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THE INTERNATIONAL ACADEMY
OF OSTEOPATHY
Zentrale Sensibilisierung und ihre
Bedeutung für die Osteopathie
Verfasser: Matthias von Leliwa, bac./Nl
Tutor: Koen Groot Zwaaftink, MSc. D.O.-MRO
Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des Titels Osteopath D.O.
Studienjahr 2017 - 2018
I
I. Danksagung
Danken möchte ich meinem Tutor Koen Groot Zwaaftink für konstruktive Kritik,
Literaturempfehlungen und ganz wichtig: Das Ausbremsen am Anfang, sonst wäre das Projekt
Abschlussarbeit in der vorgegebenen Zeit nicht umsetzbar gewesen.
Einen großen und herzlichen Dank an meine Frau Kristine für kritisches Lesen, Vorschläge und
Ideen zur Verbesserung der Arbeit. Besonders wertvoll war Deine Hilfe beim Verbessern der
Verständlichkeit, Formulierungen und Grammatik des Textes. Danke für Deine Liebe und
Unterstützung in der für mich schwierigen Zeit des Studiums, des Lernens für die
Heilpraktikerprüfung und familiären Schicksalsschlägen.
Durch die Fortbildungen bei Joachim Winter (Prototherapie, früher Integrale Physikalische
Medizin / IPM) hat sich meine Sichtweise auf den Körper grundlegend geändert. Dein
Wissensdurst und die Fähigkeit, aus vielen kleinen Details ein großes Gesamtbild
zusammenzufügen und ein richtungsweisendes Behandlungs- und Therapiekonzept zu
entwickeln, hat mich tief beeindruckt. Dein therapeutisches Lebenswerk ist die Inspiration für
diese Arbeit. Diese Arbeit ist Dir gewidmet.
II
II. Originalitätserklärung
Originalitätserklärung
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit „Zentrale Sensibilisierung in der
Osteopathie“ selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt
habe. Alle wörtlich oder sinngemäß den Schriften anderer entnommenen Stellen habe ich unter
Angabe der Quellen kenntlich gemacht.
Die Arbeit wurde bisher in der vorliegenden oder einer modifizierten Form weder bei der IAO
noch an einer anderen Institution als Studienleistung vorgelegt.
Matthias von Leliwa
III
III. Zusammenfassung
Je nach Untersuchungs- und Behandlungskonzept bestehen verschiedene Theorien zu
Ursachen von Schmerzen, die nicht direkt strukturell zugeordnet werden können. Die in der
Osteopathie gängigen Konzepte der Somatischen Dysfunktion und des Fazilitierten Segments
stützen sich auf ältere Untersuchungen mit weitreichenden Interpretationen derer Ergebnisse.
Das Konzept der „Zentralen Sensibilisierung“ belegt diese Konzepte teilweise und erweitert sie
durch Nachweise zu Verursachern dieses Phänomens.
In dieser Arbeit wird ein Überblick zu Zentraler Sensibilisierung und nachgewiesenen Ursachen
gegeben. Schnittpunkte mit der osteopathischen Lehrmeinung zur Entstehung von Schmerzen
und Diagnostik einer Somatischen Dysfunktion werden diskutiert.
In einer Recherche auf Pubmed, PEDro und der Farasyn Library der IAO wurden Reviews für
einen Überblick sowie zugrundeliegende Mechanismen Zentraler Sensibilisierung gesucht.
Erweiternd wurden Quellen aus den vorhandenen Artikeln überprüft und, falls relevant, in die
Arbeit aufgenommen. Weiter wurde nach experimentellen Untersuchungen gesucht, die
Nachweise für Zentrale Mechanismen sowie deren Verursacher erbringen.
Zentrale Sensibilisierung ist ein reversibler, sensibilisierter Funktionszustand von Neuronen des
Zentralen Nervensystems in Folge nozizeptiven Einstroms, ausgelöst durch
Gewebeverletzungen und schmerzhafte Kapseldehnungen. Es gibt Hinweise, dass entzündliche
Organreizungen die Sensibilisierung auslösen können. Anhaltende Zentrale Sensibilisierung ist
pathologisch. Reduzierte oder fehlende Inhibition auf Rückenmarksebene sowie emotionale
Verarbeitung und gelerntes Verhalten spielen eine wichtige Rolle bei Entwicklung und Anhalten
Zentraler Sensibilisierung. Klinische Zeichen sind Hypersensibilität, Allodynie bei dynamischen,
mechanischen Reizen, Hyperalgesie bei statischen Druckreizen, Nachempfindungen,
gesteigerte temporale Summation (Wind-up) und räumliches Ausbreiten der
Schmerzempfindung über den geschädigten Bereich hinaus (Sekundäre Hyperalgesie).
Zentrale Sensibilisierung zu erkennen ist von elementarer Bedeutung im Clinical Reasoning.
Neben spinaler Bewegungsuntersuchung sollte Palpation auf progressive
Schmerzwahrnehmung bei der Untersuchung in Betracht gezogen werden. Besonderes
Augenmerk sollte auf Altverletzungen und deren neuronale Verarbeitung gelegt werden.
Gegenstand weiterer Untersuchungen könnten mechanische Fehlbelastungen und deren Rolle
bei Zentraler Sensibilisierung sein. Die Entwicklung verlässlicher Untersuchungs- und
Behandlungsmethoden ist wichtig, um Patienten besser helfen zu können.
IV
Schlüsselwörter: Zentrale Sensibilisierung, wind-up, sekundäre hyperalgesie, Hinterhorn
Abstract
Depending on diagnosis and treatment concept various theories are presented regarding the
origin of pain without immediate structural correlation. The well-established osteopathic
concepts of the somatic dysfunction and the facilitated segment are based on older research
with far reaching conclusions of the findings. The concept of „central sensitization“ proves
parts of osteopathic concepts and offers evidence for causes of the phenomenon.
This paper gives an overview of central sensitization and verified causes. Overlapping points
of osteopathic doctrine regarding causes of pain and diagnosis of the somatic dysfunction are
discussed.
Reviews that summarize central sensitization and provide underlying mechanisms were
searched on Pubmed, PEDro and the IAO Farasyn Library. Resources of those articles were
scrutinized and, if relevant, used for this paper as well. Further search for experimental
evidence for central mechanisms and causes was performed.
Central sensitization is a reversible, sensitized state of neurons of the central nervous system
due to nociceptive input, caused by tissue injury and painful capsule stretch. Research is
suggesting inflammatory processes in organs as another trigger. Ongoing central sensitization
is pathologic. Reduced or no inhibition on spinal cord level as well as emotional processing and
learned behavior play an important role in developing and sustaining central sensitization.
Clinical signs are hypersensitivity, allodynia induced by mechanical stimuli, hyperalgesia
induced by static pressure, aftersensations, increased temporal summation (wind-up) and
spreading beyond the site of injury (secondary hyperalgesia).
Identification of central sensitization in patients is crucial for clinical reasoning. Besides spinal
movement examination, palpation seeking after progressive pain experience should be
considered, too. Old injuries and their segmental processing should be examined in particular.
Further research could address other possible causes of central sensitization, such as
unfavorable mechanical load and its role in central sensitization. It is important to develop
reliable diagnostic methods and treatment options to improve treatment of patients.
Key words: central sensitization, wind-up, secondary hyperalgesia, dorsal horn
V
Zusammenfassung für Laien
Häufig werden für körperliche Beschwerden und Schmerzen keine direkten Ursachen
gefunden. Die in der Osteopathie angewendeten Erklärungen (Somatische Dysfunktion und
Fazilitiertes Segment) können um die Erklärung der Zentralen Sensibilisierung ergänzt bzw.
erweitert werden.
Die Zentrale Sensibilisierung beschreibt einen Zustand, bei dem das Nervensystem in Teilen
empfindlicher auf Reize reagiert, als normal. Die Schmerzempfindung wird verstärkt und kann
sich räumlich ausbreiten. Diese Überempfindlichkeit ist nach einer Verletzung normal, kann
jedoch auch länger anhalten, als die Reizung besteht. Dies stellt einen krankhaften Zustand
dar. Fehlende Unterdrückung der Schmerzweiterleitung auf Rückenmarksebene sowie
emotionale Faktoren können zu einer anhaltenden Zentralen Sensibilisierung beitragen.
Ausgelöst werden kann Zentrale Sensibilisierung durch Verletzungen oder Reizungen. Über
Nervenverbindungen können sich Verletzungen, auch aus der Vergangenheit, auf andere
Regionen des Körpers auswirken.
Für die Praxis wird empfohlen, die üblichen Bewegungsuntersuchungen um Untersuchungen
auf Schmerzwahrnehmung zu erweitern, da hierdurch Zentrale Sensibilisierung aufgedeckt
werden kann. Wenn keine akute Ursache offensichtlich ist, sollte besonderes Augenmerk auf
Altverletzungen gelegt werden.
Anzahl Wörter der Arbeit: 2967
VI
Für alle, die wie ich fasziniert sind von den Wundern unseres Körpers.
VII
Inhaltsverzeichnis
I. Danksagung I
II. Originalitätserklärung II
III. Zusammenfassung und Abstract III
IV. Inhaltsverzeichnis VII
1. Einleitung 1
2. Material und Methode 2
3. Ergebnisse 4
4. Diskussion 10
5. Schlussfolgerung 13
6. Literaturverzeichnis 15
7. Tabelle Suchstrategie 18
1
1. Einleitung
In Literatur zu Schmerzforschung findet sich der Begriff der „Zentralen Sensibilisierung“, einem
Zustand der Hypersensibilisierung auf Rückenmarksebene, der eine Erklärung für
Schmerzempfindungen ohne deutliche, strukturelle Ursache liefert. Es bestehen experimentelle
Nachweise zu Entstehungsmechanismen, das Vorhandensein bei etlichen Krankheitsbildern ist
belegt (Woolf, 2011). Die bisherigen Erkenntnisse dazu sind von grundlegender Bedeutung für
Osteopathen, Ärzte, Physiotherapeuten, Chiropraktiker und jegliche andere Fachdisziplin, die
Patienten mit Schmerzen behandelt, um Symptome einzuordnen und eine adäquate
Behandlungsstrategie zu entwickeln.
Schmerzen unklaren Ursprungs sind ein häufiger Grund für Patienten, einen Osteopathen
aufzusuchen. Das in der Osteopathie gängige Konzept der Somatischen Dysfunktion und des
Fazilitierten Segments ähneln der Zentralen Sensibilisierung. Es stellt sich die Frage, welche
Schnittpunkte zwischen diesen Konzepten bestehen. Können Forschungsergebnisse zu
Zentraler Sensibilisierung osteopathische Konzepte erweitern; werden osteopathische
Denkansätze bestätigt oder widerlegt? Reviews berichten von geringer Interrater-Reliabilität
spinaler Bewegungspalpation, und dadurch unterschiedlichem Clinical Reasoning. Lassen sich
Zeichen Zentraler Sensibilisierung in die Diagnostik übertragen?
Das Interesse des Autors an neurophysiologischen Mechanismen und die Lehrinhalte der
Fortbildung „Prototherapie“ von Joachim Winter, sowie die im Osteopathiestudium gelehrte
Neurophysiologie zum Hyperaktiven Segment sind die Grundlage der vorliegenden Arbeit. Die
konkrete Idee entstand durch Lesen eines Artikels von Fryer (Fryer, 2016) sowie eines Reviews
von Liem (Liem, 2016). Die Lektüre des Buches „Pathophysiologie des Schmerzes“
(Handwerker, 1999) ermöglichte einen tieferen Einblick in Schmerzmechanismen.
Ziel
In dieser Arbeit werden Forschungsergebnisse zu Ursachen und Entstehungsmechanismen
Zentraler Sensibilisierung vorgestellt und ein Überblick zugrundeliegender Prozesse auf
verschiedenen Ebenen des Nervensystems gegeben.
Kann Zentrale Sensibilisierung experimentell ausgelöst und messbar belegt werden?
Es wird die Frage diskutiert, welche Schnittpunkte mit der osteopathischen Lehrmeinung
bestehen und wie Zentrale Sensibilisierung in der Untersuchung aufgedeckt werden könnte.
2
Ist die in der Osteopathie übliche spinale Bewegungspalpation hierfür geeignet? Welche
Interrater-Reliabilität zeigt diese Untersuchungsmethode?
2. Material und Methode
Von Januar bis März 2018 wurde eine Literatursuche auf Pubmed
(https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed), PEDro (https://www.pedro.org.au/) und der IAO
Farasyn Library durchgeführt. Gesucht wurde nach Reviews mit Hauptthema Zentrale
Sensibilisierung. Suchbegriffe zu Teilaspekten sensibilisierender Mechanismen wurden aus den
gefundenen Artikeln entwickelt mit Fokus auf experimentelle Untersuchungen. Relevante
Literatur zu Teilaspekten Zentraler Sensibilisierung aus den Übersichtsartikeln wurde geprüft
und mit aufgenommen.
Suchbegriffe:
central sensitization
somatic dysfunction
facilitated segment
hypersensitivity
hyperalgesia
mechanisms
dorsal root
development
3
Filter:
Clinical Trial
Randomized Clinical Trial
Review
Systematic Review
10 years
Human
English/German
Einschlusskriterien
Reviews, Systematische Reviews mit Hauptthema Zentrale Sensibilisierung.
Reviews, Systematische Reviews, Randomized Controlled Trials und Clinical Trials auf
Grundlage experimenteller Studien zu Teilaspekten Zentraler Sensibilisierung.
Ausschlusskriterien
Hypothetische Artikel
Medikamentenstudien
Andere Sprachen als englisch und deutsch
Fallstudien
4
3. Ergebnisse
Klinische Äußerungen Zentraler Sensibilisierung sind Hypersensibilität, Allodynie bei
dynamischen, mechanischen Reizen, Hyperalgesie bei statischen Druckreizen,
Nachempfindungen, gesteigerte temporale Summation (Wind-up-Phänomen) sowie ein
räumliches Ausbreiten der Schmerzempfindung über den geschädigten Bereich hinaus
(Sekundäre Hyperalgesie) (Latremoliere and Woolf, 2009). Zur Behandlung werden zentral
wirksame Medikamente diskutiert (Woolf, 2011).
Nachweise zentraler Mechanismen und Ursachen
An 28 enthirnten Ratten wurden nach peripheren, thermischen Hautverletzungen
Rückziehreflexe bei allen Tieren ausgelöst. Trotz anschliessender, lokaler Sensorblockade im
Bereich der Verletzung durch ein Anästhetikum, konnten die Reflexe weiterhin ausgelöst
werden (Woolf, 1983).
Auf diesen Ergebnissen aufbauend führten Wall und Woolf ein Jahr später eine ähnliche
Untersuchung an 16 Ratten durch. Sie verglichen den Effekt von Hautverletzungen gegenüber
Muskelverletzungen auf zentrale Mechanismen. Dabei hielt die erhöhte Reflexaktivität bei
Muskelverletzungen bis zu 5-mal länger an als die von Hautverletzungen (Wall and Woolf,
1984).
LaMotte et al. führten Versuche an 24 Probanden durch Injektion der schmerzauslösenden
Substanz Capsaicin in der Haut aus. Alle Probanden gaben Schmerzen bei normalerweise nicht-
schmerzhaften Reizen an, der sensibilisierte Bereich breitete sich aus. Bei lokaler Anästhesie
der gereizten Stelle gaben die Probanden keine Schmerzen bei mechanorezeptiven, nicht-
nozizeptiven Reizen an (LaMotte
et al.
, 1991).
Torebjörk et al. belegten zentrale Effekte durch das Auftreten Sekundärer Hyperalgesie,
ausgelöst bei allen 29 Probanden durch intradermale Capsaicininjektionen (Torebjörk
et al.
,
1992).
Quinn et al. untersuchten den Effekt schmerzhafter Gelenkkapseldehnungen (ohne strukturelle
Schäden) an der Halswirbelsäule von Ratten. Mit elektrophysiologische Messungen fanden sie
noch 7 Tage später erhöhte neuronale Reaktionen auf applizierte Schmerzreize (p < 0.0182)
und erhöhte Spontanentladungen im Vergleich zur Kontrollgruppe (p < 0.0307), sowie eine
5
erhöhte Anzahl Neurone, die als Wide-dynamic-Range-Neurone reagierten (p < 0.0348)
(Quinn
et al.
, 2010).
In einem doppelverblindeten Randomized Clinical Trial konnte Zentrale Sensibilisierung durch
säurebedingte Reizungen des Ösophagus durch Gabe des N-methyl-D-aspartat-Antagonisten
Ketamin verhindert und beseitigt werden (p < 0.0001 ANOVA). Durch den Stellenwert von N-
methyl-D-aspartat bei Zentraler Sensibilisierung schlussfolgern die Autoren, dass Zentrale
Sensibilisierung einen Mechanismus bei viszeraler Hypersensibilität darstellt (Willert
et al.
,
2004).
Physiologische Reaktionen auf eine periphere Gewebeverletzung
Basbaum et al. beschreiben in ihrem Review folgende Vorgänge: Wenn bei einer Verletzung
Gewebe und Zellen zerstört werden, kommen Entzündungsmediatoren aus lokalen und
einwandernden Zellen sowie Geweben frei. Diese „entzündliche Suppe“, bestehend aus
verschiedenen Neurotransmittern (Histamin, Glutamat, Serotonin), Peptiden (Substanz P (SP),
Calcitonin-gene-related-peptide CGRP, Bradykinin), Eikosanoiden und verwandten Lipiden
(Prostaglandin, Thromboxan, Leukotriene, Endocannabinoide), Neurotrophinen, Cytokinen
und Chemokinen sensibilisiert umliegende Nozizeptoren und C-Fasern, so dass diese leichter
erregbar werden (Basbaum
et al.
, 2010) – ansonsten lassen sich periphere Nozizeptoren im
Ruhezustand nur durch intensive mechanische, thermische oder chemische Reize aktivieren
(Handwerker, 1999; Xu and Hall, 2006; Woolf and Ma, 2007). Ein retrograder, aus der
Peripherie in Richtung Hinterwurzelganglion (Dorsal Root Ganglion, DRG) gerichteter Transport
von Neurotransmittern beginnt und löst dort die vermehrte Produktion von pro-nozizeptiven
Substanzen, hauptsächlich SP, aus (Basbaum
et al.
, 2010). Dieser Zustand wird Primäre
Hyperalgesie oder Periphere Sensibilisierung genannt und dient dem Schutz vor weiteren
Verletzungen (Hardy
et al.
, 1950; Handwerker, 1999; Latremoliere and Woolf, 2009; Hladnik
et al.
, 2015): Nur der verletzte Bereich wird sensibilisiert; die Menge der freigesetzten
Neurotransmitter (abhängig vom Ausmaß der Gewebe- und Zellzerstörung) und deren Abbau
begrenzt die Zeitdauer und räumliche Ausbreitung der Sensibilisierung. Sie kann nur durch
anhaltende Gewebezerstörung am Laufen gehalten werden (Latremoliere and Woolf, 2009).
6
Reaktion im Hinterwurzelganglion (Dorsal Root Ganglion - DRG)
Der verstärkte neuronale Input in C-Fasern durch periphere Neurotransmitter löst im DRG die
Freisetzung diverser Transmitter aus: Glutamat wird ausgeschüttet (Römer and Bleich, 2003;
Basbaum
et al.
, 2010; Liu and Salter, 2010); die Neuropeptide SP, Neurokinin A (NKA) und
Calcitonin Gene Related-Peptide (CGRP) werden produziert und über anterograden, axonalen
Transport zur Peripherie respektive Rückenmark gebracht (Liu and Salter, 2010; Larsson and
Broman, 2011; Iyengar
et al.
, 2017). In der Peripherie werden die permeabilitätssteigernden
und vasodilatierenden Neuropeptide SP und CGRP aus den Axonterminalen ausgeschüttet und
verursachen lokale Rötung, Schwellung und Umgebungserythem (Flarereaktion) im Bereich
der Verletzung und deren Umgebung. Der axonale Transport von Neurotransmittern zwischen
Peripherie und Zentrale dient dem Informationsaustausch sowie der neuronalen Steuerung der
Entzündung, bezeichnet als „Neurogene Entzündung“ (Woolf and Ma, 2007; Basbaum
et al.
,
2010; Iyengar
et al.
, 2017).
Reaktionen im Hinterhorn
Durch anhaltenden, nozizeptiven Einstrom über Aδ-Fasern kann ein Verlust inhibierender
Interneurone und dadurch reduzierte Inhibition primärer Afferenzen in der Lamina II
(Substantia Gelatinosa) und folgender Sensibilisierung des Hinterhorns entstehen (Samad
et
al.
, 2001).
Ursprünglich nozizeptorspezifische Neurone können sich im Zustand Zentraler Sensibilisierung
in Wide-dynamic-range Neurone (WDR) umwandeln und daraufhin bereits leichte Reize leiten.
Es kommt zu temporaler Summation, dem Wind-up-Phänomen, und das sensibilisierte Gebiet
wird vergrößert: Sekundäre Hyperalgesie (Latremoliere and Woolf, 2010).
Beim Wind-up-Phänomen kommt es zu einer Schmerzverstärkung bei niedrigfrequenten (0,5
– 5 Hz), gleichbleibenden, C-Faser stimulierenden Reizen (Mendell and Wall, 1965). Dies findet
bei homosynaptischer Sensibilisierung statt: Die Erregung einzelner C-Fasern löst eine
Reizverstärkung der gleichen Faser aus. Bei Zentraler Sensibilisierung kommt Wind-up durch
heterosynaptische Erregung zustande: Der Input einzelner C-Fasern sorgt für Übererregung
mehrerer C-Fasern, aber auch nicht-nozizeptiver Fasern (Aβ-Fasern). Wind-up tritt bei
Zentraler Sensibilisierung als Folge der erhöhten Erregbarkeit von Synapsen auf und lässt sich
bereits bei unter Normalbedingungen nicht schmerzhaft wahrgenommene Reizen auslösen
(Latremoliere and Woolf, 2010; Woolf, 2011).
7
Entwicklung Zentraler Sensibilisierung
Zwei Phasen der Zentralen Sensibilisierung werden beschrieben: Eine
transkriptionsunabhängige, durch Glutamatrezeptor- und Ionenkanaländerungen
hervorgerufene Sensibilisierung, und eine transkriptionsabhängige Phase, in der neue Proteine
synthetisiert werden, die das Anhalten einer Zentralen Sensibilisierung begünstigen (Woolf and
Salter, 2000). Die erste Phase tritt physiologisch bei Gewebeschädigung auf (Römer and Bleich,
2003; Basbaum
et al.
, 2010); die zweite Phase wird mit anhaltenden Symptomen und einer
möglichen Chronifizierung in Zusammenhang gebracht (Woolf and Salter, 2000).
Transkriptionsunabhängig:
Die Entwicklung und das Anhalten einer Zentralen Sensibilisierung ist abhängig von α-amino-
3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazolepropionic acid receptor (AMPAR) und
N-methyl-D-aspartate-
Rezeptoren (NMDAR) (Thompson
et al.
, 1990; Tao, 2010; Wang
et al.
, 2013).
Nach Stimulation myelenisierter und unmyelenisierter Fasern an enthirnten Ratten konnte
langanhaltende postsynaptische Depolarisation und Wind-up in allen verbundenen
Motoneuronen gemessen werden. Anschließende NMDAR-Antagonistengabe reduzierte
postsynaptische Depolarisation um 57%, Wind-up blieb aus (Thompson
et al.
, 1990).
Glutamat bindet an AMPAR und NMDAR, die in fast jeder Synapse von Lamina I-Neuronen zu
finden sind (Römer and Bleich, 2003; Liu and Salter, 2010), und nimmt eine Schlüsselrolle bei
der Entwicklung der Sensibilisierung ein: Die Poren von NMDAR sind normalerweise durch ein
Magnesium (Mg2+) Ion blockiert. Anhaltende Ausschüttung von Glutamat, SP und CGRP
depolarisiert die Membranen derart, dass Mg2+ die Poren freigibt und nun durch
Glutamatbindung ein Spannungseinstrom geschieht (Mayer, Westbrook and Guthrie, 1984; Liu
and Salter, 2010). Calcium (Ca2+) kann nun in das Neuron gelangen und unterhält die Zentrale
Sensibilisierung durch Aktivierung vielfältiger, intrazellulärer Mechanismen. SP bindet an
Neurokinin-1 (NK1) G-Protein-gekoppelte Rezeptoren und verursacht eine langanhaltende
Membrandepolarisation. CGRP verstärkt die Wirkung von SP (Coderre
et al.
, 1993; Tao, 2010).
Bradykinin, welches in Folge starken, peripheren Reizeinstroms produziert wird, bewirkt den
gleichen Effekt (Latremoliere and Woolf, 2009; Basbaum
et al.
, 2010). Zusammengefasst wird
der Funktionszustand von Neuronen und neuronalen Schaltkreisen durch gesteigerte
Membranerregbarkeit und gesteigerte synaptische Effizienz verstärkt.
Trankskriptionsabhängig:
Unter Normalbedingungen leiten Aβ-Fasern mechanische Reize. Werden deren periphere
Axonterminale durch entzündliche Neurotransmitter gereizt, können die zugehörigen Neurone
8
phänotypische Änderungen durchlaufen und ebenfalls SP und einen Wachstumsfaktor, Brain-
derived neurotrophic factor (BDNF) herstellen (Nijs
et al.
, 2015). Dies sensibilisiert die Fasern
und Reize, die über sie geleitet werden (Neumann
et al.
, 1996; Mannion
et al.
, 1999). Durch
Auslösen von Cyclooxygenase 2 (Cox-2) wird Prostaglandin E2 im Hinterhorn synthetisiert.
Dies führt zu einer weiteren Sensibilisierung (Latremoliere and Woolf, 2010).
Einfluß cortikaler Zentren auf das Hinterhorn
Psycho-emotionale Faktoren nehmen starken Einfluss auf deszendierende Schmerzhemmung:
Nozizeptive Verarbeitung und Weiterleitung im Hinterhorn kann aus cortikalen, emotionalen
Zentren (Limbisches System) moduliert werden. Diese Reaktionen scheinen von limbischen
Lernprozessen und erlerntem Verhalten gesteuert zu werden und manifestieren sich individuell
in unterschiedlicher Ausprägung. Über Amygdala und den Hippocampus werden Erinnerungen
an emotionale Ereignisse wie Stress und Schmerzen gespeichert (Vachon-Presseau
et al.
,
2016). Von diesen Zentren wird das Periaquäduktale Grau angeregt, welches seinerseits eine
Aktivierung des Nucleus Raphe Magnus und Teilen der Formatio Reticularis bewirkt. Endogene
Opiate und Serotonin werden über das Raphe-spinale-System auf Hinterhornebene
ausgeschüttet und inhibieren nozizeptive Neurone (Willis and Westlund, 1997; Staud, 2012).
Enkephaline und Dynorphine blockieren nozizeptive Weiterleitung in der Marginalzone und der
Substanzia Gelatinosa (Laminae I und II) des Rückenmarks. β-Endorphine wirken im Gehirn
und auf Rückenmarksebene schmerzmodulierend (Basbaum and Fields, 1984).
Injektion von Capsaicin in den M. Quadriceps bei einer Kriegsveteranengruppe mit
Posttraumatischem Belastungssyndrom (n = 11) zeigte eine signifikant länger anhaltende,
akute Zentrale Sensibilisierung im Vergleich zu einer Veteranen-Kontrollgruppe ohne
Posttraumatischem Belastungssyndrom (n = 11) (Moeller-Bertram
et al.
, 2014).
Bei Transsektion des Rückenmarks tritt, ausgelöst durch periphere, nozizeptive Reizung, eine
primäre, jedoch keine sekundäre Hyperalgesie auf. Hemmung der Rostralen Ventromedialen
Medulla durch Lidocaininjektion bewirkt eine Reduktion Sekundärer Hyperalgesie (Urban and
Gebhart, 1999).
9
Schnittpunkte zwischen Zentraler Sensibilisierung und der Osteopathie
Das osteopathische Konzept der Somatischen Dysfunktion beinhaltet funktionelle Änderungen
auf skelettaler, gelenkiger und myofaszialer Ebene sowie damit verbundener vaskulärer,
lymphatischer und neuronaler Strukturen (Educational Council on Osteopathic Principles
(ECOP), 2011). Das Fazilitierte Segment (Korr, 1947) ist die neurophysiologische Begründung
der Somatischen Dysfunktion (Konrad, 2015; Fryer, 2016; Liem, 2016). Verglichen zu den im
Konzept des Fazilitierten Segments postulierten Effekten auf das vegetative Nervensystem und
Muskulatur, bezieht sich Zentrale Sensibilisierung auf Schmerzwahrnehmung mit Beteiligung
aller Ebenen des Zentralen Nervensystems (Fryer, 2016).
Diagnosekriterien der Somatischen Dysfunktion (Segmentale Beweglichkeit, Asymmetrie von
Knochenreferenzpunkten, Gewebekonsistenz) zeigen laut Reviews geringe Interrater-
Reliabilität (Fryer, 2016). Palpation auf Spannung und Schmerzhaftigkeit zeigen die besten
Ergebnisse (Konrad, 2015; Fryer, 2016).
5 Osteopathiestudenten untersuchten die Brustwirbelsäule von 43 Probanden auf Somatische
Dysfunktionen und Läsionsrichtungen per Seitneigetest. Die Prävalenz einer Somatischen
Dysfunktion lag zwischen 48,84% und 89,53%; die Kappa-Werte lagen im unzuverlässigen
(K < 0.00) und geringfügig zuverlässigen (K < 0.20) Bereich für den Seitneigetest (Bekaert,
2011).
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4. Diskussion
Zentrale Sensibilisierung wird als spezieller, reversibler Funktionszustand von Schaltkreisen im
ZNS angesehen und begleitet regelmäßig entzündungsbedingte und neuropathische
Schmerzen (Woolf, 2007, 2011; Latremoliere and Woolf, 2009). Sie tritt physiologisch in Folge
peripherer Entzündungsprozesse auf; anhaltende Zentrale Sensibilisierung ist pathologisch
(Latremoliere and Woolf, 2009). Solange eine akute Verletzung vorliegt, stellt Zentrale
Sensibilisierung einen protektiven Mechanismus dar: Durch die Sensibilisierung werden
potentiell schädigende Aktionen vermieden.
Reduzierte Inhibition und emotionale Faktoren spielen eine wichtige Rolle bei Entstehung und
Anhalten Zentraler Sensibilisierung (Urban and Gebhart, 1999; Latremoliere and Woolf, 2009;
Moeller-Bertram
et al.
, 2014; Vachon-Presseau
et al.
, 2016). Ob supraspinale oder spinale
Einflüsse die Hauptrolle spielen, bleibt in den Untersuchungen ungeklärt.
Reviews
Es fanden sich zwei Übersichtsarbeiten, die sich als hervorragende Quelle eigneten
(Latremoliere and Woolf, 2009; Woolf, 2011). Woolf lieferte 1983 als Erster Nachweise für
anhaltende, zentrale Effekte und prägte den Begriff Zentrale Sensibilisierung (Woolf, 2014).
Daher sind diese Reviews grundlegende Ressourcen zum Thema. Die Ergebnisse
neurobiologischer Grundlagenforschung sind Grundlage der Reviews, Teilaspekte werden
durch eine Vielzahl von Untersuchungen belegt. Nachweise für zentrale Effekte bei
Schmerzwahrnehmung unverletzter Stellen werden aufgeführt, genauso weshalb dieses
Wahrnehmungsphänomen nicht in der Peripherie liegen kann. Alle Ebenen des Nervensystems
werden einbezogen, deren Einflussmöglichkeiten auf Zentrale Sensibilisierung diskutiert.
Interessanterweise wurden neben Gewebeverletzungen andere Ursachen wie mechanische
Fehlstellungen oder chronische Überlastungen als Auslöser nicht in Betracht gezogen.
11
Experimentelle Untersuchungen
Die Untersuchungen zeigen übereinstimmend, dass nozizeptive Reizung, ausgelöst durch
Gewebereizungen beziehungsweise Verletzungen, Zentrale Sensibilisierung verursacht. In den
Untersuchungen konnten bei allen Probanden Veränderungen festgestellt werden. Die
Ausprägung der Effekte war unterschiedlich stark. Die Untersucher vermuten individuelle,
inhibierende Einflüsse. Alle Untersucher verwendeten Kontrollgruppen und grenzten zentrale
gegen periphere Effekte durch verschiedene Methoden ab: Nervenblockaden bei Teilen der
Versuchsgruppen (Woolf, 1983; LaMotte
et al.
, 1991; Torebjörk
et al.
, 1992); Anästhesie von
Hautnerven um deren Beteiligung zu belegen (LaMotte
et al.
, 1991); Decerebrierung von
Versuchstieren (Woolf, 1983), Inhibition cortikaler Zentren (Urban and Gebhart, 1999) und
signifikant länger anhaltende, akute Zentrale Sensibilisierung bei Personen mit
Posttraumatischem Belastungssyndrom belegen übereinstimmend supraspinale Einflüsse.
Weshalb Muskelverletzungen länger anhaltende Zentrale Sensibilisierung auslösen als
Hautverletzungen, bleibt unklar.
Quinn et al. testeten eine Gewebereizung, die unter Normalumständen vorkommt (Quinn
et
al.
, 2010) – die anderen Untersucher injizierten Capsaicin (LaMotte
et al.
, 1991; Torebjörk
et
al.
, 1992) oder nutzten Hitzereize (Woolf, 1983) als Reizmediator. Hier kann kritisiert werden,
dass Capsaicin neuronal verletzungsähnliche Effekte hervorruft, jedoch nicht dasselbe wie eine
Gewebeverletzung ist. Gewebeverletzungen können noch nach mehreren Tagen eine primäre
Hyperalgesie auslösen; bei Capsaicin verschwindet sie nach ungefähr 1h (LaMotte
et al.
, 1991).
Möglicherweise verursachen Traumata durch Freisetzung diverser Substanzen aus verletzten
Geweben stärkere zentrale Effekte.
Bezug zur Osteopathie
Bei Schmerzen unklaren Ursprungs spielt Zentrale Sensibilisierung häufig eine Rolle und ist
daher von täglicher Relevanz für Osteopathen. Das Phänomen der Zentralen Sensibilisierung
ist vergleichbar mit Teilaspekten des Fazilitierten Segments (Übererregbarkeit des Hinterhorns,
nozizeptiver Fasern und verstärkter, afferenter Input) (Korr, 1947; Fryer, 2016) und der
Somatischen Dysfunktion (Fryer, 2016; Liem, 2016) - Kernbereichen osteopathischer Lehre.
Die Erkenntnisse erweitern vorhandene Untersuchungen und stellen gleichzeitig Ursache-
Folge-Konzepte osteopathischer Lehrmeinung in Frage: Dass fasziale Züge oder Organe, die
bei Palpation mit dynamischen Reizen ohne Schmerzwahrnehmung reagieren, eine segmentale
Fazilitation bewirken können, scheint wenig wahrscheinlich.
12
In Reviews und Untersuchungen wird übereinstimmend von geringer Interrater-Reliabilität bei
der in der Osteopathie gängigen Bewegungsuntersuchung der Wirbelsäule zum Aufspüren
einer Somatischen Dysfunktion berichtet (Bekaert, 2011; Konrad, 2015; Fryer, 2016).
Untersuchungen, die Palpation auf Schmerzen hin untersuchten, kamen zu besseren
Übereinstimmungen (Konrad, 2015; Fryer, 2016). Die klinische Diagnostik wird nicht explizit
in den Reviews besprochen, gleichzeitig geben die Zeichen Zentraler Sensibilisierung genügend
Hinweise, wie diese aussehen könnte: Zunehmende Schmerzwahrnehmung bei wiederholten,
unter Normalbedingungen nicht-schmerzhaften, mechanischen Reizen; Auffinden Sekundärer
Hyperalgesie und Hypersensibilität.
Der hohe Grad emotionaler Einflüsse auf Zentrale Sensibilisierung lässt eine psychologische
und eventuell medikamentöse Unterstützung sinnvoll erscheinen. Ob Osteopathen adäquat
ausgebildet sind, Hinweise auf eine emotionale Beteiligung ausreichend zu erkennen, ist
fraglich.
Zur Behandlung Zentraler Sensibilisierung wird die Nutzung zentral wirksamer Medikamente
diskutiert (Woolf, 2011). Es ist bemerkenswert, dass eine Beeinflussung körpereigener
Regulationsmechanismen nicht diskutiert wird: Zumindest supraspinale Einflüsse werden als
Prädisposition und wichtiger Faktor bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung Zentraler
Sensibilisierung genannt. Interessant wäre, ob eine Regulation neuronaler Überreizung durch
manuelle Behandlungen erreicht werden kann.
13
5. Schlussfolgerung
Zentrale Sensibilisierung ist ein sensibilisierter Funktionszustand von Neuronen im Zentralen
Nervensystem als physiologische Reaktion in Folge nozizeptiver Reize durch
Entzündungsvorgänge bei Gewebeverletzungen. Anhaltende Zentrale Sensibilisierung ist
pathologisch, und äußert sich in Hypersensibilität, Allodynie bei dynamischen, mechanischen
Reizen, zunehmender Schmerzintensität und Sekundärer Hyperalgesie. Belegte Ursachen sind
periphere Gewebeverletzungen (Woolf, 1983; LaMotte
et al.
, 1991; Torebjörk
et al.
, 1992),
entzündliche Reize des Ösophagus (Willert
et al.
, 2004) und schmerzhafte Kapseldehnungen
(Quinn
et al.
, 2010). Muskelverletzungen lösen länger anhaltende Sensibilisierung aus als
Hautverletzungen (Wall and Woolf, 1984). Das Phänomen tritt wahrscheinlich regelmäßig bei
Patienten, die sich bei Osteopathen vorstellen, auf und erklärt manche Schmerzen unklaren
Ursprungs.
Die Balance zwischen Inhibition und Fazilitation unterliegt dem komplexen Zusammenspiel
modulierender spinaler und supraspinaler Zentren. Emotionale Faktoren beeinflussen
Entwicklung und Anhalten Zentraler Sensibilisierung.
Zentrale Sensibilisierung erklärt Teilbereiche des Fazilitierten Segments und der Somatischen
Dysfunktion (Fryer, 2016). Die Erklärungen derer Ursachen in der osteopathischen
Lehrmeinung stimmen nicht mit den hier gefundenen Nachweisen überein. Eine kritische
Überprüfung osteopathischer Konzepte scheint sinnvoll: Aufgrund der Nachweise, dass
Verletzungen Zentrale Sensibilisierung auslösen können, empfiehlt sich eine detaillierte
Anamnese der Verletzungshistorie der Patienten. Neben dem akuten Schmerzgeschehen
könnten Altverletzungen auf korrekte physiologische, zentrale Verarbeitung überprüft werden,
indem zugehörige Segmente und Strukturen auf Sensibilisierung hin untersucht werden.
Palpation auf progressive Schmerzwahrnehmung auf unter Normalbedingungen nicht-
schmerzhafte Reize könnte die spinale Bewegungspalpation erweitern und vergleichbarere und
aussagekräftigere Hinweise auf neuronal gestörte Funktionen liefern. Dass Organe (bzw. deren
Umhüllungen), die bei Palpation keine Schmerzen auslösen, eine segmentale Fazilitation
verursachen können, ist unwahrscheinlich.
Weiterführende Fragestellungen könnten Folgen Zentraler Sensibilisierung auf muskulären
Tonus, das Vegetative Nervensystem, Referred Pain, multisegmentale Ausbreitung,
Vorkommen bei Krankheitsbildern, klinische Diagnostik und nicht-medikamentöse
Behandlungsinterventionen sein. Für Osteopathen dürfte von besonderem Interesse sein, ob
14
mechanische Fehlbelastungen oder fasziale Züge Zentrale Sensibilisierung verursachen
können.
15
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18
7. Tabelle Untersuchungsstrategie
Suchbegriffe & Filter
Pubmed PEDro Farasyn
Hits
Relevant
Hits
Relevant
Hits
Relevant
central sensitization
(Pubmed-Filter: Systematic Review, english, german,
humans ,10 Jahre) 69 0 10 0 0 0
central sensitization hypersensitivity
(Pubmed-Filter: Systematic Review, english, german,
humans) 13 0 1 0 0 0
central sensitization hypersensitivity
(Pubmed-Filter: Review, english, german, humans, 10
years) 82 9 1 0 0 0
central sensitization hypersensitivity hyperalgesia
(Pubmed-Filter: Review, english, german, humans, 10
years) 18 5 (4)
0 0 0 0
central sensitization mechanisms
(Pubmed-Filter: Randomized Controlled Trial, english,
german, humans, 10 years) 17 2 0 0 0 0
central sensitization mechanisms
(Pubmed-Filter: Systematic Review, english, german,
humans, 10 years) 24 1 0 0 0 0
central pain mechanisms
(Pubmed-Filter: Randomized Controlled Trial, english,
german, humans, 10 years) 87 4 (2)
0 0 0 0
central pain mechanisms
(Pubmed-Filter: Systematic Review, english, german,
humans, 10 years) 98 1 0 0 0 0
central pain mechanisms hypersensitivity
(Pubmed-Filter: Systematic Review, Review, Randomized
Controlled Trial, english, german, humans, 10 years) 75 8 0 0 0 0
central sensitization "somatic dysfunction" 1 0 0 0 0 0
19
Suchbegriffe & Filter
Pubmed PEDro Farasyn
Hits
Relevant
Hits
Relevant
Hits
Relevant
central sensitization somatic dysfunction
(Pubmed-Filter: Systematic Review, english, german,
humans ,10 years) 0 0 0 0 0 0
central sensitization somatic dysfunction
(Pubmed-Filter: Review, english, german, humans) 36 5 0 0 0 0
central sensitization somatic dysfunction
(Pubmed-Filter: english, german, humans) 58 7 (5)
0 0 0 0
central sensitization facilitated segment 0 0 0 0 0 0
central sensitization facilitated 0 0 0 0 0 0
central sensitization dorsal root
(Pubmed-Filter: Systematic Review, Review, english,
german, humans) 39 5 0 0 0 0
central sensitization development 195 5(3) 0 0 0 0
somatische dysfunktion 0 0 0 0 1 1
"somatic dysfunction"
(Pubmed-Filter: humans, 10 years) 63 1 11 0 7 1
Anmerkungen:
Filter konnten nur bei der Suche auf Pubmed genutzt werden.
Duplikate sind durch Klammern gekennzeichnet ( ).