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Laboratorium Fertigungstechnik und
Professur für Fertigungstechnik
Forschernachwuchsgruppe smartASSIST
Technische Unterstützungssysteme,
die die Menschen wirklich wollen Hamburg 2018
Herausgegeben von
Robert Weidner und Athanasios Karallidis
R. Weidner
A. Karallidis
Dritte Transdisziplinäre Konferenz
Technische Unterstützungssysteme,
die die Menschen wirklich wollen
Konferenzband
Hamburg
2018
Umschlag_A5_Konferenzband-Technische-Unterstützungssysteme.indd 1,3 29.11.2018 15:18:38
Herausgeber
Robert Weidner und Athanasios Karallidis
Helmut-Schmidt-Universität
Institut für Konstruktions- und Fertigungstechnik
Laboratorium Fertigungstechnik
Forschernachwuchsgruppe smartASSIST
Holstenhofweg 85
22043 Hamburg, Deutschland
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Institut für Mechatronik
Professur für Fertigungstechnik
Technikerstraße 13
6020 Innsbruck, Österreich
ISBN: 978-3-86818-245-3 (Print)
978-3-86818-246-0 (Online)
Copyright Helmut-Schmidt-Universität, 2018
Alle Rechte, auch das des auszugsweisen Nachdrucks, der
auszugsweisen oder vollständigen Wiedergabe, der Speicherung
in Datenverarbeitungsanlagen und der Übersetzung, vorbehalten.
Gedruckt in Deutschland
Illustration Titelbild: Pixelatelier Peters
LF
ABORATORIUM ERTIGUNGSTECHNIK
Professur für
Fertigungstechnik
Umschlag_A5_Konferenzband-Technische-Unterstützungssysteme.indd 4,6 29.11.2018 15:18:39
Vorwort
In zahlreichen Projekten auf der ganzen Welt wird laufend an neuen Formen der Mensch-Tech-
nik-Interaktion gearbeitet. Unterstützung scheint sich in diesem Kontext zu einer Art neuem
Paradigma in Bezug auf die Frage zu entwickeln, wie wir in Zukunft mit technischen Artefakten
aller Art, die sich in unserer Nahwelt und auf unseren Körpern (oder sogar in ihnen) befinden,
umgehen, arbeiten und leben wollen. Deshalb ist es unabdingbar, dass verschiedene Diszipli-
nen, Praktiker*innen und Interessenvertreter*innen sich regelmäßig begegnen, um Gestaltungs-
spielräume zu schaffen, Möglichkeiten und Grenzen auszuloten sowie Entwicklungen in tech-
nischer, ethischer, rechtlicher, ökonomischer, wissenschaftlicher und praktischer Hinsicht zu
diskutieren und zu evaluieren.
Mittlerweile lädt die Nachwuchsforschungsgruppe smartASSIST1 der Helmut-Schmidt-Uni-
versität Hamburg und die Professur für Fertigungstechnik der Universität Innsbruck in diesem
Jahr 2018 schon zum dritten Mal nach Hamburg ein, um an der Helmut-Schmidt-Universität in
einer transdisziplinär ausgerichteten Konferenz die gesellschaftlichen und technologischen Be-
dingungen und Konsequenzen der Konzeption, Gestaltung und Umsetzung von Unterstützungs-
systemen zu erörtern. Das Thema hat seit der ersten Veranstaltung im Jahr 2014 nicht an Aktu-
alität eingebüßt. Ganz im Gegenteil sind in der Zwischenzeit immer mehr Studien und Projekte
zu technischer Assistenz und Unterstützung gerade in den Bereichen Pflege und Industrie hin-
zugekommen. Die Community, die sich mit diesem Themenfeld der Unterstützung von Men-
schen durch Technik auseinandersetzt, ist also eher gewachsen und wir sehen uns nicht zuletzt
deshalb bestärkt in dem Versuch, diese Konferenz zu einer kleinen Institution für diese inter-
disziplinäre Community werden zu lassen.
Wissenschaftler*innen, Industrie- und Interessenvertreter*innen aus über fünfzehn Disziplinen
stellen ihre Forschungsarbeiten in Fachvorträgen, in einer Postersession und in einer Demonst-
ratorsession vor. Alle Beiträge, die in diesem Konferenzband gebündelt erscheinen, sind in ei-
nem einfach-blinden Review-Verfahren von jeweils zwei Mitgliedern unseres wissenschaftli-
chen Beirats (wenn möglich: aus unterschiedlichen Disziplinen) begutachtet worden. Wir hof-
fen nun, dass diese „Proceedings“ dazu beitragen können, weitere Anregungen für eine bedarfs-
orientierte, technologisch innovative und verantwortungsvolle Technikentwicklung zu liefern.
Wir bedanken uns bei allen Beitragenden und Mitwirkenden aus Forschung, Industrie, Politik
und Gesellschaft sowie ganz besonders bei allen Förderern und Unterstützern, ohne die eine
solche Veranstaltung nicht möglich wäre, also dem Bundesministerium für Bildung und For-
schung (BMBF), dem VDI/VDE-IT Innovation GmbH, der Helmut-Schmidt-Universität/Uni-
versität der Bundeswehr Hamburg, dem Laboratorium Fertigungstechnik (LaFT), der Univer-
sität Innsbruck und der dortigen Professur für Fertigungstechnik (PfF). Ferner geht natürlich
auch ein großer Dank an die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats der Konferenz, an die
Leiter der einzelnen Sessions und an die wissenschaftlichen und studentischen Hilfskräfte der
Arbeitsgruppe smartASSIST, des Laboratoriums Fertigungstechnik (Hamburg) und der Profes-
sur für Fertigungstechnik (Innsbruck).
Hamburg, den 11. Dezember 2018
Robert Weidner
Athanasios Karafillidis
1Das Projekt „smart ASSIST – Smart, Adjustable, Soft and Intelligent Support Technologies“, Förderkenn-
zeichen 16SV7114 wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des
Programms „Interdisziplinärer Kompetenzaufbau in der Mensch-Technik-Interaktion im demographischen
Wandel“ gefördert und durch die VDI/VDE-IT Innovation GmbH betreut.
Wissenschaftlicher Beirat
Prof. Dr. Michael Decker
(Technikfolgenabschätzung, Karlsruher Institut für Technologie)
Dr. Athanasios Karafillidis
(Soziologie, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg)
Dr. Bruno Gransche
(Philosophie, Universität Siegen)
Prof. Dr. Klaus Henning
(Mensch-Maschine-Interaktion, RWTH Aachen)
Prof. Dr. Bernd Kuhlenkötter
(Produktionstechnik, Ruhr-Universität Bochum)
Dr. Janina Loh
(Philosophie, Universität Wien)
Prof. Dr. Annika Raatz
(Produktionstechnik, Leibniz Universität Hannover)
Prof. Dr. Werner Rammert
(Soziologie, TU Berlin)
Prof. Dr. Robert Weidner
(Produktionstechnik, Universität Innsbruck und Helmut-Schmidt-Universität Hamburg)
PD Dr. Bettina Wollesen
(Bewegungs- und Gesundheitswissenschaft, Universität Hamburg)
Prof. Dr. Jens P. Wulfsberg
(Produktionstechnik, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg)
4
Inhaltsverzeichnis
Ko-Konstitution sozialer Räume durch Assistenztechnologien ................................................. 1
(B. Stangl)
Technologische Meta-Unterstützungssysteme in der datafizierten Arbeitswelt ........................ 9
(N. Diefenbach und J. Lemm)
Neue Curricula braucht die Hochschule – Ingenieur*innen zur Arbeitsgestaltung befähigen 19
(Ch. Rudlof)
Nutzerkonfiguration und konfigurierende Nutzer in ambulanten Pflegesettings .................... 25
(J. Deisner, J. Hergesell und A. Maibaum)
Living Lab 65+ ......................................................................................................................... 33
(V. Hämmerle, C. Pauli, S. Lehmann und S. Misoch)
Nutzungsorientierte Entwicklung eines robotikgestützten Assistenzsystems .......................... 41
(K. Brukamp)
Menschzentrierte Simulation mit adaptiver kollisionsfreier Roboterbahnplanung in der
Mensch-Roboter-Kollaboration ............................................................................................... 47
(P. Glogowski, K. Lemmerz, A. Hypki und B. Kuhlenkötter)
Intelligente Handschuhe zur Werkerunterstützung in der digitali-sierten Produktion ............. 59
(S. Gratz-Kelly, S. Hau, P. Motzki und S. Seelecke)
Application of camera controlled laser projection systems for manual mounting tasks .......... 67
(J. Taubert, M. Rehe und R. Müller-Polyzou)
Dimensionen von Unterstützung im medizinischen Behandlungskontext .............................. 77
(N. Strüver und N. Ziesen)
Towards a Companion System Incorporating Human Planning Behavior .............................. 89
(B. Leichtmann, P. Bercher, D. Höller, G. Behnke, S. Biundo, V. Nitsch und M. Baumann)
Konfigurierung des Alter(n)s: Instanzen der Konstruktion von „älteren Nutzer*innen“ in der
Gestaltung von Assistenzsystemen .......................................................................................... 99
(A.Bischof und J. Jarke)
Bewertung von Exoskeletten für industrielle Arbeitsplätze ................................................... 107
(R. Hensel und B. Steinhilber)
Entwicklungsansatz für physische Mensch-Technik-Schnittstellen von Exoskeletten ......... 117
(C. Linnenberg, J. Klabunde, R. Weidner und J. P. Wulfsberg)
Akzeptanz als Problem, Partizipation als Lösung? ................................................................ 127
(H. Hagen, M. Nitschke, D. Schlindwein und S. Goll)
Nutzerbedürfnisse an ein digitales Assistenzsystem im Kontext der Industrie 4.0 ............... 139
(C. Aringer-Walch, S. Besserer und B. Pokorni)
Dritte Transdisziplinäre Konferenz
„Technische Unterstützungssysteme, die die Menschen wirklich wollen“ 2018
5
Framework zur Generierung zieladäquater Untersuchungsdesigns zum Erfassen von
Nutzerbedarfen ....................................................................................................................... 151
(A. Wallisch und K. Paetzold)
Deflatables: A Survey on Principles Used in Soft Deflatable Support Systems and Wearable
Assistive Devices ................................................................................................................... 161
(A. Thallemer, F. Ong und A. Kostadinov)
Path Detection with Artificial Neural Networks for the Navigation of Visually Impaired
Jogger ..................................................................................................................................... 169
(J. Seßner, M. Lauer-Schmaltz, S. Reitelshöfer und J. Franke)
Improving Kinect-2 based User-Interface Interaction ........................................................... 179
(A. F. Krause, K. Essig und T. Schack)
ELSI in Serious Games für die technikunterstützte medizinische Ausbildung .................... 187
(U. Scorna, K. Weber und S. Haug)
Robotik in der Medizin .......................................................................................................... 195
(D. Sprengel)
Pitfalls of algorithmic control and their implications for support systems Algorithmic control
as a threat to accountability .................................................................................................... 205
(C. Huber und T. Scheytt)
Nutzerevaluation von Assistenzsystemen für die industrielle Montage ............................... 213
(M. Funk, M. Hartwig, N. Backhaus, M. Knittel und J. Deuse)
Mensch-Roboter-Kollaboration in der Produktion: Kritische Würdigung etablierter
Technikakzeptanzmodelle und neue Erkenntnisse in der Akzeptanzforschung .................... 223
(A. Meissner und A. Trübswetter)
KogniCoach ............................................................................................................................ 235
(M. Hesse, A. F. Krause, L. Vogel, T. Schack und T. Jungeblut)
Einflussfaktoren auf die Nutzungsintention einer Stress-Management-App ........................ 245
(C. A. Faust-Christmann, J. Spilski, J. Mayer und G. Bleser)
Benutzerassistenz für Sondermaschinen mittels fallbasiertem Schließen .............................. 255
(S. Lang und V. Plenk)
Getting to grips with cobots: Concept design of a modular and reconfigurable gripper for
hybrid co-working .................................................................................................................. 261
(A. Thallemer, D. Diensthuber und A. Kostadinov)
Methodik zur Evaluierung des Ergonomie-Potentials bei Kooperation von Mensch und
Roboter ................................................................................................................................... 269
(P. Eichler, L. Winkler und M. Bdiwi)
Praktische Bedarfsanalyse am Beispiel der Entwicklung eines
Bewegungsunterstützungssystems für die Treppenüberwindung ......................................... 279
(M. Böhme, F. Weiske, J. Jäkel und J. Zentner)
SmartSensX: Ein Konzept für vernetzte tragbare Sensoren zur Anwendung in der Softrobotik
und Mensch Maschine Interaktion ......................................................................................... 289
(R. Hackbart, J. Kostelnik, J. Kuschan, H. Schmidt, J. Krüger, R. Vieroth und K.-D. Lang)
Dritte Transdisziplinäre Konferenz
„Technische Unterstützungssysteme, die die Menschen wirklich wollen“ 2018
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Qualitätsbezogenes Target Costing als integriertes Steuerungsinstrument im
Entwicklungsprozess von Exoskeletten ................................................................................. 297
(N. Gerhardt, R. Weidner und B. Zirkler)
Der beflügelte Mensch: Gesteigerte Konzentration durch Unterstützungssysteme in der
Produktion .............................................................................................................................. 309
(F. Schroeter, R. Weidner, P. Dehmel, J. P. Wulfsberg und T. Jacobsen)
Befragungen und Universal Design als Methoden der alternsgerechten Produktentwicklung
................................................................................................................................................ 319
(O. Sankowski und D. Krause)
Entwicklung und Erprobung einer kosten- und funktionsoptimierten, mechatronischen
Unterarmprothese ................................................................................................................... 329
(I. S. Yoo, E. Scheithauer, S. Sesselmann und J. Franke)
Einsatz von echtzeitfähigen medizinischen Assistenzsystemen im häuslichen Umfeld:
Anwendungsfall Gang ............................................................................................................ 339
(K.-C. Broscheid, C.-H. Chen, S. Stoutz und L. Schega)
Simulation Framework for Active Upper Limb Exoskeleton Design Optimization Based on
Musculoskeletal Modeling ..................................................................................................... 345
(M. Tröster, U. Schneider, T. Bauernhansl, J. Rasmussen und M. S. Andersen)
Design of a dexterous Finger actuated by SMA bundle wires ............................................... 355
(F. Simone, G. Rizzello, P. Motzki und S. Seelecke)
DigiNet.Air Fallstudien mit kollaborierendem Roboter und digitalem Zwilling in einem
Vorgehensmodell zur Ableitung von Industrie 4.0 Bildungsmodulen ................................... 363
(R. Isenberg, K. Gutiq und L. Schell-Majoor)
Der Beitrag technografischer Analysen zur partizipativen soziotechnischen
Assistenzsystemgestaltung für eine Weberei 4.0 ................................................................... 371
(A. Fohn und A. Altepost)
Herausforderungen in der Beratung älterer Menschen im Kontext altersgerechter
Assistenzsysteme .................................................................................................................... 381
(M. Nitschke, D. Schlindwein, H. Hagen und S. Goll)
Unterstützung bei Arbeitshandlungen durch ein digitales adaptives Diagnose- und
Trainingssystem ..................................................................................................................... 391
(L. Vogel und T. Schack)
Individualized cognitive assistance by smart glasses for manual assembly processes in
industry ................................................................................................................................... 399
(B. Strenge, L. Vogel und T. Schack)
Biomechanical assessment of a backpack system .................................................................. 408
(L. Winter, C. Linnenberg und R. Weidner)
Arbeitsunterstützende Exoskelette: Anforderung und Umsetzung in den Pionierphasen ...... 417
(J. Kupfernagel, I. Boblan und A. Haibel)
Entlastungsmöglichkeiten beim Tragen impermeabler ABC-Schutzausrüstung ................... 425
(K. Hagner, C. Linnenberg, A. Werner, R. Tandon und A. Overkamp)
Dritte Transdisziplinäre Konferenz
„Technische Unterstützungssysteme, die die Menschen wirklich wollen“ 2018
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Magic Triangle – Human, Exoskeleton, and Collaborative Robot Scenario ........................ 435
(R. A. Goehlich, M. H. Rutsch und I. Krohne)
Verbrauchssteuerung in intelligenten Privathaushalten – wird der Bewohner entmündigt? . 443
(J. Haase)
Leitfaden für die Gestaltung von Unterstützungssystemen am Beispiel des Rückens .......... 451
(J. Klabunde und R. Weidner)
evenCARE - unabhängig im Alltag ....................................................................................... 463
(Alexei Laukart und Kristina Mattern)
Bedarfsorientierte Technikentwicklung und gesellschaftliche Akzeptanz ........................... 473
(I. Horwath und J. Terhechte)
Intelligente Orientierungshilfe für seheingeschränkte Personen ............................................ 483
(R. Weidner, J. Müller, N. Tornow und F. Rimmele)
Design of Soft Power Suit for Lower Back Assistance ......................................................... 491
(Z. Yao, R. Weidner, B. Otten und M. Fethke)
Biomedizin im Zeitalter der Digitalisierung Zum SOZIOMINT der technischen Biomedizin
................................................................................................................................................ 499
(U. Pfenning, R. Haas, M. Jeretin-Kopf und C. Wiesmüller)
Körperliche und Emotionale Reaktionen in der Zusammenarbeit mit modernen Robotern .. 507
(L. Müller, J. Ruhnke, M. Bellanova und A. Bernin)
Autorenverzeichnis ................................................................................................................. 515
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Nutzerkonfiguration und konfigurierende Nutzer1
in ambulanten Pflegesettings
J. Deisner, J. Hergesell und A. Maibaum
Technische Universität Berlin, Institut für Soziologie
jana.deisner@tu-berlin.de, jannis.hergesell@tu-berlin.de,
arne.maibaum@innovation.tu-berlin.de
Kurzzusammenfassung
Die Nutzung von digitalen Assistenzen findet häufig in organisierten Kontexten statt. Wir ar-
beiten unter Bezug auf Konzepte der Technik- und Innovationsforschung die wechselseitige
Konfiguration von Nutzern und Technologie aus. Anschließend beleuchten wir, welche Bedeu-
tung hierbei dem organisationalen Kontext der Nutzung und Konfiguration von Technik zu-
kommt und wie dieser folglich auch von der Technologie mit konfiguriert wird. Welche Aus-
wirkungen die Technologie über die Nutzerkonfiguration und die konfigurierenden Nutzer im
ambulanten Pflegesetting auf die Organisationen haben kann, veranschaulichen wir abschlie-
ßend an empirischen Beispielen.
Abstract
Configuration of the user and configuring users in outpatient care settings
The use of digital assistance technologies often takes place in organized contexts. Drawing on
concepts from technology and innovation studies, we elaborate on the mutual configuration of
users and technology. We then examine the importance of the organizational context for the
use and configuration of technology which in turn configures the organization as well. In con-
clusion, we will use empirical examples to illustrate the effects the technology can have on
organizations via user configuration and the configuring user in outpatient care settings.
Keywords
Organisation, Digitalisierung, Nutzerkonfiguration, Pflegetechniken, Assistenz
1 Einleitung
Angesichts des demographischen Wandels
und des damit assoziierten Pflegenotstandes
werden aktuell zahlreiche technische Lö-
sungsansätze entwickelt, diskutiert und er-
probt. In Folge der häufig klaffenden Lücke
zwischen dem Potential der Technik und ih-
rem tatsächlichen Nutzen werden diese Tech-
nologien und ihr Einsatz zunehmend auch Ge-
genstand von sozialwissenschaftlichen Unter-
suchungen, welche die Passung der Technolo-
1Selbstverständlich verstehen wir unter “Nutzer” alle Nutzer*innen. Zugunsten der deutschen Komposita mit
diesem Wort gebrauchen wir das Wort ‘Nutzer’ im vorliegenden Text jedoch im Sinne des englischen ‘user’ als
geschlechtsneutral und verwenden das generische Maskulinum. Für alle sonstigen personenbezogenen Bezeich-
nungen verwenden wir den Asterisk (*), um alle Menschen inner- und außerhalb binärer Geschlechtlichkeit ein-
zuschließen.
gien hinsichtlich der Kompetenzen und Be-
dürfnisse der Nutzer betrachten (z. B. partizi-
pative Technikentwicklung). Gerade die Nut-
zer von assistiven Technologien könnten je-
doch kaum heterogener sein: Wer Nutzer einer
Technologie ist, variiert sowohl entlang der
Bandbreite der entwickelten Technologien
und den spezifischen Pflege- und Unterstüt-
zungsbedarfen als auch entlang der Schnitt-
stellen, die vernetzte digitale Assistenzsys-
teme aufweisen.
Dritte Transdisziplinäre Konferenz
„Technische Unterstützungssysteme, die die Menschen wirklich wollen“ 2018
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Der bisherige Forschungsstand zu digitalen
Pflegetechniken fokussiert entweder konkrete
Pflegeinteraktionen (Mikroebene) oder ge-
samtgesellschaftliche Fragestellungen (Mak-
roebene), wie z. B. die Zukunft der sozialen
Sicherungssysteme. Diese jeweils nur auf eine
soziale Aggregationsebene beschränkten Per-
spektiven können das Phänomen technischer
Unterstützungssysteme allerdings nicht ge-
mäß seiner sozialen Komplexität fassen. Ver-
nachlässigt wird dabei, dass die betrachtete
“technisierte” Interaktion weder allein durch
eine Technologie und die unmittelbar anwe-
senden Akteur*innen strukturiert wird, noch
bloßes Abbild gesellschaftsweiter Institutio-
nen ist. Vielmehr wird sie maßgeblich auch
durch ihren organisationalen Kontext (Me-
soebene) gestaltet. Der organisationale Kon-
text strukturiert einerseits die Entwicklung
und den Einsatz technischer Unterstützungs-
systeme, wird aber andererseits auch durch die
digitalen Techniken verändert.
Daher ist es notwendig, diese Organisations-
ebene explizit mit einzubeziehen. So wird der
Tatsache Rechnung zu tragen, dass in organi-
sationalen Kontexten deren formale wie infor-
male Rollen und Strukturen einen Einfluss da-
rauf haben, wie Akteur*innen handeln und
welche Folgen der Einsatz digitaler Assisten-
zen auf bestehende soziale Strukturen hat.
Anhand von exemplarisch ausgewählten em-
pirischen Daten des Einsatzes digitaler Assis-
tenzen, die Senior*innen in ihrem Alltag un-
terstützen sollen, zeigen wir, wie durch und
mit diesen Technologien Nutzer konstruiert
werden. Da diese Ebene bisher kaum Gegen-
stand der Forschung ist, ist unser Ziel zu-
nächst die Darstellung von möglichen Wech-
selwirkungen zwischen Pflegeorganisationen
und Technikhersteller*innen. Auf dieser Ba-
sis schlagen wir eine empiriegetriebene Heu-
ristik von technisierten Pflegekonstellationen
vor, die als Basis für die weitere theoretische
Konzeptualisierung und empirische Untersu-
chungen dienen soll. Mit der Integration die-
ser Perspektive kann die Entwicklung von
Technologien für die Reichweite ihrer Konse-
quenzen sensibilisiert und der Nutzungskon-
text präzisiert werden. So kann assistive Tech-
nik entwickelt werden, die besser an die Prak-
tiken aller Akteur*innen des Nutzungskontex-
tes angepasst ist, und so eine nachhaltigere,
nutzeradäquatere Technik entstehen.
2 Konfiguration von Technik und Nut-
zern
Die Rede von „Nutzern“ oder „dem Nutzer“
im Kontext von neuen Technologien ist derart
eng mit der Rede von Technologie selbst ver-
bunden, dass die Existenz von Nutzern oft wie
eine Selbstverständlichkeit hingenommen und
nicht hinterfragt wird. Die Popularität von
partizipativer Technikentwicklung und
Marktforschung weisen jedoch darauf hin,
dass für die Entwickler*innen von Technolo-
gie oft keineswegs klar ist, wer der meist opak
bleibende “Nutzer“ ist, geschweige denn, was
seine Ziele und Fähigkeiten im Umgang mit
einer Technik sind. Zudem verbleibt die Ab-
sicht der Nutzerbeteiligung häufig nur auf der
diskursiven Ebene und dient der Legitimation
von Technologien oder der Akquise von For-
schungsgeldern [Com18].
Um sich dem Nutzer zu nähern, reicht es nicht
aus nur die antizipierten Nutzer zu kennen.
Einschreibungen entstehen viel früher im
Technikentwicklungsprozess. So zeigt Wool-
gar [Woo90], wie bei der Entwicklung eines
neuen Computers von den Entwickler*innen
Annahmen über „den Nutzer“ gemacht wer-
den, die bereits in das Design der Maschine
einfließen und hierdurch die Möglichkeiten
einer späteren Nutzung be- und einschränken.
In dem darauffolgenden Anwender*innentest
werden dann die vermeintlich echten Nutzer
im Umgang mit dem Gerät unterrichtet, also
passend zur vorausgehenden Vorstellung ge-
macht: Die Nutzer konfigurieren nicht die
Technik, es ist eine “Konfiguration des Nut-
zers” [Woo90].
Auf der anderen Seite des Verhältnisses lässt
sich der Nutzer als Teil eines sozio-techni-
schen Systems beschreiben [Gee04; Ram89],
in welchem er eine Rolle einnimmt, die für die
Funktion des Gesamtsystems und somit für
die Funktion, die das System für die Gesell-
Dritte Transdisziplinäre Konferenz
„Technische Unterstützungssysteme, die die Menschen wirklich wollen“ 2018
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schaft hat, von Bedeutung ist. Wer Nutzer ei-
ner Technologie ist, wird hier also darüber de-
finiert, wer die Funktion des Nutzers erfüllt.
Die spezifische Funktion eines Nutzers wird
hier jedoch nicht allgemein bestimmt, sondern
zu einer empirischen Frage gemacht. Betrach-
ten wir diese Einbindung des Artefaktes in ein
sozio-technisches System der Verwendung als
eine von der Entwicklung unterschiedliche
Phase, so muss hier davon ausgegangen wer-
den, dass sich Technologie nicht nur ihre Nut-
zer schafft, sondern sich ebenso häufig von
Nutzern angeeignet wird. Das heißt, sie wird
in Praktiken und Institutionen eingebunden
und gelangt erst dadurch zu ihrer Funktion;
umgekehrt werden Nutzer erst dadurch zu
Nutzern, dass Praktiken der Nutzung einer
Technologie entwickelt werden [Gee04;
Woo90; Orl92].
Wir gehen davon aus, dass Nutzer von Tech-
nologien zunächst im Entwicklungsprozess
von Technikentwickler*innen konstruiert und
ihre imaginierten Fähigkeiten und Wünsche in
den Eigenschaften der Technologie abgebildet
werden – was angesichts der Diskrepanz zwi-
schen den imaginierten Bedürfnissen der Nut-
zer und deren tatsächlichen Vorstellungen
eine extrem folgenreiche und notwendige
Grundannahme für die Frage nach den Effek-
ten von digitalen Assistenzen in der Pflege ist.
An diese Vorstellungen der Technikentwick-
ler*innen müssen sich die Nutzer später an-
passen bzw. angepasst oder konfiguriert wer-
den, wenn sie eine Technologie in der vorge-
sehenen Weise “nutzen” wollen. Desweiteren
nehmen wir aber an, dass Technologien nur
als sozio-technische Systeme funktionieren
bzw. ihr Charakter und ihre tatsächlichen Pro-
zeduren und Nutzungsweisen nur im Kontext
eines sozio-technischen Systems erklärt wer-
den können. Diese Einbindung einer Techno-
logie in ein sozio-technisches System findet
wiederum durch Nutzer statt, die sich diese
Technologie aneignen und ihre Bedeutung
und Benutzung in ihren Alltagspraktiken der
Verwendung wiederum formen. Dies tun sie
jedoch nicht in beliebiger Form, sondern in
Auseinandersetzung mit der bereits erfolgten
Konfiguration durch die Entwickler*innen so-
wie anderen Gegebenheiten der sozialen
Strukturen in welchen die Nutzung stattfindet,
wie etwa betrieblicher Arbeitsorganisation o-
der Berufsleitbildern.
In diesem Sinne müssen wir die Frage nach
den Nutzern digitaler Technologien aus zwei
Perspektiven stellen: Zum einen muss be-
trachtet werden, wer als Nutzer bei der Tech-
nologieentwicklung erdacht wurde – was, wie
gezeigt, unabhängig vom tatsächlichen Nutzer
sein kann. Zum anderen muss gefragt werden,
wer sich in welchen sozialen Kontexten die
Technologie in Alltagspraktiken aneignet, sie
adaptiert und somit „nutzt“. In diesem Prozess
werden sowohl die Nutzer an die Technik als
auch die Technik an die Nutzer angepasst. Die
hier getrennten Schritte sind so empirisch häu-
fig wesentlich weniger klar zu identifizieren
und verstehen sich daher als analytische Kate-
gorien.
3 Organisierte Nutzung und Organisatio-
nen als Nutzer
Geht man von der Perspektive des sozio-tech-
nischen Systems und der zweiseitigen Kon-
struktion der Nutzer aus, so muss die Funktion
einer Technologie nicht nur allgemein für die
Gesellschaft, sondern auch für einen ganz
konkreten Teilbereich der Gesellschaft er-
kennbar sein. Dieser Kontext ist im Bereich
der ambulanten Pflege und der Assistenzen
für ältere Menschen die Bewältigung des All-
tags im häuslichen Umfeld, zu der vornehm-
lich die Bewahrung von Autonomie bzw. die
Vermeidung von stationärer Unterbringung zu
zählen sind. Zentral dafür sind aber auch alle
für die Funktion der Technologie relevanten
Aspekte, die nicht direkt in der Alltagssitua-
tion sichtbar sind. Hierzu, so unsere These,
gehören auch Organisationen der ambulanten
Pflege, die mit Anbieter*innen von Hausnot-
rufsystemen oder anderen Assistenzsystemen
kooperieren, oder deren Klient*innen digitale
Assistenzen nutzen. Die Organisationen der
ambulanten Pflege stellen einerseits den Kon-
text der Aneignung von digitalen Technolo-
gien in Nutzungspraktiken dar, andererseits
Dritte Transdisziplinäre Konferenz
„Technische Unterstützungssysteme, die die Menschen wirklich wollen“ 2018
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werden sie aber vermittelt über die Nutzungs-
praktiken auch durch die Technologien ge-
formt, wenn sich organisationale Praktiken
der Nutzung herausbilden.
Geht man mit der hier vorgestellten Perspek-
tive davon aus, dass der Kontext der Aneig-
nung und Nutzung von Technologie von Be-
deutung für die Praktiken der Nutzung ist –
und dass dieser Kontext gleichzeitig von der
Technologie beeinflusst wird – so ist es not-
wendig für die Frage nach der Konstruktion
von Nutzern, die Struktur dieses Kontextes
näher zu betrachten.
Neo-institutionalistische Perspektiven auf Or-
ganisationen beschreiben diese organisationa-
len Kontexte als hoch institutionalisierte Sys-
teme, die zahlreiche eigene Praktiken ausbil-
den [Mey77], welche die Handlungen ihrer
Mitglieder in diesem organisationalen Kon-
text orientieren [Zuc77]. Die Möglichkeiten
der Verwendung von Technologien ist in ei-
nem organisationalen Kontext im Vergleich
zum privaten Kontext also stärker reguliert.
Auch hier zeigt sich die Wirkung der Konfi-
guration in beide Richtungen: Auch die Orga-
nisationen, deren Mitarbeiter*innen die Tech-
nologien nutzen, werden durch die Aneignung
verändert. So ändern sich Handlungsspiel-
räume von Mitarbeiter*innen durch die von
der Führungsebene auferlegte Nutzung
[Zub89] oder in Abhängigkeit von den Struk-
turen der Organisation und den Kompetenzen
der Mitarbeiter*innen in jeweils verschiede-
ner Weise [Bar90]. So ist es auch möglich,
dass Strukturen voneinander entkoppelt wer-
den [Mey77]. Dann werden beispielsweise
Technologien vordergründig in Formalstruk-
turen integriert, im Hintergrund aber werden
informelle Regeln der Vermeidung von Tech-
nologienutzung etabliert oder die Technologie
wird informell in einer Art und Weise genutzt,
die nicht mit den institutionellen Erwartungen
vereinbar ist [Ben63]. Hierbei kann vermutet
werden, dass die als „Kerngeschäft“ [Tho67]
verstandenen Praktiken und Prozeduren einen
größeren Widerstand gegen Anpassungen an
neue Technologien bilden als die organisatio-
nale Peripherie.
4 Exemplarische Illustration der Wech-
selwirkung von Organisation und digi-
taler Technik anhand von drei Techno-
logietypen
Diese theoretischen Überlegungen sollen im
Folgenden anhand von empirischen Fällen il-
lustriert werden. Sie zeigen auf, wie die Orga-
nisationen in verschiedenen Settings der am-
bulanten Pflege die Nutzung der Technologie
strukturieren und durch sie strukturiert wer-
den. Um dies zu tun, teilen wir die Assisten-
zen in drei verschiedene Gruppen. Digitale
Technologien im ambulanten Bereich lassen
sich danach unterscheiden, wer als Nutzer in
der Entwicklung des Systems berücksichtigt
wird:
1. Ambulante Pflege als Nutzer,
2. ambulante Pflege als Mit-Nutzer oder
3. Einbindung der ambulanten Pflege in die
Nutzung durch andere Nutzer.
Die erste Gruppe von Assistenzen zielt direkt
darauf ab, Pflegekräfte in ihrer täglichen Ar-
beit zu unterstützen. Hierzu gehören beispiels-
weise fahrerlose Transportsysteme oder Rei-
nigungsroboter im stationären Bereich, intel-
ligente Pflegehilfsmittel oder Telepräsenzsys-
teme.
Im ambulanten Bereich von deutlich größerer
Relevanz sind jedoch Assistenzen, die eine
Pflege in der häuslichen Umgebung unterstüt-
zen sollen, also einer Umgebung, die sich in
organisationaler Perspektive deutlich von den
vorzufindenden Gegebenheiten der stationä-
ren Pflege unterscheidet. Diese zielen zu-
nächst einmal nur auf die Unterstützung der
älteren Menschen in ihrem Alltag ab und nicht
auf die Unterstützung der Pflegenden und bil-
den den zweiten Typ. Dennoch sind sie mit
Schnittstellen versehen, die von der ambulan-
ten Pflege bedient werden sollen.
Der dritte Typ ist schließlich zunächst nicht
auf die Einbindung der ambulanten Pflege
ausgerichtet. Dennoch lässt sich eine Einbin-
dung durch die Nutzer selbst beobachten,
wodurch die ambulante Pflege in der Aneig-
nung der Technologie auch zum Nutzer ge-
macht wird.
Dritte Transdisziplinäre Konferenz
„Technische Unterstützungssysteme, die die Menschen wirklich wollen“ 2018
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Die ambulante Pflege als Nutzer
Viele verwendete Systeme bieten die Mög-
lichkeit, routinemäßig Daten zu sammeln, die
Aufschluss über die Aktivität der älteren Nut-
zer geben. Die Kontrolle der Sicherheit von
Gepflegten ist eine wichtige Aufgabe der Pfle-
genden, die viele personale Ressourcen der
Pflegeorganisationen bindet. Diese antizipie-
ren die Technikentwickler*innen bereits bei
der Konzeption der Technologien. Sie inter-
pretieren diese Aufgabe hierbei als Notwen-
digkeit, der Pflegeorganisation technisch as-
sistiert eine Effizienzsteigerung der Kontrolle
des “Wohlbefindens/der physischen Unver-
sehrtheit” zu ermöglichen. Der Wunsch, vor
allem durch digitale Assistenzen Pflegebe-
darfe gezielt zu erkennen und anhand der In-
formationen zielgerichtete Pflegekonzepte
und -einsätze ausführen zu können, wird auch
aktiv von Pflegenden an die Technikentwick-
ler*innen herangetragen.
Daher wird im Design bereits eine mögliche
Nutzungspraktik der Kontrolle des gesund-
heitlichen Zustandes der Person angelegt.
Während manche Technologieentwickler*in-
nen dies als positiven Nebeneffekt ihrer Tech-
nologie beschreiben, finden sich auch solche
Technologien, die diese Funktion als Kern der
Technologie entwickeln. So wird zum Bei-
spiel die Möglichkeit des Monitorings von
Aktivitätsmustern gerade im ambulanten Be-
reich als durchaus nützlich beschrieben, um
die Situation der Klient*innen trotz geringer
Kontaktzeit adäquat einschätzen zu können.
Hier zeigt sich eine Passung der im Design-
prozess vorgestellten Nutzungspraktiken mit
der organisationalen Praktik des ambulanten
Pflegedienstes. Ein weiteres Beispiel für solch
eine Nutzung ist der sogenannte Hausnotruf.
Die Senior*innen haben die Möglichkeit, über
einen “Notrufknopf” Kontakt zu Mitarbeiten-
den einer Hausnotrufzentrale herzustellen,
welche dann einen eventuell bestehenden
Pflegebedarf an einen kooperierenden Pflege-
dienst weiterleitet. Allerdings sind die we-
nigsten Kontaktaufnahmen tatsächliche Not-
fälle, viel mehr werden Fragen zum nächsten
Besuch des Pflegedienstes gestellt, Alltags-
probleme geschildert oder es besteht ein Be-
darf an Aufmerksamkeit und Gesprächen. Die
Mitarbeiter*innen des Hausnotrufs selektie-
ren diese Kontaktaufnahmen nach pflegeri-
scher Relevanz und leiten dementsprechende
Maßnahmen ein. Auch legen sie eine Historie
der Kontaktaufnahmen an, auf deren Basis sie
Pflegebedarfe einschätzen. Zusätzlich zu der
Sprachfunktion ist der Hausnotruf mit weite-
ren technischen Assistenzen modular erwei-
terbar, wie etwa mit GPS-Ortungen für Men-
schen mit Demenz, Tür- oder Fensteralarmen
oder mustererkennenden, sensorbasierten As-
sistenzsystemen, die beispielsweise auffällige
Aktivitäten, wie das Fehlen von Bewegung o-
der das längere Nicht-Öffnen von Kühlschrän-
ken melden. Dabei ist schnell festzustellen,
dass die Konzeption der digitalen Assistenzen
neben den Bedürfnissen nach Autonomie und
Sicherheit der Gepflegten explizit die Anfor-
derungen der Pflegeorganisationen nach effi-
zient koordinierten Pflegeeinsätzen, aber vor
allem auch die Vermeidung von “Fehleinsät-
zen” und die dadurch erreichte Kostenreduk-
tion und Personaleinsparung adressiert. Das
hat sowohl Auswirkungen auf die Relevanzen
der Technikentwickler*innen bei der Herstel-
lung der Technologien als aber auch auf die
Strukturen der Pflegeorganisationen, die hin-
sichtlich der internen Kommunikation (Ver-
mittlung über die Hausnotrufzentrale) und der
Arbeitsplanung (Erkennung von akuten Be-
darfen und langfristige Pflegekonzepte mittels
der Informationen der Technik) deutlich durch
den Technologieeinsatz geprägt werden.
Die ambulante Pflege als Mit-Nutzer
Ein Anbieter, der ein Ambient-Assisted-
Living-System vertreibt, beschreibt, dass das
System eigentlich zwei Typen von Nutzern
habe. Zum einen die Personen, in deren Woh-
numgebung das System installiert werde, zum
anderen aber diejenigen, die das System kon-
figurieren. Das System wertet die Daten ver-
schiedener, in der Wohnumgebung installier-
ter Sensoren aus und sendet beim Überschrei-
ten von Schwellwerten einen Alarm. Es muss
aber von einem Nutzer konfiguriert werden,
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indem die Schwellwerte definiert und Emp-
fänger der Alarme für den Fall der Überschrei-
tung bestimmt werden. Er berichtet aus Erfah-
rung, dass diese Konfiguration in der Regel
nicht von den älteren Menschen selbst, son-
dern von Angehörigen oder Pflegedienstper-
sonal vorgenommen werde.
Hierdurch wird deutlich, dass der Kreis der ur-
sprünglich konstruierten Nutzer bereits in der
Nutzungspraktik erweitert wird. Wenn der
Pflegedienst die Technologie konfiguriert, ist
anzunehmen, dass die Nutzungspraktiken sich
von denen unterscheiden, die Angehörige mit
der Technologie verbinden. Während in ei-
nem privaten Kontext damit zu rechnen ist,
dass sich bei der Konfiguration auf Erfahrun-
gen der persönlichen Interaktion mit den Se-
nior*innen bezogen wird, ist davon auszuge-
hen, dass eine Pflegekraft sich bei der Konfi-
guration auf Regeln und Strukturen der Orga-
nisation beziehen wird. Hier spielen folglich
auch für Organisationen typische Relevanzen
wie Datenschutz, ethische und rechtliche Un-
bedenklichkeit und organisationale Zustän-
digkeiten eine Rolle, die so auch wiederum für
die Technikentwickler*innen relevant wer-
den. Zum Beispiel können Angehörige Se-
nior*innen mit Demenz jederzeit ein GPS-Or-
tungsgerät in die Kleidung einbringen, um sie
im Falle von “Hin- oder Weglauf”-Tendenzen
unkompliziert wieder aufzufinden. Wenn Or-
ganisationen dies außerhalb eines privaten
Kontextes tun, muss gewährleistet sein, dass
die erhobenen Daten Dritten nicht zugänglich
sind und ggf. müssen rechtliche Betreuer*in-
nen zustimmen. Darüber hinaus muss ein*e
Organisationsangehörige*r zuständig und
kompetent bei der Auswertung der GPS-Da-
ten und dem Einleiten von Maßnahmen sein.
All dies führt zu Strukturveränderungsprozes-
sen in der Organisation, wenn assistive Tech-
nologien Verwendung finden. Hier wird nicht
nur deutlich, dass an Organisationen grund-
sätzlich andere Anforderungen hinsichtlich
Rationalität oder Konformität mit Institutio-
nen gestellt werden, sondern dass diese insti-
tutionellen (in diesem Falle rechtlichen) An-
forderungen auch Anpassungen der Formal-
struktur erfordern, wodurch die Integration ei-
ner solchen Technologie erschwert werden
kann. Indem Angehörige von Pflegeorganisa-
tionen privat angeschaffte oder in organisatio-
nale Pflegekonzepte eingebundene Technolo-
gien nutzen, eignen sie sich die Technologie
an und geben ihr eine bestimmte Funktion für
das Pflegesetting. Gleichzeitig werden sich so
aber nicht nur die Funktion der Technologie,
sondern auch die Regeln und Strukturen der
Organisation verändern, auf die sich im Um-
gang mit der konfigurierten Technologie be-
zogen wird. Es ist also davon auszugehen,
dass die Organisation der ambulanten Pflege
und die digitale Technologie in einer Wech-
selwirkung zueinander stehen, die über die
Pflegekraft vermittelt wird.
Einbindung durch andere Nutzer
Während hier ein sehr direkter Fall der Nut-
zung einer Technologie in einem organisierten
Kontext beschrieben wurde, soll ein weiteres
Beispiel darauf hinweisen, dass die Pflegeor-
ganisationen auch vermittelt über andere Nut-
zer wie die Angehörigen oder die pflegebe-
dürftige Person selbst in das sozio-technische
System integriert werden kann. Dies wäre bei-
spielsweise der Fall, wenn eine Angehörige
das System konfiguriert, der Pflegedienst aber
auf die Notrufe reagiert, die vom System ab-
gesetzt werden. Diese Konstellationen erge-
ben sich oftmals auch inoffiziell, etwa wenn
ein*e Angehörige*r einer*s Gepflegten mit
Demenz die Meldung einer GPS-Ortung er-
hält und diese (telefonisch) an den Pflege-
dienst weitergibt, der sich daraufhin in Koope-
ration mit den Angehörigen auf die Suche
nach der*m Gepflegten begibt. Ein solcher in-
formellere Umgang mit der Technologie kann
als Entkopplung von Formalstrukturen und in-
formellen Alltagspraktiken betrachtet werden,
da er den Pflegenden eine Möglichkeit bietet,
das Kerngeschäft der Organisation zu verfol-
gen, ohne dass hierbei Formalstrukturen ange-
passt werden. Auch ist zu beobachten, dass
vor allem digitale Technologien aus dem Be-
reich der Sicherheitsassistenzen eine psycho-
emotionale Entlastung von Angehörigen der
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Gepflegten bewirken. So können die Angehö-
rigen etwa auf der Installation eines Hausnot-
rufs insistieren, um ihre beständige Sorgen um
das Wohlergehen der Gepflegten zu mindern.
Etwaige, in die Pflegekonstellation eingebun-
dene Pflegeorganisationen sind dann gezwun-
gen, sich mit dieser Technologie auseinander
zu setzen, wenn die Angehörigen darauf be-
stehen. Auch in diesem Fall muss angenom-
men werden, dass diese erzwungene Ausei-
nandersetzung Regeln der Organisation folgt
und neue organisationale Praktiken des Um-
gangs mit solchen Interventionen herausgebil-
det werden.
Wir weisen aber ausdrücklich darauf hin, dass
die Auffassungen von Technikentwickler*in-
nen, wie eine digitale Assistenz wirken sollte,
was “Alter” und “Pflegebedürftigkeit” in der
heutigen Gesellschaft heißt, welche Bedürf-
nisse daraus resultieren und was anzustre-
bende Optimierungsprozesse in Pflegeorgani-
sationen sind, zu einer “Einschreibung” eben
jener für unsere Gesellschaft spezifischen In-
tentionen des Einsatzes digitaler Pflegetech-
nik in deren Prozeduren und Nutzungsanwei-
sungen führt [Her16].
5 Zusammenfassung und Ausblick
Bei der Entwicklung von digitalen Assisten-
zen ist zu berücksichtigen, dass diese oft nicht
nur als intermediäre Plattformen zwischen
verschiedenen Akteur*innen genutzt werden,
sondern dass mindestens eine*r dieser Ak-
teur*innen (der*die Pflegedienstmitarbei-
ter*in) in einem hochgradig organisierten
Kontext agiert. Das heißt er*sie richtet sich in
der Nutzung der Technologie nach organisati-
onalen Regeln. Wenn diese zu den in der
Technologie eingeschriebenen Nutzungsmög-
lichkeiten in Konflikt stehen, kann es, weniger
durch die Verweigerung des Individuums als
durch die organisationalen Strukturen zum
Scheitern der Adaption der Technologie kom-
men. Außerdem – und das ist mindestens ge-
nauso ausschlaggebend – werden die Nut-
zungspraktiken, welche die Akteur*innen mit
der Technologie ausbilden, auf die Strukturen
der Organisationen der ambulanten Pflege zu-
rückwirken und zu Nutzungspraktiken der Or-
ganisation gemacht, wenn sie dauerhaft Be-
stand haben sollen. Dies ist zu berücksichti-
gen, wenn die Konsequenzen von Technolo-
gieanwendungen abgeschätzt werden sollen.
Zu fragen wäre: Welche expliziten oder impli-
ziten Anforderungen an die Organisation der
Pflege werden von der Technologie gestellt?
Sind diese mit den Zielen der Organisationen
vereinbar?
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