In dem Musikvideo «Turnpike» der belgischen Rockband dEUS (1996) spazieren 2 Männer durch Paris. Wohl wissend, dass sein Partner ab und zu verrückte Dinge macht, beruhigt der ältere der beiden Männer irritierte Passanten oder Autofahrer, während der jüngere plötzlich, ohne Vorwarnung und weit ausladend auf die Straße oder zwischen die vorbeifahrenden Autos springt oder wild gestikulierend mit Passanten interagiert. Es ist Sam Louwyck, ein Tänzer, der die Bewegungen von Tourette- Kranken studiert hat.
Der belgische Choreograf Alain Platel hat in diesem Video aus dem Jahre 1996 das ästhetische Material für seine Choreografien gefunden: Das ist „ein Kunstwerk“, so sagt er in einem Interview, „weil hier Kunst und Krankheit, beide, endlich souverän sind.“ Die Bewegungen von Nervenkranken nutzt er seither als Anschauungsmaterial für seine Tänzer: „Ich habe mich anfangs geschämt,“ so sagt er, „meinen Tänzern Filme von Nervenkranken zu zeigen. Doch sie sehen gar nicht das Kranke, sondern empfinden diese Menschen als übersensibel, die mit dem Körper verrückte Sachen anstellen, weil sie es mit Worten nicht ausdrücken können. Das lässt sie so zerbrechlich, auch intim erscheinen. Das motiviert vor allem Tänzer, die nicht Theater spielen wollen, sondern ganz real tanzen. Es geht ihnen um die Souveränität des Körpers, und gerade ein Körper, der krank ist, zeigt, wie souverän er ist.“ (Wesemann 2009, 56)
Die Perspektive, die hier eingenommen wird, mag zunächst ungewöhnlich erscheinen. Der Begriff Souveränität zielt hier nicht auf kognitiv gesteuerte Handlungen, sondern auf das leibliche Ausdrucksvermögen. Dem Kranken werden schöpferische Fähigkeiten zugesprochen, von denen der Gesunde lernen kann. Neurologische Krankheiten wie das Tourette- Syndrom werden ja mit einem Verlust an Fähigkeiten in Verbindung gebracht, die auf ein Hirnleistungsdefizit zurückzuführen sind. Ein Zugewinn an schöpferischen Fähigkeiten wird man unter diesem Blickwinkel zunächst nicht erwarten. Das gilt allerdings nur, wenn schöpferische Fähigkeiten in erster Linie mit kognitiven Prozessen in einen Zusammenhang gebracht werden, die mit Leistungen unseres Gehirns in Verbindung stehen. Dann muss der Körper wie ein Anhängsel an das Gehirn erscheinen, dem er nicht mehr zu folgen vermag. Dass das nicht stimmt, zeigen die besonderen Begabungen von Patienten, die an einem Tourette- Syndrom leiden. Sie sind, wie Oliver Sachs (2009) in seinen Berichten zeigt, oft sehr einfallsreich und verfügen über eine ausgesprochen hohe Reaktionsfähigkeit und Schlagfertigkeit. Offenbar vermag sich eine Krankheit in künstlerischen Gestaltungen nicht nur als Defizit zeigen, sondern auch als Ressource und in diesem Fall als tänzerische Bewegung oder ästhetische Geste.