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THEMA
Der Schüler entstammt einem sozio-kulturell anregungsarmen Um-
t'eld. Seine Bilder zeigen eine relativ einheitliche und überdauern-
de Entwicklungsverzögerung z. B. in der «Binnenstrukturierung»
der Bildelemente Burg und Figur, in der kompositionellen Gesamt-
organisation und der Raumdarstellung (vgl. H. - G. Richter 1984'
S. 144 O. Betrachtet man die Bilder in der Reihenfolge ihrer Ent-
stehung, dann werden Veränderungen sichtbar, die im Sinne eines
allgemeinen Entwicklungsmodells sowohl Rückschritte als auch
zunehmende Diff'erenzierung beinhalten. In Abb. I setzt sich der
Schüler aktiv mit einer durch das Märchen «Allerleirauh» ange-
sprochenen Thematik auseinander. Er identifiziert sich lebhaft
mit dem Koch und gibt der Märchenhandlung beim Nacherzählen
einen leicht veränderten Verlauf. In seiner Version ist es dieser
Koch, der dem König (Stellvertreter für Vater oder Lehrer) eine
Suppe kocht und einen Ring (BeziehungsangeboU-wunsch) bei-
legt. Diese Figuren sind in der bildnerischen Darstellung ansatz-
weise ausdifferenziert (2. B. durch Königskrone und Kochmüt-
ze).
Einen Tag später - zum Thema «Schneewittchen" - entsteht ei-
ne weitere bildnerische Arbeit. Sie weist in der Persondarstellung
weniger Sorgfalt auf, obwohl die graphischen Materialien (hier
Bleistift) eine größere Diff'erenzierung ermöglicht hätten.
Die Ausmalung der Figuren enthält Kritzelreste, die auf eine mo-
mentane Regression hindeuten können' Der Burgturm ist zwar
ein zusätzliches strukturierendes Bildelement; auf eine farbige
Spezifizierung wurde jedoch fast völlig verzichtet. Der Grund
liegt u. a. in einer massiven Abwehr gegen die Auseinanderset-
zung mit dem Märcheninhalt und Vorkommnissen während des
Unterrichtsverlaufs (Bedürfhisse des Schülers nach intensiver Zu-
wendung durch den Lehrer wurden nicht befriedigt). die zu Fru-
strationen führten. Das drückte sich nicht nur in der Ausführung
sondern auch in der Verweigerung einer kommunikativen Aus-
einandersetzung nach Beendigung der Arbeit aus. «Kein Kom-
mentar». vermerkte der Schüler und warf das Bild mit einer mür-
rischen Geste hin.
Die Darstellung des festungsartigen Schloßbaues kehrt in einem
weiterem Bild wieder, diesmal in f-eurigem Rot, es mutet an wie
eine «symptomatische Metapher» (M. Schuster 1990' S. 125 f.)
für das affektive Selbst- und Welterleben des Zehnjährigen. Fi-
guren f-ehlen diesmal. E,s entsteht der Eindruck einer «weiteren
Regressionr. Diese kann als ein Indiz für die "Verleugnung» (A'
Freud 1987, S. 269 fT.) des Märcheninhalts und des möglicher-
weise damit zusammenhängenden inneren Erlebens angesehen
werden. Das bildnerische Verhalten wirkt rigide (N. Haan I977'
S. 36). Es scheint, als ob die lebendige «Beziehungswelt" im Mär-
Sonderentwickl u ngen b.geg nen
Joachim Bröcher, Köln
Hier sollen einige aus einem idealtypischen Entwicklungsmodell
herausfallende Schülerarbeiten betrachtet werden.
l. Deckfarbenbilder zu einer Reihe von Märchen, gemalt von ei-
nem l0-jährigen sog. erziehungsschwierigen Schüler (Abb. I -3).
2. Pinselzeichnungen einer hochintelligenten l5-jährigen Schü-
lerin (Abb.4-5).
Die Arbeiten des Sonderschülers beinhalten «Bildensembles», in
denen sich "ungewöhnliche Formkombinationen und Motiv-
strukturen zeigen» (H.- G. Richter 1987, 105 ff.), die auf eine
erhebliche bildnerische Retardation (i. S. v. Entwicklungsverzö-
gerung) hinweisen. Die Zeichnungen der hochintelligenten Schü-
lerin lassen eine bildnerische Akzeleration (i. S. v. Entwick-
lungsbeschleunigung) vermuten.
Sonderentwicklung und Lebenskonflikte
Bei genauerer Betrachtung könnte sich herausstellen, da[3 es sich
bei den Bildbeispielen des Sonderschülers nicht um ein bloßes
<<zurückr, sondern um eine «qualitative Andersartigkeit» (Bleidick)
der Bildlösungen (H. - G.
Richter I 987, S. 106) handelt.
Das in den Bildern vermute-
te «Andere», etwa das «Mo-
nadische», das Subjektiv-Ei-
genartige, in sich Abge-
schlossene (H. - G. Richter
1984, S. I59), läßt sich, bei
genauerer Kenntnis des be-
treffenden Schülers, in enger
Verbindung zu einer ei-
gentüml ichen Konfl ikthaftig-
keit und den eingesetzten Stra-
tegien zu deren Bewältigung
bzw. Abwehr, betrachten.
Abb. l: Gestohung zum Mör-
chen «Allerlei rouh>>, lvlortin 1.,
t0 J.
Abb. 2: Gestohung zum Mör'
chen <<Schneewitlchen>>, Mor-
tin 1., l0 J.
Abb. 3: Gestohung zum Mörchen
<<König Drosselbon», Mortin L.,
t0 J.
KUNST+UNTERRICHT 42 IEFI 163/)992
chen zunehmend eingemauert wiirde, vielleicht eine Metapher
für das Leben dieses Schülers.
Fördern von retordierten Entwicklungen
Verhalten und Erleben des Schülers und das. was sich davon in
der ästhetischen Verarbeitung zeigt, stehen im übergeordneten
Kontext psychischer «Entwicklungslinien» (A. Freud 1987, S.
218 2 tf .). Die kunstpädagogischen Förderbertrühungen müssen
sowohl auf die entwicklungsbedingten (bewußten und unbewußten)
Interessen, Konflikte, Bedürfnisse, aber auch auf die sozio-kul-
turellen Erfahrungen des einzelnen Schülers abgestimmt werden.
Es gilt Aktivitäten zu initiieren, die die zeichnerische Entwick-
lung fördern können, weil sie der gesamten Persönlichkeitsent-
wicklung eines Heranwachsenden dienen.
Zur Erweiterung der ästhetischen Möglichkeiten des Schülers wur-
den bei der Märchenbearbeitung Aktivitäten wie Animation, Im-
provisation, Variation, usw. (H. - G. Richter 1984) initiiert. Beim
Vorlesen der Märchentexte oder einzelner Märchenszenen wur-
de aktualisiert, dramatisiert und ausphantasiert. Eine weitere In-
tensivierung wurde durch Nachspielen oder Weiterspielen, das
Ansehen von Märchenfilmen, das Besichtigen, Begehen und Er-
kunden von Burgen, das Bauen und Anmalen eines Hexenhau-
ses aus Holz, welches dann zum Vorlesen oder Nachspielen der
Märchen diente, durch Konstruieren von Burg-Modellen aus Kar-
tons und Pappmachd, die zum Anlaß für Inszenierungen wurden,
erreicht (vgl. auch H.Zitzlsperger 1980).
Am Ende der gesamten Unterrichtssequenz entstand eine Dar-
stellung zum «König Drosselbart» (Abb. 3). Die Farbe ist zwar
nach wie vor kaum differenziert, aber im Bereich des Formre-
pertoires sind viele Veränderungen sichtbar.
Trotzdem zeigen sich auch hier konflikthafte Momente, m. E. be-
sonders im Motivischen. Nach Angaben des Schülers befindet
sich in der Kutsche ein Sarg und darin «der Alte». Er selbst weist
mich auf das «kackende Pf'erdehinterteil» hin. Die symbolische
Bearbeitung der konflikthaften Erfährung dieses Schülers wird
beweglicher (vgl. H. Hartwig 1978, S.62) und zwar durch die
Weiterentwicklung des Bildnerischen, auf der Basis gezielter För-
dermaßnahmen.
Akzelerierte Entwicklungen
Auch in akzelerierten bildnerischen Entwicklungsverläuf'en ist
der Schüler / die Schi.ilerin den anderen nicht nur «voraus>>. auch
hier zeigen sich qualitative Unterschiede, die entweder ein spe-
zifisches künstlerisches Talent indizieren oder auf ein gewisses
Ausmaß an psychosozialer Krisenhaftigkeit hindeuten. Für das
zweite Moment können u. a. die erlebte «soziale Asynchronie»
(J. - C. Terrassier 1982, S. 92 tf .), (i. S. v. Entwicklungsdiskre-
panz) zwischen dem Lebensalter und dem geistigen Alter als Ur-
sachen genannt werden. Viele hochintelligente Heranwachsende
zeigen eine außergewöhnliche Sensibilität, ein ausgeprägtes Pro-
blembewußtsein und ein hochintensives Selbst- und Welterleben
(4. Bröcher 1989, S. 43 ff .). Dies stellt sie u. a. vor die Schwie-
rigkeit, Freunde mit demselben Level geistiger Entwicklung zu
finden. Mißlingt dies, können Enttäuschung und Frustration in
sozialen Rückzug und Selbstisolierung münden. Daraus ergeben
THEMA
Abb. 4: <<Wir im Sommercomp» Agnes K., l5 J.
Abb. 5: Selbstbildnis «Dos bin ich im Sommercomp», Agnes K., l5 J.
sich Gefahren einseitiger Entwicklung. Um gleichermalJen so-
zialen wie auch intellektuellen und innerpsychischen Asynchro-
nien vorzubeugen bzw. diesen entgegenzuwirken, entwickelten
K. - J. Kluge et. al. ( 1985) und A. Bröcher ( 1989) eine Reihe von
Förderangeboten: Ermöglichen von sozialen und kommunikati-
ven Erfahrungen. Ausbalancieren von emotionalen und intellek-
tuellen Prozessen. Aktivieren besonders derjenigen Fähigkeiten
und Prozesse, die für Kreativität, Problemlösen relevant sind. Was
hierbei an Erfahrungen zustandekommen soll, kann auch in ästhe-
tischen Prozessen bearbeitet werden (Bröcher, S. 209 fT.).
Die beiden, ohne eine von außen initiierte Aufgabenstellung ent-
standenen, Pinselzeichnungen (Abb. 4 - 5) einer hochintelligen-
ten l5-jährigen Schülerin thematisieren solche spezifischen kon-
fliktbesetzten Erfahrungszusammenhänge: Rückzugstendenzen
(Abb. 5) und soziales Miteinander (Abb. 4). In diesen Bilder tritt
der Aspekt der Konfliktbewältigung im Sinne aktiver Auseinan-
dersetzung (N. Haan 1971 ,5.34 fT.) mit spezifischen Problemen
der Ausnahmesituation auf.
Literolur
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