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Reto Patrick Müller
AJP/PJA 12/2018
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gen.11 Indessen wären niederschwellig greifende Mittel zu
bevorzugen, da die Rechtsgur des Rechtsmissbrauchs als
ultima ratio fungieren sollte. In diesem Sinne bietet es sich
an, die erwähnte Konstellation als wichtigen Grund für die
Vorabentscheidung des reinen Scheidungspunkts anzuer-
kennen.
11 BGer, 2A.546/1999, 4.2.2000, E. 4b; BGE 128 II 145 E. 3.3: «In-
dem der Beschwerdeführer im Januar 2001 Bereitschaft signalisier-
te, (erst) nach Ablauf der vierjährigen Trennungszeit eine Scheidung
in Erwägung zu ziehen, hat er sich darauf einzurichten versucht, die
nur noch formell bestehende Ehe zur Sicherung seiner Anwesenheit
in der Schweiz aufrechtzuerhalten, el doch der Ablauf dieser Vier-
jahresfrist (Juli 2001) mit jenem Zeitpunkt zusammen, in dem ihm
ein grundsätzlicher Anspruch auf die Niederlassungsbewilligung
erwuchs (19. Juli 2001). Ein solches Verhalten lässt die Anrufung
von Art. 7 ANAG, dessen Zweck darin besteht, die Führung des Fa-
milienlebens in der Schweiz zu ermöglichen und abzusichern, als
rechtsmissbräuchlich erscheinen (BGE 127 II 49 E. 5d S. 59)»; BGer,
2A.506/2004, 16.9.2004, E. 2: «Insofern ist nicht bundesrechtswid-
rig, wenn das Verwaltungsgericht davon ausgegangen ist, der Be-
schwerdeführer habe sich spätestens ab Februar 2003 darauf einge-
richtet, die nur noch auf dem Papier bestehende Ehe wegen des damit
verbundenen Anwesenheitsrechts bis zum Erwerb des Anspruchs auf
Niederlassungsbewilligung aufrechtzuerhalten. Hierzu dient Art. 7
ANAG jedoch nicht. Die gesetzliche Regelung will die Führung des
Ehelebens in der Schweiz – allenfalls auch in einer vorübergehen-
den Krisensituation – ermöglichen und absichern, jedoch nicht einem
missbräuchlichen, ausschliesslich fremdenpolizeilich motivierten
Festhalten an einer klar inhaltsleeren Ehe Vorschub leisten (vgl. BGE
127 II 49 E. 5a S. 56 f.).»
7. Strafrecht/Droit pénal
7.4. Nebenstrafrecht des Bundes– allgemein/
Droit pénal accessoire de la Confédération–
en général
7.4.2. Stras senverkehrsrecht/Droit de la circulation
routière
BGer 6B_1007/2016: Exkulpationsmöglichkeit bei Halter-
haftung
Bundesgericht, Strafrechtliche Abteilung, Urteil 6B_1007/
2016 vom 10.Mai 2017, X.AG gegen Staatsanwaltschaft
des Kantons Appenzell A.Rh., Haftung des Fahrzeughalters
nach OBG.
Die Einführung der Halterhaftung hat zu einer teilweise
fragwürdigen Praxis in den Kantonen geführt. Das Bun-
desgericht betrachtet eine nach dem Ordnungsbussen-
gesetz ausgefällte Busse als Strafe. Aufgrund des mit der
Halterhaftung vorgesehenen Einbruchs in strafrechtliche
Grundsätze legt es die einschlägigen Bestimmungen des
Ordnungsbussengesetzes restriktiv aus. Es schützt insbe-
sondere die im Gesetz selbst vorgesehene Möglichkeit,
auch bei einer den Behörden nicht sofort bekannten Täter-
schaft ein Verfahren gegen den tatsächlichen (fehlbaren)
Lenker einzuleiten. Zudem ist es den Behörden auch bei
Wohnsitz einer Lenkerin im Ausland zuzumuten, diese über
den dafür vorgesehenen Verfahrensweg ins Recht zu fassen.
Das lebensnahe Urteil verdient im Ergebnis Zustimmung.
Es wird der Praxis als wegweisende Leitplanke dienen.
Leider weicht das Bundesgericht in pragmatischer Manier
weiteren Koniktfeldern geschickt aus. Nachfolgend wird
postuliert, die Halterhaftung konsequent strafrechtlich zu
verstehen.
I. Sachverhalt
Die Sixt rent-a-car AG vermietete einen Personenwagen
an Frau G., wohnhaft im U.S.-amerikanischen Bundesstaat
Florida. Während der Mietdauer wurde ein Überschreiten
reto patricK müller*
* reto patricK müller, Dr. iur., Lehrbeauftragter für Sicherheits-
und Polizeirecht an der Universität Basel und an der ETH Zürich. –
Der Autor bedankt sich sehr herzlich bei Frau MLaw Sabrina Ma-
nuela Keller für die wertvollen Diskussionen und Literaturhinweise
sowie bei Frau BLaw Stéphanie Greuter für die sorgfältige Durch-
sicht des Manuskripts.
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Entscheidbesprechungen/Discussions d’arrêts actuels
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letzt, wenn jemand wegen einer Handlung, die im Gesetz
überhaupt nicht als strafbar bezeichnet ist, strafrechtlich
verfolgt wird, oder wenn eine Handlung, deretwegen je-
mand strafrechtlich verfolgt wird, zwar in einem Gesetz
mit Strafe bedroht ist, dieses Gesetz selber aber nicht als
rechtsbeständig angesehen werden kann, oder schliess-
lich, wenn das Gericht eine Handlung unter eine Straf-
norm subsumiert, die darunter auch bei weitestgehender
Auslegung nach allgemeinen strafrechtlichen Grundsät-
zen nicht subsumiert werden kann […]. Der Begriff der
Strafe im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK ist autonom aus-
zulegen. Er knüpft an eine strafrechtliche Verurteilung an.
Er erfasst alle Verurteilungen, welche im Sinne von Art. 6
Ziff. 1 EMRK gestützt auf eine gegen eine Person erhobe-
ne strafrechtliche Anklage erfolgen. Von Bedeutung sind
ihre Qualikation im internen Recht, das Verfahren, in
dem sie verhängt und vollstreckt wird, sowie namentlich
ihre Eingriffsschwere […]. […]
1.4. Gemäss der bundesrätlichen Botschaft zu Via sicura
ist das Ordnungsbussenverfahren nach dem Ordnungsbus-
sengesetz vom 24. Juni 1970 (OBG) ein Strafverfahren, mit
dem Bagatellwiderhandlungen im Stras senverkehr ohne
grossen Aufwand erledigt werden können. Da Ordnungs-
bussen für Übertretungen im Sinn von Art. 103 StGB ver-
hängt werden, nden auch die entsprechenden strafrechtli-
chen Grundsätze Anwendung. Mit der per 1. Januar 2014 in
Kraft getretenen Revision soll von einem dieser Grundsätze
abgewichen werden, indem nicht mehr ausschliesslich die
Person bestraft werden muss, welche die Widerhandlung
begangen hat, sondern der Fahrzeughalter oder die Fahr-
zeughalterin bestraft werden kann, falls der Täter oder die
Täterin der Polizei nicht bekannt ist. […]
Nach dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 OBG, wonach die
Busse dem im Fahrzeugausweis eingetragenen Fahrzeug-
halter auferlegt wird, wenn nicht bekannt ist, wer eine Wi-
derhandlung begangen hat, ist auf den formellen Halterbe-
griff abzustellen. […]
1.5. Gemäss Botschaft kann der Halter oder die Halterin
das Verfahren erledigen, wenn er oder sie die Busse innert
30 Tagen bezahlt. Nach Art. 6 Abs. 4 OBG hat der Halter
oder die Halterin aber auch die Möglichkeit, den tatsäch-
lichen Fahrzeugführer oder die tatsächliche Fahrzeugfüh-
rerin der Polizei zu melden und somit die Vermutung der
Täterschaft von Absatz 1 zu widerlegen. Dann richtet sich
ab diesem Zeitpunkt das Verfahren gegen diese Person. Ab-
satz 5 regelt das Verfahren, wenn der Fahrzeugführer oder
die Fahrzeugführerin nicht ermittelt werden kann. Dann
muss der Halter oder die Halterin die Busse bezahlen. Diese
haben die Möglichkeit, sich zu exkulpieren, nämlich dann,
wenn sie glaubhaft darlegen können, dass das Fahrzeug vor
Begehung der Widerhandlung gegen ihren Willen benutzt
der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um
16 km/h festgestellt. Die Kantonspolizei forderte von der
Sixt rent-a-car AG als Halterin des Fahrzeugs, eine Ord-
nungsbusse von CHF 240 zu entrichten oder die Persona-
lien des Fahrers zu nennen.
Nachdem die Autovermietung die Adresse bekannt ge-
geben hatte, übermittelte die Kantonspolizei die Übertre-
tungsanzeige an Frau G. Da diese darauf nicht reagierte,
sandte die Kantonspolizei die Übertretungsanzeige erneut
an die Sixt rent-a-car AG. Per Strafbefehl wurde sie zur Be-
gleichung der Busse innert Frist aufgefordert. Dagegen er-
hob die Autovermieterin Einsprache.
Der Einzelrichter des Kantonsgerichts verurteilte die
Sixt rent-a-car AG als Fahrzeughalterin wegen einfacher
Verletzung der Verkehrsregeln zu einer Busse von CHF 240.
Das Obergericht des Kantons Appenzell Ausserrhoden wies
die Berufung der Autovermietung ab und verpichtete sie
ebenfalls zur Zahlung der Busse.
II. Aus den Erwägungen
«1.1. […] Die Beschwerdeführerin macht […] geltend, sie
hafte nicht für die Verkehrsregelverletzung, weil sie den
Strafverfolgungsbehörden Name und Adresse der Lenkerin,
die zum Zeitpunkt der Widerhandlung das Fahrzeug geführt
hatte, genannt habe. […] Sie habe mittels unterschriebenem
Mietvertrag nachgewiesen, dass das fragliche Fahrzeug im
Übertretungszeitpunkt an eine bestimmte Person vermietet
gewesen sei. Gemäss Vertrag sei nur diese befugt gewesen,
den Wagen zu fahren. […]
Schliesslich sei der Hinweis der Vorinstanz, der Auf-
wand eines Strafverfahrens gegen eine mutmassliche, in
den USA wohnhafte Täterin sei angesichts einer Busse von
Fr. 240.– unverhältnismässig, bundesrechtswidrig. […]
1.2. […] Die Vorinstanz begründet […], die blosse
Angabe einer möglichen Dritttäterschaft genüge für sich
genommen nicht, um die Täterschaft des formellen Hal-
ters auszuschliessen. […] Bei der Exkulpation nach Art. 6
Abs. 5 OBG gehe es um die Ermittlung derjenigen Person,
die das Fahrzeug zur fraglichen Zeit tatsächlich gelenkt
habe. Der Aufwand, welcher ein Strafverfahren gegen eine
mögliche Täterin, die in den USA Wohnsitz habe, mit sich
bringen würde, sei angesichts der Busse in der Höhe von
Fr. 240.– offensichtlich nicht verhältnismässig. […]
1.3/1.3.1. Die StPO regelt die Verfolgung und Beurtei-
lung der Straftaten nach Bundesrecht durch die Strafbe-
hörden des Bundes und der Kantone (Art. 1 Abs. 1 StPO).
Nach Art. 1 Abs. 2 StPO bleiben die Verfahrensvorschriften
anderer Bundesgesetze vorbehalten. […]
1.3.2. Der Grundsatz der Legalität ist in Art. 1 StGB
und Art. 7 EMRK ausdrücklich verankert. Er ist ver-
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worden ist […] und sie dies auch mit entsprechender Sorg-
falt nicht hätten verhindern können […].
Der vorinstanzliche Entscheid verletzt Bundesrecht.
Zweifellos darf es sich bei den von einem Halter gemach-
ten Angaben nach Art. 6 Abs. 4 OBG nicht um eine wenig
plausible Information handeln. Auch muss Name und Ad-
resse des Fahrzeugführers vollständig sein, d.h. der Halter
muss genügend Angaben zur Identität des Fahrzeugführers
machen, so dass dieser individualisierbar ist […]. Dass
vorliegend die Adresse der Fahrzeugführerin unvollstän-
dig gewesen wäre, stellt die Vorinstanz indessen nicht fest.
Die Beschwerdeführerin hat nicht nur Name und Adresse
der Fahrzeugführerin, die das Auto im fraglichen Zeitpunkt
gelenkt hat, den Strafverfolgungsbehörden gegenüber ge-
nannt, sondern darüber hinaus einen von der Fahrzeug-
führerin unterzeichneten Mietvertrag vorgelegt. Gemäss
Mietvertrag war es sodann die Fahrzeugführerin allein, die
den Wagen lenken durfte. Damit ist diese ermittelt und hät-
te das Verfahren gegen sie eingeleitet werden können. Mit
den vorgenannten Informationen hat die Beschwerdeführe-
rin die ihr obliegenden Pichten gemäss Art. 6 Abs. 4 OBG
erfüllt. Es trifft daher nicht zu, dass unter den vorliegenden
Umständen nicht festgestellt werden konnte, wer der fehl-
bare Fahrzeuglenker war. Dass die Mieterin das Fahrzeug
in Verletzung ihrer vertraglichen Pichten in diesem Zeit-
punkt einer dritten Person hätte überlassen haben können,
ist zwar nicht ganz auszuschliessen; dies muss sich die
Beschwerdeführerin als Halterin jedoch nicht anrechnen
lassen. Auch kann es angesichts des Wortlauts von Art. 6
Abs. 5 OBG nicht darauf ankommen, ob die Busse ge-
genüber einem Fahrzeugführer einbringlich ist oder nicht.
Der in Art. 6 OBG vorgesehene Einbruch in strafrechtliche
Grundsätze steht einer extensiven Auslegung dieser Be-
stimmung entgegen. Die Vorinstanz verletzt daher Bundes-
recht, wenn sie Art. 6 Abs. 5 OBG auf Fälle ausdehnt, in
welchen die Busse nicht oder nur mit unverhältnismässi-
gem Aufwand einbringlich ist.
2. […] Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. […]»
III. Anmerkungen
Die durch eine Revision des OBG eingeführte Halterhaf-
tung wird in den Kantonen bislang unterschiedlich interpre-
tiert und umgesetzt. Mit seiner aktuellen Rechtsprechung
trifft das Bundesgericht die für die Praxis wichtigen Leit-
planken zur Auslegung der neuen Bestimmungen.1 Die mit
1 Vgl. dazu die Urteilsbesprechung von steFan maeder, BGer
6B_252/2017: Keine Halterhaftung juristischer Personen für Ord-
nungsbussen, AJP 2018, 1411 ff., 1413. Im dort besprochenen BGer,
6B_252/2017, 20.6.2018, hat das Bundesgericht sich in grundsätzli-
der Halterhaftung aufgeworfenen Fragestellungen inter-
essieren auch mit Blick auf das Verhältnis zwischen dem
Ordnungsbussenverfahren und einem (späteren) Strafver-
fahren.
Nachfolgend wird einleitend der Charakter von Ord-
nungsbussenverfahren behandelt (III.A.). Im Anschluss
daran wird auf die – in der Literatur kontrovers diskutier-
te – Halterhaftung (III.B.) sowie den Übergang zum or-
dentlichen Strafverfahren (III.C.) und schliesslich auf wei-
terführende strafprozessuale Fragen (III.D.) eingegangen.
Schlussbemerkungen (III.E.) runden die Urteilsbespre-
chung ab.
A. Das Ordnungsbussenverfahren als erste
von drei «Spuren»
Die Verfahren zur Verfolgung von Stras senverkehrsdelikten
sind grundsätzlich «dreispurig».2 Je nach Verfahrensart be-
stehen unterschiedliche behördliche Zuständigkeiten sowie
allgemeine und konkrete Verfahrensbestimmungen. So ist
formell zwischen dem Administrativmassnahmenverfahren
(auf welches nachfolgend nicht näher eingegangen wird),
dem ordentlichen Strafverfahren und dem Ordnungsbus-
senverfahren zu unterscheiden. In konkreten Fällen können
die Verfahren Bezüge zueinander aufweisen. Dies ist insbe-
sondere dann der Fall, wenn ein Ordnungsbussenverfahren
in ein zeitlich nachgelagertes ordentliches Strafverfahren
mündet.
Das Ordnungsbussenverfahren kommt als «polizeili-
ches» Verfahren bei leichten Verkehrsregelverletzungen in-
frage3 und richtet sich nach dem OBG sowie der Ordnungs-
bussenverordnung vom 4. März 1996 (OBV; SR 741.031).4
Nach dem Ordnungsbussenverfahren können ausschliess-
lich die in der Bussenliste aufgeführten, schuldhaft began-
genen (zur mit der Halterhaftung geschaffenen Ausnahme5
später mehr) Übertretungen mit einer Busse von maximal
CHF 3006 geahndet werden (Art. 1 Abs. 2 OBG).7 Sind die
cher Weise mit der Halterhaftung für juristische Personen auseinan-
dergesetzt.
2 andreas eicKer/sonJa meier-manGo, Repetitorium Nebenstraf-
recht SVG und BetmG, Zürich 2016, 53.
3 Vgl. eicKer/meier-manGo (FN 2), 58.
4 Die Anwendung des (vereinfachten) Ordnungsbussenverfahrens für
Stras senverkehrsvorschriften des Bundes ist nicht zwingend (vgl.
Art. 1 Abs. 1 OBG) – eine Ordnungsbusse kann auch im ordentlichen
Strafverfahren ausgefällt werden (vgl. Art. 11 Abs. 1 OBG).
5 pHilippe WeissenBerGer, Kommentar Stras senverkehrsgesetz und
Ordnungsbussengesetz, 2. A., Zürich/St. Gallen 2015, 854.
6 Werden mehrere Ordnungsbussentatbestände erfüllt, darf die Summe
der Bussen CHF 600.– nicht übersteigen, andernfalls ndet das or-
dentliche Verfahren Anwendung (Art. 3a Abs. 2 OBG); vgl. Weis-
senBerGer (FN 5), 855 f., 858 und 862.
7 Weiterführend WeissenBerGer (FN 5), 854 ff.
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Voraussetzungen erfüllt und liegen keine Ausschlussgründe
nach Art. 2 OBG vor, ist – vorbehältlich der Zustimmung
der betroffenen Person – das Ordnungsbussenverfahren
zwingend anzuwenden.8 Es besteht somit ein Anspruch der
betroffenen Person auf Durchführung des Ordnungsbussen-
verfahrens.9
Die Rechtsprechung der kantonalen Gerichte lässt den
rechtlichen Charakter des Ordnungsbussenverfahrens und
der in diesem Verfahren ausgefällten Busse zuweilen of-
fen.10 Gemäss einem älteren Bundesgerichtsentscheid11
und nach wohl herrschender Lehre wird eine nach dem
Ordnungsbussenverfahren ausgesprochene Busse rechtlich
als Strafe qualiziert12 und ist das Ordnungsbussenver-
fahren ein Strafverfahren.13 Im vorliegenden Fall verweist
das Bundesgericht zwar auf das Verhältnis zwischen ei-
nem Verfahren nach StPO und einem solchen nach OBG
hin (E. 1.3.1) – es verzichtet aber auf eine weitergehende
Erörterung des rechtlichen Charakters des Ordnungsbus-
senverfahrens. Vielmehr tippt das Gericht eine zentrale
Problematik ohne weitere Herleitung direkt an: Es weist
nämlich richtigerweise14 darauf hin, dass die «strafrechtli-
chen Grundsätze» auch auf Ordnungsbussen(-Verfahren)
Anwendung nden;15 mit der Schaffung der Halterhaftung
8 WeissenBerGer (FN 5), 853 f. (m.w.H. auf die Rechtsprechung des
BGer).
9 Dies, obwohl Art. 1 Abs. 1 OBG als Kann-Bestimmung formuliert
ist; vgl. zur Auslegung WeissenBerGer (FN 5), 853 und 858.
10 In der Lehre wird teilweise diskutiert, ob es sich bei der Halterhaf-
tung um eine Ordnungsbusse mit Strafcharakter oder um einen
«Preis» respektive eine «Benutzungsgebühr» handle; vgl. weiterfüh-
rend Florence m. roBert, Werkstattgespräche, Stras senverkehr
2014, 33 ff., 36, sowie eingehend steFan maeder, Sicherheit durch
Gebühren?, AJP 2014, 679 ff., 687 ff., sowie ders., Wiederlegba-
re Täterschaftsvermutung im Strafrecht? Eine kritische Anmerkung
mit steuerrechtlichem Trostpaster zu BGer, 6B_1007/2016 und der
«strafrechtlichen» Halterhaftung nach Art. 6 OBG, ContraLegem
2018, 67 ff., 70.
11 BGE 115 IV 137 E. 2b, 138.
12 Vgl. marKus H.F. moHler, Anmerkungen zur vorgeschlagenen
Revision des Ordnungsbussengesetzes, Jusletter vom 10.8.2015,
N 16 (m.w.H.), sowie maeder (FN 10), ContraLegem 2018, 68.
13 Botschaft vom 20. Oktober 2010 zu Via sicura, Handlungsprogramm
des Bundes für mehr Sicherheit im Stras senverkehr, BBl 2010
8447 ff. (zit. Botschaft Via sicura), 8486.
14 Nach hier vertretener Ansicht sind im OBG-Verfahren die entspre-
chenden strafrechtlichen Grundsätze zu berücksichtigen; dazu auch
ausdrücklich die Botschaft Via sicura (FN 13), 8486: «Das Ordnungs-
bussenverfahren nach dem Ordnungsbussengesetz […] ist ein Straf-
verfahren, mit dem Bagatellwiderhandlungen im Stras senverkehr
ohne grossen Aufwand erledigt werden können. Da Ordnungsbussen
für Übertretungen im Sinn von Artikel 103 StGB verhängt werden,
nden auch die entsprechenden strafrechtlichen Grundsätze Anwen-
dung.» Eine Ausnahme besteht grundsätzlich für die Strafzumessung;
vgl. WeissenBerGer (FN 5), 857.
15 Dazu gehören etwa das Verschuldensprinzip sowie der Grundsatz der
Unschuldsvermutung; vgl. WeissenBerGer (FN 5), Art. 6 OBG N 9.
solle aber «von einem dieser Grundsätze abgewichen wer-
den» (vgl. oben II., E. 1.4).16
Als «Sonderstrafverfahren» ist das Ordnungsbussenver-
fahren geprägt von den Elementen «Einfachheit, Schnellig-
keit und Spurenlosigkeit sowie Gebührenfreiheit»17 (vgl.
auch Art. 1, 7 und 11 OBG). Es ist aus dem Bedürfnis der
Praxis entstanden, massenweise begangene und meist leicht
feststellbare Übertretungen des Stras senverkehrsrechts in
einem vereinfachten Verfahren weitgehend ohne Beurtei-
lungsspielraum der erkennenden Behörde zu ahnden.18 Das
Ordnungsbussenverfahren trägt der «Geringfügigkeit» – re-
spektive dem geringen «Erfolgsunwert» – der geahndeten
Delikte Rechnung. Sowohl für die Behörden als auch für
die Beschuldigten kann das vereinfachte Verfahren respek-
tive die «spurenlose»19 Abwicklung mit einer Ordnungs-
busse von Vorteil sein.20 Nach Art. 5 Abs. 1 OBG muss der
Fahrzeugführer «anlässlich einer Widerhandlung identi-
ziert» werden – sprich: Er wird von den zuständigen Behör-
den optimalerweise unmittelbar angehalten und die Busse
nach OBG wird ihm auf Platz eröffnet und sofort eingezo-
gen (Abs. 2).21 Bei eindeutigem Sachverhalt werden sich
kaum Verfahrensfragen stellen (respektive lohnt es sich
nicht, sie aufzuwerfen).
Der Qualikation einer Ordnungsbusse als Strafe tut es
keinen Abbruch, dass das Verfahren von der Mitwirkung
der betroffenen Person bzw. von deren Zustimmung ab-
hängig ist (Art. 10 Abs. 1 OBG).22 Wird das vereinfachte
Verfahren abgelehnt, kommen das ordentliche Strafrecht
und die für Übertretungen geltenden kantonalen Zuständig-
keits- und Verfahrensvorschriften zur Anwendung (Art. 10
Abs. 2 OBG) bzw. wird die Übertretung im ordentlichen
16 Ein ordentliches Strafverfahren bleibt indes vorbehalten (vgl. dazu
unten III.D.).
17 eicKer/meier-manGo (FN 2), 58; vgl. auch andré Bussy/Bap-
tiste rusconi/yvan Jeanneret/andré KuHn/cédric mizel/
cHristopH müller, Code suisse de la circulation routière commen-
té, 4. A., Basel 2015, Art. 1 LAO N 1.1. Zur Einfachheit und Kosten-
freiheit vgl. BGE 121 IV 375 E. 1a, 376 f.
18 Vgl. WeissenBerGer (FN 5), 853.
19 Vgl. WeissenBerGer (FN 5), Art. 5 OBG N 2.
20 Nach BGE 115 IV 137 E. 2b (m.H. auf die Botschaft zum OBG) wird
die Zulässigkeit eines Ordnungsbussenverfahrens «damit begründet,
dass man es bei den in Betracht kommenden Tatbeständen durchwegs
mit einem problemlosen Verschulden zu tun habe, das weitgehend im
objektiven Sachverhalt zum Ausdruck komme; bei diesen Fällen er-
übrige es sich durchwegs, näher auf das Verschulden einzugehen».
21 Vgl. WeissenBerGer (FN 5), Art. 5 OBG N 7.
22 «Die Polizeiorgane sind verpichtet, dem Täter mitzuteilen, dass er
das Ordnungsbussenverfahren ablehnen kann» (Art. 10 Abs. 1 OBG);
weiterführend WeissenBerGer (FN 5), 857 und 885 f., sowie zur
Abwicklung insbesondere Bussy et al. (Fn 17), Art. 5 LAO N 2.1.
Buch_AJP_12_2018.indb 1571 03.12.18 10:00
Reto Patrick Müller
AJP/PJA 12/2018
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Verfahren beurteilt (Art. 3a Abs. 2 OBG).23 Im ordentlichen
Verfahren können dann auch die grundrechtlichen Garanti-
en gemäss der EMRK eingehalten werden.24 Aufgrund des
Zustimmungs- bzw. Mitwirkungserfordernisses erscheint
das Ordnungsbussenverfahren grundsätzlich mit dem Recht
auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK vereinbar.25 Das
Bundesgericht geht im vorliegenden Urteil im Zusammen-
hang mit dem Legalitätsprinzip respektive mit dem Begriff
der Strafe auf Art. 7 und Art. 6 Abs. 1 EMRK ein.26 Die
kurzen Ausführungen zur Menschenrechtskonvention sind
ebenso wenig neu wie entscheidtragend.27
Der Spurwechsel zum ordentlichen Verfahren wird zu-
dem dann eingeleitet, wenn der identizierte Fahrzeugfüh-
rer die Busse nicht fristgerecht bezahlt (Art. 5 Abs. 1 und
Abs. 3 OBG) oder seine Täterschaft mittels Einsprache be-
streitet bzw. den wahren Täter nennt.28
B. Die Halterhaftung
1. Grundkonstellation: Haftung des Halters
bei unbekannter Täterschaft
Die Halterhaftung ist im Zuge der Via-sicura-Vorlage ge-
schaffen worden.29 Sie ist am 1. Januar 2014 in Kraft ge-
treten30 und bildet einen Spezialfall innerhalb des OBG.31
Die neue Norm (Art. 6 OBG) hält den Tatbestand und eine
erste Rechtsfolge in zwei Sätzen kurz und bündig fest: «Ist
nicht bekannt, wer eine Widerhandlung begangen hat, so
23 Vgl. auch Bussy et al. (Fn 17), Art. 5 LAO N 2.1 (in ne m.H. auf
das Verfahren nach Art. 6 OBG).
24 Erläuternder Bericht zum Vorentwurf zur Totalrevision des Ord-
nungsbussengesetzes (Umsetzung der Motion Frick 10.3747. Erwei-
terung des Ordnungsbussensystems zur Entlastung der Strafbehörden
und der Bürgerinnen und Bürger), 14.
25 WeissenBerGer (FN 5), 856. Zur Einwilligung als Ersatz ei-
ner gesetzlichen Grundlage für Eingriffe in Grundrech-
te vgl. marKus scHeFer, Die Beeinträchtigung von Grund-
rechten, Zur Dogmatik von Art. 36 BV, Bern 2006, 70 ff.
Zur Bedeutung der Unschuldsvermutung nach Art. 32 Abs. 1 BV
und Art. 6 Abs. 2 EMRK bei der Halterhaftung vgl. nun BGer,
6B_252/2017, 20.6.2018, E. 1.2, wonach die Halterhaftung nach
Art. 6 OBG konventionskonform sei; mit Bezug darauf auch mae-
der (FN 1), AJP 2018, 1414.
26 Ebenso BGer, 6B_252/2017, 20.6.2018, E. 3.1.2.
27 Eine vertieftere Auseinandersetzung über das Verhältnis des OBG zu
den Verfahrensgrundrechten der EMRK hätte interessant sein kön-
nen.
28 WeissenBerGer (FN 5), 856 und Art. 6 OBG N 6.
29 Vgl. Botschaft Via sicura (FN 13), passim, oder aus der Literatur
etwa yvan Jeanneret, Via sicura: le nouvel arsenal pénal, Stras-
senverkehr 2013, 31 ff., passim.
30 AS 2012 6291, 6318 (Gesetzestext), AS 2013 4669 (Inkrafttreten).
31 Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Halterhaftung auch etwa Weis-
senBerGer (FN 5), Art. 5 OBG N 1 sowie Art. 6 OBG N 1; Jean-
neret (FN 29), 51 f.; delpHine zurn, L’imputabilité de l’amande
d’ordre au détenteur du véhicule, Stras senverkehr 2017, 36 ff., 36 f.
wird die Busse dem im Fahrzeugausweis eingetragenen
Fahrzeughalter auferlegt» (Abs. 1); «[d]em Halter wird
die Busse schriftlich eröffnet. Er kann sie innert 30 Tagen
bezahlen» (Abs. 2). Damit zeichnet sich auch die Halter-
haftung grundsätzlich durch eine hohe Efzienz und unter
Umständen sogar vollständige Spurenlosigkeit aus.32
Der gültige Normtext entspricht vollständig dem Wort-
laut des bundesrätlichen Entwurfs.33 Soweit die Via-sicu-
ra-Vorlage die Revision des OBG betraf, wurde sie in den
Räten nicht weiter erläutert oder thematisiert.34 Indes stösst
die Novelle in der Literatur wohl überwiegend auf Kritik.35
Denn mit der Halterhaftung soll «nicht mehr ausschliess-
lich die Person bestraft werden […], welche die Wider-
handlung begangen hat, sondern der Fahrzeughalter oder
die Fahrzeughalterin […], falls der Täter oder die Täterin
der Polizei nicht bekannt ist».36 Kann also die Identität der
betroffenen Person nicht während oder unmittelbar nach
der Übertretung durch die Polizeiorgane festgestellt werden
(vgl. oben III.A.), gelangt Art. 6 OBG zur Anwendung.37
Der Anknüpfungspunkt für die Strafe wäre insoweit
nicht das Verschulden einer Person, sondern die formel-
le Haltereigenschaft38 bzw. «ein formeller Bezug zum
Tatwerkzeug»39. Dies hat das Bundesgericht in seiner
früheren Rechtsprechung gerade abgelehnt.40 Die Hal-
32 Nämlich dann, wenn die Halterin die Busse anstelle des wahren Tä-
ters begleicht und diesen nicht belangt respektive nicht mehr belan-
gen kann.
33 Entwurf Stras senverkehrsgesetz (Via sicura), BBl 2010 8531 ff.,
8558 f.
34 Es ist einzig ein Votum zu nden, in welchem Nationalrat Giezendan-
ner bezweifelt, ob die Halterhaftung dazu geeignet sei, die Sicherheit
im Stras senverkehr zu erhöhen, AB 2011 N 2119.
35 maeder (FN 10), AJP 2014, insb. 684 ff.; marcel alexander
niGGli/steFan maeder, Verwaltungsstrafrecht, Strafrecht und
Strafprozessrecht – Grundprobleme, in: Andreas Eicker (Hrsg.), Ak-
tuelle Herausforderungen für die Praxis im Verwaltungsstrafverfah-
ren, Bern 2013, 27 ff.; WolFGanG WoHlers, Stras senverkehr 2015,
5 ff., 11 ff. (m.H. auch auf die europäische Entwicklung sowie die
Rechtsprechung des EGMR); roBert (FN 10), 35 f.; unkritisch ge-
genüber der Halterhaftung JürG Boll, Verkehrsstrafrecht nach der
Via sicura, Stras senverkehr 2014, 5 ff., 13 f. (m.H. auf die Gesetzes-
materialien sowie – wenig überzeugend – auf die Vernehmlassung).
36 Botschaft Via sicura (FN 13), 8486.
37 WeissenBerGer (FN 5), Art. 6 OBG N 2.
38 maeder (FN 10), AJP 2014, 683.
39 pHilippe WeissenBerGer, Reformpaket «Via sicura»: Wichtigs-
te Neuerungen und Anwendungsprobleme, in: René Schaffhauser
(Hrsg.), Jahrbuch zum Stras senverkehrsrecht 2012, 417 ff., 429.
40 BGE 115 IV 137 E. 2c (m.H. auf BGE 102 IV 256 E. 2): «Die un-
geschmälerte Geltung der allgemeinen strafrechtlichen Grundsätze
führt dazu, dass nur der Täter bzw. der Teilnehmer der Widerhand-
lung strafbar ist, nicht aber der Fahrzeughalter an dessen Stelle; es
geht deshalb nicht an, jemanden ausschliesslich in seiner Eigenschaft
als Halter des von der Radaranlage erfassten Fahrzeuges zur Rechen-
schaft zu ziehen und zu büssen.»
Buch_AJP_12_2018.indb 1572 03.12.18 10:00
Entscheidbesprechungen/Discussions d’arrêts actuels
AJP/PJA 12/2018
1573
terhaftung führt zu einem «eklatanten Bruch mit dem
Schuldgrundsatz»,41 da der Zweck einer vereinfachten Ahn-
dung von Übertretungen im Stras senverkehr in keinem Ver-
hältnis zur Aushebelung von elementaren Grundsätzen des
Strafrechts steht.42
Eine Stossrichtung der Halterhaftung liegt darin, eine
Fahrzeughalterin dann zu belangen, wenn sie bei Vorlie-
gen eines relevanten Sachverhalts nicht mit den zuständi-
gen Behörden kooperiert. Dabei scheint es – angesichts des
Bagatellcharakters der Ordnungsbusse – unerheblich, ob
die Halterin die Lenkperson nicht melden kann43 oder nicht
melden will44.
Bei schriftlicher Eröffnung der Busse (Art. 6 Abs. 2
OBG) hat die Fahrzeughalterin (vgl. oben II., E. 1.4), wel-
che eine natürliche oder eine juristische Person sein kann,45
grundsätzlich folgende Möglichkeiten:
1. Sie kann die Busse bezahlen, womit sie die (allenfalls
fremde) Verfehlung als eigene anerkennt und das Ver-
fahren gleichzeitig abgeschlossen wird.46 Sollte sie
keine Tätereigenschaft aufweisen, obliegt es ihr, den
Betrag beim «wahren» Täter einzufordern oder zum
eigenen Schaden darauf zu verzichten.47 Da die Busse
formell an die Haltereigenschaft anknüpft und nicht an
den Nachweis der Übertretungstäterschaft, begeht der
wirkliche fehlbare Fahrzeugführer bei der Bezahlung
keine strafbare Begünstigung.48
2. Die Halterin kann den Strafverfolgungsbehörden mittels
Einsprache den Namen und die Adresse des Fahrzeug-
führers nennen, der zum Zeitpunkt der Widerhandlung
das Fahrzeug gefahren hat.49 Dann wird gegen diesen
das Ordnungsbussenverfahren nach den Absätzen 2
und 3 eingeleitet (Art. 6 Abs. 4 Teilsatz 2 OBG).
41 WoHlers (FN 35), 14.
42 Vgl. WoHlers (FN 35), 14 f.
43 Beispielsweise dann, wenn verschiedene Personen in einer Unterneh-
mung Fahrzeuge verwenden können und darüber keine Rechenschaft
verlangt wird.
44 Beispielweise, um sich selbst oder Familienangehörige nicht zu be-
lasten.
45 Aus der Literatur etwa Boll (FN 35), 14.
46 Zu Recht kritisch zurn (FN 31), 45 (m.w.H.); vgl. auch Weissen-
BerGer (FN 5), Art. 6 OBG N 3, oder maeder (FN 10), AJP 2014,
683.
47 Botschaft Via sicura (FN 13), 8487. Es liegt dann im Risiko der Emp-
fängerin, in dieser Konstellation die Busse dem fehlbaren Fahrzeug-
führer weiterzureichen, damit dieser sie während der laufenden Frist
bezahlen möge.
48 WeissenBerGer (FN 5), Art. 6 OBG N 3.
49 Art. 6 Abs. 4 Teilsatz 1 OBG; WeissenBerGer (FN 5), Art. 6 OBG
N 6, sowie ders. (FN 39), 430.
3. Schliesslich kann die Halterin die Widerhandlung be-
streiten, ohne einen Täter zu nennen.50 In diesem Fall
ist nach dem Gesetzeswortlaut «nicht bekannt» (Art. 6
Abs. 1 OBG), wer die tatsächliche Lenkperson gewesen
ist. Im vereinfachten Ordnungsbussenverfahren spielt
dies vorderhand auch keine Rolle (Abs. 2).51 Damit er-
füllt die Halterin genau jene tatbestandlichen Merkma-
le, welche den Gesetzgeber zur Einführung der Halter-
haftung veranlasst haben.52 Bezahlt sie (oder der wahre
fehlbare Fahrzeugführer) die Busse nicht fristgerecht,
wird das ordentliche Strafverfahren gegen die Halterin
eingeleitet (Art. 6 Abs. 3 OBG).
Im vorliegenden Fall stehen die zweite Möglichkeit und
insbesondere die Anforderungen an eine mögliche Exkul-
pation im Vordergrund. Der bundesgerichtliche Entscheid
dürfte hinsichtlich der Exkulpationsmöglichkeit einen weg-
weisenden Charakter haben.53
2. Möglichkeit zur Exkulpation mittels Einsprache
a. Im Allgemeinen
Obwohl der Wortlaut von Art. 6 Abs. 4 OBG eng erscheint
(«Nennt der Halter Name und Adresse des Fahrzeugfüh-
rers, der zum Zeitpunkt der Widerhandlung das Fahrzeug
geführt hat […]»),54 ist darunter auch die Konstellation zu
subsumieren, dass die Halterin den tatsächlichen Fahrzeug-
führer bekannt gibt oder zumindest darlegt, wer zum frag-
lichen Zeitpunkt Zugang zum deliktrelevanten Fahrzeug
hatte.55
Gemäss der Botschaft Via sicura statuiert Art. 6 Abs. 1
OBG (vgl. oben III.B.1.) eine Vermutung der Täterschaft
des Fahrzeughalters, welche mit der Nennung des Fahr-
zeugführers als widerlegt gilt.56 Das Verfahren wird dann
50 maeder (FN 10), AJP 2014, 683.
51 Insofern stellt die Halterhaftung nach Art. 6 Abs. 1 OBG dem Grund-
satz nach eine Kausalhaftung dar; vgl. niGGli/maeder (FN 35), 42
(m.H. auf die Unvereinbarkeit mit den Schuldprinzip).
52 Vgl. die Botschaft Via sicura (FN 13), 8486 f.
53 Dass das hier besprochene Urteil nicht zur Publikation vorgesehen
ist, steht dem nicht entgegen – sondern stellt m.E. ein Beispiel für die
nicht immer schlüssige Publikationspraxis des Bundesgerichts dar.
54 In der französischen (und sinngemäss in der italienischen) Fas-
sung lautet dieser Teil der Norm «Si le détenteur indique le nom
et l’adresse du conducteur du véhicule au moment de l’infraction»
(Hervorhebung hinzugefügt) und weicht damit vom Normwortlaut in
der deutschen Fassung ab; vgl. hierzu Bussy et al. (Fn 17), Art. 6
LAO, Ziff. 3 («il ne faut pas suivre la lettre […]»).
55 WeissenBerGer (FN 5), Art. 6 OBG N 6.
56 Botschaft Via sicura (FN 13), 8517; ebenso WeissenBerGer (FN 5),
Art. 6 OBG N 6; anderer Ansicht maeder (FN 1), AJP 2018, 1415
(m.w.H.).
Buch_AJP_12_2018.indb 1573 03.12.18 10:00
Reto Patrick Müller
AJP/PJA 12/2018
1574
gegen Letzteren eingeleitet (so im vorliegenden Fall).57
Hinweise auf eine «Solidarität» zwischen der Halterin und
dem tatsächlichen Fahrzeugführer lassen sich dem Gesetz
nicht entnehmen; eine solche stünde auch in manifestem
Widerspruch insbesondere zum Täterprinzip.58 Bei der Er-
öffnung der Exkulpationsmöglichkeit handelt es sich daher
nicht etwa um ein Versehen oder eine Ungeschicklichkeit,
sondern um einen bewussten – und im Übrigen auch gebo-
tenen – Entscheid des Gesetzgebers.59
Im vorliegenden Fall anerkennt das Bundesgericht nicht
nur die Möglichkeit zur Exkulpation der Halterin,60 es cha-
rakterisiert die Weitergabe der Lenkerdaten sogar als Picht
(E. 1.5). In seinen Erwägungen stellt das Bundesgericht
auf das Verhältnis zwischen Art. 6 Abs. 1 (Vermutung) und
Abs. 4 (Exkulpation) OBG ab. Eine andere, vom kantona-
len Obergericht noch geschützte Argumentation geht dem-
gegenüber davon aus, dass bei der Halterhaftung einzig auf
einen formellen Halterbegriff (Art. 6 Abs. 1 OBG) abzu-
stellen und «der faktische Halter nicht von Relevanz» sei
(vgl. oben II., E. 1.2).61 Demgegenüber unterscheidet das
Bundesgericht konsequent zwischen der Halterin und dem
Fahrzeugführer (den es Lenker nennt). Die Vorinstanz hat
m.E. mit der offenbar angestrebten Fiktion von zwei «Hal-
tern» sowohl den Sachverhalt missachtet als auch die ge-
setzliche Regelung falsch ausgelegt (vgl. die Terminologie
von Art. 6 OBG: «Halter»/«Fahrzeugführer»).
Das Obergericht wollte darüber hinaus die «blosse
Angabe einer möglichen Dritttäterschaft für sich genom-
men» nicht genügen lassen, um die Täterschaft der Halte-
rin auszuschliessen (vgl. oben II., E. 1.2). Auch in diesem
Punkt erscheint der korrigierende Eingriff des Bundesge-
richts m.E. sowohl gesetzes- als auch lebensnah: Mit der
57 Botschaft Via sicura (FN 13), 8517; WeissenBerGer (FN 5), Art. 6
OBG N 6; kritisch WeissenBerGer (FN 39), 430 f.
58 maeder (FN 10), AJP 2014, 685 ff.
59 Auch gemäss der Botschaft Via sicura (FN 13), 8517, bildet die Nen-
nung des tatsächlichen Fahrzeugführers eine Alternative, welche
«die Vermutung der Täterschaft von Absatz 1 […] widerleg[t]. Dann
richtet sich ab diesem Zeitpunkt das Verfahren gegen diese Person.»
Fraglich ist allerdings, ob Art. 6 Abs. 1 OBG wirklich eine Vermu-
tung der Lenkereigenschaft bei der Fahrzeughalterin im Rechtssinne
darstellt. Diese Vermutung würde sich letztlich aus der Herrschaft
über ein Fahrzeug ableiten.
60 Ebenso BGer, 6B_252/2017, 20.6.2018, E. 1.3.1; kurioserweise fragt
das Bundesgericht dort auch danach, ob es dem Fahrzeughalter zu-
zumuten sei, «die Identität dessen zu kennen, dem er sein Fahrzeug
anvertraut».
61 In BGer, 6B_252/2017, 20.6.2018, E. 1.3.1, hält das Bundesgericht
mit Hinweis auf die Botschaft Via sicura fest, dass es dem Gesetz-
geber darum gegangen sei, «die Verantwortung des Fahrzeughalters
zu stärken und die Behörden von aufwändiger, unverhältnismässiger
Ermittlungsarbeit im Bereich ausgesprochener Bagatelldelikte […]
zu entlasten».
Angabe des Namens und der Adresse des Fahrzeugführers
werden die Erfordernisse von Art. 6 Abs. 4 OBG erfüllt,
sofern diese Angaben vollständig sind und plausibel er-
scheinen (vgl. oben II., E. 1.5). Zu Recht weist das Bun-
desgericht dabei auf die Feststellbarkeit der «fehlbare[n]
Fahrzeuglenker[in]» hin. Denn auch die Ordnungsbusse
ist eine an das Verschulden anknüpfende Strafe (vgl. oben
III.B.1.).62 Natürlich ist es für die Strafverfolgungsbehör-
den einfacher, mittels des Instruments der Halterhaftung
eine juristische Person zu belangen und bei dieser eine
Busse (efzient und unkompliziert) einzutreiben – darum
kann es aber nicht gehen.
b. Zur Bedeutung eines Mietvertrages
Im vorliegenden Fall waren die Angaben zur Fahrzeug-
führerin auf einem von ihr unterzeichneten Mietvertrag
aufgeführt. Die Vorinstanz(en) hatte(n) selbst den gültigen
Vertrag zur Exkulpation nicht gelten lassen wollen. Aus
den Ausführungen des Bundesgerichts kann hingegen ge-
schlossen werden, dass es eines Mietvertrages gar nicht
bedurft hätte: Mit Bezug auf die Angabe der Daten zur
Fahrzeugführerin stellt es nämlich fest, die Fahrzeughalte-
rin habe «darüber hinaus einen von der Fahrzeugführerin
unterzeichneten Mietvertrag vorgelegt» (Hervorhebung
hinzugefügt).63
Der bundesgerichtliche Hinweis erscheint m.E. bereits
an dieser Stelle berechtigt, selbst wenn der Mietvertrag ei-
gentlich erst mit Blick auf die Sorgfaltspicht nach Art. 6
Abs. 5 OBG64 respektive im Zusammenhang mit einem
erfolgten Spurwechsel relevant werden würde. Der Miet-
vertrag führt zur Vermutung der Fahrzeugführerschaft bei
der Mieterin, enthält er doch eine (vom Bundesgericht an-
erkannte; vgl. E. 1.5) vertragliche Klausel zum Ausschluss
von Drittlenkern. Damit hat die Fahrzeughalterin die
rechtswidrige Verwendung ihres Fahrzeuges im Rahmen
der ihr zur Verfügung stehenden rechtlichen Möglichkeiten
verhindern wollen.
c. Zur Bedeutung des Wohnsitzes im Ausland
Im vorliegenden Fall hatte die Fahrzeugführerin ihren Wohn-
sitz im Ausland. Bei «Auslandsbezügen» könnte die Ein-
fachheit und Efzienz des OBG-Verfahrens angezweifelt
62 Wohl darum zweifelt maeder (FN 1), AJP 2018, 1416, daran, dass
das OBG keine «strafbewehrte Picht» (im Sinne von Art. 1 StGB)
enthalte, «als Halter jederzeit Auskunft über den Fahrer seines Autos
geben zu können».
63 Zum Fahren eines fremden Fahrzeugs bedarf es keines Mietvertrages.
64 Offenbar anderer Ansicht maeder (FN 1), AJP 2018, 1415, wonach
die Halterhaftung nach dem Gesetzeswortlaut keine Verletzung einer
Picht oder Obliegenheit voraussetze, sondern bloss darauf abstelle,
dass der Halter den fehlbaren Lenker nicht nenne.
Buch_AJP_12_2018.indb 1574 03.12.18 10:00
Entscheidbesprechungen/Discussions d’arrêts actuels
AJP/PJA 12/2018
1575
werden. Ein sofortiges Einschwenken auf die Halterhaftung
würde dann den Fahrzeughaltenden die im Gesetz vorge-
sehene Möglichkeit der Nennung des Fahrzeugführers im
Ergebnis verweigern – und dies gerade im erstrebenswer-
ten Fall, dass die Fahrzeughalterin sorgfältig gehandelt hat
und die fehlbare (schuldige) Täterschaft benennt. Bei einem
schematischen Abstellen auf die Haftung der Fahrzeughalte-
rin bei «Auslandsbezügen» würde die Vermutung nach Art. 6
Abs. 1 OBG zur Fiktion erhoben. Eine Fiktion lässt sich dem
OBG m.E. jedoch selbst für diese Konstellation nicht entneh-
men und auch methodenpluralistisch kaum hinbiegen.
Die Zustellung der Bussenverfügung ins Ausland darf
nicht per se ausgeschlossen werden. Zumal es nicht un-
verhältnismässig erscheint (Art. 6 Abs. 5 OBG; vgl. dazu
sogleich), einen dafür vorgesehenen Verfahrensweg zu be-
schreiten. Es könnte sogar einem pichtwidrigen Unterlas-
sen entsprechen, wenn eine Behörde auf diesen Weg (frei-
willig) verzichtet. Sowieso bezieht sich Art. 6 Abs. 5 OBG
auf die Ermittlung des Fahrzeugführers (und nicht etwa auf
den Aufwand, welcher mit dem Eintreiben einer Busse ver-
bunden ist). Sehr knapp, aber ganz zu Recht weist das Bun-
desgericht darauf hin, dass es nicht darauf ankommt, dass
eine Busse gegenüber einem Fahrzeugführer einbringlich
ist oder nicht (vgl. oben II., E. 1.5 in ne).
C. Übergang zum ordentlichen Strafverfahren
Gemäss dem Bundesgericht betrifft Art. 6 Abs. 5 OBG den
Fall, in welchem die Fahrzeugführerschaft nicht ermittelt
werden kann (vgl. oben II., E. 1.5). Damit folgt «Lausanne»
m.E. zu Recht dem Wortlaut der Bestimmung. Kann näm-
lich «mit verhältnismässigem Aufwand nicht festgestellt
werden, wer der Fahrzeugführer ist, so ist die Busse vom
Halter zu bezahlen, es sei denn, er macht im ordentlichen
Strafverfahren glaubhaft, dass das Fahrzeug gegen seinen
Willen benutzt wurde und er dies trotz entsprechender
Sorgfalt nicht verhindern konnte».65
Die Auslegung dieser Norm erscheint nicht ganz ein-
fach.66 Der Grund liegt darin, dass sie sowohl in einem
Spannungsverhältnis zur Exkulpationsmöglichkeit (vgl.
oben III.B.2.) steht als auch den verfahrensmässigen «Spur-
wechsel» (vgl. oben III.A.) einleitet.67
65 Insofern darf m.E. auch Art. 6 Abs. 1 OBG («dem im Fahrzeugaus-
weis eingetragenen Fahrzeughalter auferlegt») nicht zu eng interpre-
tiert werden.
66 Kritisch etwa niGGli/maeder (FN 35), 36 f.; WeissenBerGer
(FN 5), Art. 6 OBG N 7 ff., oder Bussy et al. (Fn 17), Art. 6 LAO
N 4.
67 Daher wäre es m.E. völlig unhaltbar, das ordentliche Strafverfahren
in jenen Fällen ausschliessen zu wollen, in welchem zuerst in ein
OBG-Verfahren eingespurt worden ist.
1. Verhältnismässigkeit des Aufwands nach OBG
Art. 6 Abs. 5 OBG trägt m.E. einen Abgrenzungs- respek-
tive Verweischarakter. Einen Abgrenzungscharakter, indem
das Ordnungsbussenverfahren einfach und efzient bleiben
soll. Nach der systematischen Auslegung bezieht sich die
Norm auf den vorangehenden Absatz. Die Verhältnismäs-
sigkeit des Aufwands zur Feststellung des tatsächlichen
Fahrzeugführers – was insbesondere dann relevant wird,
wenn es sich bei der Fahrzeughalterin um eine juristische
Person handelt – stellt sich erst, wenn die Fahrzeughalte-
rin nicht kooperiert; wenn sie also «Name und Adresse des
Fahrzeugführers» nicht nennt oder nicht nennen kann.68 So-
fern sich der wahre Täter von den Behörden nicht mit ver-
hältnismässigem Aufwand ermitteln lässt, ist die Ordnungs-
busse von der Fahrzeughalterin zu entrichten.69
Bestreitet die behördlich belangte Halterin, die Wider-
handlung begangen zu haben, ohne den tatsächlichen Fahr-
zeugführer zu nennen, schliesst dies weitere Ermittlungen
der Behörden nicht aus. Die polizeiliche Ermittlungsarbeit
soll aber in einem «vernünftigen Verhältnis zu der zu erwar-
tenden Höhe der Busse» stehen.70
Im vorliegenden Fall weist das Bundesgericht bereits im
Zusammenhang mit der Exkulpationsmöglichkeit der Hal-
terin nach Art. 6 Abs. 4 OBG auf einen Mietvertrag hin (vgl.
oben II., E. 1.5, sowie die Anmerkungen unter III.B.2.b.).
Einer Anwendung von Art. 6 Abs. 5 OBG steht der Um-
stand entgegen, dass die Fahrzeughalterin die tatsächliche
Fahrzeugführerin mit Namen und Adresse genannt hat. Da-
mit stellen sich Fragen der «Verhältnismässigkeit» des Auf-
wands zur Feststellung der tatsächlichen Lenkperson von
vornherein nicht.
Zu beachten gilt es aber, dass die Fahrzeughalterin im
ordentlichen Verfahren die Einwendung der Benutzung des
Fahrzeuges gegen ihren Willen trotz genügender Sorgfalt
vorbringen könnte. Der tatsächliche Fahrzeugführer bleibt
in diesem Fall vorerst unbekannt, doch kann sich die Hal-
terin im ordentlichen Strafverfahren im Grundsatz gleich-
wohl «exkulpieren».71 Insoweit ist die Bestimmung nach
68 Botschaft Via sicura (FN 13), 8517.
69 maeder (FN 10), AJP 2014, 683.
70 Botschaft Via sicura (FN 13), 8487.
71 Botschaft Via sicura (FN 13), 8487: «Die Fahrzeughalter und -halte-
rinnen haben im ordentlichen Strafverfahren die Möglichkeit, Name
und Adresse des tatsächlichen Fahrzeugführers oder der tatsächlichen
Fahrzeugführerin zu nennen oder genügend Angaben zu seiner oder
ihrer Identität zu machen, so dass er oder sie individualisierbar ist.
Selbstverständlich müssen die Halter und Halterinnen nicht bezahlen,
wenn sie glaubhaft machen können, dass das Fahrzeug gegen ihren
Willen benutzt wurde und sie dies trotz entsprechender Sorgfalt nicht
verhindern konnten, also zum Beispiel dann, wenn das Fahrzeug ge-
stohlen wurde.»
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Reto Patrick Müller
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1576
Art. 6 Abs. 5 OBG wohl deklarativer Natur; das ordentliche
Verfahren wird sich nach der StPO und deren Grundsät-
zen – und gerade nicht nach dem OBG – richten. Der Gel-
tungsbereich des OBG bezieht sich m.E. einzig auf das ver-
einfachte Ordnungsbussenverfahren – und nicht gleichsam
auch auf ein allfälliges nachgelagertes ordentliches Straf-
verfahren. Entsprechend bezieht sich auch eine allfällige
«Beweislastumkehr» zuungunsten der formellen Fahrzeug-
halterin einzig auf das Ordnungsbussenverfahren (welches
damit potenziell efzient und spurenlos bleibt).
2. Einsprache oder Nichtbezahlen der Ordnungs-
busse
Ein Ordnungsbussenverfahren setzt die Zustimmung der
betroffenen Person voraus (vgl. oben III.A.). Erhebt die
Fahrzeughalterin Einsprache gegen eine Bussenverfügung,
so ist dies als Weigerung der Bezahlung der Busse respek-
tive als Abstreiten der Täterschaft bzw. Schuld der Halte-
rin im Sinne von Art. 6 Abs. 3 OBG zu verstehen. In der
Folge wird das ordentliche Verfahren ausgelöst (vgl. unten
III.D.).72
3. Folgerung
Im Ergebnis ist die Verweigerung oder Unmöglichkeit der
Kooperation zwischen der Halterin und den Behörden (ge-
mäss dem Bundesgericht eine Pichtverletzung) dem Fall
einer Einsprache gegen die Bussenverfügung respektive
der Weigerung einer fristgerechten Bezahlung gleichzu-
stellen. Hier wie dort folgt die Einleitung des ordentlichen
Strafverfahrens.
Die Halterhaftung nach OBG bei unbekannter Täter-
schaft führt indes dazu, dass sich die Halterin ein ordent-
liches Verfahren ersparen kann, indem sie die Busse ent-
richtet. Insofern bildet Art. 6 Abs. 5 OBG eine gesetzliche
(verquere) «Motivation», für eine Übertretung auch ohne
eigene Schuld einzustehen mit der (in diesem Falle aber
sachfremden) Nebenfolge, dass es den Behörden erleichtert
wird, die Übertretungsbusse spurenlos einzutreiben.
Nach dem Gesagten erscheint ein Blick auf das Straf-
verfahren nach StPO geboten (mit welchem sich das Bun-
desgericht nicht auseinandergesetzt hat).
D. Strafverfahren nach StPO
Beschuldigte können das Ordnungsbussenverfahren ableh-
nen (vgl. bereits oben III.A.).73 Dies kann explizit (Art. 10
72 Vgl. WeissenBerGer (FN 39), 430; Botschaft Via Sicura (FN 13),
8487.
73 Die Polizeiorgane sind gesetzlich dazu verpichtet, Beschuldigte auf
diese Möglichkeit hinzuweisen (Art. 10 Abs. 1 OBG).
Abs. 2 OBG) oder implizit durch das nicht fristgerechte Be-
zahlen einer nach OBG ausgefällten Busse (Art. 5 Abs. 3
Satz 2) geschehen. Die Rechtsfolge besteht jeweils in der
Einleitung eines ordentlichen Strafverfahrens74 nach der
StPO.75Allerdings darf der Wortlaut des OBG nicht miss-
verstanden werden, da bei Übertretungen in der Regel (zu-
mindest in einem ersten Schritt) besondere Verfahren zur
Anwendung kommen.
Noch unter der früheren Rechtslage hat das Bundesge-
richt mit Verweis auf das Verschuldensprinzip (vgl. oben
III.B.1.) auf die Grenzen des Ordnungsbussenverfahrens
und damit auf eine «materielle» Schnittstelle zum Straf-
verfahren hingewiesen: «Ist […] nicht klar, wer Täter […]
ist, so gebietet das Erfordernis eines Verschuldens die Er-
mittlung eines Täters, dem dieses zugewiesen werden kann.
Dies ist […] nicht mehr auf dem Wege des Ordnungsbus-
senverfahrens möglich, denn bei unklarer bzw. bestrittener
Täterschaft liegt nicht mehr jenes problemlose Verschulden
vor, welches noch im Ordnungsbussenverfahren […] ge-
ahndet werden kann. Bedarf daher die Ermittlung des Tä-
ters weiterer Untersuchungshandlungen wie Einvernahmen
usw., so ist dafür grundsätzlich das ordentliche Verfahren
einzuschlagen.»76
Die StPO stellt die allgemeinen Verfahrensgrundsätze
auf und regelt sowohl das «ordentliche Strafverfahren» mit
den verschiedenen Verfahrensschritten (wie dem Vor- und
dem Hauptverfahren) als auch die besonderen Verfahren,
nämlich das Strafbefehlsverfahren und das Übertretungs-
strafverfahren.
1. Übertretungsstrafverfahren
Das Übertretungsstrafverfahren nach Art. 357 StPO kommt
für Übertretungen des Bundesstrafrechts zur Anwendung
und soll diese «zügig mittels eines Strafbefehls» erledi-
gen.77 Gemäss Art. 103 StGB sind «Übertretungen […]
Taten, die mit Busse bedroht sind». Zu den erfassten Über-
tretungen gehören solche des Strafgesetzbuches und grund-
sätzlich auch solche des Nebenstrafrechts78 – unter anderem
74 Dazu die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung vom
14. Mai 1969 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über Ordnungsbus-
sen im Stras senverkehr, BBl 1969 I 1090 ff., 1097.
75 eicKer/meier-manGo (FN 2), 58 und 53 (Grak, m.H. auf Art. 1 ff.
StPO).
76 BGE 115 IV 137 E. 2c.
77 andreas donatscH/cHristian scHWarzeneGGer/WolFGanG
WoHlers, Strafprozessrecht, 2. A., Zürich 2014, 306.
78 steFan trecHsel/carlo Bertossa, in: Stefan Trechsel/Mark Pieth
(Hrsg.), Schweizerisches Strafgesetzbuch – Praxiskommentar, 2. A.,
Zürich/St. Gallen 2012, Art. 103 StGB N 4. Vgl. auch donatscH/
scHWarzeneGGer/WoHlers (FN 77), 307.
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Entscheidbesprechungen/Discussions d’arrêts actuels
AJP/PJA 12/2018
1577
auch die Bussen gemäss der Stras senverkehrsgesetzgebung
des Bundes.
Das Übertretungsstrafverfahren richtet sich «sinnge-
mäss nach den Vorschriften über das Strafbefehlsverfah-
ren» (Art. 357 Abs. 2 StPO). Die eigentliche Bedeutung des
Übertretungsstrafverfahrens liegt darin, dass dazu (anstelle
eigentlicher Strafverfolgungsbehörden) auch Verwaltungs-
behörden eingesetzt werden können; diese haben dann die
Befugnisse der Staatsanwaltschaft (Art. 357 Abs. 1 StPO).
Die zuständige Behörde verfügt die Einstellung des Ver-
fahrens, wenn der Übertretungstatbestand nicht erfüllt ist
(Art. 357 Abs. 3 StPO). Ausschlaggebend dafür wird in
aller Regel die Beweislage sein.79 Im Zusammenhang mit
dem Befahren von Stras sen sind entweder die von den po-
lizeilichen Behörden oder von bestimmten Messgeräten ge-
sammelten Beweise massgeblich.
Soweit ein Kanton die Übertretungsstrafverfahren so-
wieso der Staatsanwaltschaft zur Erledigung zuweist und
da diese sinngemäss nach dem Strafbefehlsverfahren vor-
zugehen hat (vgl. Art. 357 Abs. 2 StPO), bleibt die prakti-
sche Bedeutung des Übertretungsstrafverfahrens gering.
2. Strafbefehlsverfahren
Auch das Strafbefehlsverfahren (Art. 352 ff. StPO) ist ein
vereinfachtes Verfahren. Es wird schriftlich durchgeführt
und ndet ohne eine Entscheidung durch ein Gericht statt.80
Art. 9 Abs. 2 StPO behält das Strafbefehlsverfahren (res-
pektive das Übertretungsstrafverfahren) als Ausnahme vom
Anklagegrundsatz (Abs. 1) vor. Das im OBG erwähnte «or-
dentliche Verfahren» richtet sich üblicherweise nach dem
Strafbefehlsverfahren.81 Selbst nach eingeleitetem ordent-
lichem Verfahren ist das Ausfällen eines Strafbefehls noch
möglich, wenn die entsprechenden Voraussetzungen dazu
erfüllt sind (vgl. 324 Abs. 1 StPO).82 Die praktische Bedeu-
tung des Strafbefehlsverfahrens ist überaus gross – gleich-
wohl bleibt seine Handhabung vielfach unklar.83
79 Ebenso donatscH/scHWarzeneGGer/WoHlers (FN 77), 307.
80 Vgl. Franz riKlin, Strafbefehlsverfahren – Efzienz auf Kosten der
Rechtsstaatlichkeit?, ZBJV 2016, 475 ff.
81 riKlin (FN 80), 480.
82 Franz riKlin, Schweizerische Strafprozessordnung mit JStPO,
StBOG und weiteren Erlassen, Orell Füssli Kommentar, 2. A., Zürich
2014 (zit. OFK StPO-riKlin), Art. 9 N 1 und Art. 324 N 1.
83 riKlin (FN 80), 482: «Ein grosses Problem ist, dass die Kenntnis-
se der Allgemeinheit über das Strafbefehlsverfahren und damit über
die in der Schweiz mit Abstand häugste Verfahrenserledigungsart
sehr rudimentär sind. Ein Grund dafür ist darin zu sehen, dass dieses
Verfahren nicht öffentlich ist […]. Aber auch für Kenner des Straf-
prozessrechts liegt in Bezug auf die Rechtswirklichkeit vieles im
Dunkeln. […] [D]ie Regeln werden in den einzelnen Kantonen trotz
förmlicher Einheitlichkeit immer noch sehr unterschiedlich ange-
wendet.»
Art. 352 StPO nennt unter anderem im Zusammenhang
mit einer Busse (als Strafe) zwei Voraussetzungen zum Er-
lass eines Strafbefehls durch die Staatsanwaltschaft: Ent-
weder hat (1) «die beschuldigte Person im Vorverfahren
den Sachverhalt eingestanden» oder (2) der Sachverhalt ist
bereits «ausreichend geklärt». Beim Weiterzug eines Ord-
nungsbussenverfahrens wird eine Schuld abgestritten und
wird es damit an der ersten Voraussetzung mangeln. Für die
zweite Variante ist zunächst auf Art. 353 StPO hinzuwei-
sen; danach muss der Strafbefehl unter anderem «den Sach-
verhalt, welcher der beschuldigten Person zur Last gelegt
wird», enthalten (Abs. 1 lit. c). Dieser Sachverhalt ist bei
einem ursprünglichen Einspuren in ein Ordnungsbussen-
verfahren möglicherweise nur rudimentär erstellt.
Daher stellt sich die Frage, welche Anforderungen an
eine ausreichende Klärung des Sachverhalts (i.S.v. Art. 352
StPO) zu stellen sind, damit einem Strafbefehlsverfahren
Genüge getan werden kann. Bereits mit Blick auf die allge-
meine Praxis meint Franz riKlin kritisch, dass «[…] Straf-
befehle nicht selten im Zweifel versuchsweise auch dann
erlassen werden, wenn der Sachverhalt nicht ausreichend
abgeklärt ist und sich die Staatsanwaltschaft denkt, der Be-
schuldigte könne ja Einsprache erheben, wenn er sich als
unschuldig betrachte. Man spricht in solchen Fällen von
‹Versuchsballonen›, wobei dieses Vorgehen gesetzwidrig
ist.»84 Die Halterhaftung darf m.E. nicht als «Versuchs-
ballon» (vgl. oben III.C.3.) verstanden werden. Käme ein
solcher im Ordnungsbussenverfahren nicht zum Fliegen,
würde er es auch später kaum tun – es sei denn, die beschul-
digte Person liesse sich durch das ordentliche Verfahren
einschüchtern.85
Sowohl die beschuldigte Person als auch Dritte (vgl.
Art. 354 Abs. 1 StPO) können gegen einen Strafbefehl Ein-
sprache erheben. Die beschuldigte Person muss ihre Ein-
sprache nicht einmal begründen (Art. 354 Abs. 2 StPO).
Die Einsprache ist ein Rechtsbehelf86, welcher ein gericht-
liches Verfahren (das dann einer Anklage bedarf) auslöst.87
Dann gilt der Strafbefehl als Anklageschrift (so ausdrück-
lich Art. 356 Abs. 1 StPO). Der Strafbefehl muss daher den
Anforderungen einer Anklageschrift genügen und insbe-
sondere entsprechend begründet sein (vgl. Art. 325 StPO).88
84 riKlin (FN 80), 486.
85 Eine Einschüchterung der Rechtsunterworfenen darf im Rechtsstaat
aber gerade nicht der Sinn eines Verfahrens sein und wäre als (Teil-)
Zweck unzulässig.
86 OFK StPO-riKlin (FN 82), Art. 354 N 1.
87 Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Straf-
prozessrechts, BBl 2006 1085 ff., 1291.
88 Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO: «die der beschuldigten Person vorgewor-
fenen Taten mit Beschreibung von Ort, Datum, Zeit, Art und Folgen
der Tatausführung».
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Reto Patrick Müller
AJP/PJA 12/2018
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Die Beweislast gegenüber der beschuldigten Person liegt
bei der Ermittlungsbehörde.89 Die Einführung der Halter-
haftung nach OBG vermag m.E. daran nichts zu ändern.90
3. Weiteres Vorgehen bei Einsprache
Für das weitere Vorgehen der Ermittlungsbehörde nach all-
fälligen Untersuchungen sieht Art. 355 Abs. 3 StPO vier
Möglichkeiten vor: «Nach Abnahme der Beweise entschei-
det die Staatsanwaltschaft, ob sie: a. am Strafbefehl fest-
hält; b. das Verfahren einstellt; c. einen neuen Strafbefehl
erlässt; d. Anklage beim erstinstanzlichen Gericht erhebt.»
Soweit die Staatsanwaltschaft am Strafbefehl festhält
oder einen neuen Strafbefehl erlässt, ist weiterhin nach dem
Strafbefehlsverfahren vorzugehen. Eine allfällige Einstel-
lung des Verfahrens richtet sich nach den Voraussetzun-
gen von Art. 319 StPO.91 Dazu kommen insbesondere die
Fälle in Frage, bei welchen «kein Tatverdacht erhärtet ist,
der eine Anklage rechtfertigt» (Art. 319 Abs. 1 lit. a StPO),
oder bei welchen «kein Straftatbestand erfüllt ist» (Art. 319
Abs. 1 lit. b StPO). Die Anklage beim erstinstanzlichen
Gericht kommt nur dann infrage, wenn die Voraussetzun-
gen für ein Strafbefehlsverfahren nicht mehr gegeben sind
(vgl. Art. 352 StPO). Das Verfahren richtet sich dann nach
den Regeln für das erstinstanzliche Verfahren (Art. 328 ff.
StPO).92
Bei einer Busse bis maximal CHF 300 für Geschwin-
digkeitsüberschreitungen dürfte es wohl immer zuerst zu
einem Strafbefehlsverfahren kommen, bei welchem der ur-
sprüngliche oder allenfalls ein neuer (modizierter oder er-
gänzter) Strafbefehl als Anklageschrift dient (vgl. Art. 356
Abs. 1 Satz 2 StPO). Ein erstinstanzliches Gerichtsverfah-
ren wird erst nach einem Strafbefehl infrage kommen (vgl.
Art. 356 StPO).
89 Vgl. cHristian scHWarzeneGGer, in: Andreas Donatsch/Thomas
Hansjakob/Viktor Lieber (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen
Strafprozessordnung (StPO), 2. A., Zürich 2014, Art. 355 StPO N 1;
ebenso OFK StPO-riKlin (FN 82), Art. 355 N 1.
90 Zu Recht kritisch zur Frage, ob mit Art. 6 Abs. 1 OBG eine Beweis-
lastumkehr im Sinne einer Vermutung, welche sich auf das materielle
Strafrecht bezieht, geschaffen worden sein könnte, maeder (FN 10),
ContraLegem 2018, 68 f.
91 Ebenso scHWarzeneGGer (FN 89), Art. 355 StPO N 4.
92 scHWarzeneGGer (FN 89), Art. 355 StPO N 6 (m.H. auf Gilliéron/
Killias).
4. Beurteilung der Beziehung zwischen Ordnungs-
bussen- und Strafverfahren
Das formell eigenständige Ordnungsbussenverfahren bil-
det nach seinem Sinn und Zweck bei Bagatellfällen eine
Alternative zu einem der Verfahren gemäss der Strafpro-
zessordnung. Jedes unter dem OBG eingeleitete Verfahren
kann später in ein ordentliches Strafverfahren münden. Es
erscheint rechtlich unproblematisch, wenn der Gesetzgeber
mit dem OBG für offensichtliche Fälle mit geringem Ver-
schulden Vereinfachungen vorsieht. Mit dem OBG dürfen
m.E. jedoch nicht die Anforderungen an ein späteres StPO-
Verfahren reduziert werden.93 Indem das Bundesgericht die
Bestimmungen des OBG zur Halterhaftung zurückhaltend
auslegt,94 vermag es bislang, allfälligen nachgelagerten Fra-
gestellungen nach Möglichkeit auszuweichen.
Nach hier vertretener Ansicht betrifft die im OBG nie-
dergelegte Halterhaftung einzig das Ordnungsbussenver-
fahren. Das Strafgesetzbuch und die Strafprozessordnung
kennen keine Halterhaftung.95 Eine «Ausstrahlung» der
OBG-Normen zur Halterhaftung auf ein späteres strafpro-
zessuales Verfahren erscheint ausgeschlossen, wenn (auch)
dort im Reex strafrechtliche Grundsätze verletzt werden
(was insbesondere dann der Fall wäre, wenn die Auslegung
des OBG dazu führen würde, im Voraus eine schuldhaft
handelnde Täterschaft im Strafverfahren «festzulegen»).
Der Umstand, dass es sich auch beim Übertretungsstrafver-
fahren (vgl. oben III.D.1.) und beim Strafbefehlsverfahren
(vgl. oben III.D.2.) um vereinfachte Verfahren handelt, tut
dem keinen Abbruch. Hinzu kommt, dass spätestens beim
Einmünden auf die strafprozessrechtliche Spur auch ver-
fahrensgrundrechtliche Gehalte stärker zu berücksichtigen
sind. Ob dabei zuerst nur leicht (vereinfachte Verfahren
nach StPO) oder später mit vollem Einschlag (Anklage
beim erstinstanzlichen Gericht) abgebogen wird, ist nicht
entscheidend.
Der Bussenadressat hat es als «Verfahrenslenker» in der
Hand, einen Spurwechsel zu provozieren (Art. 10 OBG).
Der Wechsel zum Strafverfahren steht ihm selbst bei oder –
93 Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass mit der Hal-
terhaftung die Busse dem formellen Halter «auferlegt» wird. Ein an-
derer Schluss könnte höchstens dann gezogen werden, wenn es für
die Halterhaftung weder eine «Exkulpationsmöglichkeit» noch einen
Verweis des OBG auf das ordentliche Strafverfahren geben würde –
wenn also der Charakter des OBG ein völlig anderer wäre. Genau
dies scheint gewissen kantonalen Behörden aber vorzuschweben,
wenn sie die Exkulpationsmöglichkeit (wie im vorliegenden Fall)
ganz ausschliessen wollen.
94 Dies im vorliegenden Fall sowie – noch weiter gehend – im jüngsten
BGer, 6B_252/2017, 20.6.2018, mit der Ausnahme juristischer Per-
sonen von der Halterhaftung.
95 Darum ist das jüngere Urteil (FN 94) nur konsequent.
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Entscheidbesprechungen/Discussions d’arrêts actuels
AJP/PJA 12/2018
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je nach Blickwinkel – trotz der Halterhaftung offen. Damit
der Spurwechsel die Behörden nicht in eine Sackgasse ab-
drängt, scheint das Bundesgericht via eine «Pichtverlet-
zung» (nach Art. 6 Abs. 4 OBG; vgl. E. 1.5) einen Schleich-
weg eröffnen zu wollen (vgl. oben III.B.2.a.): Indem es die
Weitergabe der Lenkerdaten als eine der Fahrzeughalterin
obliegende Picht charakterisiert, könnte versucht werden,
eine Brücke zwischen den Verfahren zu schlagen: Biegt die
Fahrzeughalterin (warum und wie auch immer) in ein Straf-
verfahren ein, ohne die Lenkerdaten liefern zu wollen oder
zu können, läge ihre «Schuld» darin, der «Mitwirkungs-
picht» gemäss OBG nicht nachgekommen zu sein. Einer
Austreibung des Teufels (Halterhaftung) mit dem Beelze-
bub (besondere Mitwirkungspicht im Ordnungsbussen-
verfahren) steht das Legalitätsprinzip entgegen, welchem in
der bundesgerichtlichen Praxis zur Halterhaftung – ironi-
scherweise – entscheidtragende Bedeutung zukommt.
Auch Fragen zur Auslegung der Verhältnismässigkeit
des Ermittlungsaufwands (Art. 6 Abs. 5 OBG) stellen sich
m.E. einzig im Zusammenhang mit dem OBG-Verfahren.
Am Schluss wird es praktisch darum gehen, wer als Bus-
senempfänger zuerst adressiert wird. Die Verhältnismässig-
keit des Ermittlungsaufwands ist unbeachtlich, wenn das
ordentliche Strafverfahren zum Zuge kommt. Zwar lässt
die Praxis zum Strafbefehlsverfahren die in der Literatur
zuweilen scharf kritisierten «Versuchsballone» zu (vgl.
oben III.D.2.); diese stürzen aber spätestens im gerichtli-
chen Verfahren ab.
Soweit ein Sachverhalt nicht offensichtlich ist, kann eine
Übertretung nach dem grundsätzlichen Zweck des OBG
nicht einfach, efzient und spurenlos sanktioniert werden.
Dem Verweis im OBG auf das ordentliche Verfahren sowie
dem Grundsatz, das OBG-Verfahren ablehnen zu können
(was sogar durch ein Nichtstun möglich ist), kommt eine
strukturelle (und letztlich sogar legitimierende) Bedeutung
zu. Damit muss in letzter Konsequenz stets einer strafpro-
zessrechtlichen Anklage Genüge getan werden können.96
E. Schlussbemerkungen
Der Entscheid des Bundesgerichts verdient im Ergebnis
Zustimmung. Im Wesentlichen anerkennt das Bundesge-
richt damit die Exkulpationsmöglichkeit bei der Halterhaf-
tung als Grundsatz. Obwohl die Exkulpationsmöglichkeit
bereits im OBG selbst vorgesehen ist (Art. 6 Abs. 4), tun
sich die Behörden in bestimmten Kantonen schwer damit;
96 Sowohl eine strafbare Handlung als auch ein Verschulden müssen
nachgewiesen werden können. Davon abzuweichen, hiesse auch, den
Rechtsstaat infrage zu stellen.
selbst in jenen Fällen (wie Figura zeigt), in welchen die
Fahrzeughalter an einer Aufklärung mitwirken.
In seinen Erwägungen sind für das Bundesgericht Un-
terscheidungen wegweisend, welche bereits der Gesetzge-
ber bei der Ausgestaltung der Halterhaftung vorgegeben
hat.97 Anknüpfend an den Normtext zur Halterhaftung im
OBG unterscheidet das Bundesgericht zwischen der Fahr-
zeughalterin und dem tatsächlichen Fahrzeugführer.98 Eine
Unterscheidung zwischen «formeller» und «materieller»
Fahrzeughalterin erscheint in diesem Zusammenhang ent-
behrlich.99
Sodann unterscheidet das Bundesgericht ausdrücklich
zwischen der Feststellung der Fahrzeugführerschaft und
der Einbringlichkeit einer Ordnungsbusse. Der Weg des
geringsten Widerstands zur Eintreibung von Bussen (mög-
lichst bei juristischen Personen) ist für die Behörden damit
nicht mehr gangbar. Im vorliegenden Fall hat das Bundes-
gericht die aufgeworfene Frage, ob mit Art. 6 OBG «die
Strafbarkeit des Unternehmens auf gewisse Übertretungen
ausgedehnt wird», noch explizit offengelassen (E. 1.4). In
einem jüngsten Fall hat es eine Strafbarkeit juristischer Per-
sonen gestützt auf Art. 6 OBG mangels einer gesetzlichen
Grundlage prinzipiell verneint.100 Damit wird die Halter-
haftung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung weiter
eingeschränkt.
Der besprochene Entscheid zeitigt somit vor allem für
natürliche Personen Wirkung. Leider hat das Bundesgericht
der Bedeutung des nicht zur Publikation vorgesehenen Ent-
scheids wenig Beachtung geschenkt: Über die (vorsichtige)
Charakterisierung der Ordnungsbussen als Strafen und die
Beurteilung des Einzelfalls hinaus hätte die Gelegenheit
bestanden, auch den Charakter des Ordnungsbussenverfah-
rens höchstrichterlich weiter zu erhellen und eine Auslege-
ordnung für die im Zusammenspiel der Verfahren schwe-
lenden Grundsatzfragen vorzunehmen.
97 In BGer, 6B_432/2017, 22.11.2017, stellt das Bundesgericht zu
Recht fest, dass sich die Haltereigenschaft bei der Halterhaftung nach
Art. 6 OBG bestimme (E. 2.2).
98 Der Begriff des «formellen Halters» kommt in den Erwägungen zwar
vor – doch bloss bei der Auseinandersetzung mit dem Entscheid der
Vorinstanz sowie mit der Lehre (E. 1.4).
99 Anders BGer, 6B_252/2017, 20.6.2018, E. 2, wo das Bundesgericht
zwischen formeller und materieller Haltereigenschaft unterschei-
det und im Zusammenhang mit der Halterhaftung auf die formelle
Haltereigenschaft abstellt. Unter der materiellen Halter eigenschaft
ist auch dort der mutmassliche Fahrzeuglenker zu verstehen.
Anders ebenso BGer, 6B_252/2017, 20.6.2018, E. 2, wonach auf die
«formelle Haltereigenschaft», aber nicht auf den «materiellen Halter-
begriff» abzustellen sei.
100 BGer, 6B_252/2017, 20.6.2018, E. 3.2; vgl. dazu maeder (FN 1),
AJP 2018, 1414 f.
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Das Ordnungsbussengesetz wird derzeit revidiert.101 Die
Halterhaftung bleibt erhalten (Art. 7 des neuen OBG) und
wird redaktionell geringfügig präzisiert. Die vom Bundes-
gericht gesetzten Leitplanken bleiben auch für das künftige
OBG bestehen. Wohl ist damit zu rechnen, dass die jüngere
«Lausanner» Rechtsprechung den Gesetzgeber wieder auf
den Plan rufen wird. Er wird sich dann daran erinnern müs-
sen, dass Strafbarkeit eine Schuld voraussetzt102 und dass
sein Gestaltungsspielraum auch vom jeweils verwendeten
Instrument abhängt.103 Soweit der Gesetzgeber Grundsätze
in Strafverfahren aufweichen will – wovon ihm abgeraten
wird –, muss er dies in letzter Konsequenz durch Ände-
rungen in der StPO umsetzen. Wenn es aber darum geht,
den Fahrzeughaltern neue Pichten aufzuerlegen, wäre das
Stras senverkehrsrecht der passende Ort.
Aus der absehbaren Entwicklung hin zum autonomen
Fahren von Autos wird sich m.E. ein besonderer Rege-
lungsbedarf ergeben. Die Halterhaftung könnte mit den
dann zu beantwortenden Fragen erneut zur Diskussion ste-
hen. Für einen gesetzgeberischen Aktionismus besteht je-
doch kein Grund – vielmehr sollten neue Regelungen von
Anfang an einem ganzheitlichen Ansatz folgen. Vielleicht
wird die Halterhaftung in der heutigen Form dereinst sogar
entbehrlich.
101 Vgl. zum noch nicht in Kraft stehenden Ordnungsbussengesetz vom
18. März 2016 BBl 2016 2037 ff.
102 maeder (FN 1), AJP 2018, 1417.
103 Vgl. moHler (FN 12), N 11 ff.
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