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CHRISTIAN PIRKER
Ist Tüchtigkeit ein zeitgemäßes Erziehungsziel?
Persönlicher Zugang
Ich habe vor Jahren das Buch „Tüchtigkeit. Analyse und Bewertung
eines Erziehungsziels“ von Wolfgang Brezinka (1987) gelesen. Ich
fand es sehr interessant, aber ich war mir nicht sicher, wie relevant das
Thema im 21. Jahrhundert noch ist. In den letzten Wochen habe ich
mich wieder intensiver mit dem, wohl schon verstaubten, Thema be-
schäftigt. Einerseits im Zusammenhang mit meiner Arbeit als Pfadfin-
derleiter und Trainer, andererseits weil ich eingeladen wurde, an der
Tagung „Pädagogisch-Bildungsgeschichtliche Statements“ (5. Sep-
tember 2013) der Österreichischen Gesellschaft für Historische Päda-
gogik und Schulgeschichte (ÖGHPS) teilzunehmen.
1. Tüchtigkeit als Erziehungsziel
„Tüchtigkeit ist das umfassendste Erziehungsziel, das bisher in
Deutschland gesetzliche Geltung erlangt hat.“ Mit diesen Worten be-
ginnt die Einleitung zum genannten Buch.
In alten Schulgesetzen finden sich immer wieder Hinweise auf Tüch-
tigkeit. So etwa im österreichischen Reichsvolksschulgesetz vom 14.
Mai 1869. Da steht im §1: „Die Volksschule hat zur Aufgabe, […] die
Grundlage für Heranbildung tüchtiger Menschen und Mitglieder des
Gemeinwesens zu schaffen.“ Brezinka kritisiert jedoch, dass der Be-
griff relativ unklar ist und undefiniert verwendet wird, sowie, dass die
Gesetzgeber und die Kommentatoren den Begriff der Tüchtigkeit als
bekannt voraussetzen. (vgl. Brezinka 1987, S. 21 f.)
Er kritisiert weiter, dass in pädagogischen Texten nur selten gesagt
wird, was damit gemeint ist und kommt zum Schluss: „Obwohl
‘Tüchtigkeit‘ in Deutschland seit 1919 gesetzliches Erziehungsziel ist,
ist dieses Persönlichkeitsideal in der pädagogischen Literatur voll-
ständig vernachlässigt worden.“ (Ebd., S. 26) Er stellt fest, dass in
keinem pädagogischen Lexikon zum Thema „Tüchtigkeit“ ein Beitrag
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enthalten ist und dass das Wort in pädagogischen Bibliographien als
Suchbegriff fehlt. Daran hat sich in den letzten 26 Jahren nichts geän-
dert. Einzig in Beiträgen über das Thema „Tugend“ wird „Tüchtig-
keit“ erwähnt. So etwa bei Horney (1970). Horney zeigt, dass Tugend
ursprünglich Tauglichkeit und Tüchtigkeit bedeutet. Das erklärt ver-
mutlich, warum Tüchtigkeit nicht als eigener Begriff in pädagogi-
schen Lexika angeführt ist. In seinem Beitrag über Tugend kommt das
Wort Tüchtigkeit ansonsten nur noch ein Mal vor, im Sinne von „Le-
benstüchtigkeit“ (vgl. Horney 1970, Sp. 1210 ff.).
Im Gegensatz zur Tüchtigkeit findet sich der Begriff „Kompetenz“
sehr häufig in pädagogischen Lexika und Wörterbüchern. Böhm be-
ginnt seinen Beitrag über Kompetenz mit dem Hinweis, dass dieser
Begriff aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen und aus der Um-
gangssprache entlehnt ist und, entsprechend dieser Herkunft, ver-
schiedene Bedeutungen hat (vgl. Böhm 2005, S. 368). Ähnlich be-
schreiben Tenorth und Tippelt (2007) die Situation. Brezinka vermei-
det diesen Begriff, da er mehrdeutig ist. (vgl. Brezinka 2013).
Brezinka arbeitet in seinem Buch alle möglichen Aspekte zum Thema
„Tüchtigkeit“ heraus. Dabei geht er auf historische Begriffe wie „Are-
té“ („áristos“, der Beste oder „Bestheit“) im antiken Griechenland
und „Virtus“ („vir“ = Mann) im antiken Rom zurück. Weiter bezieht
er sich auf Thomas von Aquin, der „virtus“ definiert als „habitus ope-
rativus bonus“ („dauerhafte Bereitschaft zum sittlich guten Handeln“).
Brezinka bietet als Lösung der diskutierten Probleme folgende Defini-
tion von Tüchtigkeit an: „Tüchtigkeit ist die durch eigene Anstren-
gung erworbene, von der Gemeinschaft positiv bewertete, relativ dau-
erhafte Eigenschaft eines Menschen, bestimmten Erfordernissen voll
und ganz genügen zu können.“ (Ebd., S. 53)
Wie Brezinka richtig beschreibt, gibt es zwei Grade von „Tüchtig-
keit“. Der erste im Sinne von „tauglich sein“ und der zweite im Sinne
von „hervorragend tauglich sein“. Grundsätzlich ist jede Tauglichkeit
bis zur Vollkommenheit steigerbar.
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Im Englischen gibt es im Gegensatz zum Deutschen für diese beiden
Begriffe auch verschiedene Namen: „competent“ und „excellent“.
2. Anregungen aus dem Vortrag
In Zwischenrufen zu meinem Vortrag am 5. September sind zwei be-
merkenswerte Aussagen gefallen: Erstens, der Begriff werde im
Schulalltag nicht mehr verwendet, weil er „faschistoid“ sei. Zweitens,
es fehlen die Vorbilder für die Jugend.
Auf Nachfrage wurde der erste genannte Zwischenruf geklärt, dass es
so sei, dass „Tüchtigkeit“ aus dem österreichischen Schulalltag ver-
bannt wurde, weil es vermeintlich „faschistoid“ sei. Das kann wohl
nur ein Missverständnis sein, aber umso schlimmer für den Schulall-
tag und die betroffenen Personen, insbesondere die Schülerinnen und
Schüler, die um eine gute Bildung und Ausbildung gebracht werden.
Zudem scheint selbst im pädagogischen Wörterbuch aus dem Jahr
1942 (Hehlmann 1942), der Begriff „Tüchtigkeit“ nicht auf. Das
schwächt die Berechtigung der Beschreibung „faschistoid“ weiter ab.
Weiter konnte der zweite Zwischenruf geklärt werden und mit einem
Verweis auf den Artikel „Vorbild statt Leitbild“ (Pirker, 2011) endete
das interessante Gespräch. Festgehalten wurde, dass es den Kindern
und Jugendlichen heute an Vorbildern mangelt.
3. Tüchtigkeit in der globalisierten Gesellschaft
Was im Schulalltag als „faschistoid“ gilt, ist im Berufsleben und ins-
besondere in Unternehmen, die im internationalen bzw. nunmehr glo-
balen Wettbewerb stehen, ein zentrales Thema. In Führungsseminaren
geht es sehr wohl um das Thema „Tüchtigkeit“ und die Unterschei-
dung zwischen „competence“ und „excellence“ ist auch für Jim Col-
lins von Bedeutung. In seinem „Level 5 Leadership“-Modell unter-
scheidet er genau zwischen diesen beiden Ausprägungen, zwischen
dem Level 3: „Competent Manager“ und dem Level 5: „Level 5 Exe-
cutive“. (vgl. Collins 2001, S. 17 f.)
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Generell stellt sich die Frage, ob Tugenden heute noch zeitgemäß und
nötig sind. Platons vier Kardinaltugenden Mäßigkeit, Tapferkeit,
Weisheit und Gerechtigkeit sind bestenfalls noch ein Thema im Philo-
sophieunterricht und Glaube, Hoffnung, Liebe sind nicht jedem Ge-
tauften ein Begriff (vgl. Horney 1970, Sp. 1211). Hier beißt sich die
Katze wieder in den Schwanz, weil „Tüchtigkeit“ und „Tugend“ eng
miteinander verknüpft sind (vgl. ebd., Sp. 1210).
4. Tüchtigkeit als Erziehungsziel bei den Pfadfindern
In der Verbandsordnung der Pfadfinder und Pfadfinderinnen Öster-
reichs (PPÖ) steht:
„Wir sind eine demokratische Organisation, die der Jugenderziehung
dient.“ (1.1 Wesen) und „Wir wollen helfen, junge Menschen zu be-
wussten Staatsbürgern und eigenverantwortlichen Persönlichkeiten zu
erziehen, die aus dem Glauben ihre Aufgabe in Familie, Beruf und
Gesellschaft erfüllen.“ (1.2 Ziel)
Dieses Erziehungsziel erinnert an Felbiger (1768), der schreibt, dass
„die ‚Kinder in Schulen…tüchtig gemacht werden sollen, nützliche
Glieder des Staates, vernünftige Menschen, rechtschaffende Chris-
ten…zu werden‘“ (Felbiger 1958, S. 35 zit. n. Brezinka 1987, S. 22).
In Bezug auf meine Pfadfindergruppe Klagenfurt 6 setzen wir uns
zum Ziel, alle Kinder und Jugendlichen zur „Tüchtigkeit“ im Sinne
von „competence“ zu führen, allerdings freuen wir uns, wenn es Pfad-
finder gibt, die „Tüchtigkeit“ im Sinne von „hervorragend tauglich
sein“ also „excellence“ erreichen. Bezogen auf das Erziehungsziel der
PPÖ kann man sagen, dass jedenfalls „Tüchtigkeit“ im Sinne von
„tauglich sein“ bzw. „competence“ angestrebt wird. (vgl. Pirker
2013).
So versuchen wir die jungen Menschen zu bewussten Staatsbürgern zu
machen, die kritisch sind, nicht alles einfach hinnehmen, nachdenken
und vor allem selbstständig denken. Sie sollen als eigenverantwortli-
che Persönlichkeiten lernen, die Schuld nicht bei anderen zu suchen,
sondern aus eigener Kraft einen besseren Weg zu gehen. An etwas zu
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glauben ist sehr wichtig, allerdings steht es jedem Mitglied frei, was
es glaubt. Letztlich geht es darum, die Aufgaben in Familie, Beruf und
Gesellschaft zu erfüllen.
Somit kann man sagen, dass „Tüchtigkeit“ doch noch ein zeitgemäßes
Erziehungsziel ist. Das hat auch Wolfgang Brezinka in seinem Schrei-
ben vom 29.08.2013 bestätigt, in dem er festhält, dass „Tüchtigkeit
heute noch wichtiger ist als je zuvor“.
Literatur und Links:
Brezinka, W.: Tüchtigkeit. Analyse und Bewertung eines Erziehungszieles,
München, Basel, 1987.
Brezinka, W.: Antwortschreiben an Christian Pirker vom 29.08.2013.
Böhm, W.: Wörterbuch der Pädagogik, 16. Aufl., Stuttgart 2005.
Collins, J.: Good to Great. Why some companies make the leap … and others
don’t, New York 2001.
Felbiger, J.I.v.: General-Landschul-Reglement. Eigenschaften, Wissenschaften
und Bezeigen rechtschaffener Schulleute, Methodenbuch, hrsg. v. J. Scheveling,
Paderborn 1958.
Hehlmann, W.: Pädagogisches Wörterbuch, 3. Aufl., Stuttgart 1942.
Horney, W.: Tugend. In: Pädagogisches Lexikon in zwei Bänden, hrsg. v. Hor-
ney, W., Ruppert, J.P., Schultze, W., Bd. 2 K-Z, Gütersloh 1970, Sp. 1210-1212.
Pirker, Ch.: Vorbild statt Leitbild. In: Österreichische Pflegezeitschrift, 12/2011.
Pirker, Ch.: Tüchtigkeit – ein zeitgemäßes Erziehungsziel? Blogbeitrag,
(http://www.christianpirker.com/tuchtigkeit-ein-zeitgemases-erziehungsziel/,
abgerufen am 12.09.2013)
Tenorth, H.-E., Tippelt, R. (Hrsg.): Lexikon Pädagogik. Weinheim, Basel 2007.
Verbandsordnung der Pfadfinder und Pfadfinderinnen Österreichs (PPÖ)
(https://www.ppoe.at/service/pdf/verbandsordnung.pdf, abgerufen am
12.09.2013)