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Das Testimonium Flavianum
Ein klassisches Beispiel einer Echtheitsdiskussion
Bachelorarbeit in Geschichte
zur Erlangung des akademischen Grades „Bachelor of Arts“
Verfasser:
Johannes Nussbaum
Zelglistrasse 29
5000 Aarau
johannes.nussbaum@uzh.ch
Matrikel 13-701-974
Fächerkombination:
Geschichte (90 ECTS) und Kulturwissenschaft der Antike I (90 ECTS)
im 7. Semester
Betreuer: Prof. Dr. Beat Näf
Universität Zürich
Historisches Seminar
Karl Schmid-Strasse 4
CH-8006 Zürich
Zürich, den 09.01.2017
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung .............................................................................................................. 1
2 Das Testimonium Flavianum in seinem Kontext .............................................. 4
2.1 Leben und Werk des Flavius Josephus ................................................................. 4
2.2 Der Kontext des Testimonium Flavianum ............................................................ 5
3 Die verschiedenen Argumentationsebenen ........................................................ 9
3.1 Thematische Einbettung in den Kontext ............................................................... 9
3.2 Das Weltbild hinter den Aussagen des TF .......................................................... 12
3.3 Textgeschichte und äussere Bezeugung ............................................................... 17
3.3.1 Die Überlieferungsgeschichte des griechischen Textes der Altertümer ............. 17
3.3.2 Das TF und die voreusebianischen Kirchenschriftsteller ................................... 18
3.3.3 Das TF in den eusebianischen Schriften ............................................................. 20
3.4 Philologische Analyse ............................................................................................ 22
3.5 Überarbeitungstheorie .......................................................................................... 25
3.5.1 Lateinische Übersetzungen ................................................................................. 26
3.5.2 Slawischer Josephus ............................................................................................ 28
3.5.3 Arabische Fassung des Agapius .......................................................................... 28
3.5.4 Syrische Fassung Michaels des Syrers ............................................................... 29
3.5.5 Formulierung und Überprüfung der Überarbeitungstheorie ............................... 29
4 Fazit ..................................................................................................................... 31
5 Kommentierte Bibliographie ............................................................................ 33
5.1 Der Text und seine Geschichte ............................................................................. 33
5.2 Zur Person des Flavius Josephus ......................................................................... 34
5.3 Historiographische Arbeiten und Überblickswerke .......................................... 34
5.4 Philologische Argumentation ............................................................................... 35
5.5 Inhaltliche Argumentation ................................................................................... 35
5.6 Sonstige Textausgaben, Literatur und Hilfsmittel ............................................. 36!
1
1 Einleitung
Wie schon Marc Bloch in der Einleitung zu seiner Apologie der Geschichtswissen-
schaft festgestellt hat, ist die westliche Zivilisation von einer ausgeprägt historischen Kultur
bestimmt, und zwar weil es in den zentralen christlichen Glaubensinhalten darum geht, Ereig-
nisse für historisch wahr zu halten. Die Bibel ist in dem Sinne ein Geschichtsbuch, dass ihre
Inhalte nicht ausserhalb der menschlichen Zeit stehen, wie das in anderen Religionen teilwei-
se der Fall ist.1 Folglich ist die Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens ein Ansatzpunkt
für Zweifel, weil die Historizität der beschriebenen Ereignisse nachgeprüft werden kann.
Beim Beispiel der zentralen Person Jesus Christus stellt sich die Frage, ob man seine Existenz
und die Eckdaten seiner Biographie verifizieren kann. Weil die Schriften des Neuen Testa-
ments dabei im Sinne der Tendenzkritik als befangen gelten, richtete sich das Interesse schon
seit frühchristlicher Zeit auf die ausserkanonischen Jesuszeugnisse. Auf folgenden sechs Stel-
len der antiken Literatur liegt das Hauptaugenmerk der wissenschaftlichen Diskussion:
1. Das sogenannte Testimonium Flavianum (TF), zu Deutsch Zeugnis des Flavius, ist ei-
ne Passage über die Lehrtätigkeit, Kreuzigung und Auferstehung Jesu in den Jüdi-
schen Altertümern des Flavius Josephus (ant. Iud. 18,63-64). Dazu kommt die Erwäh-
nung von einem "Jakobus, Bruder des Jesus, des sogenannten Christus" in ant. Iud.
20,200.
2. Der Bericht des Tacitus über den Brand von Rom und die Christenverfolgung unter
Nero in Tac. ann. 15,44, wo ein "Christus" als der Urheber der "Chrestiani" genannt
wird.2
3. Die sogenannten Christenbriefe, die Korrespondenz zwischen dem römischen Statthal-
ter Plinius dem Jüngeren und Kaiser Trajan (Plin. epist. 10,96-97), wo es um den Um-
gang der Behörden mit den Christen geht.3
4. Zwei Stellen aus der Vita Caesarum des römischen Historikers Sueton: Suet. Claud.
25,4 berichtet, dass die Juden aus Rom vertrieben wurden, weil sie von einem "Chres-
tos" aufgehetzt wurden.4 Die zweite Stelle, Suet. Nero 16,2, spricht nur über die Chris-
ten.
1 Bloch 2002, S. 6.
2 Detering 2011, S. 17,44.
3 Detering 2011, S. 17.
4 Detering 2011, S. 17,125.
2
5. Ein Brief des Syrers Mara bar Serapion an seinen Sohn Serapion, der ins 1. Jh. n.Chr.
datiert.5
6. Eine Passage des Historikers Thallus, die allerdings nur durch ein Zitat des Julius Af-
ricanus, der wiederum von Georgius Synkellos zitiert wurde, überliefert ist.6
Es ist unschwer zu erkennen, dass das Testimonium Flavianum sozusagen der Kron-
zeuge unter den ausserkanonischen Jesuszeugnissen ist. Der Startpunkt für die vorliegende
Arbeit war die Motivation, die Echtheit dieses Zeugnisses zu beweisen. Dies stellte sich aber
bald als nicht praktikabel heraus, und zwar aus zwei Gründen: Erstens handelt es sich um eine
der am meisten diskutierten Passagen der antiken Literatur.7 Neben der enormen Menge an
akademischer Literatur existieren auch qualitativ hochstehende Diskussionsforen im Internet.8
Sehr viele Wege wurden bereits begangen, sodass ich im Verlauf der Recherche zu sämtli-
chen meinen Überlegungen entweder eine Widerlegung fand, oder den Nachweis, dass dieser
Weg methodisch nicht standhält. Aufgrund der heute bekannten Sachlage kann man schwer-
lich an der völligen Authentizität des TF festhalten. Der zweite Grund ist epistemologischer
Natur. Historische Wissenschaften sind grundsätzlich indizienbasiert, weil das Objekt der
Untersuchung keine reproduzierbaren Gesetzmässigkeiten sind. Roger Sablonier hat in sei-
nem Aufsatz in Josef Wigets Sammelband Die Entstehung der Schweiz gut veranschaulicht,
dass in den Geisteswissenschaften selbst beim Einsatz von High-Tech-Methoden immer noch
verschiedene Interpretationen möglich sind: Das Ergebnis der C14-Untersuchung des
Schweizer Bundesbriefes war nicht eine sichere Antwort auf die Frage, ob diese Urkunde echt
sei. Vielmehr lieferte die Untersuchung eine Wahrscheinlichkeit, dass dieser Pergamentbrief
in einem bestimmten Zeitraum hergestellt worden war. Dieses Resultat lässt aber immer noch
verschiedene Interpretationen zu.9
Deshalb erschien es mir sinnvoller, die Diskussion um die Authentizität des TF darzu-
stellen, und dabei auch die grundsätzliche Problematik von Echtheitsfragen in den histori-
schen Wissenschaften anzuschneiden. Es gilt auch beim TF, die Glaubwürdigkeit von entge-
gengesetzten Argumenten gegeneinander abzuwägen. Dies soll in der vorliegenden Arbeit
5 Detering 2011, S. 17.
6 Detering 2011, S. 17.
7 Detering 2011, S. 29-30.
8 Neben den von Levenson/Martin 2014, S. 3 genannten englischsprachigen Internetseiten sei besonders die
italienischsprachige Seite http://www.christianismus.it genannt, die einzige Quelle, wo der Aufsatz von Troiani
(2006) greifbar war.
9 Sablonier 1999, S. 136.
3
geschehen, indem die verschiedenen Ebenen der Diskussion abgehandelt werden. Die meisten
der präsentierten Gedankengänge sind bereits von früheren Forschern durchgeführt worden,
weshalb meine Eigenleistung darin besteht, eine kritische Auswahl der Argumente anderer zu
treffen, diese anhand der Originalquellen zu prüfen, und bei der Darlegung der Forschungs-
meinungen zu einer eigenen Position zu kommen. Die griechischen Quellentexte sind, falls
nicht anders angegeben, dem Thesaurus Linguae Graecae (TLG) entnommen, und vom Ver-
fasser selbst übersetzt. Weil die Kapitel- und Absatzaufteilung von Edition zu Edition ver-
schieden sein kann, hält sich die vorliegende Arbeit an die Zitierweise des TLG.
Weil die Fülle an Sekundärliteratur schier unüberblickbar ist, verzichtet die vorliegen-
de Arbeit auf eine detaillierte Diskussion des Forschungsstandes. Die bei der Darstellung der
einzelnen Argumentationsebenen zur Sprache kommende Forschungsliteratur wird in der
kommentierten Bibliographie ab S. 31 im Überblick vorgestellt. Hier sollen nur die groben
Züge kurz umrissen werden: Die christlichen Autoren der Spätantike und des Mittelalters, die
das TF zitierten, hielten es für echt. Das TF war sogar hauptverantwortlich für die hohe Popu-
larität des Flavius Josephus im christlichen Mittelalter. Jüdische Gelehrte des Mittelalters hin-
gegen hielten das TF meist für gefälscht, aber ohne dass sich dadurch eine wissenschaftliche
Kontroverse entwickelt hätte. Erst Mitte 17. Jh. begannen reformierte Theologen die Authen-
tizität anhand von philologischen Analysen anzuzweifeln, sodass sich bis Mitte 18. Jh. der
Konsens herausgebildet hatte, dass das TF erwiesenermassen eine Fälschung sei. Interessan-
terweise waren es also nicht religionskritischen Aufklärer, sondern schon vor ihnen gläubige
reformierte Theologen, die das TF verwarfen. Erst anfangs 20. Jh. kamen wieder Stimmen
auf, die das TF retten wollten, und zwar im Zusammenhang mit der Wiederauffindung von
Textvarianten der josephischen Werke wie dem Slawischen Josephus (siehe 3.5.2 Slawischer
Josephus auf S. 28). Infolgedessen entwickelte sich eine akademische Diskussion, die bis
heute anhält, und noch immer eine Unmenge an Literatur hervorbringt.10
Vor diesem Hintergrund soll nun zuerst die Sachlage dargelegt (Kapitel 2 Das Testi-
monium Flavianum in seinem Kontext) und danach die Echtheitsdiskussion durchgeführt wer-
den (Kapitel 3 Die verschiedenen Argumentationsebenen), bevor daraus das Fazit gezogen
wird (Kapitel 4 Fazit). Am Schluss bietet Kapitel 5 Kommentierte Bibliographie einen klei-
nen Einblick in die Forschungsliteratur.
10 Whealey 2003, S. 203-207.
4
2 Das Testimonium Flavianum in seinem Kontext
2.1 Leben und Werk des Flavius Josephus
Josephus Flavius (37/38-100 n.Chr.) wurde als Yosef ben Mattityahu in Jerusalem ge-
boren. Sein Vater stammte aus der Priesteraristokratie, und seine Mutter habe zum Haus der
Hasmonäer gehört. Seine Muttersprache war Aramäisch, des Weiteren war er auch des Grie-
chischen und des Lateinischen mächtig. In den Jahren 64-66 nahm er an einer diplomatischen
Mission nach Rom teil, schloss sich dann aber dem jüdischen Aufstand gegen die Römer an,
und wurde Kommandant über die galiläische Festung Iotapata. Dort wurde er vom Feldherrn
Vespasian belagert, und im Frühling 67 gefangengenommen. Als Gefangener prophezeite
Josephus Vespasian, dass dieser Kaiser werden würde – er sah in ihm den verheissenen Mes-
sias.11 Als sich diese Voraussage zwei Jahre später erfüllte, wurde Josephus zur Belohnung
freigelassen, worauf er an der Seite des Feldherrn Titus an der Eroberung Jerusalems teil-
nahm. Darauf siedelte er nach Rom über, wo er das römische Bürgerrecht, eine Jahrespension
und Landgüter erhielt. Sein neuer römischer Name, mit dem Gentilnomen der Flavier, zeigte
an, wem er seine Stellung verdankte.
Der anschliessenden schriftstellerischen Tätigkeit des Josephus in Rom verdanken wir
viele Informationen über sein Leben. Abgesehen vom Bellum Iudaicum, das wohl ursprüng-
lich auf aramäisch verfasst wurde, schrieb Josephus seine Werke auf Griechisch. Seine Schrif-
ten wurden fast ausschliesslich von den Christen abgeschrieben und rezipiert, weil sie eine
vorzügliche Quelle für das Umfeld des Neuen Testaments darstellen – die Juden verziehen
Josephus seinen „Seitenwechsel“ nie. Sein erstes Werk publizierte Josephus um 80 n.Chr.: Im
Jüdischen Krieg (lat. Bellum Iudaicum, griechischer Originaltitel Περὶ τοῦ Ἰουδαϊκοῦ
πολέµου) stellte er die Geschichte der Juden von der hellenistischen Zeit bis zum Fall von
Masada (74 n.Chr.) dar, und zwar als die Geschichte eines edlen Volkes, das von einer klei-
nen fanatischen Minderheit zu einem sinnlosen Krieg gegen Rom aufgestachelt wurde.
Dadurch entlastete er die Juden vom virulenten Vorwurf, ein menschenverachtendes und auf-
rührerisches Volk zu sein, und gleichzeitig ehrte er damit seine Gönner, die Flavier.
11 Ios. bell. Iud. 6,312-313: τὸ δ᾽ ἐπᾶραν αὐτοὺς µάλιστα πρὸς τὸν πόλεµον ἦν χρησµὸς ἀµφίβολος ὁµοίως ἐν
τοῖς ἱεροῖς εὑρηµένος γράµµασιν, ὡς κατὰ τὸν καιρὸν ἐκεῖνον ἀπὸ τῆς χώρας αὐτῶν τις ἄρξει τῆς οἰκουµένης.
[…] ἐδήλου δ᾽ ἄρα τὴν Οὐεσπασιανοῦ τὸ λόγιον ἡγεµονίαν ἀποδειχθέντος ἐπὶ Ἰουδαίας αὐτοκράτορος. (“Das,
was sie [scil. die Juden] am meisten zum Krieg anstachelte, war eine doppeldeutige Prophezeiung, die ebenfalls
in den heiligen Schriften gefunden wird, dass zu jener Zeit von ihrem Land her jemand die Welt beherrschen
wird. [...] aber dieser Spruch bedeutete die Herrschaft des Vespasian, der in Judäa zum Kaiser ausgerufen wur-
de.“). Vgl. dazu auch Miralles Macia 2004, S. 389-392.
5
Das zweite Werk des Josephus sind die Jüdischen Altertümer (lat. Antiquitates Iudai-
cae, griechischer Originaltitel Ἰουδαικὴ ἀρχαιολογία), eine 93/94 erschienene Darstellung der
jüdischen Geschichte von der Welterschaffung bis zum 1. Jüdischen Krieg, in 20 Büchern. In
der Form der griechischen Historiographie stellte Josephus seinen römischen Lesern die Alt-
ehrwürdigkeit und Menschenfreundlichkeit des jüdischen Volkes dar. Wohl gleichzeitig er-
schien seine Autobiographie (lat. Vita Josephi, griechischer Originaltitel Ἰωσήπου βίος), ein
Anhang zu den Antiquitates, in welchem Josephus seine Rolle im 1. Jüdischen Krieg rechtfer-
tigt. Als viertes und letztes Werk ist Gegen Apion zu nennen (lat. Contra Apionem, griechi-
scher Originaltitel Πρὸς Ἀπίωνα). Dies ist eine Apologetik des Judentums, welche das hohe
Alter dieser Religion und seine philosophischen Grundsätze darlegt.12
Zusammenfassend können wir festhalten, dass Josephus ein „romanisierter“ resp. „hel-
lenisierter“13 jüdischer Geschichtsschreiber war, der in Rom schriftstellerisch als Vermittler
zwischen der jüdischen und der römischen Kultur wirkte. Vom Vorwurf, er sei ein egoisti-
scher Opportunist gewesen, der sich in Rom einen luxuriösen Lebensabend leistete, während
seine Landsleute litten, ist er schon seit längerem freigesprochen. Vielmehr geriet er ja als
Gefangener in die Hände der Römer, und war anschliessend darum bemüht, einer breiten rö-
mischen Leserschaft ein positives Bild des Judentums zu vermitteln.14
2.2 Der Kontext des Testimonium Flavianum
In den Werken des Josephus gibt es drei Erwähnungen biblischer Personen, alle drei in
den Jüdischen Altertümern: 18,63-64 ist das zu besprechende Testimonium Flavianum,
18,116-119 beinhaltet den Tod Johannes des Täufers und 20,200 berichtet über den Tod von
Jakobus, der genauer beschrieben wird als τὸν ἀδελφὸν Ἰησοῦ τοῦ λεγοµένου Χριστοῦ,
Ἰάκωβος ὄνοµα αὐτῷ. Der Bericht über Johannes den Täufer hat keinen Zusammenhang mit
dem TF, wohingegen für die Erwähnung des Herrenbruders ein solcher behauptet wurde: Da
man λεγόµενος (das Partizip mediopassiv Präsens des Verbs λέγω „sagen“) als “schon er-
wähnt” übersetzen kann, ist für die oben wiedergegebene Stelle aus 20,200 folgende Überset-
zung denkbar: „den Bruder des Jesus, des schon erwähnten Christus, mit dem Namen Jako-
bus“. Wenn das stimmt, identifizierte Josephus den zum ersten Mal auftretenden Jakobus mit
einer bereits bekannten Person, nämlich dem in 18,63-64 erwähnten Jesus. Diese Praxis lässt
12 Wandrey 1998, Sp. 1089-1091; Altshuler 2005, S. 4957-4958.
13 Diese beiden Begriffe sind natürlich problematisch und können auf mancherlei Art verstanden werden. Hier ist
damit gemeint, dass Josephus kein religiöser Eiferer und Isolationist war, sondern sein Handeln und Denken in
den Kontext der griechisch-römische Kultur stellte, ohne dabei seine Wurzeln zu verleugnen.
14 Vgl. dazu Dornseiffs Vergleich mit Polybios, der freiwillig zu den Römern überlief (Dornseiff 1936, S. 145).
6
sich in den Werken des Josephus häufig beobachten. Allerdings geschieht dies stets nach ei-
nem feststehenden Muster, wie Zeitlin gezeigt hat: Josephus nahm immer sehr genau auf die
an der früheren Stelle beschriebenen Eigenheiten oder Taten der bewussten Person Bezug, um
klarzumachen, dass es sich um die schon erwähnte Person handelt. Die blosse Erwähnung
eines „schon erwähnten Christus“ mutet vor diesem Hintergrund seltsam an – ja vielmehr sei
die Formulierung in 20,200 sogar ein Hinweis darauf, dass in den Altertümern nirgends die
Rede von der Kreuzigung und Auferstehung Jesu sei, weil sonst in 20,200 auf genau diese
schon erwähnten Ereignisse Bezug genommen würde.15 Folglich hat sich das Argument, dass
die Übersetzungsmöglichkeit „schon erwähnt“ die Echtheit des TF stützen würde, ins Gegen-
teil verkehrt.
Die geläufigere Übersetzungsmöglichkeit für λεγόµενος ist „den Bruder des Jesus, des
sogenannten Christus“, womit auf einen allgemein bekannten Christus Bezug genommen
würde. Aber das ist nicht unproblematisch: Auch wenn λεγόµενος nicht rückbezüglich ist,
hätte Josephus gemäss seiner Gewohnheit die Person namens „Christus“ näher beschreiben
müssen. Ausserdem führt Detering einige Argumente dafür an, dass die Worte τοῦ λεγοµένου
Χριστοῦ interpoliert seien. Erstens hätte sich Josephus von der politischen Implikation des
Begriffs „Christus“ distanzieren müssen, deshalb könne diese Stelle unmöglich tel quel aus
der Feder des Josephus geflossen sein.16 Meines Erachtens ist aber durch den Zusatz „soge-
nannt“ diese Distanzierung gegeben, womit dies kein Argument für eine spätere Interpolation
sein kann. Zweitens kennen wir einen komplett anderen Bericht über den Tod des Herrenbru-
ders bei Hegesipp (überliefert in Eus. hist. eccl. 2,23), der sich kaum harmonisieren lässt mit
ant. Iud. 20,200.17 Detering nimmt deshalb an, dass Josephus über die Steinigung des Jako-
bus, Bruder des im selben Absatz genannten Damnaeus-Sohnes Jesus spricht (also ohne die
Worte τοῦ λεγοµένου Χριστοῦ), womit ant. Iud. 20,200 eine klare innere Logik erhalten wür-
de, und das Harmonisierungsproblem zum Tod des Herrenbruders bei Hegesipp gelöst wäre.18
Dieser Vorschlag klingt zwar plausibel, aber die Differenzen zwischen 20,200 und dem Be-
richt des Hegesipp sprechen gerade gegen einen frühen christlichen Fälscher, der durch seine
vorsätzliche Interpolation den „Josephus zu einem glaubwürdigen Gewährsmann christlicher
‚Geschichte’“19 machte. Einerseits passt die stereotype Vorstellung Deterings eines christli-
chen Fälschers schlecht zur Realität der marginalisierten präkonstantinischen Christen, die
15 Zeitlin 1928, S. 235-236; Zeitlin 1931, S. 392-393.
16 Detering 2011, S. 25-26.
17 Detering 2011, S. 27-28.
18 Detering 2011, S. 26-27.
19 Detering 2011, S. 27-28.
7
sicher nicht die weit verbreiteten Handschriften eines kaiserlich akkreditierten Historikers
verfälschen konnten, und andererseits hätte ein solcher Fälscher wohl kaum einen Wider-
spruch konstruiert zur bestehenden Tradition über den Tod des Jakobus.20
Was den Zeugenwert der Jakobus-Stelle weiter schmälert, ist die dreimalige Auskunft
des Origenes, Josephus hätte einen Zusammenhang zwischen dem Tod des Herrenbruders
Jakobus und der Zerstörung Jerusalems gezogen.21 Kurioserweise finden wir bei Josephus
nicht die geringste Spur dieses Zusammenhangs. Detering deutet diese Unstimmigkeit als
Beweis für sehr frühe christliche Eingriffe in den Text des Josephus – eine Schlussfolgerung,
die ich aus den genannten Gründen nicht teilen kann, aber ohne eine bessere Erklärung bieten
zu können.22 Wenn also auch sehr vieles offen bleiben muss in Bezug auf ant. Iud. 20,200, so
bleibt doch festzuhalten, dass diese Stelle ein Nebenschauplatz ist in der Argumentation über
die Echtheit des TF. Im Folgenden beschränkt sich die Diskussion deshalb auf den Kontext
des TF selbst.
Das 18. Buch der Antiquitates setzt ein zur Zeit der Absetzung des Herodes Archelaus,
als Judäa zur Provinz Syrien geschlagen wurde, und Publius Sulpicius Quirinius als Statthal-
ter über Syrien eingesetzt wurde (6 n.Chr.).23 Das letzte Ereignis des 18. Buchs ist die Besie-
gung einer jüdischen Räuberbande in Babylonien um 35 n.Chr., womit gemäss Inhaltsangabe
eine Zeitspanne von 32 Jahren abgedeckt wird.24 Gemäss Whistons Textaufteilung25 befindet
20 Whealey 2003, S. 2.
21 Orig. c. Cels. 1,47,14-16: φησι ταῦτα συµβεβηκέναι τοῖς Ἰουδαίοις κατ’ ἐκδίκησιν Ἰακώβου τοῦ δικαίου, ὃς
ἦν ἀδελφὸς Ἰησοῦ τοῦ λεγοµένου Χριστοῦ („er sagte, dass dies den Juden geschehen sei als Strafe für Jakobus
den Gerechten, der der Bruder Jesu, des sogenannten Christus war“);
Orig. c. Cels. 2,13,82-85: οὗ ὁ υἱὸς Τίτος καθεῖλε τὴν Ἱερουσαλήµ, ὡς µὲν Ἰώσηπος γράφει, διὰ Ἰάκωβον τὸν
δίκαιον, τὸν ἀδελφὸν Ἰησοῦ τοῦ λεγοµένου Χριστοῦ, ὡς δὲ ἡ ἀλήθεια παρίστησι, διὰ Ἰησοῦν τὸν Χριστὸν τοῦ
θεοῦ. („dessen Sohn Titus Jerusalem zerstörte, wie zwar Josephus schreibt, wegen Jakobus dem Gerechten, dem
Bruder des Jesus, des sogenannten Christus, wie aber die Wahrheit beweist, wegen Jesus, dem Christus Gottes“);
Orig. comm. in Mt. 10,17,31-40: ὡς Φλάβιον Ἰώσηπον [...] εἰρηκέναι κατὰ µῆνιν θεοῦ ταῦτα αὐτοῖς
ἀπηντηκέναι διὰ τὰ εἰς Ἰάκωβον τὸν ἀδελφὸν Ἰησοῦ τοῦ λεγοµένου Χριστοῦ ὑπ’ αὐτῶν τετολµηµένα. [...] Λέγει
δὲ ὅτι καὶ ὁ λαὸς ταῦτα ἐνόµιζε διὰ τὸν Ἰάκωβον πεπονθέναι. („Dass Flavius Josephus [...] sagte, dass wegen
dem Zorn Gottes ihnen diese Dinge begegnet seien, wegen den von ihnen gewagten Dingen gegen Jakobus, den
Bruder des Jesus, des sogenannten Christus. [...] Er sagt, dass auch das Volk glaubte, diese Dinge wegen Jakobus
erlitten zu haben.“)
22 Detering 2011, S. 23-24.
23 Inhaltsangabe zu Ios. ant. Iud. 18, Zeilen 3-4: Ὡς Κυρίνιος ὑπὸ Καίσαρος ἐπέµφθη τιµητὴς Συρίας καὶ
Ἰουδαίας καὶ ἀποδωσόµενος τὴν Ἀρχελάου οὐσίαν. („Wie Quirinius vom Kaiser geschickt wurde als Censor
über Syrien und Judäa, um das Territorium des [Herodes] Archelaos zurückzugewinnen.“) Zur Datierung dieses
Ereignisses vgl. Eck 2001, Sp. 1105.
24 Inhaltsangabe zu Ios. ant. Iud. 18, Zeilen 41-43: τὴν συµβᾶσαν φθορὰν τοῖς ἐν Βαβυλῶνι Ἰουδαίοις δι’
Ἀσιναῖον καὶ Ἀνιλαῖον τοὺς ἀδελφούς. περιέχει ἡ βίβλος χρόνον ἐτῶν λβʹ. („...ereignete sich die Niederschla-
gung der Juden in Babylon, die von den Brüdern Asilaios und Anilaios [angeführt wurden]. Dieses Buch bein-
8
sich das Testimonium Flavianum im dritten Kapitel, das eine Reihe von Ereignissen erzählt,
die dem Ansehen der Juden schadeten. Dieses dritte Kapitel des 18. Buches lässt sich wiede-
rum in fünf Paragraphen aufteilen. Die beiden ersten Paragraphen beinhalten kleinere jüdische
Revolten unter dem Präfekten Pontius Pilatus, welcher 26-36 n.Chr. in Judäa und Samaria
amtierte.26 Dann folgt als dritter Paragraph das nur wenige Zeilen umfassende Testimonium
Flavianum, worauf in zwei weiteren Paragraphen zwei Episoden von jüdischen Betrügern
erzählt werden, die das Ansehen der Juden in Rom drastisch verschlechterten. Eine übersicht-
liche Darstellung dieses Kontextes findet sich auf S. 9.
Folgend ist das Testimonium Flavianum gemäss der Edition von Niese abgedruckt,
zusammen mit einer eigenen Übersetzung. Hier gilt allerdings noch mehr als sonst, dass jede
Übersetzung eine Interpretation ist. Oft kommt es vor, dass Argumentationen zu Gunsten der
Authentizität des TF vorschlagen, ein Wort oder eine Wendung in einem anderen Sinne zu
verstehen, und demzufolge auch anders zu übersetzen. In der vorliegenden Arbeit sollen des-
halb sämtliche Überlegungen am griechischen Text durchgeführt werden.
[63] Γίνεται δὲ κατὰ τοῦτον τὸν χρόνον Ἰησοῦς σοφὸς ἀνήρ, εἴγε ἄνδρα αὐτὸν
λέγειν χρή: ἦν γὰρ παραδόξων ἔργων ποιητής, διδάσκαλος ἀνθρώπων τῶν
ἡδονῇ τἀληθῆ δεχοµένων, καὶ πολλοὺς µὲν Ἰουδαίους, πολλοὺς δὲ καὶ τοῦ
Ἑλληνικοῦ ἐπηγάγετο: ὁ χριστὸς οὗτος ἦν. [64] καὶ αὐτὸν ἐνδείξει τῶν
πρώτων ἀνδρῶν παρ᾽ ἡµῖν σταυρῷ ἐπιτετιµηκότος Πιλάτου οὐκ ἐπαύσαντο οἱ
τὸ πρῶτον ἀγαπήσαντες: ἐφάνη γὰρ αὐτοῖς τρίτην ἔχων ἡµέραν πάλιν ζῶν τῶν
θείων προφητῶν ταῦτά τε καὶ ἄλλα µυρία περὶ αὐτοῦ θαυµάσια εἰρηκότων. εἰς
ἔτι τε νῦν τῶν Χριστιανῶν ἀπὸ τοῦδε ὠνοµασµένον οὐκ ἐπέλιπε τὸ φῦλον.
(Ios. ant. Iud. 18,3,3=18,63-64)
Es trat aber zu der Zeit Jesus auf, ein weiser Mann, wenn man ihn überhaupt
einen Mann nennen soll: Denn er war ein Täter von unglaublichen Werken, ein
Lehrer von Menschen, die mit Freude Wahres annehmen, und er zog viele Ju-
den, aber auch viele Griechen an sich: Dieser war der Christus. [64] Und nach-
haltet die Zeit von 32 Jahren.“) Mit diesen Worten endet die Inhaltsangabe. Zur Datierung dieses Ereignisses
siehe Kessler 2000, Sp. 655.
25 Für die folgende Argumentation ist es zweckdienlich, anstatt mit den vom TLG bevorzugten Abschnitten mit
den Paragraphen William Whistons (1667-1752) zu arbeiten, des wegweisenden Übersetzers der Werke des
Josephus ins Englische.
26 Eck 2001, Sp. 141-142.
9
dem Pilatus ihn auf Anzeige der führenden Männer unter uns dem Kreuz über-
antwortet hatte, hörten diejenigen nicht auf, die ihn zuerst geliebt hatten: Denn
er erschien ihnen am dritten Tage wieder lebendig, weil die göttlichen Prophe-
ten dies und unzählbar viel anderes Sonderbares von ihm gesagt hatten. Und
noch bis heute ist der Stamm der Christen, der so von diesem benannt ist, nicht
verschwunden.
3 Die verschiedenen Argumentationsebenen
3.1 Thematische Einbettung in den Kontext
Eine der ersten Fragen, die zu untersuchen ist, wenn die Echtheit einer Passage eines
grösseren Werks zur Debatte steht, ist die nach dem Kontext. Was spricht in unserem Fall
dafür resp. dagegen, dass das TF ein thematischer Fremdkörper im Text des dritten Kapitels
des 18. Buches der Jüdischen Altertümer ist? Rein chronologisch gibt es keine Unstimmigkei-
ten, weil wir uns offensichtlich in der Amtszeit des Pontius Pilatus befinden, während der
Jesus sowohl gemäss dem TF als auch gemäss dem Neuen Testament gekreuzigt wurde. Die
erste Auffälligkeit ist die Kürze des TF in Anbetracht der Brisanz des Themas. Die Ereignisse
vor- und nachher werden deutlich ausführlicher erzählt, mit Ausnahme des relativ kurzen §2,
der aber immer noch länger ist als §3. Es ist schwer vorstellbar, dass Josephus in einer kleinen
Randnotiz berichtet, ein Wundertäter sei nach seinem Tod seinen Jüngern lebendig erschie-
nen, ohne dass der Leser darüber unterrichtet wird, wie er mit diesen Prätentionen umgehen
soll. Aber dies sind natürlich hypothetische Überlegungen, die an sich noch nichts beweisen.
Schreiten wir deshalb zur Thematik des dritten Kapitels von Antiquitates 18: Die Ge-
meinsamkeit der dort erzählten Episoden ist die Verschlechterung des Ansehens der Juden.
Folgend sind die Paragraphen unter Berücksichtigung der Schlagworte im griechischen Text
aufgelistet:
§1 (18,55-59): Pilatus stellt eine Kaiserbüste in Jerusalem auf, worauf es einen Aufruhr
unter den Juden gibt (θορυβέω).
§2 (18,60-62): Pilatus gebraucht den Tempelschatz, um einen Aquädukt zu errichten, was
wiederum Aufruhr verursacht (θορυβέω, στάσις). Dieser Paragraph endet mit den
Worten καὶ οὕτω παύεται ἡ στάσις (“und so kam der Aufstand zu einem Ende”).
§3 (18,63-64): Das TF endet mit οὐκ ἐπέλιπε τὸ φῦλον („der Stamm [der Christen] ist
[bis heute] nicht verschwunden“).
§4 (18,65-80): Dann folgt die Ankündigung eines „anderen Übels“: ἕτερόν τι δεινὸν
ἐθορύβει τοὺς Ἰουδαίους, („ein anderes Übel brachte die Juden auf“). Bevor dieses er-
10
zählt wird, fügt Josephus aber noch die Geschichte von ägyptischen Priestern ein, die
Komplizen in einem sexuellen Delikt sind.
§5 (18,81-84): Das angekündigte andere δεινόν sind vier jüdische Betrüger, aufgrund de-
rer Verbrechen der Kaiser alle Juden aus Rom verbannte, und 4000 von ihnen zu Mili-
tärdienst verurteilte. Dieses Ereignis wird als θόρυβος bezeichnet.27
Beim Betrachten dieser fünf Paragraphen fällt auf, dass zuerst zwei Provokationen der
römischen Staatsmacht die Juden zum Revoltieren bringen. Nach dem TF werden zwei Ge-
schichten von Kriminellen erzählt, welche orientalischen Religionen angehören und deshalb
die Anhänger solcher Religionen in Verruf bringen. Drei28 dieser fünf Paragraphen enthalten
das Wort θόρυβος oder θορυβέω. Die Verwendung dieser Wörter variiert aber leicht: In den
beiden Episoden vor dem TF sind die Juden das Subjekt des Verbs θορυβέω, das demzufolge
zu übersetzen ist mit „seinen Unwillen durch Murren und Geschrei zu erkennen geben“.29
Hingegen ist θορυβέω im vierten Paragraph eher zu übersetzen mit „verwirren, ausser Fas-
sung bringen“30, weil die Juden hier das Akkusativobjekt dieser Handlung sind, welche durch
ein Übel, ein δεινόν, ausgelöst wird. Die Ereignisse des fünften Paragraphen werden dann als
θόρυβος bezeichnet („das verworrene Durcheinanderschreien und Lärmen einer grossen Men-
schenmenge, Verwirrung, Unruhe“).31
Es ist also klar ersichtlich, dass in diesem Kapitel negative Vorkommnisse erzählt
werden, die dem Ansehen der Juden schadeten, und zwar durch θόρυβος („Aufruhr“). Tat-
sächlich fällt es schwer, das TF mit seinem positiven Unterton in diesem Kontext zu situieren,
weil es keinerlei Unruhen oder sonstige Probleme für die Juden beinhaltet. Meines Erachtens
gibt es jedoch einige Hinweise, die es ermöglichen, einen originalen Kern, der mit einem ne-
gativen Unterton verfasst wurde, zu postulieren.32 Unter der Annahme, dass Josephus Jesus
als Aufwiegler beschrieb, der dem Ansehen der Juden Schaden zufügte, fügt sich das TF näm-
lich besser in den Kontext ein. Die Tabelle auf der nächsten Seite soll dies veranschaulichen.
Dazu sollen die Übergänge genauer betrachtet werden, die in der obigen Auflistung bereits
27 Indem Josephus den darauffolgenden Abschnitt 18,85 einleitet mit Οὐκ ἀπήλλακτο δὲ θορύβου καὶ τὸ
Σαµαρέων ἔθνος („Auch das samaritanische Volk kam nicht ohne Tumult davon“), impliziert er, dass das vorhe-
rige Ereignis auch ein θόρυβος ist.
28 §4 enthält zwar das Verb θορυβέω, dies bezieht sich aber auf die Ereignisse in §5. Deshalb haben nur die Er-
eignisse der Paragraphen 1,2 und 5 einen Bezug zu θορυβέω/θόρυβος.
29 Pape 1914 s.v. θορυβέω.
30 Pape 1914 s.v. θορυβέω.
31 Pape 1914 s.v. θόρυβος.
32 Die folgenden Überlegungen fussen teilweise auf Dornseiff 1936, S. 145-146, wurden aber durch den Verfas-
ser weiter entwickelt.
11
zitiert wurden: §2 endet mit der Feststellung, dass der Aufruhr auf diese Weise beendet wur-
de. Den letzten Satz des TF kann man als Parallele dazu auffassen, und zwar, dass der Stamm
der Christen (entspricht dem Aufruhr) bis zum heutigen Tag nicht aufgehört hat. Der folgende
§4 beginnt damit, dass ein anderes Übel die Juden aufgebracht hatte, was impliziert, dass Je-
sus ein Übel war, das den Juden Probleme verursachte. Damit stünde Jesus als δεινόν im
Übergang von Provokationen des Pilatus zu individuellen Unruhestiftern (vgl. die Spalte
δεινόν in Tab. 1).
Tab. 1: Postulierung eines ursprünglich negativen TF aufgrund der Klassifizierung der
Schlüsselbegriffe in ant. Iud. 18,3,1-5 (=18,55-84)33
*δεινόν34
Folge
Resultat
§1 Kaiser-
büste
(18,55-59)
Provokatio-
nen des Pila-
tus
θορυβεῖν=seinen
Unwillen durch
Murren und Ge-
schrei zu erkennen
geben
*στάσιςànega-
tiv für das An-
sehen der Juden
Unruhe niederge-
schlagen
§2 Aquä-
dukt
(18,60-62)
στάσιςà nega-
tiv für das An-
sehen der Juden
Unruhe niederge-
schlagen
(καὶ οὕτω παύεται ἡ
στάσις)
§3 TF
(18,63-64)
*Jesus als
Krimineller
orientali-
scher Religi-
onszugehö-
rigkeit
*θορυβεῖν=den
Juden Probleme
bereiten
*negativ für das
Ansehen der
Juden
Problem nicht gelöst
(οὐκ ἐπέλιπε τὸ
φῦλον)
§4 Ägypt.
Priester
(18,65-80)
Kriminelle
orientali-
scher Religi-
onszugehö-
rigkeit
*θορυβεῖν=(verwir-
ren, ausser Fassung
bringen), den Juden
Probleme bereiten
negativ für das
Ansehen der
Juden
Problem nicht gelöst
§5 Jüd.
Betrüger
(18,81-84)
θορυβεῖν=(verwir-
ren, ausser Fassung
bringen), den Juden
Probleme bereiten
Problem nicht gelöst
Bezüglich dieses Postulates gibt es aber zwei methodische Bedenken: Erstens ist es
problematisch, die Überarbeitungshypothese zu stützen mit Formulierungen des textus recep-
33 Die mit Asterisk gekennzeichneten Wörter kommen an der angegebenen Stelle nicht vor, sondern sind aus
dem Kontext auf diese Stellen angewandt worden.
34 Die Kategorie des δεινόν ist hypothetisch, weil dieses Wort bloss für die jüdischen Betrüger verwendet wird
(18,65), und nicht für die anderen Ereignisse.
12
tus des TF. Wenn der Text später redaktionell überarbeitet wurde, dann kann man sich nicht
mehr auf Details in der Formulierung stützen, um etwas zu beweisen. Zweitens ist es uner-
lässlich, die Gegenprobe zu machen, ob die Übergänge auch noch stimmen (oder vielleicht
sogar überzeugender sind), wenn man das TF probehalber entfernt. Tatsächlich scheint nichts
zu fehlen, wenn man den Text durchliest ohne den dritten Paragraphen. Die Worte zu Beginn
des §4 (ἕτερόν τι δεινὸν ἐθορύβει τοὺς Ἰουδαίους) lassen sich auch gut als Anschluss zur
Niederschlagung des Aufruhrs in §2 verstehen.
Das Fazit dieser Betrachtungen lautet also, dass das TF in seiner heutigen Form kaum
in den Rahmen des umgebenden Textes passt. Dabei handelt es sich zwar um keinen klaren
Beweis, aber doch um eine starke Wahrscheinlichkeit. Denkbar ist höchstens ein negativer
Kern, der später christlich überarbeitet wurde. Dazu aber mehr im Kapitel
3.5 Überarbeitungstheorie ab S. 25.
3.2 Das Weltbild hinter den Aussagen des TF
Einer der Hauptanklagepunkte an das TF sind die darin enthaltenen Aussagen, die wie
christliche Bekenntnisse klingen. Konnte der romanisierte Jude Josephus wirklich derartige
Dinge über Jesus geschrieben haben? Diese Frage drängt sich schon bei der ersten oberfläch-
lichen Lektüre auf, und damit kam im 17. Jh. der Stein der Echtheitsdiskussion ins Rollen.
Bevor wir nun einige dieser Aussagen genauer betrachten, sei vorausgeschickt, dass wir uns
auch hier methodisch auf unsicherem Gelände bewegen. Whealey bringt es auf den Punkt:
„[…] too much past critique of the textus receptus Testimonium was based on assumptions
about what Josephus’ attitude towards Jesus must have been rather than actual textual evi-
dence. […] the line between Christians and non-Christian Jews in Josephus’ day was not as
firm as it would later become. […] supposedly Christian-sounding elements cannot be ruled
inauthentic a priori.”35 Es ist daher sicherlich berechtigt, in diesem Unterkapitel die scheinba-
ren christlichen Bekenntnisse auf mögliche alternative Interpretationen hin zu untersuchen.
Nach getaner Detailarbeit gilt es dann aber, einen grossen Schritt zurückzutreten, um die
Plausibilität der Erklärungsversuche aus einer gewissen Distanz abzuwägen.
Die erste problematische Aussage ist der kurze Nebensatz direkt nach der Nennung
von Jesus: Ἰησοῦς σοφὸς ἀνήρ, εἴγε ἄνδρα αὐτὸν λέγειν χρή („Jesus, ein weiser Mann, wenn
man ihn überhaupt einen Mann nennen soll“). Dies wird normalerweise als Anspielung auf
die Göttlichkeit Jesu verstanden, was man von einem Juden nicht erwartet. Zu dieser Ein-
schätzung gibt es aber zwei solide Einwände: Sowohl Troiani als auch Victor weisen darauf
35 Whealey 2008, S. 575.
13
hin, dass die Bezeichnung σοφός ἀνήρ keinesfalls nur ehrend war, sondern vielmehr auch
zweifelhafte, obskure Personen mit einschloss.36 Troiani argumentiert deshalb dafür, die Pas-
sage zu übersetzen mit „Gesù, uomo preparato, sempre che si debba definirlo uomo adulto“,
mit der Begründung, dass ἀνήρ eher auf das Mannesalter abzielt, wohingegen für die mensch-
liche Natur (im Gegensatz zur göttlichen) eher der Begriff ἄνθρωπος stehen müsste.37 Victor
hingegen argumentiert dafür, dass sich Josephus hier in der griechisch-römischen Vorstel-
lungswelt ausdrückt, wo es kein Problem war, auch obskure Persönlichkeiten in die Nähe des
Göttlichen zu rücken.38
Eine weitere problematische Aussage ist die Bezeichnung Jesu als διδάσκαλος
ἀνθρώπων τῶν ἡδονῇ τἀληθῆ δεχοµένων („ein Lehrer von Menschen, die die Wahrheit mit
Freude annehmen“). Eine recht einfache Lösung hierfür ist die Emendation von τἀληθῆ
(Krasis aus τὰ ἀληθῆ, neutrum Plural des Adjektivs ἀληθής „wahr“) zu τἀήθη (Krasis aus τὰ
ἀήθη, neutrum Plural des Adjektivs ἀήθης „seltsam“).39 Somit kommt man auf die Überset-
zung „ein Lehrer von Menschen, die Sonderbares mit Freuden annehmen“. Dieser Vorschlag
würde gut zur vorhin diskutierten Stelle passen, die man auch in einem solchen Sinne inter-
pretieren kann, dass Jesus als Sonderling dargestellt wird. Eine andere Emendation, die sogar
noch von externen Zeugen gestützt wird, ist τ’ ἄλλ’ ἤθη (τὰ ἄλλα ἤθη „die anderen Gebräu-
che“). Hinweise auf dieses Verständnis finden sich in der Formulierung „praeceptis morali-
bus“40 in der TF-Paraphrase des Pseudo-Hegesippus (genaueres dazu unter 3.5.1 Lateinische
Übersetzungen) und im Kommentar des Eusebius zu seinem TF-Zitat in der Demonstratio
Evangelica, wo er von ξενιζούσῃ διδασκαλίᾳ41 spricht.42
Nachdem diese beiden verhältnismässig einfachen Stellen abgehandelt sind, kommen
wir nun zu derjenigen Aussage, die ein unverblümtes christliches Bekenntnis zu sein scheint:
ὁ χριστὸς οὗτος ἦν („dieser war der Christus“). Wenn man annimmt, dass im Rom des ausge-
36 Troiani 2006, S. 3; Victor 2010, S. 75-77.
37 Troiani 2006, S. 3.
38 Victor 2010, S. 73-75.
39 Vgl. den kritischen Apparat in der Ausgabe der Loeb Classical Library (Goold 1965, S. 50).
40 Pseudo-Hegesippus, De excidio Hierosolymitano 2,12: Plerique tamen Iudaeorum, gentilium plurimi cre-
diderunt in eum, cum praeceptis moralibus, operibus ultra humanam possibilitatem profluentibus inuitarentur.
(„Dennoch glaubten sehr viele der Juden, sehr viele auch der Heiden an ihn, weil sie angezogen wurden durch
[seine] moralische Lehren und durch [von ihm] ausgehende (d.h. vollbrachte) Werke jenseits der menschlichen
Möglichkeit“).
41 Eus. Dem. Ev. 3,5,108: πῶς γὰρ ἂν ἄλλως προσήγετο τοῦ Ἰουδαϊκοῦ καὶ τοῦ Ἑλληνικοῦ πλείους, εἰ µή τισιν
θαυµαστοῖς καὶ παραδόξοις ἔργοις καὶ ξενιζούσῃ κέχρητο διδασκαλίᾳ („Wie denn sonst nahm er [scil. Jesus]
die Massen der Juden und der Griechen für sich ein, wenn er sich nicht wunderbarer und unglaublicher Werke
bedient hätte, und überraschender (ungewohnter, seltsamer) Lehre“).
42 Whealey 2003, S. 33-34.
14
henden 1. Jh. n.Chr. Christus als Messiastitel verstanden wurde, dann ist es extrem unwahr-
scheinlich, dass dieser Satz authentisch ist. Deshalb liegt es nahe, dafür zu argumentieren,
dass Christus hier als Beiname verwendet wurde. Victor plädiert dafür, dass Christus in dieser
grammatikalischen Situation sogar zwingend als ein allgemein bekannter Name verstanden
werden müsse, und nicht als Titel aufgefasst werden könne. Weil ὁ χριστὸς Prädikatsnomen
ist, bei dem normalerweise kein bestimmter Artikel steht, zeige das Vorhandensein dieses
Artikels, dass Christus ein allgemein bekannter Name sein müsse. Dafür sprächen auch Be-
legstellen wie Tac. ann. 15,44, wo ersichtlich wird, dass Jesus und die Christen in Rom unter
dem Namen “Chrestos” resp. “Chrestiani” bekannt waren. Diese falsche Namensform deute
darauf hin, dass man das Wort „Christus“ in der römischen Welt nicht als griechische Über-
setzung des hebräischen Wortes “Messias” verstand, sondern als Name.43
Wenn Josephus Jesus mit diesem Beinamen bezeichnete, ist es allerdings verwunder-
lich, dass er von seinem üblichen Schema abweicht, wie er Personen einführt. Zu erwarten
wäre, dass gleich nach der Nennung des Vornamens Jesus eine Spezifizierung folgt, was für
ein Jesus gemeint ist.44 Es ist auch zweifelhaft, ob Josephus, der die Bedeutung des Wortes
Christus kannte, dieses als blossen Beinamen verwendete. Man muss sich vor Augen halten,
dass Josephus im Messianismus die Ursache für den 1. Jüdischen Krieg sah45, und dass er
persönlich versucht hatte, dieser in seinen Augen gefährlichen Strömung einen Riegel zu
schieben, indem er Vespasian als Messias bezeichnete. Vor diesem Hintergrund wäre im min-
desten eine Distanzierung in der Form von „dieser nannte sich Christus“ zu erwarten. Als
Fazit bleibt festzuhalten, dass es zumindest sehr verdächtig ist, dass diese Aussage in solcher
Form in den Altertümern steht.
Aber nicht nur die Aussage, Jesus sei der Christus gewesen, wirft Zweifel an der Au-
thentizität auf, sondern auch der Bericht über die Auferstehung: ἐφάνη γὰρ αὐτοῖς τρίτην
ἔχων ἡµέραν πάλιν ζῶν τῶν θείων προφητῶν ταῦτά τε καὶ ἄλλα µυρία περὶ αὐτοῦ θαυµάσια
εἰρηκότων („denn er erschien ihnen am dritten Tage wieder lebendig, weil die göttlichen Pro-
pheten dies und unzählbar viel anderes Sonderbares von ihm gesagt hatten“). Es ist wirklich
sehr erstaunlich, dass Josephus geschrieben haben soll, dass die alttestamentlichen Propheten
43 Victor 2010, S. 78-79. Wenn es auch wahrscheinlich ist, dass römische Leser das Wort „Christus“ nicht als
Messiastitel verstanden, so steht doch die Belegstelle bei Tacitus auf wackeligen Füssen: In den Handschriften
findet man sowohl die Schreibweise Chrestiani als auch Christiani (Detering 2011, S. 64) – um von den anderen
Problemen dieser sehr obskuren Stelle ganz zu schweigen. Vgl. dazu die Ausführungen Deterings a.a.O. zur
Authentizität des Berichtes über die neronische Christenverfolgung bei Tacitus.
44 Zeitlin 1928, S. 235.
45 Zeitlin 1928, S. 250.
15
vorausgesagt hatten, dass Jesus nach seinem Tod wieder auferstehen würde. Was für ein Kon-
zept von Prophetie finden wir denn in Josephus’ Werk? Er stellt die Juden im Jüdischen Krieg
als solche dar, welche die göttlichen Prophezeiungen falsch verstehen. Eigentlich sorge Gott
für sein Volk, indem er ihnen die nötigen Voraussagen gebe, aber die Israeliten würden diese
Voraussagen falsch deuten. Weil sie die Prophetie über den kommenden Herrscher falsch
verstanden hätten, kämpften sie gegen Vespasian, anstatt ihn als Messias anzuerkennen, und
dabei hätten sie sich immensen Schaden zugefügt.46 Josephus selbst hingegen könne falsche
von wahren Auslegungen unterscheiden, so z.B. die Prophezeiung an Vespasian, er werde die
Macht übernehmen und sei der Messias.47 Daraus ist zu schliessen, dass Josephus zwar
durchaus an alttestamentliche Prophezeiungen über den Messias glaubt, aber dass sich diese
auf Vespasian beziehen, und sicher nicht auf Jesus!
Nun gibt es dennoch Möglichkeiten, diesen Satz zu retten. Victor sieht im Zusatz
ἐφάνη γὰρ αὐτοῖς („er erschien ihnen“) einen Hinweis darauf, dass Josephus dies als subjek-
tive Meinung der Jünger darstellte.48 In der Positionierung des Wortes ἀγαπήσαντες direkt vor
diesem Satz sehe ich einen weiteren Hinweis auf diese Deutung, nämlich dass die Jünger vor
Liebe geblendet waren, und deshalb diese Erscheinung hatten. Gestützt auf diese Überlegun-
gen möchte ich eine eigene Deutung vorbringen: „[Weil die Jünger geblendet vor Liebe wa-
ren, dachten sie], er sei ihnen am dritten Tage wieder lebendig erschienen, in der Überzeu-
gung, dass die göttlichen Propheten dies und unzählbar viel anderes Sonderbares von ihm
gesagt hatten.“ Es ist nämlich durchaus möglich, den Genitivus absolutus τῶν θείων
προφητῶν...εἰρηκότων als Angabe eines subjektiven Grundes aufzufassen. Die griechische
Grammatik Bornemann/Risch sagt dazu:
46 Ios. bell. Iud. 6,310-313: Ταῦτά τις ἐννοῶν εὑρήσει τὸν µὲν θεὸν ἀνθρώπων κηδόµενον καὶ παντοίως
προσηµαίνοντα τῷ σφετέρῳ γένει τὰ σωτήρια, τοὺς δ᾽ ὑπ᾽ ἀνοίας καὶ κακῶν αὐθαιρέτων ἀπολλυµένους, [...] τὸ
δ᾽ ἐπᾶραν αὐτοὺς µάλιστα πρὸς τὸν πόλεµον ἦν χρησµὸς ἀµφίβολος ὁµοίως ἐν τοῖς ἱεροῖς εὑρηµένος
γράµµασιν, ὡς κατὰ τὸν καιρὸν ἐκεῖνον ἀπὸ τῆς χώρας αὐτῶν τις ἄρξει τῆς οἰκουµένης […] ἐδήλου δ᾽ ἄρα τὴν
Οὐεσπασιανοῦ τὸ λόγιον ἡγεµονίαν ἀποδειχθέντος ἐπὶ Ἰουδαίας αὐτοκράτορος. („Dies wird jeder, der nach-
denkt, herausfinden, dass Gott für die Menschen sorgt und in allen Dingen das Heilvolle seinem Volk voraus-
sagt, diese aber wegen Unverständigkeit und selbstverschuldeten Übeln zugrundegehen. [...] Das, was sie [scil.
die Juden] am meisten zum Krieg anstachelte, war eine doppeldeutige Prophezeiung, die ebenfalls in den heili-
gen Schriften gefunden wird, dass zu jener Zeit von ihrem Land her jemand die Welt beherrschen wird. [...] aber
dieser Spruch bedeutete die Herrschaft des Vespasian, der in Judäa zum Kaiser ausgerufen wurde.“).
47 Ios. bell. Iud. 3,352: ἦν δὲ καὶ περὶ κρίσεις ὀνείρων ἱκανὸς συµβαλεῖν τὰ ἀµφιβόλως ὑπὸ τοῦ θείου λεγόµενα,
τῶν γε µὴν ἱερῶν βίβλων οὐκ ἠγνόει τὰς προφητείας ὡς ἂν αὐτός τε ὢν ἱερεὺς καὶ ἱερέων ἔγγονος. („Er [scil.
Josephus] war aber auch in der Deutung von Träumen erfahren, die mehrdeutigen Gottessprüche zu interpretie-
ren, er kannte die Prophezeiungen der heiligen Schriften sehr gut, weil er selbst Priester war und der Sohn von
Priestern.“).
48 Victor 2010, S. 77.
16
„Ptc. coni. und Gen. abs. stehen nämlich [...] c) kausal, oft verdeutlicht durch
ἅτε od. οἷα (οἷον) zur Angabe eines objektiven (tatsächlichen) Grundes (Indi-
kativ im deutschen Kausalsatz), durch ὡς zur Angabe eines subjektiven Grun-
des (Konjunktiv im deutschen Kausalsatz, dessen Einleitung auch ‘in der
Überzeugung od. Annahme dass’)“.
Bornemann/Risch 1978, S. 252, §246 c)
Weil im vorliegenden Fall keine verdeutlichende Partikel steht, ist der subjektive
Grund zumindest nicht auszuschliessen. In diesem Fall hätte uns der flavische Historiker die
ersten Christen als solche Juden porträtiert, die die biblische Prophetie falsch verstanden hat-
ten, und einem falschen Messias anhingen. Wie im vorherigen Absatz besprochen, ist die
Grundlage für diese Deutung in bell. Iud. 6,310-315 zu finden, wo Josephus schreibt, dass die
Juden die messianische Prophezeiung falsch verstanden hätten. Damit wird der Satz schon
viel akzeptabler als ein von Josephus geschriebener. Dennoch bleibt fraglich, ob der flavische
Historiker diese in der Luft hängende unglaubliche Prätention unkommentiert gelassen hätte.
In Anbetracht dessen, dass Josephus Jesus definitiv nicht als den Messias anerkannte, erwar-
ten wir eine klare Distanzierung von der Auferstehungsgeschichte.49
Was ist nun von diesen Deutungen zu halten? Man kann zwar viele der bekenntnishaf-
ten Stellen uminterpretieren, aber manche dieser Versuche erinnern an juristische Winkelzüge
– auch mein eigener. Man kann sie zwar nicht direkt widerlegen, aber sie sind nicht immer
überzeugend. Natürlich ist es problematisch, bei einem 2000-jährigen Text in einer fremden
Sprache und aus einer fremden Kultur, von einem „gesunden Menschenverstand“ zu spre-
chen. Whealey hat natürlich nicht ganz unrecht mit ihrem anfangs dieses Unterkapitels zitier-
ten Plädoyer, nicht zu stark mit unseren modernen Annahmen zu argumentieren, was Jo-
sephus über Jesus gedacht haben muss. Aber manchmal ist diese ganz und gar unwissen-
schaftliche Kategorie nicht einmal so abwegig. Und es bleibt dabei: Nimmt man die Aussagen
des TF wörtlich, und versucht man sie „ganz direkt“ zu verstehen, so hat man christliche Be-
kenntnisse vor sich. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Aussagen wirklich von Josephus stam-
men, ist beim heutigen Stand der Erkenntnis eher klein.
49 Miralles Macia 2004, bes. S. 392-393, ist bei ihrem Vergleich von Erwähnungen von Messiassen durch Jo-
sephus zum Schluss gekommen, dass Josephus sehr zurückhaltend ist gegenüber selbsternannten Messiassen,
und sie in einem negativen Licht darstellt. Für ihn war Vespasian der wahre Messias.
17
3.3 Textgeschichte und äussere Bezeugung
In den beiden vorherigen Diskussionsebenen der Einbettung in den Kontext und des
Weltbildes hinter den Aussagen hat sich eine grosse Wahrscheinlichkeit dafür abgezeichnet,
dass das TF in seiner heutigen Form nicht von Josephus stammt. Die Konsequenz aus dieser
Einsicht wäre die totale Interpolation von 18,63-64 von einem späteren Schreiber, oder eine
der noch zu besprechenden Abänderungstheorien. Doch um Konkreteres herauszufinden, ist
es nötig, die Textgeschichte der Antiquitates zu betrachten, was im Folgenden geschehen soll.
3.3.1 Die Überlieferungsgeschichte des griechischen Textes der Altertümer
Da der griechische Text der Antiquitates wegen seiner Länge nicht auf einem einzigen
Textträger Platz fand, teilte man die 20 Bücher auf in vier Pentaden, woraus vier Codices mit
je fünf Büchern resultierten. Der vierte Codex enthielt als sechstes Buch noch einen Anhang,
die Vita Josephi. Daraus ergab sich je eine Überlieferungssituation für die Bücher 1-10 und
11-20. Für die Bücher 11-20 sind die primären Textzeugen sieben Codices vom 9.-15. Jh. Die
Editio princeps, die 1544 in Basel erschien, muss darüber hinaus noch weitere Handschriften
verwendet haben, die heute nicht mehr erhalten sind.50 Für das TF listet Niese im kritischen
Apparat die Zeugen „AMWELatZonaras I p. 478, Exc. Peiresc. Suidas B Eusebius hist. eccl. I
11 dem. evang. III 5. 105“ auf.51 Das heisst:
• A: Codex Ambrosianus (Mediolanensis) F 128 sup. = Gr. 370 (11. Jh.)
• M: Codex Mediceo-Laurentianus, Plut. 69, Cod. 10 (1469)
• W: Codex Vaticanus Graecus 984 (1354)
• E: Eine byzantinische Epitome unbekannter Autorschaft (ca. 10.-11. Jh.)52
• Lat: Die lateinische Übersetzung der Antiquitates aus dem Umfeld des Cassiodor
(6. Jh.)53
• Zonaras I p. 478: Chronik des byzantinischen Geschichtsschreibers Johannes Zonaras
aus dem 12. Jh., der ganze Passagen aus Josephus’ Oeuvre übernahm.54
• Exc. Peiresc.: Excerpta de Virtutibus et Vitiis (überliefert im sog. Codex Peirescia-
nus), byzantinische Josephus-Exzerpte des 10. Jh.55
• Suidas B: Einträge in der byzantinischen Enzyklopädie Suda, die ins 10. Jh. datiert.
50 Leoni 2009, S. 158-161;164-165.
51 Niese 1990, S. 151-152.
52 Niese 1887, S. XVIII.
53 Niese 1887, S. XXVII-XXVIII.
54 Niese 1887, S. XXIII; Leoni 2009, S. 161.
55 Leoni 2009, S. 161.
18
• Die Zitate des TF in Eusebius, Historia Ecclesiastica 1,11 und Demonstratio Evange-
lica 3,5,105-107.
Die primären Zeugen für den griechischen Text sind also die drei Handschriften
AMW, die alle derselben Textfamilie angehören56, und deren ältester Vertreter ins 11. Jh.
zurückdatiert. Das TF ist in allen diesen drei Handschriften enthalten. Abgesehen von den
byzantinischen Zeugnissen, die aber nur sekundären Charakter haben, ist das TF also nur
noch bei Cassiodor und Eusebius bezeugt. Somit ist Eusebius der einzige frühe Kirchen-
schriftsteller, der das TF kannte. In einem ersten Schritt ist deshalb abzuklären, wie das
Schweigen der Apologeten vor Eusebius zu deuten ist. Kann man nachweisen, dass sie die
Antiquitates kannten, und ein Interesse an einem jüdischen Jesuszeugnis hatten, aber ohne das
TF zu zitieren? Das wäre ein Beweis dafür, dass das TF zu ihrer Zeit noch nicht existierte. In
einem zweiten Schritt soll genau untersucht werden, welche Rolle Eusebius spielt, um abzu-
klären, ob er vielleicht der Interpolator ist.
3.3.2 Das TF und die voreusebianischen Kirchenschriftsteller
Im 2. und 3. Jh. fand das TF erstaunlich wenig Resonanz, obwohl man das Gegenteil
erwartet. Die Apologeten vor Eusebius griffen nie auf das TF zurück, um ihre Argumentation
zu stützen, obwohl sie sich ja geradezu auf dieses Zeugnis eines Juden hätten stürzen müssen.
Besonders von drei Autoren wird behauptet, dass sie die Antiquitates kannten, und trotzdem
nichts über das TF schrieben: Irenäus von Lyon, Clemens von Alexandria und Origenes von
Alexandria.
Irenäus von Lyon (ca. 130-202) hätte das TF vermutlich gut gebrauchen können in
seinen fünf Büchern Adversus haereses und in seiner kleineren Schrift Demonstratio aposto-
licae praedicationis, von deren griechischem Original nur eine armenische Übersetzung über-
liefert ist. Der aus Kleinasien stammende Bischof war griechischer Muttersprache und pflegte
auch nach seiner Übersiedelung nach Gallien Kontakte in den Osten.57 Ein nicht ganz sicher
ihm zuweisbares Fragment zitiert Ios. ant. Iud. 2,238-253, woraus geschlossen wird, dass er
das 18. Buch der Altertümer gekannt haben muss. Diese Überlegung wird aber durch drei
Einwände relativiert: Erstens ist es nicht gesichert, dass das erwähnte Fragment von Irenäus
stammt. Zweitens muss er bei Kenntnis des zweiten Buches nicht unbedingt auch das 18.
Buch gekannt haben, weil die Antiquitates in einzelnen Papyrusrollen vorlagen, und später in
56 Leoni 2009, S. 165.
57 Markschies 1997, Sp. 919-921.
19
vier Codices mit je einer Pentade. Und drittens schreibt Irenäus, unter Kaisers Claudius hätte
Herodes zusammen mit Pilatus Jesus kreuzigen lassen,58 während aus Ios. ant. Iud. 18,89 klar
hervorgeht, dass Pilatus kurz vor Tiberius’ Tod abgesetzt wurde. Aus dem Schweigen des
Irenäus lässt sich also keinen Rückschluss auf die Authentizität des TF ziehen.59
Clemens von Alexandria (gest. vor 215/221) war einer der ersten christlichen Philoso-
phen. Von ihm sind mehrere apologetische Werke überliefert, die sich an griechisch gebildete
Nichtchristen richten.60 In strom. 1,147 schreibt er, dass er zwei Jahreszahlen von Josephus
übernommen habe.61 Die zweite (1179 Jahre) stammt direkt aus dem Bellum Iudaicum, und
von der ersten (585 Jahre) nimmt man an, dass Clemens sie aus den Angaben in ant. Iud. 8,61
berechnet hat, wobei diese Zahl durch Abschreibfehler verderbt wurde (592 bei Josephus,
abzüglich vier Jahre, ergäbe 588 statt 585 Jahre).62 Aufgrund dieser Sachlage kann also nicht
bewiesen werden, dass Clemens das 18. Buch der Antiquitates kannte, und somit kann sein
Schweigen auch kein Beweis gegen die Authentizität des TF sein.63
Whealey führt ausserdem einige Gründe an, weshalb die Kirchenväter vor Origenes
sich weniger mit ant. Iud. 11-20 auseinandersetzten: Die Antiquitates sind unhandlich lang,
und setzen sich im Gegensatz zum kürzeren Bellum Iudaicum mit eher abstrakten Themen
auseinander. Sie wurden deshalb seltener rezipiert als andere Werke des Josephus. Ausserdem
behandeln die ersten zehn Bücher der Altertümer die alttestamentliche Geschichte und wur-
den deshalb eher zitiert von den Christen als die Bücher 11-20, die sich mit der zwischen- und
neutestamentlichen Geschichte auseinandersetzten. Dass zwischen der lukanischen Apostel-
geschichte und der Historia Ecclesiastica des Eusebius keine einzige Kirchengeschichte ver-
58 Demonstratio apostolicae predicationis 74: „Herodes, der König der Juden, und Pontius Pilatus, der Landpfle-
ger des Kaisers Klaudius, sind ja nämlich zusammengetreten und haben ihn zum Kreuzestode verurteilt.“ (Weil
dieses Werk nur in einer aramäischen Übersetzung überliefert ist, ist hier die deutsche Übersetzung der Biblio-
thek der Kirchenväter abgedruckt).
59 Whealey 2003, S. 7-8.
60 Meyer 1997, Sp. 30-31.
61 Clem. Al. strom 1,21,147,2-3: Φλαύιος δὲ Ἰώσηπος ὁ Ἰουδαῖος ὁ τὰς Ἰουδαϊκὰς συντάξας ἱστορίας
καταγαγὼν τοὺς χρόνους φησὶν ἀπὸ Μωυσέως ἕως Δαβὶδ ἔτη γίγνεσθαι φπεʹ, ἀπὸ δὲ Δαβὶδ ἕως Οὐεσπεσιανοῦ
δευτέρου τους ͵αροθʹ. (“Flavius Josephus, der Jude, der die jüdischen Geschichten zusammenstellte, sagt in
seiner Berechnung der Zeiten, dass von Moses bis David 585 Jahre waren, von David bis Vespasian aber wiede-
rum 1179 Jahre.“).
62 Ios. ant. Iud. 8,61: Τῆς δ᾽ οἰκοδοµίας τοῦ ναοῦ Σολόµων ἤρξατο τέταρτον ἔτος ἤδη τῆς βασιλείας ἔχων […],
µετὰ ἔτη πεντακόσια καὶ ἐνενήκοντα καὶ δύο τῆς ἀπ᾽ Αἰγύπτου τῶν Ἰσραηλιτῶν ἐξόδου. (“Mit der Errichtung
des Tempels begann Salomo schon im vierten Jahr seiner Königsherrschaft, [...] 592 Jahre nach dem Exodus der
Israeliten aus Ägypten.“).
63 Whealey 2003, S. 8.
20
fasst wurde64, zeigt das mangelnde Interesse der frühen Christenheit an ihrer rezenten Ge-
schichte. Es wäre deshalb laut Whealey nicht verwunderlich, wenn Origenes einer der ersten
gewesen wäre, die bis zum 18. Buch der Altertümer gelangt sind. Diese Überlegung wird ge-
stützt durch den Befund, dass die frühen Kirchenschriftsteller auch sonst auf keine Informati-
onen über das frühe Christentum aus den Büchern 11-20 eingehen: Der Bericht des Josephus
über Johannes den Täufer in 18,116-119, über den Herrenbruder Jakobus in 20,200 (falls die
Stelle echt ist), die vielen Parallelen zum lukanischen Doppelwerk, und die dreieinhalb Bü-
cher, die Herodes dem Grossen gewidmet sind – all dies bleibt unerwähnt in der frühen Kir-
chenliteratur.65
Bei Origenes (185/6-254) sieht die Situation anders aus. In seiner um 248 verfassten,
an griechisch gebildete Nichtchristen gerichteten Apologie Contra Celsum66 zitiert er aus dem
18. Buch der Antiquitates, schreibt dann aber im selben Satz, Josephus habe nicht an Jesus als
den Christus geglaubt, eine Beteuerung, die wir auch andernorts in seinem Werk finden.67
Dabei ist zu bedenken, dass Origenes in seiner Situation ein Zeugnis über Jesus aus der Feder
eines Juden sehr gelegen gekommen wäre: Celsus verunglimpfte die Wunder Jesu als Scharla-
tanerie und ägyptische Zauberei, während Origenes zu zeigen bemüht war, dass Jesu Taten
edler und grösser waren als die in den griechischen Mythen enthaltenen.68 Warum machte
Origenes nicht vom Zeugnis des Josephus Gebrauch, Jesus sei ein παραδόξων ἔργων ποιητής,
διδάσκαλος ἀνθρώπων τῶν ἡδονῇ τἀληθῆ δεχοµένων gewesen? Damit liegt also erstmals ein
klarer Beweis vor, dass das TF im 2. Jh. nicht in der heutigen Form in den Schriften des Jo-
sephus zu finden war. Denkbar bleibt natürlich noch eine Überarbeitungstheorie, wie sie im
Unterkapitel 3.5 Überarbeitungstheorie ab S. 25 behandelt werden soll.
3.3.3 Das TF in den eusebianischen Schriften
Eine völlige Kehrtwende in der äusseren Bezeugung des TF ist bei Eusebius (Bischof
von Caesarea Maritima, *kurz nach 260, †337-340)69 zu beobachten: Er benutzte Josephus
64 Zumindest wenn man von Hegesipp absieht, ein von Eusebius zitierter früher Kirchenschriftsteller, der im 2.
Jh. lebte. Über die Person und das Werk des Hegesipp ist nur weniges bekannt, aber er interessierte sich für die
Kirchengeschichte. Der Hauptzweck seines Werkes wird aber eher die Bekämpfung von Häresien gewesen sein
(Lietzmann 1912, Sp. 2611-2612).
65 Whealey 2003, S. 11-12.
66 Whealey 2003, S. 12-18; Markschies 1997, Sp. 919-921.
67 Orig. c. Cels. 1,47,6-9: Ἐν γὰρ τῷ ὀκτωκαιδεκάτῳ τῆς ἰουδαϊκῆς ἀρχαιολογίας ὁ Ἰώσηπος µαρτυρεῖ [...]
καίτοι γε ἀπιστῶν τῷ Ἰησοῦ ὡς Χριστῷ („Denn im 18. [Buch] der Jüdischen Altertümer bezeugt Josephus [...]
obwohl er nicht an Jesus als den Christus glaubte“); Commentarium in evangelium Matthaei 10,17: τὸν Ἰησοῦν
ἡµῶν οὐ καταδεξάµενος εἶναι Χριστόν (“er akzeptierte nicht, dass unser Jesus der Christus ist”).
68 Detering 2011, S. 36.
69 Rist 1998, Sp. 309-310.
21
mehr als jeder Kirchenvater vor ihm, sodass er mit dem Stil des Josephus sehr vertraut war.
Auch ist Eusebius die erste äussere Bezeugung für das TF. Es wird gleich drei Mal zitiert, und
zwar ziemlich wortgetreu, was doch ziemlich zu überraschen vermag nach der zwei Jahrhun-
derte dauernden Lücke. Wenn das TF interpoliert ist, so ist Eusebius der wahrscheinlichste
Interpolator, denn kein anderer Kirchenvater war so gut mit Josephus vertraut, dass ihm zuge-
traut werden könnte, den Stil des Josephus derart gut zu treffen. Dennoch soll die Angelegen-
heit differenziert betrachtet werden: Es ist nämlich bemerkenswert, welche Funktion das TF
in der Argumentation des Eusebius hat. Es dient in keinem der drei Werke zur Bezeugung der
Messianizität Jesu, oder um mit einem jüdischen Zeugnis zur Auferstehung aufzutrumpfen.70
Das erste Mal zitiert Eusebius das TF in der Demonstratio Evangelica 3,5,105-107,
eine an Juden gerichtete apologetische Schrift, die noch in die Verfolgungszeit datiert, womit
die Jahre 303-31371, eher aber 312-32272 infrage kommen. Die Hauptstossrichtung dieser
Schrift ist der Beweis, dass die alttestamentlichen Prophezeiungen sich auf Jesus beziehen,
aber Eusebius zitiert das TF in einem Abschnitt, in dem er sich an pagane Leser wendet, die
nicht an das Alte Testament glaubten. Er argumentiert, die Jünger hätten doch nicht an einer
Lüge festgehalten, derentwegen sie Verfolgung erlitten.73 Ausserdem hätten die Jünger ja die
Jesusgeschichte schönen können, und den Kreuzestod weglassen. Dann zitiert Eusebius das
TF, um daraus den Schluss zu ziehen, dass die Wunder Jesu viele Juden und Griechen zum
Glauben gebracht hätten, und dass sie deswegen keine minderwertigen Tricks oder gar Hexe-
rei gewesen sein können. Darin sieht Whealey ein Zeitkolorit des ausgehenden 1. Jh., weil in
den Evangelien nur jüdische Jünger erwähnt sind, hingegen es zur Zeit des Eusebius fast nur
Heidenchristen gab. Bloss zur Zeit des Josephus war die christliche Gemeinde sowohl aus
Juden- als auch aus Heidenchristen zusammengesetzt. Whealeys Hauptargument ist aber, dass
es Eusebius beim Zitat des TF weder um die Historizität noch um die Messianizität Jesu ging,
also diejenigen Aussagen, die heutzutage am meisten Anstoss erregen, und die im Unterkapi-
tel 3.2 Das Weltbild hinter den Aussagen des TF abgehandelt sind.74 Diese Überlegungen
sprechen also eher dagegen, dass Eusebius ein Motiv hatte, das TF zu fälschen.
70 Whealey 2003, S. 18-29, bes. 18-19 und 23.
71 Whealey 2003, S. 19-20
72 Abweichend von Whealey datiert DNP die Demonstratio in die Jahre 312-322, weil es im Osten noch einige
Jahre länger dauerte, bis sich Konstantin mit seiner christenfreundlichen Politik auch in diesem Reichsteil durch-
setzte. Die Datierung der eusebianischen Werke ist aber umstritten (Rist 1998, Sp. 309-310).
73 Es ist bemerkenswert, dass dieselbe Situation auch auf Eusebius zutraf, der zur Zeit der Niederschrift der De-
monstratio noch in Lebensgefahr war. Dies spricht m.E. gegen eine mutwillige Fälschung des TF durch Eusebi-
us.
74 Whealey 2003, S. 23-29.
22
Das zweite Mal zitiert Eusebius das TF in der Historia Ecclesiastica 1,11,7-8, deren
erste Bücher noch vor 313 angefangen wurden75, die aber als Gesamtwerk vor 325 vollendet
wurde. Es handelt sich dabei um die erste Kirchengeschichte seit der lukanischen Apostelge-
schichte. Das TF ist hier eingebettet in eine Diskussion um chronologische Probleme, und
wird von Eusebius ausschliesslich zu dem Zweck eingesetzt, um seine Chronologie des Wir-
kens Jesu zu stützen. Die für uns so brisanten Aussagen des TF werden gar nicht kommen-
tiert, weil sie keine Funktion haben für die eusebianische Argumentation. Interessanterweise
griff der Kirchenvater nicht in den Text des Josephus ein, wo ihm das am dienlichsten gewe-
sen wäre, nämlich bei den chronologischen Unstimmigkeiten in der Biographie Jesu. Dass
Eusebius in diesen für seine Argumentation wichtigen Fragen den Text des Josephus unver-
fälscht übernahm, wirft Zweifel auf, ob er das für ihn weniger wichtige TF fingierte.76
Das dritte Zitat des TF bei Eusebius findet sich in der Theophanie, einem seiner Spät-
werke, das auf 333-340 datiert. Dort kommt das TF nochmals im fast selben Kontext vor wie
in der Demonstratio Evangelica.77 Weil die Theophanie aber nur in einer syrischen Überset-
zung und einigen griechischen Fragmenten überliefert ist, kann hier nicht am Originaltext
argumentiert werden.
Diese Überlegungen sollten uns zwar davon abhalten, Eusebius vorschnell als Fälscher
mit betrügerischen Absichten zu bezeichnen. Dennoch muss er im Zentrum unserer Aufmerk-
samkeit bleiben, weil bei ihm auffällig viele Fäden zusammenlaufen. Auf dieser Argumenta-
tionsebene ist also wiederum als Fazit festzuhalten, dass sich die Waagschale zuungunsten
eines von Josephus verfassten TF geneigt hat. Es ist uns allerdings noch nicht gelungen, Eu-
sebius der Interpolation zu überführen. Um Sicherheit zu erlangen, sind der Stil und die ver-
wendeten Ausdrücke im TF auf ihre Urheberschaft hin zu untersuchen.
3.4 Philologische Analyse
Bei einer philologischen Stilanalyse, welchem Autor das TF zuzuschreiben sei, liegt es
zunächst nahe, zu untersuchen, ob die verwendeten Ausdrücke eher neutestamentlichem
Sprachgebrauch entsprechen, oder ob sie auch andernorts im Werk des Josephus zu finden
sind. Dies war anfangs auch mein Ansatz, und die ersten Resultate der Recherche waren sehr
ermutigend: Es gibt viele Eigenheiten des TF, die zwar bei Josephus zu finden sind, aber nicht
im NT. Dann wurde ich allerdings auf die methodische Schwäche dieses Unterfangens auf-
merksam: Diese Vorgehensweise fusst nämlich auf der falschen Annahme, dass frühchristli-
75 So Whealey 2003, S. 20. Hingegen Rist 1998, Sp. 309-310 datiert die ersten sieben Bücher noch vor 280.
76 Whealey 2003, S. 20-23.
77 Whealey 2003, S. 20-23.
23
che Autoren in neutestamentlichem Stil schrieben, und sich neutestamentlicher Ausdrücke
bedienten. Dies ist aber ganz klar nicht der Fall, wie dies am Beispiel des Eusebius noch er-
sichtlich werden wird.78 Das methodisch korrekte Vorgehen ist ein Vergleich des TF mit dem
Stil des Josephus, und dann mit demjenigen des hauptverdächtigen Interpolators: Eusebius.
Dabei müssen diejenigen Stellen, die Zitate des TF sind, selbstverständlich unberücksichtigt
bleiben.
Olson hat diesen Vergleich bereits durchgeführt, und ist zum klaren Resultat gelangt,
dass viele Formulierungen und Ausdrücke des TF, die eher selten auftreten im Werk des Jo-
sephus, sehr oft belegt sind bei Eusebius. Seine Resultate werden hier nicht umfassend vorge-
stellt, sondern einige besonders interessante Befunde sollen besprochen und weiterentwickelt
werden:
παραδόξων ἔργων ποιητής („Täter von unglaublichen Werken“): Josephus braucht das
Wort ποιητής immer in der Bedeutung von „Dichter, Poet“, und nur im TF muss man es mit
„Macher, Vollbringer“ übersetzen. Eine Kombination von ποιέω und παράδοξος begegnet bei
ihm nie in der Bedeutung von „Wundertätigkeit“. Hingegen spricht Eusebius oft von „Wun-
dertätigkeit“, wobei er die Formulierung παραδόξων ἔργων ποιητής ausserhalb der Zitate des
TF zehn Mal gebraucht79, einige Male sogar für Jesus.80 An diesem Beispiel ist ersichtlich,
wie Eusebius vom neutestamentlichen Sprachgebrauch abweicht: Der Wortstamm παραδοξ-
wird im NT nie für Wunder gebraucht, hingegen liebt Eusebius dieses Wort geradezu.
θεῖοι προφῆται („göttliche Propheten“): Was Olson nicht aufgefallen ist, sind die völ-
lig unbiblischen „göttlichen Propheten“, die in der griechischen Literatur sehr selten auftreten.
Sie begegnen einmal bei Philo von Alexandria81, einmal bei Josephus82, bei einigen Kirchen-
schriftstellern und dann sieben Mal bei Eusebius.83 Auch hier wird klar ersichtlich, dass man
die christliche Interpolationstheorie nicht mit dem Vorhandensein von unbiblischen Ausdrü-
cken widerlegen kann, wie dies Victor erst kürzlich versucht hat: „Er [scil. Josephus] redet
78 Vgl. Olson 1999, S. 309.
79 Hist. eccl. 1,2,23,16: παραδόξων ἔργων ποιητὴν; dem. ev. 3,4,21,2: παραδόξων γέγονεν ποιητὴς ἔργων; dem.
ev. 3,5,59,3: παραδόξων ἔργων γέγονεν ποιητής; dem. ev. 3,5,103,6: ποιητὴς ἔργων παραδόξων; dem. ev.
3,7,4,2: παραδόξων ἔργων γεγόνει ποιητὴς; Is. 2,57,62: παραδόξων ἔργων ποιητής; vita Const. 1,18,2,4:
παραδόξων αὐτῷ ποιητὴς ἀνεφαίνετο ἔργων; Ps. 23,541,55: παραδόξων ἔργων ποιητὴν; Ps. 23,984,57:
παραδόξων ἔργων ποιητὴν; Ps. 23,1033,46: παραδόξων ἔργων γεγόνασι ποιηταὶ.
80 Olson 1999, S. 310.
81 Phil. vit. Mos. 2,188,4: τοῦ θείου προφήτου.
82 Ios. ant. Iud. 10,35: οὗτος ὁ προφήτης θεῖος.
83 Pr. ev. 12,20,3: τῶν θείων προφητῶν; dem. ev. 1,1,13: τῶν θείων προφητῶν; dem. ev. 2,3,54: ὁ θεῖος
προφήτης; dem. ev. 9,9,4: οἱ θεῖοι προφῆται; laud. Const. 3,2: θείων προφητῶν; Supp. ad quaestiones ad Stepha-
num 22,973,24: ὁ θεῖος προφήτης; Ps. 23,516,29: τῶν θείων προφητῶν.
24
auch in diesem Satz sein griechisches Publikum in der ihm vertrauten Sprache an: In der Sep-
tuaginta gibt es keinen einzigen ‚göttlichen Propheten’, sie sind den θεῖοι ἄνδρες / θεῖοι
ἄνθρωποι nachgebildet, die sich von Platon bis Dio Chrysostomus in der griechischen Litera-
tur finden.“84 Dies mag zwar eine gute Überlegung sein, aber quantitative Methoden wie eine
TLG-Recherche bringen andere Erkenntnisse zutage.
τῶν Χριστιανῶν [...] τὸ φῦλον („der Stamm der Christen“): Dies ist die einzige Beleg-
stelle für Χριστιανοῖ bei Josephus. Das Wort φῦλον bezeichnet bei ihm das Volk der Juden
oder andere Völker, aber keine Religionsgemeinschaften.85 Die Verbindung dieser beiden
Wörter findet sich bei keinem einzigen frühen Kirchenschriftsteller86, aber zwei Mal bei Eu-
sebius.87
εἰς ἔτι τε νῦν („und noch bis jetzt“): Wenn man die enklitische Partikel τε, die mit
„und“ zu übersetzen ist, und hier bloss als Satzanschluss dient, unberücksichtigt lässt, so
bleibt εἰς ἔτι νῦν übrig, eine Formulierung, die in der gesamten griechischen Literatur nur sehr
selten vorkommt, überhaupt nirgends bei Josephus zu finden ist, aber über hundert Mal bei
Eusebius.88
Olson fand nur zwei Ausdrücke, die typischer für Josephus sind als für Eusebius, und
zwar ἡδονῇ δέχοµαι („mit Freude annehmen“) und πρῶτοι ἄνδρες („die ersten Männer“). In-
teressanterweise zitiert Eusebius diese Worte unterschiedlich in den beiden Werken, deren
griechischer Text uns zugänglich ist: In der Demonstratio Evangelica findet sich stattdessen
σέβοµαι („verehren“) resp. ἄρχων („Herrschender“), während die Historia Ecclesiastica sich
an den textus receptus des TF hält. Dieser Befund wurde schon bemüht, um gegen die Verfas-
serschaft des Eusebius zu argumentieren, weil er sich selbst nicht falsch zitiert hätte. Dieses
Argument ist aber nicht haltbar, weil sich antike Autoren oft selbst in abweichendem Wortlaut
zitieren. Olson argumentiert auf den ersten Blick überzeugender, dass Eusebius beim Verfas-
sen der Demonstratio noch nicht genug mit Josephus’ Stil vertraut war, um diese für den Fla-
vier typischen Wörter zu verwenden. Bei seiner Arbeit an der Historia (die viele Josephuszi-
tate enthält) setzte sich der Kirchenvater dann intensiv mit Josephus auseinander, sodass er
fähig war, die treffenderen Ausdrücke ἡδονῇ δέχοµαι und πρῶτοι ἄνδρες zu wählen.89
84 Victor 2010, S. 77.
85 Olson 1999, S. 312.
86 Zeitlin 1928, S. 238-240; Zeitlin 1948, S. 172-174.
87 Hist. eccl. 3,33,2: τὸ Χριστιανῶν φῦλον; hist. eccl. 3,33,3: τὸ τῶν Χριστιανῶν φῦλον.
88 Die Resultate der entsprechenden TLG-Suche werden hier aus Platzgründen nicht abgedruckt.
89 Olson 1999, S. 313.
25
Diese scharfsinnige Beobachtung muss allerdings relativiert werden, weil die ersten
Bücher der Historia Ecclesiastica nicht gezwungenermassen nach der Demonstratio Evange-
lica entstanden sind. Der Artikel in DNP zu Eusebius datiert die ersten sieben Bücher der His-
toria sogar Jahrzehnte vor der Demonstratio.90 Auch ist es fragwürdig, dass Eusebius gerade
diese beiden Ausdrücke überarbeitet haben soll, ohne die noch viel frappanteren Stilbrüche
bemerkt zu haben, die oben besprochen wurden. Aber diese Einwände ändern natürlich nichts
an der Tatsache, dass sich im TF viele typisch eusebianische Ausdrücke finden, die unge-
wohnt für Josephus sind. Zwar ist der Versuch unternommen worden, den Spiess umzudre-
hen, dass Eusebius bei der Lektüre des TF derart von den darin enthaltenen (für Josephus un-
typischen) Formulierungen beeinflusst wurde, dass dies seinen eigenen Stil veränderte.91 Die-
ses Argument verrät aber mehr über die Person, die es anwendet, als über die historischen
Begebenheiten.
Während an Olsons Befund also nichts zu rütteln ist, so ist doch die Frage berechtigt,
wie er zustande kommt. Hat Eusebius das TF ex nihilo erfunden, oder kann man von einem
originalen Kern ausgehen, der durch Eusebius redaktionell überarbeitet wurde? Deshalb soll
als nächste und letzte Argumentationsebene die Überarbeitungshypothese diskutiert werden.
3.5 Überarbeitungstheorie
Bisher haben wir festgestellt, dass nur ein in negativem Ton verfasstes TF in den Kon-
text von Ant. 18 passt (vgl. 3.1 Thematische Einbettung in den Kontext), dass das TF eindeu-
tig christliche Bekenntnisse enthält, die nicht dem Josephus zuzuschreiben sind (vgl. 3.2 Das
Weltbild hinter den Aussagen des TF), dass das TF vor Eusebius von keinem Kirchenschrift-
steller zitiert wurde, dann aber gleich dreifach durch Eusebius (vgl. 3.3 Textgeschichte und
äussere Bezeugung), und dass sich viele sprachliche Besonderheiten auf Eusebius zurückfüh-
ren lassen (vgl. 3.4 Philologische Analyse). Die am nächsten liegende Schlussfolgerung wäre,
dass Eusebius das TF in den Text des Josephus interpolierte. In Anbetracht der verschiedenen
Handschriften der Altertümer, die im Umlauf waren, ist diese Annahme aber nicht unproble-
matisch.
Die Alternative ist die Postulierung einer neutralen oder jesusfeindlichen Originalfas-
sung, die später von christlicher Seite redaktionell überarbeitet wurde. Die meisten Überarbei-
tungstheorien erklärten einfach alle problematischen Aussagen für interpoliert, und hielten
90 Rist 1998, Sp. 309-310. Wie bereits besprochen, ist die Datierung der eusebianischen Werke aber schwierig.
91 Whealey, Alice: Josephus, Eusebius of Caesarea and the Testimonium Flavianum, in: Böttrich, Christfried /
Herzer, Jens (Hg.): Josephus und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. 2. Internationales Sym-
posium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum Mai 2006, Tübingen 2007, S. 76, zitiert gemäss Detering 2011, S. 41.
26
den Rest für authentisch. Dieses Vorgehen ist nicht nur methodisch fragwürdig – schliesslich
darf es nach der willkürlichen Streichung aller christlich klingenden Passagen nicht überra-
schen, wenn man einen neutralen Text erhält, dessen Autorschaft man dem Josephus zutraut.
Vielmehr macht es auch die enge Verflechtung der christlichen Aussagen mit dem Kontext
unmöglich, nach Belieben am TF herumzubasteln.92 Meines Erachtens besteht das korrekte
Vorgehen darin, durch ein intensives Studium der Textgeschichte zu versuchen, „verschollene
Stränge“ ausfindig zu machen, die sich heute nicht mehr im textus receptus des TF befinden.
Ausserdem ist eine tragfähigere Erklärung zu suchen als ein christlicher Fälscher, der (mög-
licherweise sogar noch in der Verfolgungszeit, wie Detering der Überzeugung ist93) Zugang
zu sämtlichen Handschriften hatte, um sie zu verfälschen.
In diesem Unterkapitel sollen deshalb die lateinischen, slawischen, arabischen und sy-
rischen Übersetzungen der Werke des Josephus und des Eusebius genauer betrachtet werden,
weil damit ein Zugriff auf viel frühere Textstadien möglich ist, als die ältesten griechischen
Handschriften zurückreichen. Dadurch soll abgeklärt werden, ob man eine überzeugende
Überarbeitungstheorie entwickeln kann, welche den methodischen Standards genügt und wel-
che die Befunde zu erklären vermag. Meine eigene Hypothese ist, dass Josephus negativ über
Jesus schrieb, und Eusebius diese Stelle „ideologisch“ zitierte, also in seinen Werken einen
schöneren Text daraus machte. Später meinte man, den Josephus anhand der eusebianischen
Werke verbessern zu müssen, aufgrund der Autorität des Kirchenvaters. Gemäss dieser Über-
legung hätte also zu keinem Zeitpunkt eine Interpolation stattgefunden. Im Folgenden gilt es
zu überprüfen, ob dieser Vorschlag gestützt wird durch die Quellen.
3.5.1 Lateinische Übersetzungen
Im Jahre 392 zitierte Hieronymus in De Viris Illustribus 13,16,15 das TF, aber mit ei-
ner kleinen Abweichung gegenüber dem textus receptus: Anstatt der zu erwartenden Formu-
lierung „hic erat Christus“ („dieser war der Christus“) schreibt er „credebatur esse Christus“
(„er wurde für den Christus gehalten“). Weil sich Hieronymus im Allgemeinen bei seinen
Josephuszitaten eher auf andere Autoren verlässt, statt sich direkt mit den Schriften des Fla-
viers auseinanderzusetzen, vermutet Whealey, dass diese Formulierung eher auf eine Variante
von Eusebius’ Historia Ecclesiastica zurückzuführen ist als auf die Antiquitates. Wie später
noch zu besprechen, deuten auch semitische Quellen darauf hin, dass einst griechische Kopien
der hist. eccl. vorhanden waren mit der Formulierung „er wurde für den Christus gehalten“.
92 Diese Gedanken sind näher ausgeführt bei Detering 2011, S. 38-39 und Olson 1999, S. 308.
93 Detering 2011, S. 23-24.
27
Dass Hieronymus überhaupt diese Formulierung wählte, und dass sämtliche der zahlreichen
erhaltenen Handschriften von De Viris Illustribus so lauten, zeigt laut Whealey, dass Passagen
von sensibler theologischer Natur nicht bei jeder Gelegenheit von christlichen Kopisten ver-
ändert wurden.94
Ein unbekannter christlicher Autor schrieb um 370 De excidio Hierosolymitano
(„Über die Zerstörung Jerusalems“), eine lateinische Adaption des Bellum Iudaicum, die aber
auch Passagen aus den Antiquitates Iudaicae beinhaltet. Weil dieses Werk lange dem He-
gesipp zugeschrieben wurde, nennt man den Autor heutzutage Pseudo-Hegesippus. In De
excidio Hierosolymitano 2,12 paraphrasiert Pseudo-Hegesipp das TF, wobei er die Aussage
weglässt, Jesus sei der Christus gewesen. Daraufhin kritisiert er Josephus vehement, dieser
habe zwar von Jesus gezeugt, aber nicht an ihn als den Christus geglaubt.95 Daraus ist zu fol-
gern, dass Pseudo-Hegesippus eine Art TF gelesen haben muss, weil er sonst nicht geschrie-
ben hätte, Josephus habe trotz seines Berichtes über Jesus nicht geglaubt. Die Situation erin-
nert an Origenes, der ebenfalls schrieb, Josephus habe nicht an die Messianizität Jesu ge-
glaubt. Die Frage nach der Abhängigkeit des pseudo-hegesippischen TF kann unterschiedlich
beantwortet werden: Entweder las er den vermuteten originalen Kern des josephischen TF,
oder die von Whealey postulierte Version der griechischen Historia Ecclesiastica, die „er
wurde für den Christus gehalten“ hat.96
Der Hauptgrund für die starke Rezeption des Josephus im europäischen Mittelalter
war seine frühe Übersetzung ins Latein. Das Bellum Iudaicum wurde mutmasslich schon im
4. Jh. von unbekannter Seite übersetzt. Von den Antiquitates wissen wir, dass sie im 6. Jh. von
einer Gruppe von Mönchen um Cassiodor übersetzt wurden. Beim Vergleich des TF in dieser
94 Whealey 2003, S. 29-30.
95 Pseudo-Hegesippus, De excidio Hierosolymitano 2,12: Hoc dixit Iosephus, quem ipsi maximum putant, et
tamen ita in eo ipso quod uerum locutus est mente deuius fuit, ut nec sermonibus suis crederet. Sed locutus est
propter historiae fidem, quia fallere nefas putabat, non credidit propter duritiam cordis et perfidiae intentionem.
Non tamen ueritati praeiudicat, quia non credidit sed plus addidit testimonio, quia nec incredulus et inuitus ne-
gauit. (“Dies sagte Josephus, den sie selbst [scil. die Juden] für sehr gross halten, und obwohl er so über ihn
selbst [scil. Jesus] sprach, war er abwegig in seiner Gesinnung, sodass er seinen eigenen Ausführungen nicht
glaubte. Er sagte dies aber um der Treue zur Geschichte wegen, weil er zu täuschen für ein Verbrechen hielt; er
glaubte nicht wegen der Härte seines Herzens und seiner unredlichen Gesinnung. Dennoch war das für die
Wahrheit nicht nachteilig, dass er nicht glaubte, sondern es fügte dem Zeugnis noch mehr hinzu, weil er es auch
ungläubig und unwillig nicht verleugnete.“).
96 Whealey 2003, S. 30-34. Whealey behauptet aus nicht nachvollziehbaren Gründen, Pseudo-Hegesipp habe nur
lateinische Quellen verarbeitet, und sei deshalb vermutlich des Griechischen nicht mächtig gewesen. Deshalb
hätte er die TF-Zitate des Eusebius nicht gekannt, weil zu seiner Zeit die eusebianischen Werke noch nicht auf
Latein vorlagen. Weil Pseudo-Hegesipp aber neben dem TF offensichtlich auch andere Passagen der Antiquitates
verarbeitete, die zu seiner Zeit auch noch nicht auf Latein übersetzt waren, muss man sich über diese Argumen-
tation wundern.
28
Übersetzung mit dem TF in Rufinus’ lateinischer Übersetzung der Historia Ecclesiastica97 ist
Whealey aufgefallen, dass die beiden quasi identisch sind. Dank der neuen textkritischen Edi-
tion dieser Texte durch Levenson/Martin ist dies nachprüfbar. Die Differenzen sind in der Tat
sehr wenige, und minim, wie z.B. „gentibus“ statt „gentilibus“, oder „doctorque“ statt „et doc-
tor“.98 In beiden Übersetzungen steht „Christus hic erat“.99 Aus der Übereinstimmung zwi-
schen Cassiodor und Rufinus schliesst Whealey, dass die Gruppe um Cassiodor sich an dieser
Stelle nicht an das Original des Josephus gehalten hat, sondern das TF des Rufinus übernahm.
Dies sei nicht nur aus reiner Konvenienz geschehen, um Arbeitszeit einzusparen, sondern
möglicherweise war das TF der Antiquitates weniger jesusfreundlich als dasjenige der für
Kleriker autoritativeren lateinischen Historia Ecclesiastica.100
3.5.2 Slawischer Josephus
Ende 19. Jh. entdeckte man in Russland eine slawische Übersetzung der Bellum Iudai-
cum, das ein TF enthält. Es war vor allem Robert Eisler, der dadurch neue Erkenntnisse für
das TF erhoffte. Inzwischen ist man sich aber einig, dass diese Handschriften keinen Wert für
die Diskussion rund um das TF haben. Es handelt sich nämlich eher um eine christliche Adap-
tion des Jüdischen Krieges als um eine exakte Übersetzung. Zahlreiche christliche Ergänzun-
gen und Kommentare sind feststellbar, sodass man dem Slawischen Josephus keinen Zeu-
genwert beimessen kann. Die akademische Diskussion um den slawischen Josephus ist denn
auch seit über einem halben Jahrhundert verstummt.101 Ramelli weicht davon ab, und sieht im
Slawischen Josephus eine weitere Stütze für die Theorie, dass es einen von den griechischen
Handschriften abweichenden Überlieferungsstrang gibt, der näher ans Original des Josephus
kommt.102 Doch mehr dazu später.
3.5.3 Arabische Fassung des Agapius
Agapius, Bischof von Hierapolis im 10. Jh., zitiert in seiner arabischen Chronik eine
Fassung des TF, die sich sehr vom textus receptus unterscheidet. Der Hauptunterschied ist,
dass es bei ihm nicht heisst „dieser war der Christus“, sondern „dieser wurde für den Christus
97 Rufinus aus Aquileia (gest. 410) war ein Bekannter des Hieronymus, der im Osten das Mönchstum kennen-
lernte. Bekannt ist er für seine Übersetzung der Historia Ecclesiastica und einiger Werke des Origenes ins La-
teinische (Berschin 2001, Sp. 1154).
98 Levenson/Martin 2014, S. 22-23.
99 Die Ausnahme sind zwei Manuskripte des Rufinus, die „credebatur esse Christus“ lesen. Laut Leven-
son/Martin ist diese Lesart „almost certainly“ von Hieronymus abhängig, allerdings ohne dass dies näher be-
gründet würde (Levenson/Martin 2014, S. 25-26).
100 Whealey 2003, S. 34-36.
101 Zeitlin 1928, S. 240-247; Zeitlin 1948, S. 175-177.
102 Ramelli 2011, S. 108-110.
29
gehalten“. Theoretisch ist nun denkbar, dass Agapius sich auf ein ursprüngliches, in neutra-
lem Ton verfasstes TF bezieht.103 Allerdings enthält auch seine Fassung noch problematische
Aussagen. Ausserdem ist Agapius ein äusserst unzuverlässiger Zeuge für antike Zitate. Fast
sämtliche seiner Zitate sind grob fehlerhaft.104 Deshalb ist von ihm keine neue Erkenntnis für
das TF zu erhoffen.
3.5.4 Syrische Fassung Michaels des Syrers
Interessanter ist hingegen das Zitat des TF in der syrischsprachigen Weltchronik von
Michael dem Syrer, dem Patriarchen der Syrisch-Orthodoxen Kirche in Antiochia im 12. Jh.
Auch diese Version hat die Formulierung „dieser wurde für den Christus gehalten“. Michael
der Syrer gilt als besserer Gewährsmann als der Slawische Josephus oder Agapius. Whealey
meint, die abgeschwächte Formulierung Michaels sei unabhängig von Hieronymus, der
„credebatur esse Christus“ hat, weil Michael kaum des Lateinischen mächtig gewesen sei.
Sprachlich lässt sich nachweisen, dass Michael von der syrischen Übersetzung der Historia
Ecclesiastica abhängig ist.105 Sie folgert daraus, dass ursprünglich sowohl Josephus als auch
Eusebius die abgeschwächte Formulierung niederschrieben, dass Jesus für den Christus gehal-
ten wurde. Erst später hätten Abschreiber daraus die absolute Aussage gemacht „Dieser war
der Christus“.106
3.5.5 Formulierung und Überprüfung der Überarbeitungstheorie
In diesem Unterkapitel sind nun Whealey und Ramelli zu Wort gekommen, welche ich
als „smartere“ Vertreter der Überarbeitungstheorie bezeichnen möchte, weil sie nicht willkür-
liche Streichungen vornehmen, sondern textgeschichtlich argumentieren. Leider haben aber
beide die Angelegenheit nicht zu Ende gedacht, sondern bloss die bisher besprochenen Hin-
weise präsentiert, die für abweichende Textvarianten sprechen. Dies beurteilten sie offensicht-
lich als genug aussagekräftig, und hielten es nicht für nötig, aus diesen Hinweisen und Hypo-
thesen eine eigentliche Überarbeitungstheorie zu formulieren. Im Folgenden versuche ich
deshalb, anhand von Whealeys und Ramellis Hypothesen einen geschichtlichen Überblick zu
rekonstruieren – dies ist eminent wichtig, weil nur so eine falsifizierbare Theorie entsteht.
In der vorliegenden Arbeit sind immer wieder Josephuszitate aufgetaucht, die vom
heutigen Josephus-Text abweichen: Origenes schrieb, Josephus habe nicht an Jesus als den
Christus geglaubt, und Pseudo-Hegesipp, Josephus habe zwar von Jesus berichtet, aber nicht
103 Whealey 2008, S. 573.
104 Detering 2011, S. 37-38.
105 Whealey 2008, S. 584.
106 Whealey 2008, S. 580-581.
30
an ihn geglaubt. Im TF-Zitat des Hieronymus finden wir in die Formulierung credebatur esse
Christus, und sowohl Agapius als auch Michael der Syrer haben „dieser wurde für den Chris-
tus gehalten“. Daraus schliesst Whealey, dass es ursprünglich eine Textvariante des Josephus
gab, die über Jesus berichtete, aber ihn nicht den Messias nannte.107 Ramelli sieht den Slawi-
schen Josephus als einen weiteren Zeugen in dieser Reihe. Als Begründung für seine Glaub-
würdigkeit führt sie an, dass die im griechischen Text nicht enthaltenen christlichen Stellen
des Slawischen Josephus nicht immer mit dem Bericht der Evangelien übereinstimmen, was
gegen eine christliche mittelalterliche Adaption spricht, sondern für die Autorschaft des Jo-
sephus.108 Aus diesen Befunden möchte ich nun eine übergeordnete Theorie formulieren:
Im Jahr 93/94 schrieb Josephus ein ursprüngliches negatives TF. Es muss gemäss den
Resultaten der vorhergehenden Unterkapitel einige Informationen über Jesus enthalten haben,
ihn aber als δεινόν für die Juden dargestellt haben, also als ein Unruhestifter. Dieses Zeugnis
enthielt keine positiven Informationen über das Wirken und die Wunder Jesu, weil Origenes
in Contra Celsum diese sonst verwendet hätte, um die Anschuldigung des Celsus zu widerle-
gen, Jesus sei ein Scharlatan und Zauberer gewesen. Klar ist, dass Origenes um 248 in den
Altertümern las, dass Josephus von Jesus zeugte, aber nicht an ihn als den Messias glaubte.
Anfangs 4. Jh. verfasste Eusebius in seinen Werken ein neu überarbeitetes TF109, das mit dem
textus receptus übereinstimmt, ausser dass er schrieb: οὗτος ἦν ὁ λεγόµενος/νοµιζόµενος
Χριστός. Um 370 las Pseudo-Hegesipp entweder bei Josephus oder bei Eusebius, dass Jo-
sephus von Jesus zeugte, aber nicht an ihn als den Messias glaubte. Im Jahr 392 übersetzte
Hieronymus aus der ursprünglichen hist. eccl. „credebatur Christus esse“. Dort wird also
οὗτος ἦν ὁ λεγόµενος/νοµιζόµενος Χριστός gestanden haben.110 Vermutlich schon zu dieser
Zeit wurden die vermeintlich fehlerhaften Handschriften des Josephus anhand der autoritati-
veren Version des Eusebius „verbessert“. Um 400 übersetzte Rufinus die hist. eccl. ins Latein,
und „verbesserte“ dabei das οὗτος ἦν ὁ λεγόµενος/νοµιζόµενος Χριστός zu „Christus hic e-
rat“.111 Im 6. Jh. übernahm die Cassiodor-Gruppe das TF der lateinischen hist. eccl. in ihre
Übersetzung der Antiquitates, vermutlich weil das TF des Rufinus den Mönchen um Cassio-
dor besser gefiel. Unabhängig von dieser westlichen Entwicklung wäre in den griechischen
107 Whealey 2003, S. 41-43.
108 Ramelli 2008, S. 108-110.
109 Die Motivation hierfür war kaum ein Betrug, sondern eher der Glaube, die Juden hätten das Zeugnis des Jo-
sephus verfälscht oder getilgt, weil Josephus ja gar nicht anders gekonnt habe, als über Jesus zu schreiben. Euse-
bius sah sich dann in der Pflicht, das Zeugnis „wiederherzustellen“ (Zeitlin 1948, S. 174-175).
110 Diesen Vorschlag hat Ramelli 2011, S. 108 vorgebracht.
111 Rufinus übersetzte die Historia Ecclesiastica nicht nur, sondern überarbeitete sie und baute sie weiter aus. Es
wäre daher nicht verwunderlich, sollte er in das TF eingegriffen haben (Berschin 2001, Sp. 1154).
31
Codices des Eusebius und des Josephus das λεγόµενος/νοµιζόµενος verdrängt worden durch
das klare christliche Bekenntnis οὗτος ἦν ὁ Χριστός.
Diese Theorie hat zwar den Vorteil, dass man die oben angeführten Zitate von Orige-
nes, Pseudo-Hegesipp, Hieronymus, Agapius und Michael dem Syrer besser erklären kann,
als es Detering tut (mit einem christlichen Fälscher, der bereits anfangs 2. Jh. den Josephus-
text verändert habe112). Aber dafür beinhaltet sie zwei grosse Schwachstellen: Wenn Eusebius
das TF in seiner heutigen Form verfasste, mit all seinen christusfreundlichen Aussagen, wieso
sollte er dann bei der Aussage οὗτος ἦν ὁ Χριστός gezaudert haben, um sie abzuschwächen
mit einem λεγόµενος/νοµιζόµενος? Wie wahrscheinlich ist es ferner, dass in sämtlichen grie-
chischen Handschriften der Antiquitates, der Demonstratio Evangelica, der Historia Ecclesi-
astica und in den syrischen Handschriften der Theophania das λεγόµενος/νοµιζόµενος aus
dem Christus-Bekenntnis getilgt wurde? Zu bedenken ist dabei, dass Agapius im 10. Jh. und
Michael der Syrer im 12. Jh. noch das abgeschwächte Bekenntnis kannten, aber die ältesten
Handschriften des Josephus (ohne das λεγόµενος/νοµιζόµενος) ins 11. Jh. datieren.
Erst durch die Ausformulierung der Theorie, die Whealey und Ramelli implizieren, ist
nun klar geworden, dass selbst diese „smarte“ Überarbeitungstheorie auf sehr wackeligen
Füssen steht. Ihr allereinziger Vorteil ist die Erklärung der abweichenden Josephuszitate.
Denn für die historische Jesusforschung ist sie kaum ergiebig, ist es doch fast unmöglich, be-
lastbare Aussagen über den postulierten negativen Kern zu machen.
4 Fazit
Nacheinander wurden nun die verschiedenen Ebenen abgehandelt, auf denen sich die
Diskussion um die Echtheit des TF abspielt. Im Unterkapitel 3.1 Thematische Einbettung in
den Kontext hat sich abgezeichnet, dass das TF in seiner heutigen Form sehr schlecht in den
Kontext passt. Die Geschichten vor- und nachher berichten von Aufrührern und Kriminellen,
dazu passt der positive Bericht über den Wundertäter Jesus nicht. Denkbar ist zwar ein ur-
sprünglich negativ formulierter Kern, der später überarbeitet wurde, aber für dieses Postulat
gibt es nur relativ schwache Hinweise. Anschliessend wurden in 3.2 Das Weltbild hinter den
Aussagen des TF mögliche Interpretationen von verdächtigen Aussagen diskutiert. Es stellte
sich zwar heraus, dass man durchaus nicht alle problematischen Aussagen a priori als interpo-
liert betrachten darf. Andererseits ist die immense Dichte an christlich klingenden Bekennt-
112 Detering 2011, S. 23-24. Schon supra habe ich dargelegt, dass ich dies für völlig unmöglich halte. Die damals
noch verfolgte Randgruppe der Christen wird kaum sämtliche im Umlauf befindlichen Handschriften des Jo-
sephus verfälscht haben können.
32
nissen zu verdächtig, und die Versuche, sie mit der Weltanschauung des Josephus in Einklang
zu bringen, zu wenig überzeugend. In 3.3 Textgeschichte und äussere Bezeugung haben wir
gesehen, dass Origenes ein anderes TF (oder gar keines) gelesen haben muss. Hingegen ist
Eusebius der einzige antike Autor, der das TF kannte, und zwar zitierte er es drei Mal wört-
lich. Auch wenn bereits das eine arge Strapazierung des Zufalls ist, so gelang es erst in
3.4 Philologische Analyse, die Verfasserschaft des Eusebius nachzuweisen, und zwar mittels
Ausdrücken und Wortkombinationen, die nur selten oder gar nie bei Josephus vorkommen,
hingegen typisch für Eusebius sind.
Nachdem also definitiv nachgewiesen wurde, dass das TF in seiner heutigen Form von
Eusebius verfasst wurde, bleibt die Frage offen, wie das Testimonium in den Text des Jo-
sephus gelangt ist, und ob dort vielleicht schon früher ein negatives TF gestanden haben
könnte. In 3.5 Überarbeitungstheorie wurden deshalb zuerst die Hinweise auf ein anderslau-
tendes TF gesammelt, um dann eine Überarbeitungstheorie zu formulieren. Allerdings ist es
mir nicht gelungen, eine solche Theorie aufzustellen, die sämtliche Befunde erklärt, ohne zu
Widersprüchen zu führen. Die Unmöglichkeit einer Überarbeitungstheorie ist damit zwar
noch nicht bewiesen. Doch selbst falls eines Tages überzeugend gezeigt werden könnte, dass
Josephus von einem „sogenannten Christus“ sprach, sind damit noch nicht alle Probleme ge-
löst. Denn einerseits sind auch andere Aussagen des TF nicht vereinbar mit den Aussagen des
Origenes, und andererseits ist es textgeschichtlich nicht ganz einfach zu erklären, wie die bei-
den Textvarianten entstanden sein sollten, und warum heute nur noch eine erhalten ist. Die
Überarbeitungstheorie hat m.E. auch keinen Wert für die historische Jesusforschung, weil
schlicht zu viele Merkwürdigkeiten unerklärbar bleiben, geschweige denn dass der postulierte
originale Kern methodisch vernünftig rekonstruiert werden könnte.
Wenn diese Arbeit nun zum Schluss gekommen ist, dass das TF nicht authentisch ist,
heisst das nun, dass die vorgebrachten Argumente für die Authentizität des TF falsch sind?
Sind die Versuche, die Aussagen des TF mit der Weltanschauung des Josephus in Einklang zu
bringen, unwissenschaftlich? Eben gerade nicht, sondern es ist methodisch äusserst wichtig,
alle Möglichkeiten zu überprüfen, bevor ein definitives Urteil gefällt wird. Genauso, wie in
einem Rechtsstaat der Grundsatz „audiatur et altera pars“ gilt, und auch offensichtlich schul-
digen Angeklagten ein Pflichtverteidiger gestellt wird, ebenso ist es nötig, alle möglichen
Entlastungszeugen im Prozess gegen das TF anzuhören. Ferner soll nicht darüber hinwegge-
täuscht werden, dass noch längst nicht alles geklärt ist: Wie ging die Interpolation genau von-
statten, sodass nachher alle Handschriften „gleichgeschaltet“ waren? Wie sind die rätselhaften
Zitate des Pseudo-Hegesipp (vgl. S. 27) und des Hegesipp (vgl. S. 7) zu erklären? Zusammen
33
mit Victor konstatiere ich nüchtern: „Die Wahrscheinlichkeit, daß die Modernen etwas (noch)
nicht richtig verstanden haben, ist [...] sehr groß.“113
5 Kommentierte Bibliographie
Da die wissenschaftliche Diskussion über das TF eine unüberschaubare Fülle an Pub-
likationen hervorgebracht hat, ist hier nur diejenige Sekundärliteratur angegeben, die für die
vorliegende Arbeit ausgewertet wurde. Bei denjenigen Werken, die für oder gegen die Au-
thentizität des TF argumentieren, ist dies in Klammern mit PRO resp. KONTRA angegeben.
Am Schluss befindet sich noch eine unkommentierte Auflistung derjenigen Sekundärliteratur,
die zwar keinen direkten Zusammenhang zur TF-Forschung hat, die aber in der vorliegenden
Arbeit zitiert wurde.
5.1 Der Text und seine Geschichte
Die Editionen und Übersetzungen beruhen meist auf der Standard-Edition von Niese.
Eine Neuedition durch Etienne Nodet geht zwar neue Wege in der Gewichtung der
Mss. und verbessert Nieses Arbeit deutlich, aber Nodet ist leider noch nicht bis zum
Buch 18 gelangt. Die relevanten Editionen und Übersetzungen sind:
Flavii Iosephi opera edidit et apparatu critico instruxit Benedictus Niese,
• Vol. I: Antiquitatum Iudaicarum Libri I-V, Berlin 1987. (Konsultiert um der Praefatio
willen).
• Vol. IV: Antiquitatum Iudaicarum Libri XVI-XX et Vita, Berlin 1890.
Josephus in nine volumes, ed. G.P. Goold. Vol. IX: Jewish Antiquities, Books XVIII-XX,
with an English translation by Louis H. Feldman, London/Cambridge (Massachusetts)
1965. (The Loeb Classical Library 433).
Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer, übersetzt und mit Einleitung und Anmerkung ver-
sehen von Dr. Heinrich Clementz, Wiesbaden 1994.
Da die Standard-Edition von Niese bzgl. des TF stark mangelhaft ist, sollten als Ergän-
zung Leoni und Levenson/Martin beigezogen werden. Leoni bietet eine Textgeschich-
te der Werke des Flavius Josephus:
Leoni, Tommaso: The Text of Josephus’s Works. An Overview, in: Journal for the Study of
Judaism 40, 2009, S. 149-184.
Levenson/Martin erstellten eine neue textkritische Edition des griechischen Textes von
ant. Iud. 18,63-64 und 20,200, ausserdem der entsprechenden lat. Übersetzung der
Cassiodor-Gruppe, und auch der Zitate des TF bei Eusebius:
Levenson, David/Martin, Thomas: The Latin Translations of Josephus on Jesus, John the
Baptist, and James: Critical Texts of the Latin Translation of the Antiquities and Rufinus’
113 Victor 2010, S. 81.
34
Translation of Eusebius’ Ecclesiastical History Based on Manuscripts and Early Printed
Editions, in: Journal for the Study of Judaism 45, 2014, S. 1-79.
Ramelli argumentiert, dass der Slawische Josephus einen heute verlorenen Überliefe-
rungsstrang der Werke des Josephus biete. Dies erkläre die abweichenden Josephus-
zitate bei Origenes, Pseudo-Hegesipp, Hieronymus und Agapius (PRO):
Ramelli, Ilaria: Gesù e il tempio. Le attestazioni di Flavio Giuseppe, Giovanni, Egesippo e
Origene, Maia 63/1, 2011, S. 107-144.
Das TF-Zitat von Michael dem Syrer spreche für ein in neutralem Ton verfasstes TF
(PRO):
Whealey, Alice: The Testimonium Flavianum in Syriac and Arabic, in: New Testament Stud-
ies 54/4, 2008, S. 573-590.
5.2 Zur Person des Flavius Josephus
Altshuler, David: Josephus Flavius, in: Encyclopedia of Religion 7, 22005, S. 4957-4958.
Gussmann, Oliver: Das Priesterverständnis des Flavius Josephus, Tübingen 2008.
Lindner, Helgo: Die Geschichtsauffassung des Flavius Josephus im Bellum Judaicum.
Gleichzeitig ein Beitrag zur Quellenlage, Leiden 1972.
Mason, Steve: Flavius Josephus und das Neue Testament, Tübingen/Basel 2000.
Tuval, Michael: From Jerusalem Priest to Roman Jew, Tübingen 2013.
Wandrey, Irina: Iosephos (4), in: DNP 5, 1998, Sp. 1089-1091.
5.3 Historiographische Arbeiten und Überblickswerke
Historiographischer Überblick über die 2000-jährige Geschichte des TF, wobei die Situ-
ation in der Spätantike und im Mittelalter im Sinne der Überarbeitungstheorie ge-
deutet wird (PRO):
Whealey, Alice: Josephus on Jesus. The testimonium Flavianum controversy from late antiq-
uity to modern times, New York 2003.
Detaillierter Überblick über alle Pro- und Kontra-Argumente, mit einer eigenen These
und einer historiographischen Überblickstabelle. Beschränkt sich auf den französi-
schen Sprachraum:
Bardet, Serge: Le Testimonium Flavianum. Examen historique, considérations historiogra-
phiques, Paris 22002.
Aktueller Überblick über alle Argumente gegen die Authentizität des TF (KONTRA):
Detering, Hermann: Falsche Zeugen. Ausserchristliche Jesuszeugnisse auf dem Prüfstand,
Aschaffenburg 2011.
35
5.4 Philologische Argumentation
Viele Ausdrücke im TF seien typisch oder sogar ausschliesslich eusebianisch (KONT-
RA):
Olson, Ken: Eusebius and the "Testimonium Flavianum", in: The Catholic Biblical Quarterly
61/2, 1999, S. 305-322.
Ausgewählte Formulierungen des TF würden nicht auf einen christlichen Autor hindeu-
ten, sondern in die griech.-röm. Gedankenwelt des Josephus und seiner Leser passen
(PRO):
Victor, Ulrich: Das Testimonium Flavianum. Ein authentischer Text des Josephus, Novum
Testamentum 52, 2010, S. 72-82.
Das TF füge sich gut in den Kontext von ant. Iud. 18 ein (PRO):
Dornseiff, Franz: Lukas der Schriftsteller. Mit einem Anhang: Josephus und Tacitus, Zeit-
schrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der Älteren Kirche 35/1,
1936, S. 129–155.
Überarbeitungshypothese: Ein neutral formulierter, authentischer Kern sei christlich
überarbeitet worden:
Bermejo-Rubio, Fernando: Was the Hypothetical Vorlage of the Testimonium Flavianum a
“Neutral” Text? Challenging the Common Wisdom on Antiquitates Judaicae 18.63-64,
Journal for the Study of Judaism 45, 2014, S. 326-365.
Ant. Iud. 20,200 spreche gegen die Ursprünglichkeit des TF; φῦλον als Bezeichnung für
die Christen sei erst bei Eusebius belegt; der Slawische Josephus sei kein Zeuge für
die Echtheit des TF (KONTRA):
Zeitlin, Solomon: The Christ Passage in Josephus, in: The Jewish Quarterly Review, 2, 18/3,
1928, S. 231-255.
Zeitlin, Solomon: The Hoax of the “Slavonic Josephus”, in: The Jewish Quarterly Review
39/2, 1948, S. 171-180.
Eine Kontroverse Zeitlins mit Eisler: Zeitlin zeigt, dass das hebräische Josippon keine
Relevanz für die Authentizität des TF habe, wiederholt einige philologische Argu-
mente am griech. Text, und argumentiert noch einmal für die Irrelevanz des Slawi-
schen Josephus (KONTRA):
Zeitlin, Solomon: Josephus on Jesus, in: The Jewish Quarterly Review 21/4, 1931, S. 377-
417.
5.5 Inhaltliche Argumentation
Vergleich verschiedener Messiasberichte in Josephus’ Oeuvre, mit der Schlussfolgerung,
dass das TF aus dem Rahmen falle (KONTRA):
Miralles Macia, Lorena: La figura del mesías según los historiadores judeo-helenísticos Filón
de Alejandría y Flavio Josefo, Sefarad 64, 2004, S. 363-395.
36
Diverse Argumente für die Authentizität des TF (PRO):
Troiani, Lucio: Ancora sul cosiddetto Testimonium Flavianum, Rendiconti dell'Istituto Lom-
bardo 140, 2006, S. 3-17. (Weil dieser Artikel nicht greifbar ist, erfolgt die Zitierung ge-
mäss den Seiten 1-6 der Online-Publikation auf http://www.christianismus.it/
modules.php?name=News&file=article&sid=96, zuletzt besucht am 06.01.2017).
5.6 Sonstige Textausgaben, Literatur und Hilfsmittel
Bloch, Marc: Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, nach der
von Etienne Bloch edierten französischen Ausgabe herausgegeben von Peter Schöttler,
Stuttgart 2002 (frz. Original 1997).
Sablonier, Roger: Der Bundesbrief von 1291: eine Fälschung? Perspektiven einer ungewohn-
ten Diskussion, in: Josef Wiget (Hg.): Die Entstehung der Schweiz. Vom Bundesbrief
1291 zur nationalen Geschichtskultur des 20. Jahrhunderts, Schwyz 1999.
University of California (Hg.): Thesaurus Linguae Graecae: A digital library of Greek litera-
ture, Irvine (California) (Zugriff via http://stephanus.tlg.uci.edu, zuletzt besucht am
09.01.2016).
Pape, Wilhelm: Handwörterbuch der griechischen Sprache. Griechisch-deutsches Handwör-
terbuch, Bd. 1: Α–Κ, Bd. 2: Λ–Ω, bearbeitet von Max Sengebusch, 3. Auflage, 6. Abdruck,
Braunschweig 1914 (Zugriff via http://www.zeno.org/Pape-1880, zuletzt besucht am
09.01.2016).
LSJ: Liddell-Scott-Jones, A Greek-English Lexicon (Zugriff via das Greek Word Study Tool
von www.perseus.tufts.edu, zuletzt besucht am 09.01.2016).
Bornemann, Eduard/Risch, Ernst: Griechische Grammatik, Frankfurt a.M. 1978.
Georges, Heinrich (Hg.): Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, aus den Quel-
len zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten
unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet, Hannover 81913/1918 (Zugriff
via http://www.zeno.org/Georges-1913, zuletzt besucht am 09.01.2016).
Hegesippi qui dicitur historiae libri V, recensuit et praefatione, commentario critico, indicibus
instruxit Vincentius Ussanus, Wien 1932 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum
66).
Des heiligen Irenäus Schrift zum Erweis der apostolischen Verkündigung, aus dem Armeni-
schen übersetzt von Dr. Simon Weber, Kempten/München 1912 (Bibliothek der Kirchen-
väter, 1. Reihe, Band 4).
Lietzmann, Hans: Hegesippos (7), in: RE VII,2, 1912, Sp. 2611-2612.
Meyer, Doris: Clemens (3), in: DNP 3, 1997, Sp. 30-31.
Markschies, Christoph: Eirenaios (2), in: DNP 3, 1997, Sp. 919-921.
Rist, Josef: Eusebios (7), in: DNP 4, 1998, Sp. 309-310.
Markschies, Christoph: Origenes (2), in: DNP 9, 2000, Sp. 27-29.
Eck, Werner: Pontius (II 7), in: DNP 10, 2001, Sp. 141-142.
Berschin, Walter: Rufinus (6), in: DNP 10, 2001, Sp. 1154.
Eck, Werner: Sulpicius II,13, in: DNP 11, 2001, Sp. 1105.
Kessler, Karlheinz: Naarda, in: DNP 8, 2000, Sp. 655.