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www.oegkv-fv.at ÖSTERREICHISCHE PFLEGEZEITSCHRIFT 25ÖPZ 4/2018
FACHBEITRAG
Industrie 4.0 trifft auf starke Pflege
Mag. Dr. Christian Pirker
Industrie 4.0 ist eines der Modewörter unserer Zeit. Der
Begriff wird oft assoziiert mit Unklarheit und Angst vor Ver-
änderungen sowie dem Verlust des eigenen Arbeitsplatzes.
Es geht jedoch insbesondere im Bereich der Pflege darum,
Klarheit und Orientierung zu schaffen sowie die Zukunft ak-
tiv anzugehen und selbst zu gestalten. Dies geschieht am
besten mit einem menschenorientierten Ansatz, mit Herz,
Hirn und Hand sowie mit effektivem Lernen und Change
Management.
Was ist Industrie 4.0?
Die Unklarheit beginnt bereits beim Begriff Industrie 4.0.
Einerseits ist es ein typischer Modebegriff, der gut klingt
und durch das „4.0“ zeitgemäß erscheint. Andererseits ist
es eine Tatsache, dass diese Unklarheit und Omnipräsenz
des Begriffs bei den Menschen Unsicherheit und Phanta-
sien auslösen sowie letztlich Angst erzeugen. Es ist jedoch
nicht nur die Angst vor Veränderungen, sondern auch die
Angst um den Verlust des eigenen Arbeitsplatzes. „Werde
ich durch einen Roboter ersetzt?“, ist eine typische und zu-
gleich dramatische Frage in diesem Zusammenhang.
Nur wenige wissen, dass das „4.0“ nicht nur ein „Modegag“
ist, sondern ebenso ein Zeichen für die angebliche vierte in-
dustrielle Revolution. Zur Erinnerung: Die erste industrielle
Revolution begann im ausgehenden 18. Jahrhundert mit
der Schaffung von mechanischen Produktionsanlagen, die
mit Wasser- und Dampfkraft (James Watt, Dampfmaschine)
angetrieben wurden. Die zweite industrielle Revolution wird
ca. 100 Jahre später datiert. Dabei geht es ab ca. 1870 um
den Einsatz des Fließbandes, um die Nutzung von elektri-
schem Strom und die arbeitsteilige Massenproduktion. Die
dritte industrielle Revolution (ca. 1970) nutzt dann Elektronik
und IT. Dabei geht es ebenso um die Automatisierung von
Produktionsprozessen. Manche sehen bereits hier den Be-
ginn der Digitalisierung.
Allen bisherigen industriellen Revolutionen ist gemein, dass
sie erst im Nachhinein als solche erkannt wurden. Man war
sich erst mit einem gewissen Zeitabstand klar, was gesche-
hen ist und wie das zu bezeichnen sei. Das ist typisch für
alle historischen Ansätze. Erstmals ist es nun so, dass eine
industrielle Revolution vorausgesagt wird. Erstmals ist es so,
dass nicht wiederum ca. 100 Jahre zwischen den einzel-
nen industriellen Revolutionen vergehen. Industrie 4.0 ist so
gesehen eine industrielle Revolution, die auf der Hannover
Messe 2011 ausgerufen bzw. verordnet wurde.
Im ersten Absatz des Fachbeitrags in den VDI-Nachrichten,
den die drei Erfinder des Begriffs Industrie 4.0 verfasst ha-
ben, steht: „Zur Hannover Messe tritt die Initiative ‚Industrie
4.0‘ an die Öffentlichkeit. Henning Kagermann, Wolf-Dieter
Lukas, Wolfgang Wahlster, drei Vertreter aus Wirtschaft, Po-
litik und Wissenschaft, zeigen im nachfolgenden Beitrag,
wie der Paradigmenwechsel in der Industrie ablaufen wird.
In der nächsten Dekade werden auf der Basis cyber-physi-
scher Systeme neue Geschäftsmodelle möglich. Deutsch-
land könnte hierbei ‚die erste Geige‘ spielen.“ (Kagermann,
Lukas, Wahlster 2011)
Der Begriff Industrie 4.0 ist, ausgehend von Deutschland,
ein Phänomen, das nicht in der ganzen Welt gleich gesehen
bzw. gleich angegangen wird. Derzeit sieht man weltweit
die Herausforderung in der Digitalisierung. In diesem Zu-
sammenhang spricht man ebenso von der Digitalen Trans-
formation. Ein neuer Begriff in diesem Kontext ist „Internet
of Things“, also das Internet der Dinge, das insbesondere
durch die kommenden neuen Möglichkeiten der Mobilfunk-
technologie (5G) ein hochaktuelles Thema ist. In den USA
spricht man oft von „cyber physical systems“, ein Begriff
aus dem Jahr 2006. Kagermann/Lukas/Wahlster sehen fol-
genden Unterschied zur dritten industriellen Revolution: „In
diesem Transformationsprozess tritt jetzt zusätzlich zur noch
stärkeren Automatisierung in der Industrie (dritte industrielle
Revolution) die Entwicklung intelligenterer Überwachungs-
und autonomer Entscheidungsprozesse neu hinzu, um Un-
ternehmen und ganze Wertschöpfungsnetzwerke in nahezu
Echtzeit steuern und optimieren zu können.“ (Kagermann,
Lukas, Wahlster 2011) Der Paradigmenwechsel besteht
demnach darin, dass nun erstmals das Produkt selbst be-
stimmt, wie es bearbeitet wird. So gesehen ändert sich die
Steuerung von zentral auf dezentral und von Fremdsteue-
rung auf Selbststeuerung des Produktionsprozesses.
Es ist nicht klar, ob wir uns wirklich bereits in der vierten
industriellen Revolution befinden. Es ist allerdings klar, dass
wir jedenfalls die aktuellen Themen rund um die Digitali-
sierung, die Vernetzung und die Kybernetik aktiv angehen
müssen, damit wir sie erfolgreich meistern.
Aus heutiger Sicht erscheint es zudem wahrscheinlicher,
dass wir uns eben noch nicht in der vierten industriellen Re-
volution befinden, sondern noch immer in der dritten indust-
riellen Revolution. Das würde bedeuten, dass wir eben diese
dritte industrielle Revolution inhaltlich anders und umfangrei-
cher beschreiben müssen, als es bisher der Fall war. (Vgl.
Hirsch-Kreinsen 2015, S. 9 ff.)
Für Pflegekräfte ist es nur bedingt von Bedeutung, ob wir
uns noch in der dritten oder bereits in der vierten industriellen
Revolution befinden. Entscheidend ist, was durch die Digita-
lisierung in der nächsten Zeit auf sie zukommt, wie sie damit
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FACHBEITRAG
umgehen und wie sie die Situation meistern. Auf YouTube
findet sich ein anschauliches Video, das zeigt, wie Roboter
aus Sicht des Fraunhofer Instituts in Zukunft Pflegekräfte in
ihrer Arbeit unterstützen könnten. (Trümper 2016) Vermut-
lich werden viele Ansätze aus der Industrie auch im Bereich
der Pflege eine Rolle spielen und modifiziert übernommen
werden. Aus heutiger Sicht erscheint es jedoch ziemlich si-
cher, dass die Überwachungs- und Entscheidungsprozes-
se (Steuerung des Systems) im Bereich der Pflege eine rein
menschliche Aufgabe bleiben werden. Aber man kann es
nicht ganz ausschließen.
Was braucht es für die erfolgreiche
Meisterschaft?
Zuerst braucht es effektives Lernen. Die Erfolgsformel für ef-
fektives Lernen in Organisationen lautet „IL3=ELF10“. Das
Kernelement dafür ist Erfahrungsorientiertes Lernen (EOL).
Erfahrungsorientiertes Lernen hat sich sowohl in Präsenzse-
minaren als auch im eLearning bewährt. Dabei ist insbeson-
dere die Anschlussfähigkeit der Lernenden von Bedeutung.
(Vgl. Pirker 2016, S. 54 ff.)
IL3 steht für integriertes Lernen in drei Dimensionen. Die erste
Integration ist die Integration der Lerninhalte in die bestehen-
de Wissensstruktur der Lernenden (systemisch-konstrukti-
vistischer Ansatz). Die zweite Integration ist eine logische Fol-
ge daraus. Die neu erworbenen Kompetenzen sollen durch
das Erfahrungsorientierte Lernen (EOL) besser in die Praxis
transferiert und im Berufsalltag erfolgreich angewendet wer-
den. Die dritte Integration ist die Integration der Lernsituation
in den beruflichen Alltag. (Vgl. Pirker 2017, S. 139 ff.)
im Kontext von Industrie 4.0 und Pflege macht die Besin-
nung auf diese drei Dimensionen des integrierten Lernens
besonders Sinn. Effektives Lernen ist eine wesentliche
Grundvoraussetzung für das Meistern der Herausforderung
der Digitalisierung. Das gilt sowohl für klassisches Präsenz-
lernen als auch für eLearning und ebenso für das Lernen
von Individuen, Teams und Organisationen.
Wolfgang Mazal hat am „Internationalen Tag der Pflegen-
den“ am 17. Mai 2018 in Möllbrücke in seinem Vortrag „Die
Geschichte des GuKG aus rechtlicher Sicht – Zeitreise/
Philosophie“ die Pflegekräfte aufgefordert, noch mehr die
neuen Möglichkeiten durch die Akademisierung des Beru-
fes zu nutzen und die jeweilige Verantwortung gemäß dem
Europäischen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen
(EQR) zu tragen. (Empfehlung des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 23. April 2008 zur Einrichtung des Eu-
ropäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen)
Hier hat er insbesondere die Stufen 6 (erster Studienzyklus,
Bachelor) und 7 (zweiter Studienzyklus, Master) angespro-
chen. Es besteht zudem die große Chance, dass das Ler-
nen in den Organisationen besser und effektiver wird, sowie
die ebenso große Chance, dass Selbstbewusstsein und
Selbstorganisation die Lern- und Arbeitswelt im Bereich der
Pflege in Zukunft noch stärker prägen.
Weiter braucht es einen klaren und realistischen Blick auf
die Situation. Man darf sich nicht von einem Modebegriff
beeindrucken oder blenden lassen. Ebenso darf man sich
nicht von Angstmache zu sehr in ein negatives Bild der Lage
drängen lassen. Es braucht ein ausreichendes
Maß an Problembewusstsein und Selbstbe-
wusstsein. Es geht darum, dass die Pflege-
kräfte selbstbestimmt und aktiv an die Heraus-
forderung von Industrie 4.0 und Digitalisierung
herangehen. Weiter geht es darum, den Verän-
derungsprozess professionell anzugehen.
Dabei können die Eckpfeiler des Change Ma-
nagement eine Unterstützung in der Planung
und in der Umsetzung bieten. Sie helfen, den
Menschen in der Organisation die richtigen
Schritte zu setzen und durchgängig Orientie-
rung zu schaffen. Zudem gewährleisten sie im
Zusammenhang mit Industrie 4.0 und Digitali-
sierung einen menschenorientierten Ansatz.
Change Management beginnt mit einer klaren
Vision. Zumindest eine Person muss eine klare
Vorstellung von der Zukunft haben. Dann macht
es Sinn, sich professionelle Begleitung für den
Veränderungsprozess zu suchen. Idealerweise
ist das ein externer Berater, der Experte in Sa-
chen Change Management ist und als solcher
Abb.: Die Erfolgsformel für effektives Lernen IL3=ELF10
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darauf achtet, dass ein effektiver Change-Prozess abläuft.
Der externe Berater kann und soll immer auch ein kritischer
Geist sein, der dabei hilft, die blinden Flecken in der Orga-
nisation aufzuhellen. Weiter braucht es einige Menschen in
der Organisation, die als Eidgenossinnen und Eidgenossen
dafür sorgen, dass genügend Leute hinter dem Verände-
rungsprozess stehen und diesen aktiv mittragen. Gemein-
sam erarbeiten sie eine Strategie, die es dann umzusetzen
gilt. Die nächsten Schritte sind dann das Schaffen von Infra-
struktur im weitesten Sinn sowie die Entwicklung von orga-
nisationalem Lernen. (Vgl. Senge 1990)
Letztlich geht es darum, das alles mit Herz, Hirn und Hand
anzugehen. Ganz im Sinne von Johann Heinrich Pestalozzi
(1746–1827) ist darauf zu achten, dass keines dieser drei
Elemente zu kurz kommt. Das ist auf uns Menschen bezo-
gen der wesentliche Punkt, um in einer dynamischen und
komplexen Welt richtiges und gutes Management praktizie-
ren zu können. (Vgl. Malik 2014) Das gilt insbesondere im
Bereich der Pflege. Das gilt ebenso für die Umsetzung von
Digitalisierung und Industrie 4.0 in der Praxis. Hier braucht
es einen menschenorientierten Ansatz.
Frei nach Peter Drucker (1909–2005) lässt sich festhalten:
„Die beste Methode, die eigene Zukunft vorauszusagen, ist
die, sie selbst zu gestalten.“ Somit gilt es, aktiv an die He-
rausforderung heranzugehen und die Digitalisierung in der
Pflege aktiv, selbstbewusst und selbstbestimmt zu gestal-
ten. Gehen Sie bewusst den ersten Schritt und seien Sie für
die anderen ein Vorbild! (Vgl. Pirker 2011, S. 14)
Zusammenfassung und Ausblick
Industrie 4.0 ist ein Thema für alle Lebens- und Arbeitsberei-
che. So ist es ebenso für Pflegekräfte der Fall. Hier bestehen
teilweise Unwissenheit, Unsicherheit, Unklarheit und somit
immer wieder Angst. Das muss nicht so
sein. Dieser Beitrag soll dafür sorgen,
dass Pflegekräfte aus allen Bereichen, mit
einem klaren Blick und einem entspre-
chenden Bewusstsein, das Problem aktiv
angehen, erfolgreich lösen und somit die
Zukunft selbst gestalten.
Am Internationalen Tag der Pflegenden
hat sich der ÖGKV Landesverband Kärn-
ten aktiv und mutig dem Thema gestellt
und mit dem abschließenden Vortrag von
Christian Pirker zum Thema „Industrie
4.0 trifft auf starke Pflege — Wie sie uns
in Zukunft nützen kann“ dafür gesorgt,
dass etwas mehr Klarheit über das Thema
herrscht, aber auch und viel mehr, dass
die Mitglieder die Herausforderung der Di-
gitalisierung in der Pflege bewusst anneh-
men und aktiv angehen.
Wie schauen für Sie persönlich die ersten Schritte aus? Was
können Sie selbst aktiv beitragen, damit die Digitalisierung
Ihrer Arbeit nützt? u
Literatur
Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April
2008 zur Einrichtung des Europäischen Qualifikationsrahmens für le-
benslanges Lernen. www.eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PD
F/?uri=CELEX:32008H0506(01)&from=DE (28.05.2018)
Hirsch-Kreinsen H. (2015): Einleitung. Digitalisierung industrieller Arbeit.
In: Hirsch-Kreinsen H., Ittermann P., Niehaus J. (Hrsg.): Digitalisierung
industrieller Arbeit. Die Vision Industrie 4.0 und ihre sozialen Heraus-
forderungen, edition sigma in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-
Baden.
Kagermann H., Lukas W-D., Wahlster W. (2011): Industrie 4.0: Mit dem
Internet der Dinge auf dem Weg zur 4. industriellen Revolution. In: VDI-
Nachrichten, 13.
Malik F. (2014): Führen Leisten Leben: Wirksames Management für eine
neue Welt, Campus Verlag, Frankfurt, New York.
Pirker Ch. (2011): Vorbild statt Leitbild. In: Österreichische Pflegezeitschrift,
12/2011.
Pirker Ch. (2016): Effektives eLearning als Teil des Integrierten Lernens in
Organisationen. In: Siepmann, F. (Hrsg.): Jahrbuch eLearning & Wis-
sensmanagement 2016, Siepmann Media, Hagen, 54-58.
Pirker Ch. (2017): Eine systemisch-konstruktivistische Untersuchung der
Managementkompetenz, Dissertation, Klagenfurt.
Senge, P. (1990): The Fifth Discipline. The art and practice of the learning
organization, Currency, Doubleday, New York.
Trümper A. (2016): Was Pflege-Roboter alles können müssen – Faszina tion
Wissen, Bayerischer Rundfunk.
www.youtube.com/watch?v=Gvu7Dd9DPqI (28.05.2018)
Kontakt:
Mag. Dr. Christian Pirker
Unternehmensberater, Managementtrainer und
Keynote Speaker. Er arbeitet im Dreieck der Bereiche
Führung, Digitalisierung und Change Management.
E-Mail: chp@christianpirker.com
Abb: Die Eckpfeiler des Change Management