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Die Germanen im Blickfeld der Kollektivwissenschaft. Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwis-senschaft 3, H. 2, 2017, 83–108.

Authors:
Die Germanen im Blickfeld
der Kollektivwissenschaft
Stefan Burmeister
Die Regensburger Forschungsstelle Kultur- und Kollektivwissenschaft hat
2016 ihre jährliche stattfindende Tagung zum Kollektivbegriff in den Alter-
tumswissenschaften ausgerichtet. Ich möchte im Folgenden das Veranstal-
tungsthema an einem Fallbeispiel weiter ausloten und hierbei den Spagat
versuchen, ein in seiner Komplexität problematisches Thema so darzule-
gen, dass sowohl ein interdisziplinäres Lesepublikum ohne Kenntnis der
fachlichen Grundlagen als auch die in den fachlichen Details tief verstrick-
ten Fachkolleginnen und -kollegen sich auf diese notwendigerweise inter-
disziplinäre Auseinandersetzung einlassen können.
1. DER KULTURBEGRIFF IN DER ARCOLOGIE
Einen ersten Eindruck von der Bedeutung der Begriffe „Kultur“ und „Kol-
lektiv“ in der Archäologie1 gewährt eine unspezifische Suchanfrage im
Stefan Burmeister ist Ausstellungskurator am Museum und Park Kalkriese. Ne-
ben der musealen Tätigkeit denkt und schreibt er über diverse Forschungsfragen
wie Migration, Innovation und Materialität.
*
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Verbundkatalog der Fachbibliotheken des Deutschen Archäologischen In-
stituts:2 Während „Kultur“ Ende Mai 2017 19.481 Treffer ergab, kam der
Suchbegriff „Kollektiv“ gerade mal auf 21 Treffer. „Kollektiv“ fand hierbei
eine vielfältige Verwendung: Bei osteuropäischen Publikationen wurden
meist Autorenkollektive subsumiert, in anderen Fällen waren z. B. Kollek-
tivbestattungen als spezifische Bestattungsform behandelt. Dieser Befund
ist für Archäologinnen und Archäologen wenig überraschend, ist „Kultur“
doch ein archäologisches Schlüsselkonzept. „Kollektiv“ ist hingegen von
marginaler Bedeutung; allenfalls in der Klassifikation unterschiedlicher Be-
stattungsformen hat der Begriff als Ordnungskriterium seinen festen Platz.
In den Kulturwissenschaften wurde der Kulturbegriff vor allem in den
1990er Jahren einer harschen Kritik unterzogen worden: Er konstruiere
Kulturen als geschlossenes System, weswegen Kultur wie eine Zwangsja-
cke sei, die unser Verständnis der Gruppenverhältnisse nicht darstellen las-
se;3 letztlich diene er nur der hierarchisierenden Separierung der Anderen;4
1 Für die fachfremden Leserinnen und Leser sei an dieser Stelle kurz erläutert,
dass es verschiedene Spielarten archäologischer Wissenschaften gibt, die sich in
ihrer disziplinären Geschichte, Methodik sowie in ihrem genuinen Forschungs-
gegenstand z. T. deutlich unterscheiden. Gemein ist jedoch allen, dass sie an-
hand nicht-textlicher materieller Quellen vergangene Gesellschaften/Kulturen
erforschen. Siehe im Einzelnen z. B. Manfred K. H. Eggert, Archäologie.
Grundzüge einer historischen Kulturwissenschaft, Tübingen 2006. Wenn im
Folgenden von „Archäologie“ die Rede ist, ist damit die Ur- und Frühgeschicht-
liche Archäologie gemeint, die sich in erster Linie mit schriftlosen Kulturen be-
fasst und von daher weitgehend ohne textliche Quellen arbeitet. Der Fokus in
diesem Beitrag auf die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie rechtfertigt sich
hier allein durch die Tatsache, dass das die Disziplin ist, für die ich mich im
Studium entschieden habe und die mich in meinen weiteren Arbeiten seitdem
festhält.
2 http://opac.dainst.org/F?.
3 Ay
e Ça
lar, „Das Kultur-Konzept als Zwangsjacke in Studien zur Arbeitsmig-
ration“, in: Zeitschrift für Türkeistudien 3 (1), 1990, S. 93-105.
4 Lila Abu-Lughod, „Writing Against Culture“, in: Richard G. Fox (Hg.), Recap-
turing Anthropology. Working in the Present, Santa Fe 1991, S. 137-162.
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er offenbare sich als verdeckter Rassismus;5 um hier nur einige der Kri-
tikpunkte wiederzugeben. Auf diese Kritikpunkte werde ich im Fortgang
meiner Betrachtung wieder zurückkommen. In Replik auf Lila Abu-
Lughods „Writing Against Culture“6 verfasste Christoph Brumann seine
Verteidigungsrede „Writing for Culture“.7 Er wies etliche der den Kritiken
unterliegenden essentialistischen Grundannahmen zurück und betonte den
praktischen Aspekt, am Kulturkonzept festzuhalten. Von den kritischen
Auseinandersetzungen um ihren Zentralbegriff blieb die Archäologie weit-
gehend unberührt.
Eine erste explizite Fundierung des archäologischen Kulturkonzepts
formulierte Gustaf Kossinna Anfang des 20. Jahrhunderts auf ihn wird
weiter unten zurückzukommen sein. Grundlage seines Kulturbegriffs waren
einzelne Fundtypen, die in ihrer räumlichen Verbreitung kongruent seien
und – so zumindest das Postulat – geschlossene Räume ergäben. Doch erst
die Erweiterung dieses Konzeptes durch den australisch-britischen Archäo-
logen Vere Gordon Childe verfestigte sich zum auch heute noch gültigen
Kanon des Faches. Er schrieb einige Jahre nach Kossinna:
We find certain types of remains – pots, implements, ornaments, burial rites, house
forms – constantly recurring together. Such a complex of regularly associated traits
we shall term a ‚cultural group‘ or just a ‚culture‘.8
5 Rudolf Leiprecht, „‚Kultur‘ als Sprachversteck für ‚Rasse‘. Die soziale Kon-
struktion fremder Kultur als ein Element kulturalisierenden Rassismus“, in:
Martina Johannsen (Hg.), SchwarzWeissheiten. Vom Umgang mit fremden Men-
schen, Oldenburg 2001, S. 170-177.
6 Abu-Lughod (Fn. 4).
7 Christoph Brumann, „Writing for Culture. Why a Successful Concept Should
Not Be Discarded“, in: Current Anthropology 40 (Supplement), 1999, S. S1-
S27.
8 Vere Gordon Childe, The Danube in Prehistory, Oxford 1929, S. V-VI. Zu den
methodologisch-theoretischen Grundlagen von Kossinna und Childe und ihrer
jeweiligen Wirkung im Fach siehe Ulrich Veit, „Gustaf Kossinna und V. Gor-
don Childe. Ansätze zu einer theoretischen Grundlegung der Vorgeschichte“, in:
Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 35, 1984, S. 326-364.
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In Childes Konzept waren die gruppenbildenden Merkmale nicht mehr dis-
parate Elemente, sondern wiederkehrende Vergesellschaftungen9, die letz-
lich gesellschaftliche Normen einer Gruppe widerspiegeln. Die auf diesem
Wege erschlossenen Kulturen waren für Childe beobachtete Fakten.10
Einen ähnlichen Ansatz formulierte der deutsche Archäologe Rolf
Hachmann rund drei Jahrzehnte später. Er bezog sich bewusst nicht auf
einzelne Kulturelemente, da diese für sich jeweils zu deutungsoffen seien.
Hachmann führte aus,
daß das Wesen einer Kultur nicht durch die Summe ihrer Kulturgüter erfaßt werden
kann und sich nicht durch eine begrenzte Zahl isolierter Kulturelemente darstellen
läßt, sondern in der Struktur, d. h. dem Wirkungszusammenhang zwischen den ein-
zelnen Kulturgütern liegt.11
Seine Überlegungen folgten einem funktionalistischen Kulturkonzept, das
auf den Wirkungszusammenhang zwischen den einzelnen Kulturelementen
abzielt – und damit lieferte er erstmals auch eine fundierte theoretische Be-
gründung des archäologischen Kulturbegriffs. Dass die von ihm ausgewähl-
9 Dieser Begriff ist für Nicht-Archäologinnen und -Archäologen erklärungsbe-
dürftig was bereits auf der Regensburger Tagung zu anfänglichen Missver-
ständnissen in der interdisziplinären Kommunikation führte. „Vergesellschaf-
tung“ bezeichnet keinen sozialen Aneignungsprozess, sondern meint im archäo-
logischen Fachjargon, dass bestimmte beobachtete Kulturmerkmale zusammen
auftreten, z. B. bestimmte Sachgüter, die gemeinsamer Bestandteil einer Gra-
bausstattung sind. Solche rein formalen Sachverhalte können im Fortgang der
Analyse natürlich eine soziale Bedeutung entfalten: Regelhafte Vergesellschaf-
ten lassen auf ein regelhaftes Handlungsmuster schließen, das letztlich soziolo-
gisch interpretiert werden kann.
10 Vere Gordon Childe, „Changing Methods and Aims in Prehistory. Presidential
Address for 1935“, in: Proceedings of the Prehistoric Society 1, 1935, S. 1-15
(S. 3).
11 Rolf Hachmann, Ostgermanische Funde der Spätlatènezeit in Mittel- und
Westdeutschland: Ein Beitrag zum Problem des Nachweises von Bevölkerungs-
bewegungen auf Grund des urgeschichtlichen Grundstoffs“, in: Archaeologia
Geographica 5/6, 1956/1957, S. 55-68 (S. 58).
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ten Kulturelemente diesen Zusammenhang tatsächlich widerspiegeln, blieb
jedoch Postulat.
Eine systematische kritische Autopsie archäologischer Kulturkonzepte
erfolgte erstmals durch David L. Clarke. Er unterschied im Wesentlichen
drei grundlegende Kulturmodelle: 1. das Ziegelstein-Modell; 2. das Kreis-
Modell; 3. das polythetische Modell.12 Das sog. Ziegelstein-Modell basiert
auf der Annahme homogener, in sich geschlossener Gruppen, die sich
durch ein einheitliches Kulturverhalten auszeichnen und in diesem sich klar
von anderen Gruppen abgrenzen. Das Kreis-Modell bildet im Wesentlichen
hiervon eine abgemilderte Variante, indem von einem kulturellen Zentrum
ausgegangen wird. Demnach präsentiert sich die jeweilige Kultur in ihrem
zentralen Kern in Reinform und dünnt mit zunehmender Entfernung vom
Zentrum aus. In der Peripherie kommt es dann zu Überschneidungen mit
benachbarten Kulturen. Beide Kulturmodelle kranken daran, dass es eben
diesen unterstellten verbindlichen Satz kultureller Merkmale nicht gibt, ge-
schweige denn, dass dieser Satz an kulturbildenden Merkmalen überhaupt
jemals definiert wurde. Clarke hob sehr stark auf den räumlichen Aspekt
von Kultur ab und diskutierte Kultur“ auch ausschließlich als räumliches
Verbreitungsmodell. Da die beiden erstgenannten Modelle empirisch keine
Bestätigung finden – weder lassen sich homogene, abgeschlossene Kultur-
räume ausweisen noch lässt sich räumlich ein Kulturkern definieren – favo-
risierte er das dritte, polythetische Kulturmodell. Dies zeichnet sich durch
eine Vielzahl überlappender, in sich offener Verbreitungsräume einzelner
Merkmale aus. Ein Kulturareal sah er dann gegeben, wenn mindestens 50
% der zugrundeliegenden Kulturmerkmale auftreten. Auch hier offenbart
sich wieder ein definitorisches Problem, welche Merkmale als kulturbil-
dend zu sehen sind. Das polythetische Modell wird der Empirie sicherlich
von allen am besten gerecht, ist jedoch schwer zu operationalisieren, wes-
wegen das Ziegelstein-Modell und vor allem das Kreis-Modell nach wie
vor in der Archäologie das bestimmende Kulturkonzept stellen.13
Für das Grundverständnis des archäologischen Kulturkonzeptes ist es
wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass Kultur in erster Linie räumlich ge-
12 David Clarke, Analytical Archaeology, London 1968, S. 263-266.
13 Siehe auch Manfred K. H. Eggert, Prähistorische Archäologie. Konzepte und
Methoden, Tübingen 2001, S. 273-296 mit einer umfassenden kritischen Analy-
se des archäologischen Kulturkonzepts sowie weiterer Literatur.
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dacht ist. Es ist ein klassifikatorisches Konzept zur Systematisierung regio-
naler Sachgruppen. Es setzt unmittelbar an der Quellenbasis an – den ar-
chäologisch erschlossenen Überresten – und zielt auf die räumliche Integra-
tion archäologischer Phänomene. Da wir jedoch auch immer zu berücksich-
tigen haben, dass sich nur ein Bruchteil vergangener Kulturphänomene in
der archäologischen Quellenbasis materialisiert hat, müssen wir realisieren,
dass die archäologische Kultur nur ein kleiner Ausschnitt der einstigen le-
benden Kultur repräsentiert. Somit ist sie bestenfalls ein heuristisches
Fragment; in der selbstgeschaffenen klassifikatorischen Welt des Archäo-
logen14 wahrscheinlich eher ein Konstrukt.
Der archäologische Kulturbegriff impliziert in seinem Gebrauch jedoch
mehr und lässt sich nicht auf ein klassifikatorisches Werkzeug reduzieren.
Er birgt auch die Vorstellung konkreter historischer Gemeinschaften in Zeit
und Raum, die sich als mehr oder weniger geschlossene Systeme von ihrem
zeitgenössischen Umfeld abgrenzen ließen und lassen.15 Geistiger Pate die-
ses Kulturkonzeptes ist der Volksbegriff wie er in der deutschen Aufklä-
rung und Romantik entwickelt wurde.
1.1 Exkurs: Die nationale Debatte als Trojanisches Pferd
im Kulturdiskurs
Der Kulturbegriff hat in Deutschland eine wechselvolle Geschichte; und die
Germania des Tacitus hatte hieran einen erheblichen Anteil.16 In den Ein-
gangskapiteln beschreibt der römische Schriftsteller die Germanen als un-
vermischte Ureinwohner ihres Landes und spart auch nicht mit tugendhaf-
ten Beschreibungen seiner Bewohner. Als die Schrift im 15. Jahrhundert
wiederentdeckt wurde, fand sie eine schnelle Verbreitung und vielfache
14 Ebd., S. 283.
15 Siehe Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen
Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen, Berlin 2004, S. 32-76.
16 Der italienische Historiker Arnaldo Momigliano zählte die Germania, die die
finstersten Leidenschaften des menschlichen Geistes wecken könne [„the most
unholy passions in the human mind“], zu den hundert gefährlichsten Büchern
der Weltgeschichte; siehe Arnaldo Momigliano, „Some Observations on Causes
of War in Ancient Historiography“, in: ders., Studies in Historiography, London
1966, S. 112-126 (S. 113).
Die Germanen im Blickfeld der Kollektivwissenschaft | 89
Lektüre bei den deutschen Gelehrten der Zeit. Drei zentrale Argumentati-
onsmuster finden sich bereits in den frühen Schriften der deutschen Huma-
nisten:17
1) Germanien bestand aus einer Vielzahl von Stämmen und Landschaften,
die nicht zentralistisch regiert wurden. Damit spiegelte es die Situation der
deutschen Territorialherrschaften im 15. und 16. Jahrhundert wider.
3) Von den Germanen ausgehend bestand eine historische Kontinuität bis
zu den gegenwärtigen Deutschen.
3) Die Germanen wie auch die Deutschen verband ein gemeinsames Kul-
tursubstrat mit einem ausgeprägten Tugendsystem, das sich deutlich von
anderen Völkern unterscheiden ließ: Einfachheit und Anständigkeit statt
Luxus und Laster, Treue statt Verlogenheit, Tapferkeit und Freiheit statt
Kriecherei und Unterwürfigkeit.
Man las aus den römischen Beschreibungen einen ehrenhaften Volkscha-
rakter heraus, den man über wenige historische Meilensteine: Karl der Gro-
ße, die Salier und die Staufer bis in die Gegenwart verlängerte. Die Be-
hauptung eines unvermischten und bodenständigen Volkes erlaubt letztlich
die Gleichung „germanisch = deutsch“. Über die konstruierte historische
Kontinuität ließ sich ebenso eine ideelle Kontinuität wie auch die Geschich-
te der Germanen selbst zu Eigen machen. Hier liegt der Keim jener Germa-
nen-Ideologie, die als völkische Propaganda ihr Gewaltpotenzial Jahrhun-
derte später entfalten sollte.18 Dass diese Ideologie mit den behaupteten ur-
deutschen Tugenden und Wesensmerkmalen letztlich auf den rhetorischen
Stilmitteln eines antiken römischen Literaten beruht, bezeugt die Ironiefä-
higkeit von Geschichte.
17 Hans Kloft, „Die Idee einer deutschen Nation zu Beginn der frühen Neuzeit.
Überlegungen zur Germania des Tacitus und zum Arminius Ulrichs von Hut-
ten“, in: Rainer Wiegels/Winfried Woesler (Hgg.), Arminius und die Varus-
schlacht. Geschichte – Mythos – Literatur, Paderborn 1995, S. 197-210 (S. 206).
18 Siehe in den einzelnen Stationen Klaus von See, Deutsche Germanen-Ideologie.
Vom Humanismus bis zur Gegenwart, Frankfurt/Main 1970.
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Mit Hobsbawm handelt es sich hier um eine erfundene Tradition,19 die
den Deutschen nicht nur einen gemeinsamen Ursprungsmythos, eine origo
gentis, lieferte, sondern zu einer Neukonzeption der deutschen Geschichte
führte letztlich zur Erfindung der deutschen Geschichte.20 Die deutschen
Humanisten fanden hierin das argumentative Rüstzeug, eine Zusammenge-
hörigkeit zu postulieren und eine positive Identität auszuformulieren. Hier
hat die deutsche Nation ihren Ursprung, die sich in diesem Prozess als vor-
gestellte Gemeinschaft formierte und die Definitionsmacht über ihre Zu-
ordnungsattribute übernahm.21 Die Nation war nicht bereits da, als man sich
ihrer bewusst wurde; erst der Bewusstwerdungsprozess führte zu ihrer Ent-
stehung – oder wie Münkler und Grünberger treffend formulieren: „Im Fal-
le Deutschlands zumindest sind Nation und nationale Identität von den In-
tellektuellen nicht ‚nach‘-gedacht, sondern ‚vor‘-gedacht worden“.22
Im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte die deutsche Romantik die Be-
griffe der „Nation“ und „Kultur“ neu formuliert. Die deutsche Diskussion
wurde stark von Montesquieus Vorstellung beeinflusst, dass die Nation sich
durch besondere Gesetze, Sitten und Gebräuche auszeichne. Herder sah
Sprache und Poesie als konstitutive Faktoren einer Nation, die sich hier als
Werte- und Kulturgemeinschaft darstellt. Diese Gemeinschaft repräsentier-
te nicht die Summe ihre Einzelmitglieder, sondern sie hatte als Kollektivin-
dividuum eine eigene Qualität mit eigenen, ihr zugesprochenen Eigenschaf-
ten wie Gesinnung, Geist und Seele.23 Zweierlei zeichnete die Diskussion
19 Eric Hobsbawm, „Introduction: Inventing Traditions“, in: Eric Hobsbawm/Te-
rence Ranger (Hgg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 1-14.
20 Dieter Mertens, „Die Instrumentalisierung der ‚Germania‘ des Tacitus durch die
deutschen Humanisten“, in: Heinrich Beck/Dieter Geuenich/Heiko Steuer/Dietr-
ich Hakelberg (Hgg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch–deutsch“.
Sprache und Namen,Geschichte und Institutionen, Berlin 2004, S. 37-101 (S.
80).
21 Zu diesem Aneignungsprozess siehe Herfried Münkler/Hans Grünberger, „Nati-
onale Identität im Diskurs der Deutschen Humanisten“, in: Helmut Berding
(Hg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung
des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, Frankfurt/ Main 1994, S. 211-248.
22 Ebd., S 248.
23 Für die eingehendere Diskussion der Begriffe „Volk“ und „Nation“ in ihrer his-
torischen Entwicklung siehe Reinhart Kosselleck, „Volk, Nation, Nationalis-
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um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert aus: Zum einen war der Nati-
onenbegriff deutlich kosmopolitisch geprägt und nicht mit der Vorstellung
der Superiorität einer Nation verbunden, zum anderen wurden Nation und
Volk noch synonym verwendet. Beides sollte sich erst in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts ändern. Während sich mit der Zeit „Volk“ als Begriff
für einen Untertanenverband innerhalb politischer Grenzen etablierte, wur-
de Nation“ als Kultur-, Sprach- und Abstammungseinheit definiert. Das
Ideologem der deutschen Kulturnation in Kontrast zur französischen
Staatsnation entfaltete sich als politisches Dispositiv, mit dem die deutsche
Nation im Werden sich selbst ermächtigen konnte.24
In Auseinandersetzung mit der französischen Revolution und dem Wi-
derstand gegen die napoleonische Besatzung formierte sich ein neuer Ge-
danke. Deutschland bestand nach wie vor aus einer Vielzahl konkurrieren-
der politischer Einheiten; die Zerrissenheit Deutschlands war ein Stachel im
Fleisch der nationalen Selbstbewusstwerdung. Die Nation wurde als Kol-
lektivindividuum gesehen und mit einem Kampfbegriff der Französischen
Revolution belegt: die eine und unteilbare Nation.25 Die Nation sollte nicht
nur eine sprachliche und kulturelle Einheit sein, sondern auch eine politi-
sche Einheit, mit eigener Identität und als selbstständiger politischer Akteur
fortbestehen. Sinnbild dieses neuen Programmes ist die Neuschöpfung der
„Germania“. Als Allegorie wurde „Germania“ zur Personifikation einer
neuen nationalen Staatsidee; der Idee des „ewigen Deutschlands“, das sich
nicht durch äußere Faktoren definiere, sondern von innen, von der Einheit
der einen und unteilbaren Nation.26 Sie hebt sich damit entscheidend von
mus, Masse“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Kosselleck (Hgg.), Ge-
schichtliche Grundbegriffe 7, Stuttgart 1992, S. 141-431 (insbes. S. 309 ff.).
24 Otto Kallscheuer/Claus Leggewie, „Deutsche Kulturnation versus französische
Staatsnation? Eine ideengeschichtliche Stichprobe“, in: Berding (Fn. 21), S.
112-162.
25 Lothar Gall, „Die Germania als Symbol nationaler Identität im 19. und 20. Jahr-
hundert“, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen I. Phi-
lologisch-Historische Klasse 1993, 2, S. 35-88 (S. 41).
26 Ebd., S. 46.
92 | Stefan Burmeister
dem früheren literarischen Germania-Begriff ab, der eher locker als Syno-
nym für Deutschland benutzt wurde.27
Die Vorstellung einer mit sich selbst identischen, der ‚einen und unteilbaren‘ Nation
war nun endgültig mit dieser Figur verbunden und auch der Anspruch, daß die Nati-
on die letzte und höchste Instanz im Leben der Gemeinschaft sei.28
Die Nation als höchste Instanz sollte die politische Rhetorik in den kom-
menden Kriegen noch verheerend prägen.
Auch in der inhaltlichen Ausgestaltung des archäologischen Kulturbe-
griffs sollte das national definierte Kulturkonzept später seine Wirkung ent-
falten. Hier lassen sich vor allem zwei Wirkpfeile beobachten. Der Natio-
naldiskurs hat über die Geschichtswissenschaft seinen Weg in die Archäo-
logie gefunden. Dies lässt sich an Biographie und Werk einer Reihe von na-
tionalistischen Geschichtsprofessoren nachvollziehen, die jeweils auch als
Abgeordnete in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/1849 saßen.
Hier sind vor allem Johann Gustav Droysen zu nennen, der mit seiner ge-
schichtswissenschaftlichen Methodologie das Fach bis heute nachhaltig ge-
prägt hat, sowie Friedrich Christoph Dahlmann und Georg Waitz. Letztere
haben maßgebliche Werke zur Geschichte der Germanen verfasst. All die-
sen Gelehrten ist gemeinsam, dass sie die Nation als ein überzeitliches Kol-
lektivsubjekt verstanden, das auf der Gemeinsamkeit von Sprache, Religion
und Sitte aufbaut. Dabei sprachen sie der deutschen Nation eine geistig-
kulturelle Überlegenheit und die Rolle eines auserwählten Volkes zu.29
Diese Historiker bewegten sich im intellektuellen Zeitgeist und prägten
ihr Fach. Aus diesem Kreis ging auch Gustaf Kossinna (1858–1931) her-
vor, der als ausgebildeter Germanist die erste außerordentliche Professur
für Archäologie in Deutschland bekleidete. Sein nationalistisches Fachver-
27 Zur Symbol-Geschichte der „Germania“ in Deutschland siehe Detlef Hoffmann,
„Germania. Die vieldeutige Personifikation einer deutschen Nation“, in:
Gerhard Bott (Hg.), Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit. 200 Jahre Französi-
sche Revolution, Nürnberg 1989, S. 137-155; Gall (Fn. 25).
28 Gall (Fn. 25), S. 51.
29 Siehe im einzelnen Niklas Lenhard-Schramm, Konstrukteure der Nation. Ge-
schichtsprofessoren als politische Akteure in Vormärz und Revolution 1848/49,
Münster 2014.
Die Germanen im Blickfeld der Kollektivwissenschaft | 93
ständnis und maßgeblicher Einfluss auf die wissenschaftliche Archäologie
ist hinreichend untersucht.30 Paradigmatisch war sein Lehrsatz: „Scharf
umgrenzte Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimm-
ten Völkern oder Völkerstämmen“31, der die Grundlage für seine „Deutsche
Vorgeschichte. Eine hervorragend nationale Wissenschaft bildete“.32 Damit
öffnete Kossinna nicht nur der nationalistischen Instrumentalisierung der
Archäologie Tür und Tor, sondern gab so dem archäologischen Kulturbe-
griff ein erstes theoretisches Fundament so spekulativ dieses auch nur
gewesen war. Zwei Sachverhalte wurden hier postuliert, die die archäologi-
sche Debatte fortan prägten: Völker leben in geschlossenen Räume und
zeichnen sich durch eine verbindliche Kultur aus.
Der zweite hier zu benennende Einfluss kam aus der politischen Geo-
graphie. Durch den räumlichen Aspekt der archäologischen Überlieferung
erhielt die Kartographie eine zunehmende Bedeutung bei der Auswertung
und Vermittlung dieser Quellen.33 Hier lässt sich in der Entwicklung der
Kartenbilder im 19. und frühen 20. Jahrhundert deutlich das Bestreben zur
Darstellung geschlossener Räume aufzeigen: Kulturelle Phänomene wurden
abgegrenzt und eingehegt. In der zeitgenössischen politischen Kartographie
wurde das Ziel verfolgt, politische Territorien mit geographischen Mitteln
gleichsam zu nationalisieren.34 Und auch archäologische Karten erzeugten
30 Siehe z. B. Günter Smolla, „Gustaf Kossinna nach 50 Jahren. Kein Nachruf“, in:
Acta praehistorica et archaeologica 16-17, 1984-1985, S. 9-14; Ulrich Veit,
„Gustaf Kossinna and his concept of a national archaeology“, in: Heinrich Här-
ke (Hg.), Archaeology, ideology and society. The German experience, 2. Aufl.,
Frankfurt/Main 2002, S. 41-66.
31 Gustaf Kossinna, Die Herkunft der Germanen. Zur Methode der Siedlungsar-
chäologie, Würzburg 1911, S. 3.
32 Gustaf Kossinna, Die deutsche Vorgeschichte. Eine hervorragend nationale
Wissenschaft, 2. Aufl., Würzburg 1915.
33 Susanne Grunwald, „Archäologischer Raum ist politischer Raum. Neue Per-
spektiven auf die Archäologische Kartographie“, in: Forum Kritische Archäolo-
gie 5, 2016, S. 50-75.
34 Iris Schröder, „Die Nation an der Grenze. Deutsche und französische National-
geographien und der Grenzfall Elsaß-Lothringen“, in: Ralph Jessen/Jacob Vogel
(Hgg.), Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte, Frank-
furt/Main 2002, S. 207-234.
94 | Stefan Burmeister
für „völkisch“ identifizierte Sachverhalte geschlossene geographische
Räume. Diese Kartenbilder operierten implizit mit dem Kossinna’schen
Kulturbegriff, der seine Wurzeln im deutschen Nationalismus des frühen
19. Jahrhunderts hatte.
Auf dieser Grundlage war der archäologische Kulturbegriff kontami-
niert. Er war ein Trojanisches Pferd, das in seinem Inneren einen Wust an
ideologischen Versatzstücken eines jahrhundertelangen Nationendiskurses
in Deutschland enthielt. Inwieweit der heutige Kulturbegriff in der Archäo-
logie hiervon geläutert ist, wird immer wieder aufs Neue zu reflektieren
sein.
1.2 Ein Alternativkonzept zum archäologischen
Kulturbegriff?
Klaus P. Hansen führte jüngst aus, dass die Begriffe „Kultur“ und „Kollek-
tiv“ als Zwillingsbegriffe zu verstehen seien, die denselben Gegenstand aus
jeweils anderer Perspektive in den Blick nähmen.35 Der Gegenstand ist die
menschliche Gesellschaft in ihren einzelnen Untergliederungen; das Er-
kenntnisziel ist somit ein soziologisches. Für die Archäologie ist dieser
Denkansatz ungewöhnlich. Wie ausgeführt, dient der Kulturbegriff zu-
nächst der klassifikatorischen Einordnung archäologischer Phänomene, ist
somit eher ein methodisches Mittel zur Quellenerschließung, weniger ein
theoretisches zur Quelleninterpretation. Dass durch die Gleichsetzung von
Kultur mit Volk oder Ethnie die Interpretation jedoch meist unhinterfragt
mitschwingt, wurde oben bereits offen gelegt. Als analytisches Instrumen-
tarium bildet das Kulturkonzept jedoch erst die Vorstufe zur Interpretation
einstiger gesellschaftlicher Lebenszusammenhänge. Deren Interpretation ist
selbstverständlich das Ziel archäologischer Tätigkeit. Kultur und Kollektiv
befinden sich folglich im archäologischen Selbstverständnis epistemolo-
gisch auf unterschiedlichen Ebenen des Erkenntnisgewinns.
Greifen wir Hansens Idee des Zwillingsbegriffs von Kultur und Kollek-
tiv auf, so könnte man diesen vielleicht in eine Analogie der Alltagserfah-
rung übersetzen. Kultur wäre demnach als Software, Kollektiv hingegen als
35 Klaus P. Hansen, „Versuch einer Systematisierung der Kollektivwissenschaft“,
in: Zeitschrift für Kultur- und Kollektivwissenschaft 1 (1), 2015, S. 89-110 (S.
90).
Die Germanen im Blickfeld der Kollektivwissenschaft | 95
Hardware, Nutzer und Programmierer in einem zu umschreiben. Kultur
stellt die Programme zur Verfügung bzw. ist das Programm, nach denen
gesellschaftliches Handeln organisiert ist und dieses mit Sinn auflädt. Die
Kollektive sind jene, die gemäß der Programme handeln, in Rückkopplung
ihrer Handlungen diese Programme jedoch auch fortlaufend umschreiben.
Kultur liefert den Rahmen für soziale Praxis, ist jedoch selbst auch soziale
Praxis.36 Kultur und Kollektiv befinden sich fortlaufend in Wechselwirkung
und sind allein deshalb epistemologisch nicht zu trennen.
Ich möchte im Folgenden versuchen, den Kollektivbegriff für die Ar-
chäologie zu entwickeln und sein Anwendungspotential zu beleuchten.
Dies mache ich am Beispiel der Germanen, die hier nicht in ihrer histori-
schen Totalität in den Blick genommen werden können (und sollen). In
meinem Beitrag fokussiere ich auf die römisch-germanische Interaktion im
Raum der von den Römern selbst als Germania bezeichnet wurde. Hierbei
geht es mir darum darzustellen, welche „Kollektive“ in den historischen
und archäologischen Quellen als handelnde Gruppen aufscheinen und wie
diese von den beteiligten Wissenschaften konzipiert werden.
2. DIE GERMANEN IN DEN QUELLEN
DER ALTE N GESCHICHTE
Dass wir überhaupt über „Germanen“ sprechen können, verdanken wir aus-
schließlich den überlieferten Texten antiker Autoren. Da die Germanen
selbst keine eigenen Schriftzeugnisse hinterlassen haben von einzelnen,
nur wenige Worte umfassenden Runeninschriften abgesehen, sind wir auf
römische Berichte angewiesen. Befasst man sich heute mit den Germanen,
liefern diese Texte wichtige Referenzpunkte; auch die Archäologie hat sich
notwendigerweise an ihnen zu orientieren.
Erstmals ging Cäsar in seinem gallischen Feldzugsbericht in einem eth-
nographischen Exkurs auf Germanien und seine Bewohner ein; Tacitus
widmete den Germanen rund 150 Jahre später eine eigene Ethnographie.
Wer in diesen Texten tragfähige Beschreibungen germanischer Lebens-
wirklichkeiten oder Einblicke in die gesellschaftliche Verfasstheit germani-
36 Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hgg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Ver-
hältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004.
96 | Stefan Burmeister
scher Stämme erwartet, wird enttäuscht. Die Texte sind in römischer Zent-
ralperspektive abgefasst; sie basieren auf der mischen Dichotomie von
Kultur vs. Natur, Zentrum vs. Peripherie, Zivilisation vs. barbarischer Le-
bensweise und weisen den Germanen jeweils die den mern entgegen-
setzten Pole zu. Die Autoren folgten nicht – wie auch nicht die griechischen
vor ihnen einem gedanklich stringenten Konzept der Fremdvölkerwahr-
nehmung und -beschreibung. Letztlich schnürten die antiken Ethnographen
ein Sammelsurium verschiedener Topoi zusammen, das erst – und nur – in
der interpretatio romana Sinn ergab. Sie formulierten Klischees, die durch-
aus empirisch unterfüttert waren, aber als Ganzes jegliche Systematik und
begriffliche Durchdringung vermissen ließen. Die Beschreibungen der
germanischen Welt sind letztlich römisch konzipiert und gestaltet; ein un-
mittelbares Textverständnis ist aus dieser Lektüre folglich nicht zu gewin-
nen.37
Wir sprechen heute selbstverständlich von „Germanen“ und adressieren
spezifische Phänomene – in der Populärwissenschaft ebenso wie in den mit
den „Germanen“ befassten Fachwissenschaften als „germanisch“. Unre-
flektiert verbinden wir damit einen Sachverhalt, der irgendwie mit einem
als „Germanen“ bezeichneten Volk in Verbindung stehen soll. Doch diesen
Rückschluss auf eine vermeintliche „germanische“ Identität erlauben die
antiken Texte nicht. Was in den Texten als Germania bezeichnet wird und
wir heute als Germanien verstehen, ist eine römische Erfindung; ein Kon-
strukt, das auf Cäsar zurückgeht. Der Name als Gruppenbezeichnung taucht
erstmals im Vorfeld des Gallienkriegs Cäsars (58–51 v. Chr.) auf und geht
auf Bevölkerungsgruppen zurück, die auf das linksrheinische Gebiet über-
gesiedelt waren und zu einem politischen Problem für die dortigen Gallier
wurden. Möglicherweise handelte es sich um eine Selbstbezeichnung dieser
Gruppen; Jahrzehnte später waren sie jedoch im gallischen lkersubstrat
aufgegangen und hatten andere Namen angenommen. Andere Gruppen ha-
ben sich wahrscheinlich selbst nie als Germanen bezeichnet. Wenn in der
Zeit nach Cäsar von Germanen gesprochen wurde, wurden damit die rechts
37 Siehe hierzu Dieter Timpe, „Ethnologische Begriffsbildung in der Antike“, in:
Heinrich Beck (Hg.), Germanenprobleme in heutiger Sicht. Ergänzungsbände
des Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 1, Berlin 1986, S. 22-40;
Allan A. Lund, Zum Germanenbild der Römer. Eine Einführung in die antike
Ethnographie, Heidelberg 1990.
Die Germanen im Blickfeld der Kollektivwissenschaft | 97
des Rheins siedelnden Bevölkerungsgruppen gemeint. Die antike Historio-
und Ethnographie hatte damit eine scheinbar ethnische Großgruppe ge-
schaffen, die den anderen in der nördlichen Hemisphäre siedelnden Groß-
gruppen „Kelten“ und „Skythen“ an die Seite gestellt wurde. Mit unseren
Kriterien einer ethnischen Gruppe ist diese Klassifikation jedoch nicht in
Einklang zu bringen: Weder lässt sich eine einheitliche Selbstbenennung
noch das Bewusstsein einer gesamtgermanischen Identität ausweisen. In
seiner faktischen Begründung wurde der Germanenbegriff zu einem geo-
graphischen Ordnungskriterium, nicht zu einem ethnischen.38 Ethnogra-
phisch wirksam wurde er allenfalls dadurch, dass er sämtliche Völker sub-
sumierte, die östlich des Rheins lebten.
Die so bezeichneten Germanen existierten ausschließlich in der römi-
schen Fremdperspektive: zur Strukturierung der nördlichen Grenzräume
des Imperiums sowie zur Selbstvergewisserung der römischen Weltsicht.
Die durch diesen Germanenbegriff zusammengefassten Völker selbst traten
in ihrer Gesamtheit historisch nicht in Erscheinung. Außer dass sie in dem
Klassifikationsschema der Römer zusammen kategorisiert wurden, lassen
sich für die Germanen keine gemeinsamen Merkmale verbindlich auswei-
sen – weder in der Sprache, über die wir im Einzelfall nicht informiert sind,
noch in der Kultur. Der Kollektivansatz lässt sich folglich für sie nicht an-
wenden.
Anders sieht es hingegen für die einzelnen Verbände, Stämme oder
gentes aus, mit denen die Römer in Gallien und an der germanischen Gren-
ze selbst konfrontiert waren. Vor allem die historiographischen Texte be-
nennen zahlreiche Gruppen, bei deren Namen es sich zweifelsfrei um Ei-
genbezeichnungen handelte. Meist handelte es sich um Kontakte, die nach
ähnlichem Schema abliefen: Germanische Kriegergruppen setzten über den
Rhein, fielen in Gallien, später dann ins Römische Reich ein und verding-
ten sich als Söldner einer Kriegspartei oder zogen plündernd durchs Land.
In jedem Fall wurden sie als militärische Bedrohung wahrgenommen; vor
allem das Schlachtfeld und die meist folgenden Unterwerfungsgesten – in
38 Allan A. Lund, Die ersten Germanen. Ethnizität und Ethnogenese, Heidelberg
1998; Dieter Timpe, Stichwort ‚Germanen, Germania, Germanische Alter-
tumskunde‘. I. Geschichte. A. Germanen, historisch,“ in: Heinrich Beck/Heiko
Steuer/Dieter Timpe (Hgg.), Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 11,
Berlin 1998, S. 182-245 (S. 182-214).
98 | Stefan Burmeister
der Regel behielt das römische Militär die Oberhand, lieferten die Anlässe,
bei denen die Römer ihre Gegner kennenlernten.
Die Sueben etwa, mit denen Cäsar bereits während seines Gallienkriegs
konfrontiert war, werden als Zusammenschluss mehrerer Stämme beschrie-
ben. Ihr Führer Ariovist war der große Gegenspieler Cäsars auf germani-
scher Seite; bereits bei einem früheren Besuch in Rom war er vom Senat
zum „Freund des römischen Volkes“ ernannt worden. Für die Historiogra-
phen war er Kristallisationspunkt und Aushängeschild des suebischen Krie-
gerverbandes. Meist waren es Koalitionen von Kriegerverbänden, die den
Römern gegenüberstanden; die Namen ihrer Anführer fanden jedoch kaum
Eingang in die Geschichtswerke, dagegen aber die Namen der beteiligten
Stämme. In der Regel zogen die Raubzüge germanischer Gruppen in den
linksrheinischen, von Rom kontrollierten Gebieten militärische Vergel-
tungsmaßnahmen in den rechtsrheinischen Stammesgebieten nach sich.
Diese Strafexpeditionen wurden zum Teil als Vernichtungskrieg zur weite-
ren Abschreckung der Germanen geführt, zum Teil zielten sie auf die poli-
tische Unterwerfung der Stämme.39
Die Stammesnamen finden folglich in zwei grundlegend zu unterschei-
denden Kontexten Erwähnung: einerseits im Kontext der militärischen
Konfrontation links, andererseits im Kontext des zivilen Siedlungsgebietes
rechts des Rheins. Die Römer mögen hier nicht differenziert haben; wir
müssen es jedoch tun. Die kriegerischen Aktivitäten wurden bei den Ger-
manen in der Regel von den Gefolgschaften ausgeführt. Diese waren der
Motor der militärischen Konflikte, sie waren ein ständiger Unruheherd, de-
ren Ziel nicht militärische Eroberung war, sondern militärischer Erfolg,
ausgedrückt in Prestigegewinn, messbar in Kriegsbeute. Sie bildeten sich
als Kriegerzusammenschlüsse um einen charismatischen Führer. Charakte-
ristische Merkmale waren ihre zeitliche Begrenztheit und grundsätzliche
Freiwilligkeit keinesfalls waren sie notwendigerweise ethnisch legiti-
39 Einen Überblick über die römisch-germanischen Auseinandersetzungen an der
Rheingrenze geben z. B. Timpe (Fn. 38), S. 215–241; Reinhard Wolters, Römi-
sche Eroberung und Herrschaftsorganisation in Gallien und Germanien. Zur
Entstehung und Bedeutung der sogenannten Klientel-Randstaaten, Bochum
1990.
Die Germanen im Blickfeld der Kollektivwissenschaft | 99
miert.40 Selbst wenn ihre Mitglieder sich aus einer Stammesgruppe rekru-
tierten, waren sie allenfalls ein Segment des Stammes und nicht mit diesem
gleichzusetzen. Der Stamm selbst gründete demgegenüber auf anderen
Grundlagen. Mitgliedschaft war hier durch Verwandtschaft legitimiert, ba-
sierte nicht in erster Linie auf Freiwilligkeit und war ohne zeitliche Begren-
zung. Auch die Führerschaft schien hier anders verfasst zu sein. Dass wir es
mit unterschiedlich verfassten Kollektiven zu tun haben, lassen auch die
römischen Quellen erkennen: Für die militärischen Anführer verwenden sie
gänzlich andere Bezeichnungen als für die zivile Elite. Während erstere
römische Hierarchievorstellungen widerspiegeln, sind letztere deutlich va-
ger und lassen das Unvermögen erkennen, die politischen Ämter einzuord-
nen und zu benennen.41
Mit zunehmender Kenntnis der germanischen Welt, wurden die Römer
sicherer in ihrer ethnischen Ansprache; dennoch bleibt vieles in den Texten
unklar. Die bereits genannten Sueben etwa tauchen in den römischen Quel-
len als eigener Stamm, jedoch auch als Stammesverband auf. Aufgrund der
ihnen zugeschriebenen militärischen „Tüchtigkeit“ und Kampfkraft schei-
nen sie andere Stämme in Abhängigkeit gebracht zu haben. Durch ihren Er-
folg genossen die suebischen Krieger, die sich durch ihre eigene Haartracht
– den sog. Suebenknoten – auszeichneten, ein hohes Ansehen. Die auf zahl-
40 Einen Überblick über das germanische Gefolgschaftswesen geben z. B. Walter
Schlesinger, „Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfas-
sungsgeschichte“, in: Historische Zeitschrift 176, 1953, S. 225-275; Allan A.
Lund, „Zur Schilderung der germanischen Gefolgschaft bei Caesar und Taci-
tus“, in: Classica et Mediaevalia 36, 1985, S. 177-197; Reinhard Wenskus, „Die
neuere Diskussion um Gefolgschaft und Herrschaft in Tacitus’ Germania“, in:
Günter Neumann/Henning Seemann (Hgg.), Beiträge zum Verständnis der
Germania des Tacitus 2, Göttingen 1992, S. 311-331; Dieter Timpe, „Stichwort
‚Gefolgschaft‘“, in: Beck/Steuer/Timpe (Fn. 38), S. 537-546; Dieter Timpe,
„Germanische Gefolgschaften in den antiken Berichten“, in: Varusschlacht im
Osnabrücker Land GmbH Museum und Park Kalkriese (Hg.), Konflikt. 2000
Jahre Varusschlacht, Stuttgart 2009, S. 294-300.
41 Stefanie Dick, „Der römische Einfluss auf die Gesellschaftsentwicklung bei den
germanischen gentes. Zum Verhältnis von Kriegertum und Herrschaftsorganisa-
tion“, in: Sebastian Brather et al. (Hgg.), Antike im Mittelalter. Fortleben,
Nachwirken, Wahrnehmung, Ostfildern 2014, S. 143-151 (S. 146).
100 | Stefan Burmeister
reichen römischen Bildwerken abgebildeten Krieger mit dem typischen Su-
ebenknoten, werden sicherlich nicht immer nur Sueben dargestellt haben.
Hier hat sich ein ursprüngliches Stammeszeichen verselbstständigt und
wurde zum allgemeinen Statussymbol des germanischen Kriegers. Die
Römer konnten oder wollten hier nicht immer differenzieren.
Ebenfalls rätselhaft bleibt eine Beschreibung des Tacitus in seiner Ger-
mania (Kap. 2): Drei Stämme Ingvaeonen, Herminonen, Istvaeonen
führen sich auf den Göttersohn Mannus zurück. Diese Stämme sollen – ne-
ben einer Reihe anderer – die ursprünglichen germanischen Stämme gewe-
sen sein; Tacitus betont ausdrücklich, dass der Germanen-Name selbst jün-
geren Datums sei. Bei anderen Autoren des ersten nachchristlichen Jahr-
hunderts tauchen diese Stämme in kurzen Erwähnungen ebenfalls auf, wer-
den hier z. T. jedoch als Dachverband mehrerer Stämme genannt, die aus
der römischen Historiographie gut bekannt sind. Die äußerst vage und in ih-
rer Deutung kontrovers diskutierte Lokalisation der Mannus-Stämme deckt
große Teile Germaniens ab und lässt zumindest eine geographische Aus-
dehnung erahnen, die räumlich über das hinausgeht, was ansonsten als
Wohnsitze germanischer Stämme bekannt ist – was auch dafür spricht, dass
wir es hier mit Verbänden zu tun haben. Die Textpassage kann man als my-
thologische Genealogie lesen, irritierend ist nur, dass die drei Mannus-
Stämme in der weiteren Überlieferung keine Rolle spielen. Zumindest in
der Zeit des Tacitus scheinen sich diese Gruppen überlebt zu haben. Auch
wenn ihr Charakter und ihre historische Signifikanz uns heute unklar ist,
lässt die Mannus-Genealogie auf das Bewusstsein einer Gemeinsamkeit
und damit auf ihre Bedeutung als Identitätsgruppen schließen.42 Historisch
wirksam scheint dieses Bewusstsein gemeinsamer Identität allerdings nicht
gewesen zu sein: Die römischen Berichte lassen kein ausdrückliches Zu-
sammengehen der jeweiligen untergeordneten Stämme erkennen, zahlrei-
che Berichte bekunden dagegen kriegerische Konflikte innerhalb der
Stammesgruppen.
Anhand der antiken Quellen lassen sich bei den Germanen sowohl Kol-
lektive ersten Grades (Stämme, Gefolgschaften) als auch zweiten Grades
42 Siehe für die weitere Diskussion z. B. Dieter Timpe, „Die Söhne des Mannus“,
in: Chiron 21, 1991, S. 69-124; Gerhard Dobesch, „Forschungsbericht zur Ger-
mania des Tacitus: Dieter Timpe, Romano-Germanica. Gesammelte Studien zur
Germania des Tacitus“, in: Tyche 13, 1998, S. 61-105 (S. 61-70).
Die Germanen im Blickfeld der Kollektivwissenschaft | 101
(Stammesverbände) sowie Schicksalskollektive (Stämme) und Interessens-
kollektive (Gefolgschaften) identifizieren.43 Das Unvermögen oder Desinte-
resse der mischen Autoren, germanische Gruppen adäquat und hinrei-
chend zu beschreiben, hat jedoch die Verfasstheit dieser Gruppen derart
verschleiert, dass in vielen Fällen keine klaren Aussagen aus den Texten zu
ziehen ist – vieles bleibt kontrovers und offen.
3. DIE GERMANEN IN DEN QUELLEN
DER ARCOLOGIE
Weder die Germanen noch ihre diversen Kollektive sind unmittelbar in den
archäologischen Quellen präsent. Die Archäologie erschließt die Lebens-
wirklichkeit vergangener Gesellschaften über deren materiellen Hinterlas-
senschaften; unmittelbare Selbstzeugnisse gehören in der Regel nicht dazu.
Viele Bereiche des Lebens wie Wohnen und Wirtschaften, die Totenbestat-
tung oder die materielle Kultur, die sich in den Gegenständen, die die Men-
schen hergestellt und benutzt haben, widerspiegelt, werden durch die Ar-
chäologie erschlossen alles jedoch nur unter der Bedingung, dass die je-
weiligen Elemente der Kultur in den Boden gelangten und dort konserviert
wurden. Der Filter ist leider so wenig durchlässig, dass das meiste, was die
einstige Gesellschaft kennzeichnete, sich nicht bis heute erhalten hat und
somit nicht überliefert wurde. Der archäologische Blick ist notgedrungen
durch viele blinde Flecken eingeschränkt; sichtbar sind nur noch Fragmen-
te. Von daher galt lange das Primat der Schriftquellen, die scheinbar einen
besseren Blick auf die Vergangenheit ermöglichten eine grandiose Fehl-
einschätzung. In jedem Fall kann man sagen, dass die unterschiedlichen
Quellenzugänge jeweils ganz andere Lebensbereiche und Sachverhalte er-
schließen lassen. Leider sind die Überschneidungsbereiche oft nur gering
und wenig kompatibel, bestenfalls ergänzen sie sich. Meist werden derart
43 Zur Definition dieser verschiedenen Kollektivformen siehe Klaus P. Hansen,
Kultur, Kollektiv, Nation, Passau 2009, S. 28. Die Auflistung der germanischen
Kollektivformen ist hier nicht erschöpft; fallweise ließen sich weitere ergänzen.
Auch mit Mischformen von Schicksals- und Interessenkollektiven ist durchaus
zu rechnen.
102 | Stefan Burmeister
unterschiedliche Sachverhalte in den Blick, dass unklar ist, wie sich hieraus
ein konsistentes Bild ergibt.
Die archäologisch erschlossenen Relikte benennen keine Gruppenphä-
nomene oder anderweitige soziologische Sachverhalte; diese sind erst indi-
rekt durch kultur- und sozialwissenschaftliche Modellbildungen zu er-
schließen. Es liegt auf der Hand, sich hierbei an den antiken Schriftzeugnis-
sen zu orientieren, liefern diese doch geeignete Vorlagen, indem sie uns
über Stämme, Stammesverbände und Gefolgschaften informieren. Es war
deshalb immer ein Forschungsziel, die archäologischen Quellen mit der his-
torischen Überlieferung in Deckung zu bringen.
Dies sei vorweggenommen: Es gelang nicht, die archäologischen Quel-
len in ihrer räumlichen Ausprägung mit aus den antiken Texten erschlosse-
nen Gruppen zufriedenstellend in Einklang zu bringen. Im Laufe des 20.
Jahrhunderts verdichtete sich das Fundbild soweit, dass es möglich war, ar-
chäologische Kulturgruppen zu definieren. Vor allem anhand keramischer
Stilmerkmale und Charakteristika des Totenbrauchtums wurden mehrere
großräumige Gruppen definiert, deren Verbreitung in etwa das von Tacitus
als Germania beschriebene Gebiet abdeckt. Es gab zahlreiche Versuche,
die archäologischen Kulturgruppen mit den Mannus-Stämmen zu verbin-
den; doch diese Bemühungen waren so schwach, wie die textliche Grund-
lage dürftig war. Anhand charakteristischer Kulturmerkmale wurden die
Nordgermanen, Nordsee-Germanen, Rhein-Weser-Germanen, Elbgermanen
sowie die Oder- und Weichselmündungsgermanen und die Oder-Warthe-
Germanen unterschieden.44 Deutlich ist das Bemühen um Neutralität, in-
dem man sich bei der Benennung der Kulturgruppen nicht mehr an histori-
schen Vorlagen orientiert, sondern an geographischen Bezügen. Inzwischen
bevorzugt man auch unter Weglassung des „Germanen“-Namenszusatzes
die Benennung als jeweilige Gruppe – die letzten beiden, auf heutigem pol-
nischen Gebiet angesiedelten Gruppen werden zudem nun nach eponymen
Fundorten als Wielbark-Kultur und Przeworsk-Kultur bezeichnet. Mit den
regionalisierten, aber deutungsoffenen Ordnungsbegriffen hat man sich
zumindest die Interpretationshoheit wieder zurückgeholt und liefert nicht
44 Einen knappen und konzisen Überblick gibt Michael Meyer, „Rhein-Weser-
Germanen: Bemerkungen zur Genese und Interpretation“, in: Gabriele Rasbach
(Hg.), Westgermanische Bodenfunde, Bonn 2013, S. 31-38.
Die Germanen im Blickfeld der Kollektivwissenschaft | 103
mehr nur das materielle Fundament für aus den Schriftquellen extrahierte
Gruppen.
Wie die archäologischen Kulturgruppen als soziologisches Phänomen
nun auszudeuten sind, ist jedoch unklar. Sie bilden keinesfalls geschlossene
Räume; je nachdem welche definitorischen Merkmale man zugrunde legt,
ergeben sich abweichende Verbreitungsgebiete. Die Grenzen sind relativ
offen und oszillieren in der Zeit,45 was deutlich macht, dass der Ausbrei-
tung der jeweiligen Kulturgruppen historische und soziale Prozesse unter-
liegen. Regionale Kulturmuster, die von einer Mehrheit der Bevölkerung
getragen werden, lassen auf einen über Kommunikation tradierten Habitus
schließen.
Natürlich hat man sich auch vielfach bemüht, großmaßstäbigere Einhei-
ten, wie z. B. die historisch überlieferten Stämme, archäologisch zu definie-
ren. Solche Ansätze kranken an zwei grundlegenden Problemen: Zum einen
lassen sich die germanischen Stämme anhand der Angaben antiker Texte
kaum lokalisieren, so dass wir in der Regel keine Sicherheit über die
Wohnsitze der jeweiligen Gruppen haben;46 zum anderen geben die archäo-
logischen Quellen in der Regel keine kleinräumigen Kulturareale zu erken-
nen. Die ethnische Deutung hat in der Archäologie in den letzten 20 Jahren
eine vehemente Ablehnung erfahren,47 ist dennoch noch allgemeine Praxis
vor allem in der deutschsprachigen Archäologie.48
45 Siehe z. B. Ivonne Baier, „‚Das gute Geschirr …‘. Ein Beitrag zur Abgrenzung
von Rhein-Weser- und Elbgermanen“, in: Rasbach (Fn. 44), Bonn 2013, S. 39-
52.
46 Die Probleme werden eingehend für die Cherusker dargestellt, über deren
Wohnsitze wir vergleichsweise noch recht gut unterrichtet sind: Peter Kehne,
„Cheruskerstudien I. Zur geographischen Lage und innergermanischen
Machtsphäre des Cheruskerstammes von ca. 55 v. Chr. bis ca. 100 n. Chr.“, in:
Orbis terrarum 10, 2008–2011 [2012], S. 93-139.
47 Siehe z. B. Siân Jones, The Archaeology of Ethnicity: Constructing identities in
the past and present, London 1997; Brather (Fn. 15).
48 Stefan Burmeister, „Migration und Ethnizität: Zur Konzeptualisierung von Mo-
bilität und Identität“, in: Manfred K. H. Eggert/Ulrich Veit (Hgg.), Theorie in
der Archäologie: Zur jüngeren Diskussion in Deutschland, Münster 2013, S.
229-267.
104 | Stefan Burmeister
Einen interessanten Versuch machte jüngst Bernhard Sicherl, der an-
hand einer Reihe von Trachtbestandteilen und Bestattungssitten für das
Ravensberger Land und die Mittelweser eine archäologische Gruppe aus-
wies, die er ausgehend von dem namengebenden Gräberfeld als Eilshause-
ner Gruppe bezeichnete. Seine Verbreitungskarten, auf denen er eine Ab-
folge verschiedener Trachtutensilien meist metallene Broschen und Fi-
beln zum Schließen der Kleidung, denn nur die haben sich von der Tracht
bis heute erhalten aus dem dritten bis ersten vorchristlichen Jahrhundert
kartiert, zeigen durch die Jahrhunderte eine immer wiederkehrende konver-
gente Fundregion von augenfälliger Konstanz.49 Dieses klare Verbreitungs-
bild würde sich jedoch auflösen, zöge man andere Merkmale der materiel-
len Kultur heran. Warum also diese? Ketzerisch geantwortet: Weil sie ein
prägnantes Bild ergeben. Methodisch lassen sich auf diesem Wege Muster
herausarbeiten, doch eine kritische Kontrolle, ob es sich hierbei um Zu-
fallsprodukte handelt, erlaubt das Verfahren nicht.
Sicherl schließt in der Folge seines Argumentationsgangs die von ihm
ausgewiesene Eilshausener Gruppe an die lokale Besiedlung der folgenden
nachchristlichen Jahrhunderte in der Region an. Interessant für unsere Be-
trachtung ist hier, dass er versucht, diesen Raum und die mit ihm verbunde-
ne Kultur mit der römischen historiographischen Überlieferung in Einklang
zu bringen. Im Ergebnis identifiziert er seine Kulturgruppe mit dem germa-
nischen Stamm der Angrivarier. Dass er hierbei zu abweichenden Ergebnis-
sen gegenüber der bisherigen historischen Forschung kommt, ist bemer-
kenswert.50 Die ausgewählten Merkmale materieller Kultur können seiner
Meinung nach in ihrer konvergierenden Verbreitung als „Indizien für ge-
meinsames, sich nach außen abgrenzendes Verhalten von Individuen gel-
ten, die als Träger von gemeinschaftlichen Normen gelten können“.51 Auf
einen Stamm und damit auf eine politisch handelnde Gruppe sei aufgrund
der Kartenbilder noch nicht zu schließen, das erlaube erst der Abgleich mit
49 Bernhard Sicherl, „Ansätze zu einer regionalen Gruppierung im Ravensberger
Land und an der Mittelweser (3. Jahrhundert v. Chr.–1. Jahrhundert n. Chr.)“,
in: Michael Zelle (Hg.), Terra Incognita? Die nördlichen Mittelgebirge im
Spannungsfeld römischer und germanischer Politik um Christi Geburt, Mainz
2008, S. 41-78.
50 Ebd., S. 58-62.
51 Ebd., S. 61.
Die Germanen im Blickfeld der Kollektivwissenschaft | 105
den Schriftquellen.52 Ich werde auf das Narrativ der ethnischen Deutung
gleich zurückkommen; bezeichnend ist m. E. die Eindimensionalität des
Gedankengangs. Sicherlich spiegeln sich in den Verbreitungskarten kultu-
relle Handlungsmuster wider und durch den offensichtlichen Habitus, der
sich hier niederzuschlagen scheint, sind wir mit Kollektiven konfrontiert,
die sich durch standardisiertes Handeln ausweisen lassen. Doch welcher Art
sind diese Kollektive? Haben wir mit Verweis auf die problematische An-
grivarier-Identifikation ethnisch zu denken oder können nicht gänzlich an-
ders verfasste Gruppen hier ihren Ausdruck gefunden haben? So ist etwa
bei Betrachtung des metallenen Trachtschmucks auch an die Absatzkreise
von Kunsthandwerkern zu denken. Die Ethnologie kennt ungezählte Bei-
spiele, wo sich materielle Kultur einer ethnischen Deutung entzieht.53
Sicherlich ist es notwendig, den Blick über rein ethnisch konzipierte
Kollektive hinaus zu erweitern. Die Archäologie beobachtet auf vielfältige
Weise standardisiertes kulturelles Verhalten. Letztlich sind sicherlich
nicht überraschend – sämtliche Lebensbereiche davon durchzogen; sei es in
der handwerklichen Formgestaltung materieller Kultur, in der Wohn- und
Siedlungsweise, im Totenbrauchtum, im geschlechtsspezifischen Habitus
52 Ebd., S. 61 f.
53 Siehe z. B. Michael Dietler/Ingrid Herbich, „Habitus, Techniques, Style: An In-
tegrated Approach to the Social Understanding of Material Culture and Bounda-
ries“, in: Miriam T. Stark (Hg.), The Archaeology of Social Boundaries,
Washington 1998, S. 232-263. Diese Fallstudie ist insbesondere interessant, da
sie die ethnische Deutung materieller Kultur auf den Kopf stellt. Die Töpferin-
nen der ostafrikanischen Luo haben über tradierte, gruppenspezifische Lernpro-
zesse einen eigenen Keramikstil herausgebildet. Ohne sich der typischen Merk-
male ihrer Keramik immer bewusst zu sein, können sie ihre Ware jedoch zwei-
felsfrei identifizieren. Auf der Ebene der Produzentinnen ließe sich also eine
Gruppenidentität feststellen. Die Waren werden auf den regionalen Märkten
verhandelt und gerne von benachbarten Gruppen gekauft. Für die Käufer und
Konsumenten haben die keramischen Stile allerdings keine ethnische Signifi-
kanz. Da die Keramiken einen weiten Absatz finden und vor allem von anderen
Gruppen gekauft werden, lässt sich kein gruppenspezifisches Verbreitungsbild
beobachten. Eine Kartierung der Keramik zeigt das Gegenteil: Kulturell signifi-
kante Grenzen werden überlagert, wohingegen durch das Kartenbild Grenzen
suggeriert werden, wo keine sind.
106 | Stefan Burmeister
von Männern und Frauen, in der sozialen Repräsentation der gesellschaftli-
chen Eliten. Auch für die germanischen Gesellschaften lässt sich das en
gros und en detail herausarbeiten und wurde z. T. bereits herausgearbei-
tet. Dies alles im Einzelnen darzulegen, würde Handbuchcharakter bekom-
men.
Die differenzierten Schmuckformen von Trachtaccessoires vielfach
ethnisch gedeutet54 können unterschiedliche Formen kulturellen Verhal-
tens widerspiegeln: Man denke hier z. B. an modisches Stilempfinden, das
sich in einem bestimmten Kommunikationsraum entwickelt, oder an Ab-
satzkreise und Aktionsradien wohl männlicher Metallhandwerker. Demge-
genüber scheinen keramische Formenkreise grundlegend anders zustande
gekommen zu sein. Ethnographische Analogien zeigen, dass das Töpfer-
handwerk meist von Frauen ausgeübt wurde,55 wir hier vielleicht allein
deswegen schon von anderen Verbreitungskreisen als bei den metallischen
Schmuckformen auszugehen haben. Wie materielle Kultur bei den Germa-
nen als soziale Praxis und in der sozialen Praxis verwendet wurde, ist viel-
fach noch unbekannt.
Klarer zeichnen sich die Mechanismen bei der sozialen Elite ab. Mit
den sog. Fürstengräbern fassen wir eine Oberschicht, die kleinräumig orga-
nisiert, aber überregional vernetzt war. In Grabkonstruktion und -ausstat-
tung heben sie sich zum Teil deutlich von ihrem gesellschaftlichen Umfeld
ab. Die Gräber dieser Gruppe sind sich untereinander ähnlicher als gegen-
über den einfach ausgestatteten Gräbern. Diese Oberschicht scheint eng
vernetzt gewesen zu sein und Kontakte zum Römischen Reich gehabt zu
haben.56 Auch wenn sich lokal eine solche Oberschicht etablieren konnte,
54 Hierbei ist zu hinterfragen, ob solche Schmuckformen aufgrund ihrer Größe und
Sichtbarkeit überhaupt von ethnischer Signifikanz sein können; siehe H. Martin
Wobst, „Stylistic Behavior and Information Exchange“, in: Charles E. Cleland
(Hg.), Papers for the Director. Research Essays in Honour of James B. Griffin.
Ann Arbor 1977, S. 317-342.
55 Siehe z. B. Dean E. Arnold, Ceramic theory and cultural process, Cambridge
1985.
56 Siehe z. B. Stefan Burmeister, „Archäologie und Geschichtswissenschaft: Sozi-
alstruktur germanischer Gesellschaften anhand archäologischer Quellen“, in:
Stefan Burmeister/Nils Müller-Scheeßel (Hgg.), Fluchtpunkt Geschichte. Ar-
chäologie und Geschichtswissenschaft im Dialog, Münster 2011, S. 161-182.
Die Germanen im Blickfeld der Kollektivwissenschaft | 107
scheint sie meist nach zwei bis drei Generationen wieder verschwunden zu
sein; was vermuten lässt, dass die Ausbildung solcher Elitegräber spezifi-
schen historischen Situationen geschuldet war. Eine Kartierung der Fundor-
te mit Fürstengräbern zeigt, dass etwa alle 20 km ein ‚Fürst‘ saß; ihr Terri-
torium hat demnach eine Fläche von max. 500 km2 kaum überstiegen. Die
sich in den Gräbern abzeichnende Oberschicht war somit ein nur kleinräu-
miges Phänomen.57
Weiteres ließe sich hier anfügen. Es sollte jedenfalls bereits deutlich
geworden sein, dass es auch jenseits der ethnischen Gruppe eine Vielzahl
von Kollektiven in der germanischen Gesellschaft gab. Da deren Verfasst-
heit bei momentanem Kenntnisstand noch zu unklar ist, zögert man mit der
Charakterisierung. Wir können kaum sagen, ob es sich bei den in der ar-
chäologischen Überlieferung abzeichnenden Kollektiven um solche ersten
oder zweiten Grades handelte; auch die Frage nach Interessens- oder
Schicksalskollektiven muss vorerst unbeantwortet bleiben, da wir die grup-
penbildenden Merkmale noch nicht hinreichend genug fassen können. In
jedem Fall lassen sich aber aufgrund überschneidender Kulturmuster diver-
se Ausprägungen von Multikollektivität beobachten.
4. FAZIT
Vieles wurde hier nur angerissen und bedürfte weiterer eingehender Be-
trachtung. Es sollte jedoch gezeigt werden, dass die Fokussierung der histo-
rischen, auf Schriftquellen basierten Betrachtung auf Ethnien und Ereignis-
geschichte für die Archäologie weitgehend obsolet ist. Die Probleme des
ethnischen Identitätsnachweises anhand archäologischer Quellen sind nach
wie vor ungelöst. Allein dieser Fokus wäre kulturgeschichtlich zu eng ge-
stellt und ließe andere Gruppenphänomene unbetrachtet. Von daher nimmt
die Archäologie eine Vielzahl anderer Kollektivphänomene in den Blick
und kann hier Einblicke in die Lebensrealitäten der germanischen Gesell-
schaften liefern, die aus der Analyse antiker Schriften nicht zu gewinnen
sind.
57 Jan Bemmann, „Zum Totenritual im 3. Jahrhundert n. Chr.,“ in: Siegfried Fröh-
lich (Hg.), Gold für die Ewigkeit Das germanische Fürstengrab von Gom-
mern, Halle (Saale) 2001, S. 58-73 (S. 73).
108 | Stefan Burmeister
Die so frappierend einfache Kulturdefinition von Klaus P. Hansen:
„Kultur umfasst Standardisierungen, die in Kollektiven gelten“58 scheint für
die archäologische Quellenbasis wie maßgeschneidert zu sein. Sie ist weit-
gehend voraussetzungsfrei und deutungsoffen und vor allem auch in der
Anwendung auf die fragmentierte archäologische Überlieferung praktika-
bel. In dieser weiten Fassung überwindet sie die Engführung auf ethnische
Gruppen, die uns als Geisterfahrer im Kulturdiskurs immer noch entgegen-
kommt.
Die vielfach zu beobachtenden kulturellen Standardisierungen lassen
sich problemlos im Sinne des Bourdieu’schen Habitus-Konzeptes erklären,
doch gibt dieses keine Auskunft darüber, wie die einzelnen Kollektive (im
Sinne Hansens) sozial verfasst waren. Wir erkennen Interaktion als Voraus-
setzung der Kollektivbildung und sehen folglich ein dicht gesponnenes
Netzwerk, das Kollektive ins Leben rief und am Leben hielt. Doch um über
die bloße Erkenntnis hinauszukommen, dass die vergangenen Gesellschaf-
ten auf Kollektiven unterschiedlichster Art gründeten, erfordert es weitere
kultur- und sozialwissenschaftliche Modellbildungen. Der eingangs be-
schriebene Zwillingscharakter von Kultur und Kollektiv ermöglicht eine
Neufassung von Kultur als sozialer Praxis und kann damit Ausgangspunkt
weiterer kollektivwissenschaftlicher Forschungen auch in der Archäologie
sein.
58 Klaus P. Hansen, Kultur und Kulturwissenschaft, 4. Aufl., Tübingen 2011, S.
31.
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Sichtbarkeit überhaupt von ethnischer Signifikanz sein können
  • H Martin Wobst
Sichtbarkeit überhaupt von ethnischer Signifikanz sein können; siehe H. Martin Wobst, "Stylistic Behavior and Information Exchange", in: Charles E. Cleland (Hg.), Papers for the Director. Research Essays in Honour of James B. Griffin.
Archäologie und Geschichtswissenschaft: Sozialstruktur germanischer Gesellschaften anhand archäologischer Quellen
  • . B Siehe Z
  • Stefan
  • Burmeister
Siehe z. B. Stefan Burmeister, "Archäologie und Geschichtswissenschaft: Sozialstruktur germanischer Gesellschaften anhand archäologischer Quellen", in: Stefan Burmeister/Nils Müller-Scheeßel (Hgg.), Fluchtpunkt Geschichte. Archäologie und Geschichtswissenschaft im Dialog, Münster 2011, S. 161-182.
Hierbei ist zu hinterfragen, ob solche Schmuckformen aufgrund ihrer Größe und Sichtbarkeit überhaupt von ethnischer Signifikanz sein können
  • H Martin Wobst
Hierbei ist zu hinterfragen, ob solche Schmuckformen aufgrund ihrer Größe und Sichtbarkeit überhaupt von ethnischer Signifikanz sein können; siehe H. Martin Wobst, "Stylistic Behavior and Information Exchange", in: Charles E. Cleland (Hg.), Papers for the Director. Research Essays in Honour of James B. Griffin.