicl.mn-gsversuche(v-tl.Redl/Wineman der Lehrer zunächst eine Grundatlsstattun-s von Repe|toires an
1990. 7-5 tT.). Speziell im Kgnsrunterricht bieten sich den-r Lehrer Zeichen-Elenlenten und Bildhintergriinden bereitstellen' z B.
Chancen,clasvorhandeneKont'liktpotential zLrbearbeiten.voraus- lurch Kopien von Zeichnungett bekannter Klinstler und von
geserzr, er ist bereit. sich auf clie Konfliktf'elcler seiner Schüler ,\bbildungen aus Zeichen-Lehrbtichern etc. Aus mancheu Vorla-
einzustellen. r:en werden Details entnommen und rnehrfach attf detl.t Kopierer
Eine sLrbiektorientierte KLrnstltädagogik (Richter I 98:l) ktttiplr
am Verhalten bzw. Erleben eines Schiilers att ltr.tcl kann konflikt-
reduzierend und ich-stabilisierend einwirken. z. B. ditt.tn, r'"enr.t
die ästhetischen Aktivitäten das Bearbeiten der psycho-sozialen
Ertährun-c als Bestandteil des «lebensgeschichtlichen Zusarllllten-
hangs, err.r-röglichen (H. Hartu'ig 1990).
Coll oge- u nte rsf ü t zte s Zei ch n e n
Das collage-unterstützte Zeichnen ist eine Fonn bildhafier Pro-
duktion. die das Bearbeiten komplexer Erf'ahrur.r-gsbereiche selbst
', ergrößelt.
Die Elemente werden ar.rsgeschnitten, die t'ertigell Bil<lhinter-
gri.inde auf Plakatkarton attfgezogen.
In dem An-eebot der Fi,ur.rren ur.rd Gegenstiinde sollte ein breites
Spektrun.r an Thet.tten Lrnd Motiveu vot'hanclen sein. Auswahl-
kriterien sincl spezifische Kenntnisse und Erfahrungen bezüglich
cler bewußten ut.td ttnbewußten Interessen ttnd Konflikte der
Schüler, er.rtwicklur.rgsrelevante Therllen der Altersstut-e ( «Daseins-
themenr, vgl. Thomae 1984): z. B. die Auseinandersetzung mit
clen farniliären Bindungen und ihren Veränderungen, der Aufbau
2: Schüler l6 Johre
-'l.#i".{';.i
(t]NST+IJNTERR|CHT 5I HEFT I 58, I99I
THEMA
von neuen Beziehungen zu
Gleiöhaltrigen usw. Eine be-
sondere Anziehungskraft schei-
nen Elemente aus Zeichnungen
von T. Ungerer und G. Grosz
auf die Schüler auszuüben, in
denen eine Vermischung des
Vital-Erotischen mit dem Ag-
gressiv-Sadistischen stattfindet.
Solche Interessen gilt es, bei
der Repertoiresuche wahrzu-
nehmen.
Das den hier gezeigten Bei-
spielen zugrunde liegende Re-
pertoire besteht aus Abbildun-
gen von diversen Männer- und
Frauentypen, von Kindern, El-
tern-Kind-Figurationen und
sonstigen Figurengruppen, aus
^\bbildungen von Motorrädern, Häusern, Möbeln, Tieren, Ge-
brauchsgegenständen, Lebensmitteln, usw. Unter den selektierten
Bildhintergründen (im DIN A 3-Format) befinden sich Land-
schaften mit scharfen Felskanten oder sanften Hügeln, Dorf- und
Stadtszenen, Innenansichten von Zimmern und Räumen, in denen
die Schüler Geschehen inszenieren können. Um die Chancen.
geeignete Motive zu finden, zu erwcitern, wählen die Schüler
auch selbst aus Kunstbüchern, Katalogen oder anderem gedruck-
ten Bildmaterial Elemente aus, kopieren diese und fügen sie in
ihre Bilder ein, ergänzen sie zeichnerisch.
Die Schüler können ohne Themenstellung arbeiten. Die hier
gezeigten Beispiele sind auf diese Weise entstanden. Andere
Arbeiten sind auf der Basis von Themenvorgaben hergestellt,
Themen wie: «Mit einer Clique unterwegs», «Der 40. Geburtstag
von meinem Vater» oder «Eine ätzende Sache hier in der Schule».
Mit diesen oder ähnlichen Themen erhält der Schüler einen
Impuls und gleichzeitig eine Vorstellungsgrundlage, über die eine
bildhafte Auseinandersetzung mit Erfalrrungsinhalten stattfin-
den kann.
Unabhängig v<rn der thematisch freien oder gebundenen Vor-
gabe verläuft der Gestaltungsprozeß ähnlich ab: Die Schüier
wählen aus, probieren, experimentieren und verwerfen eine Idee.
Sie rücken die Elemente auf einer selbst gewählten Hintergrund-
gestaltung so lange hin und her, bis sie eine zufriedenstellende
Anordnung gefunden haben. Dann heften sie die losen Elemente
mit kleinen Tesakrepp-Streifen an und stellen eine oder mehrere
Fotokopien her. Diese Kopien werden dann mit zeichnerischen
Mitteln weiterbearbeitet. Die Repertoires sind wieder verwendbar.
<<Mimesis»» (im Sinne von Abbildung) und Proiektion
- zwei Ebenen im Zeichenvorgong
Jugendliche, vor allem, wenn sie aus sozial schwächeren Gesell-
schaftsschichten stammen, wollen häufig «richtig» zeichnen kön-
nen, d. h. gegenständlich und perspektivisch korrekt (vgl. H.
Hartwig 1976, 88 ff.). Solche Tendenzen ließen sich anhand der
Bildbeispieledes o. a. Verfahrens vielfach nachweisen. Ein Schü-
ler z. B. hat einzelne Bildele-
mente wie die beiden Männerfi-
guren (Abb. 1) durch Anlegen
., on Schraffuren ausdifferen-
zien. Ahnliches gilt für die Hell-
Dunkel-Effekte an der Häu-
sergruppe in derselben Zeich-
nung. Ein andererbemühte sich
durch die Unterscheidung von
Vorder- und Hintergrund um
die Ausarbeitung einer Raum-
organisation (Abb. 3). Wieder
ein anderer versuchte durch
Schraffuren zunächst im Raum
schwebende Figuren-Paare auf
einen festen Untergrund zu stel-
len (Abb. 4). Auf diese Weise
gelangte er zu einerräumlichen
Bildorganisation.
Bearbeiten von Erfahrung durch bildnerische Mittel bezieht
sich zunächst auf die gegenständliche, die äußere und materiale
Seite der Wirklichkeit. Beim sog. «mimetischen» (abbildenden)
Zeichen können die Schüler darüber hinaus historisch-soziale
Wirklichkeit gewinnen (vgl. Hartwig ebd.). Neben dem Interesse
an Genauigkeit und Abbildung läßt sich bei Schülern dieser
Altersphase ein häufi-e a-egressiver oder libidinöser Umgang mit
den Gegenständen der Erfahrung, Vorstellung usw. beobachten.
Im Zusammenhang mit der menschlichen Figur zeigt sich auch
eine Lust an deformierenden und übertreibenden Darstellungs-
weisen (Hartwig, ebd. 90). Das begründet auch die Vorliebe für
Grosz oder Ungerer bei der Auswahl des Repertoires. Auch
Wunschprojektionen, Phantasien usw. spielen hierbei eine we-
sentliche Rolle, die (Hartwig, S. 90 ff.), auch vorbewußte und
unbewußte Bedeutungsanteile enthalten.
Diognostische Bedeutung der Bilder
Die entstandenen Bildnereien können auch als diagnostisches
Mittel benutzt werden. Auf dem Hintergrund der psychoana-
lytischen Entwicklungspsychologie, (P. Blos, E,. H. Erikson/G.
Blanck/R. Blanck u. a.), mit Hilfe eines «struktur-analytisch-
biografischen» Interpretationsansatzes (2. B. H.-G. Richter 1987,
210 ff.) und unter Einbeziehung tiefenpsychologischer Analyse-
verfahren (2. B. D. Widlöcher 1989), können die in den Zeichnun-
gen bearbeiteten entwicklungsrelevanten Themen und die damit
verbundenen psychischen Vorgänge aufgedeckt werden. Um
Fehldiagnosen zu vermeiden, müssen die bildnerischen Tatbe-
stände an den biographischen Gegebenheiten überprüft werden
und umgekehrt.
In vielen Bildnereien von Schülern der Schule für Erziehungs-
hilfe geht es (bewußt oder unbewußt) um die symbolische Wie-
dergabe von vergangenen oder aktuellen familiären Beziehun-
gen, um emotionale Erfahrungen. Es tauchen Traumata, «psychi-
sche" Verletzungen, Konflikte auf. Es finden sich Hinweise auf
unabgeschlossene Entwicklungsphasen. Im Vcrdergrund stehen
vielfach libidinöse (Abb. 3 und 4) oder aggressive Besetzungen
Abb. 3: Sc'nüler 17 Johre
KUNST+UNTERRICHT 52 HEFT I58,/I99]
(Abb. l) oder Vermischun-uen
beiderTendenzen t \bb. l l. Vie-
les dürfte tatsä;hlich eriebte
Realität sein. .\nderes gehört
wahrscheinlich eher in den Be-
reich von Wunsch- und Traum-
phantasien. Angstvorstellun-
gen, Gewalt- und Größenphan-
tasien, usw. Auffälliges Ver-
halten enthüllt sich häufig erst
durch die Collagen und die
zeichnerischen Weiterbearbei-
tungen in seinem tieferen Be-
deutungsgehalt.
Mögliche lheropeuti sche
Wirkungen
O Förderung der Selbstkon-
Abb. 4: Schüler 16 Johre (Abb. t-4: Wunsch-, Troum' und
Angslvorslellu ngen, Gewolt- und Größenphontosien)
THEMA
therapeutische Prozesse hinein-
führen.
Im verbalen Umgang mit den
Arbeiten sollte sich der Lehrer
an Prinzipien orientieren. wie
sie für einen sog. «erziehungs-
therapeutischen Unterricht»
(Fitting/Kluge 1982, 32 ff .\
kennzeichnend si nd: Akzeptie-
ren der Schülerpersönlichkeit.
einfühlendes Verständnis für
die innere Welt des Lernenden.
nicht wertende und nicht inter-
pretierende Außerungen.
Angesichts der Schüler einer
Schule für Erziehungshilfe -
und unter Berücksichtigung von
Erkenntnissen aus der psycho-
analytischen Entwicklungs-
trolle
Dadurch, daß Schüler Collageelemente als Hilfsmittel für das
Gestalten erhalten, die sie auch annehmen, wird ein Teil der sonst
vorhandenen massiven Darstellungsprobleme und -ängste abge-
baut. Aufkommende Frustrationen oder Aggressionen, die dazu
führen könnten, die Gestaltungstätigkeit abzubrechen, entfallen
oder werden deutlich verringert. Die Schüler gelangen mit dem
collage-unterstützten Zeichnen zu einer koniplexen Bild-Kompo-
sition und Raumorganisation, die den eigenen Ansprüchen häufig
gerecht wird. Die Folge ist diszipiiniertes Gestalten.
C Verhältnis zur Realität
Besonders unter dem «mimetischen» (abbildenden) Aspekt er-
möglicht das Verfahren den Schülern.ein handelndes Erkunden
von räumlichen Beziehungen und perspektivisch sinnvollen Ver-
hältnissen. Schüler, die in Anteilen psychotisches (d. h. auch
realitätsverzerrendes) Verhalten zergen, arbeiten im Bildgestal-
tungsprozeß an ihrem Realitätsverhältnis. Die real gegebene
Gegenständlichkeit und deren Ordnung kann durch den Prozeß
des Anordnens im Bild wahrgenommen und akzeptiert werden.
Der Lehrer kann hier sachbegründet korrigierend und erklärend
eingreif.en, um Wahrnehmung und Interpretation von Realität zu
ermöglichen.
C Psycho-soziales Konfliktgeschehen
Beim spielerischen Umgang mit den vorgeformten Collage-Ele-
menten fließen auch aleatorische Momente in die Gestaltüng ein.
Diese können Assoziationen auslösen, so daß Gestaltung und
Gestalter in die Nähe des zentralen innerpsychischen (Konflikt-)
Geschehens geraten. Diese Bewegung kann jedoch durch eine
allzu massive Abwehrtätigkeit blockiert werden.
Bewältigung von Konflikten beginnt beim Collagieren und
Zetchnen da, wo Erfahrung nicht verzerrt und situationsange-
messen wahrgenommen und bildhaft realisiert wird (vgl. Reinhard
1988, 2l): Etwadie homosexuell gefärbten Vorstellungsinhalte in
Abb.4.
O Weiterarbeit mit den Bildern
Das Herstellen dieser Bilder kann der "Impulsmobilisierung und
Konfliktaktualisierung» (Franzke 1983, 35) dienen und somit in
psychologie/Ich-Psychologie - ist oft ein allzu direktes Arbeiten
an den Konflikten wenig geeignet. Es erscheint häufig sinnvoller,
am Realitätsverhältnis an der Aufgabenbewältigung anzusetzen,
z. B. zeichentechnische Aspekte hervorzuheben. Es wird
subjektabhängig entweder mehr das «Mimetische» und/oder mehr
das «Projektive» in den Bildern in den Vordergrund einer verba-
len Auseinandersetzung gestellt werden müssen.
Literotur
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Fittit'tg, K./Kluge, K.-J.: Aspekte erziehungstherapeutischen Unterrichts
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-tl
(U\SI+JNTTRRICHT TJ HErI 5Bl'9Ar
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