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Das Dritte in der therapeutischen Beziehung – Bezugspunkte phänomenologischer Forschung in den künstlerischen Therapien

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Abstract

In der Erforschung der wirksamen Momente der therapeutischen Beziehung ist in den letzten Jahren die Intersubjektivität mehr und mehr in den Blick geraten und damit das so genannte Dritte als unmittelbares Ereignis in der Beziehung zwischen Therapeut und Patient. Dieses Dritte ist in mancher Hinsicht vergleichbar mit dem ästhetischen Dritten in der Kunsttherapie. Um etwas über dieses ästhetische Dritte sagen zu können, ist es sinnvoll, es aus der Perspektive der philosophischen Ästhetik und jüngerer Forschungsansätze in der Psychotherapie in den Blick zu nehmen. Eine phänomenologische Forschung in den künstlerischen Therapien hat hier einen theoretischen Bezugsrahmen und einen möglichen Anknüpfungspunkt.
1
Peter Sinapius
Das Dritte
in der therapeutischen Beziehung
Bezugspunkte phänomenologischer Forschung in den künstlerischen Therapien
In der Erforschung der wirksamen Momente der therapeutischen Beziehung ist
in den letzten Jahren die Intersubjektivität mehr und mehr in den Blick geraten
und damit das so genannte Dritte als unmittelbares Ereignis in der Beziehung
zwischen Therapeut und Patient. Dieses Dritte ist in mancher Hinsicht
vergleichbar mit dem ästhetischen Dritten in der Kunsttherapie.
Um etwas über dieses ästhetische Dritte sagen zu können, ist es sinnvoll, es aus
der Perspektive der philosophischen Ästhetik und jüngerer Forschungsansätze
in der Psychotherapie in den Blick zu nehmen. Eine phänomenologische
Forschung in den künstlerischen Therapien hat hier einen theoretischen
Bezugsrahmen und einen möglichen Anknüpfungspunkt.
Ästhetische Erfahrung und diskursive Erkenntnis
„Hier reitet Jörg, der kleine Knabe, auf seinem langen Hakenstabe, die
Hahnenfeder auf der Mütze, kindlich naiv durch eine Pfütze“, so dichtet
Wilhelm Busch (1959, 30 f.) in der Bildergeschichte von Balduin Bählamm
(Abbildung). Das Reiten auf einem Stecken ist ein bekanntes Kinderspiel.
Wenn wir sagen: „Das ist ein Stock und kein Pferd“, identifizieren wir den
Stecken mit einem bestimmten Begriff, der die allgemeine Funktion oder
Verwendung des Gegenstands bezeichnet: Wir erkennen in ihm einen
Hakenstab oder einen Besenstiel, aber kein Pferd. Um etwas über die
besonderen Bedingungen zu erfahren, unter denen ein Hakenstab oder Stiel
zum Pferd wird, müssen wir uns auf das kindlich-naive Spiel einlassen.
Außerhalb des Spiels bleibt der Hakenstab, das, was er ist: ein Hakenstab.
Das Besondere einer künstlerisch-therapeutischen Praxis ist, dass sie mit
verschiedenen Kunstdisziplinen, der Musik, dem Tanz oder der Malerei in
einem Zusammenhang steht. Sie führen an die Schwelle zwischen dem Kontext
alltäglicher Erfahrungen und dem alternativen Kontext der ästhetischen
Erfahrung. Hier verschieben sich die Wirklichkeiten, die mit diesen
2
verschiedenen Kontexten verbunden sind: die buchstäbliche Wirklichkeit, die
der reflexiven Logik des Alltags nahe steht und die imaginäre Wirklichkeit, die
eher mit sinnlichen und ästhetischen Erfahrungen verbunden ist (Eberhart/
Knill 2009, 53). Während die erste sich sprachlich erschließen lässt, indem wir
aus dem Bereich unserer Erfahrungen einzelne Aspekte aussondern, um sie
begrifflich zu identifizieren, ist die imaginäre Wirklichkeit mit unserem
globalen Selbstempfinden verbunden, das in unserem Selbstbewusstsein
verankert ist (vgl. Stern 2005, 119). Ästhetische Erfahrungen führen uns in
imaginäre Wirklichkeiten, die wir mit anderen teilen können. So kann in einem
interaktiven Rollenspiel ein Stecken zum Pferd werden, in einer gemeinsamen
musikalischen Improvisation kann ein Motiv anklingen, auf das wir Bezug
nehmen oder die Farbe in einem Bild kann uns berühren und zu einer
gemeinsamen Erfahrung werden.
Ein ästhetisches Wahrnehmen von Gegenständen und Ereignissen ist nicht
spezifisch hinsichtlich der Wahrnehmungsinhalte, die sich deskriptiv und
analytisch erschließen lassen, sondern hinsichtlich der Art und Weise der
Wahrnehmungen, die man an sinnlichen Objekten oder Ereignissen machen
kann. Es vollzieht sich unterhalb der Schwelle begrifflicher Erkenntnis und
setzt gerade voraus von dem begrifflich Bestimmten abzusehen, um dem
Unbestimmten und der Fülle der Aspekte, die sich der Wahrnehmung in aller
Gegenwärtigkeit erschließen können, gewahr werden zu können. Die Fülle der
sinnlich sich darbietenden Erscheinungen gelangt erst zur Wahrnehmung,
wenn wir der sinnlichen Präsenz eines Gegenstands um dieser sinnlichen
Präsenz willen begegnen und bei ihnen verweilen (Seel 2003). Der
selbstzweckhaften Aufmerksamkeit, die mit der sinnlichen Wahrnehmung des
Erscheinens verbunden ist, entspricht die disfunktionale Präsenz der
Phänomene, die im Augenblick ihres Erscheinens hervortreten. Dem Prozess
des Wahrnehmens entspricht, so schreibt Seel, ein Prozess von Erscheinungen,
die nicht zur Anschauung kommen können, solange ein Gegenstand einer
erkennenden oder benutzenden Behandlung unterliegt (ebenda, 84 f.).
In dem Augenblick, in dem wir eine Sache begrifflich fixieren, lösen wir sie
aus dem Zusammenhang unseres komplexen sinnlichen Erlebens und
überführen sie in einen sprachlich strukturierten Zusammenhang. Die
3
diskursive Beschreibung bleibt gegenüber ästhetischen Prozessen grundsätzlich
inadäquat (Mersch 2004, 45). Das begriffliche Repertoire, das für ästhetische
Wahrnehmungen zur Verfügung steht, ist in der Lage diesen
Wahrnehmungsvorgang zu beschreiben, nicht jedoch seinen ästhetischen Inhalt
(Welsch 2003, 143).
Ästhetische Erfahrungen in der therapeutischen Beziehung
Die Tatsache, dass sich Erfahrungen an ästhetischen Medien nicht einfach in
Sprache verwandeln lassen stellt uns natürlich vor die Frage, wie sich ihre
Funktion in einer künstlerischen Therapie wissenschaftlich erschließen lässt.
Um diese Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, sich die
Interaktionsbedingungen in der Therapie genauer vor Augen zu führen, unter
denen ein ästhetisches Medium wirksam wird.
Eine künstlerische Therapie umfasst neben den Handlungen, die auf ein
ästhetisches Werk bezogen sind, interaktive und kommunikative Handlungen
zwischen Patient und Therapeut, die sich durch verbale und nonverbale
Handlungen, Gesten oder Szenen, also nicht nur durch das Was, sondern auch
durch das Wie vermitteln. Sie sind allerdings nicht Gegenstand der sprachlich-
begrifflichen Exploration, sondern bilden den therapeutischen Kontext, in dem
ästhetische Erfahrungen gemacht werden können.
In der Therapie spielt also nicht nur die reflektierende Sprache eine Rolle,
sondern auch interaktive Handlungen, die die therapeutische Beziehung
regulieren. Zu ihnen gehören beschreibbare Merkmale wie das spezifische
Setting oder Rituale in der Therapie, aber auch weniger gut zugängliche
Faktoren wie das Abspüren von Nähe und Distanz, das Ausloten von
Bedürftigkeiten, spielerische Formen der Annäherung, das Empfinden von
Atmosphären oder das Eintauchen in Stimmungen.
Phänomenologische Ansätze einer Theorie und Praxis der therapeutischen
Beziehung (Lichtenberg 2007, Stern 2005, Orange 2004) stellen diese
Erfahrungen, die Patient und Therapeut miteinander teilen und die der
Gegenwärtigkeit des gemeinsamen Erlebens angehören, in den Mittelpunkt.
Die gemeinsamen Erfahrungen werden als gemeinsame Geschichte aufgefasst,
die sich zwischen Patient und Therapeut vollzieht. Dabei lässt sich der
Therapeut nicht nur von dem leiten, was der Patient sagt, sondern von dem
4
gesamten Gehalt seiner Mitteilungen, der auch szenische Merkmale der
Begegnung wie Gesten, Stimmklang, Blickkontakt, Körperhaltung,
Körperspannung, Gang usw. einschließt (Lichtenberg 2007, 74 f.). Damit
verbunden ist der spielerische Umgang mit Situationen und Ereignissen, das
Erzeugen von Atmosphären oder das Zulassen von intuitiven Einfällen und
ungewöhnlichen Situationen. In einer künstlerischen Therapie geht es in
diesem Sinne nicht nur um das, was sich als künstlerisches Werk manifestiert,
sondern auch um die Bedingungen, unter denen das Werk zu einer
gemeinsamen Erfahrung wird. Zwischen Therapeut und Patient kommt etwas
zum Klingen, es entsteht zwischen ihnen Bewegung, zwischen ihnen löst sich
eine Spannung auf.
Ein Zugang zu diesem Dazwischen öffnet sich für den Therapeuten durch den
empathischen Wahrnehmungsmodus (ebenda, 34 f.), durch den sich der
Schwerpunkt seiner Wahrnehmung von einem externen Beobachten auf eine
intersubjektive Perspektive verlagert, die dem kooperierenden Erleben von
Therapeut und Patient angehört.
Intersubjektivität in der therapeutischen Beziehung
Ansätze einer intersubjektiven Perspektive auf die Beziehung von Patient und
Therapeut sind sowohl in individual- und humanpsychologischen Modellen der
Psychotherapie zu finden, als auch seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in
Forschungsansätzen der Entwicklungspsychologie und der Psychoanalyse1.
Innerhalb der (psycho-)therapeutischen Theoriebildung hat es unter dem
Eindruck der Bindungstheorie (Bowlby 2001/ 2006) und der jüngeren
Säuglingsforschung (Stern 1992, Dornes 1995, Lichtenberg 1991) in den
letzten drei Jahrzehnten eine deutliche Verschiebung in Richtung auf
„relationale“ oder „intersubjektive“ Konzepte gegeben, die ihren Blick mehr
1 Piaget und Werner beschäftigten sich aus entwicklungspsychologischer Sicht mit der
Beziehung zwischen Organismus und Umwelt, während Sullivan und Winnicott aus
psychoanalytischer Sicht die zwischenmenschlichen Beziehungen untersuchten (Altmeyer/
Thomä 2006, 128 f.). 1958 entwickelte Bowlby in seinem Aufsatz "The nature of the child's tie
to his mother" (Bowlby 1958) Grundlagen einer Bindungstheorie, nach der es ein biologisch
angelegtes System der Bindung gibt, das die Entwicklung der affektiven Beziehung zwischen
Kind und Mutter reguliert. Er geht davon aus, dass frühe Bindungserfahrungen verinnerlicht
werden und zu einem wesentlichen Faktor für das spätere Bindungsverhalten werden.
5
und mehr auf die Interaktionen und das Abstimmungsverhalten zwischen
Therapeut und Patient richteten. Einer der profiliertesten Vertreter der
relationalen Psychoanalyse in Amerika war Stephen Mitchell (Mitchell 2003/
2005), der die Hinwendung zu relationalen Konzepten als „relational turn“
bezeichnete (Mitchell 2003, 28) und der in den letzten Jahren schließlich auch
in Europa einen zunehmenden Einfluss auf die Diskussion über die Rolle der
Intersubjektivität in der therapeutischen Praxis hatte. In seiner Nachfolge sind
eine ganze Reihe von konkurrierenden Konzepten zur Intersubjektivität in der
Therapie entstanden, die von dem damit verbundenen Paradigmenwechsel, der
auch als „intersubjektive Wende“ (Altmeyer/ Thomä 2006) in den
Psychotherapien bezeichnet wurde, ausgelöst worden waren. Dieser
Paradigmenwechsel hat in den USA seinen Ausgang genommen, hat seine
Ursprünge in der Sozial-, Sprach- und Moralphilosophie und bezieht sich auf
philosophische und phänomenologische Theorien.
Die damit verbundenen theoretischen Erschütterungen haben bis in die
Philosophie der Frankfurter Schule ihre Bahnen gezogen und führten zu einer
prominenten Auseinandersetzung zwischen dem deutschen Philosophen
Honneth (2006) und dem amerikanischen Psychoanalytiker und Philosophen
Whitebook (2006). In ihrem Zentrum stand die Frage, welche Bedeutung die
ngeren Befunde der Säuglingsforschung für eine Revidierung fundamentaler
psychoanalytischer Prämissen haben: Verfügt der Säugling über ein
ursprüngliches Selbstempfinden, das ihn zur sozialen Interaktion mit der
Mutter befähigt oder befindet er sich in einem undifferenzierten Zustand der
Verschmelzung mit seiner Umgebung? Kann die therapeutische Beziehung an
eine Fähigkeit zur Intersubjektivität anknüpfen oder hat sie sich mit der
Annahme einer ursprünglich im Menschen veranlagten Feindseligkeit
auseinanderzusetzen (Altmeyer/ Thomä 2006)?
Hinter diesen hiermit grob angedeuteten Positionen befinden sich eine Vielzahl
unterschiedlicher Strömungen innerhalb der Psychotherapie, die von
unterschiedlichen Schulen und Therapiekonzepten ausgehen. Sie weisen dem
Therapeuten innerhalb der therapeutischen Beziehung unterschiedliche Rollen
zu. Gemeinsam ist ihnen in jüngerer Zeit allerdings eine deutliche
6
Gewichtsverlagerung zu Gunsten der Bedeutung interaktiver Handlungen in
der Therapie (vgl. Mitchell 2003, 29).
Die strengen Regeln von Neutralität, Abstinenz und Anonymität in der
therapeutischen Beziehung, wie sie von Freud entwickelt wurden2, werden vor
dem Hintergrund neuerer Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und
Bindungsforschung kaum mehr aufrechterhalten, bilden allerdings noch immer
einen wesentlichen Bezugspunkt in der kontrovers geführten Diskussion um
die Bedeutung der Intersubjektivität in der Psychotherapie.
Kritische Positionen finden ihre Vorläufer in individual- und
humanpsychologischen Modelle, bei denen der soziale Kontext und das
empathische Einfühlungsvermögen des Therapeuten von Bedeutung waren.
Einer ihrer Hauptvertreter war Carl Rogers, der ein zu Freud absolut konträres
Bild der therapeutischen Beziehung entwarf. Ausgangspunkt der von ihm
begründeten klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie war vor dem
Hintergrund der humanistischen Psychologie die personale Begegnung
zwischen Therapeut und Patient (Rogers 1973, 199 f.). Der Kern eines solchen
Konzeptes, das die Beziehung zwischen Klient und Therapeut in den
Mittelpunkt der therapeutischen Praxis rückt, war die Überzeugung, dass
„wirkliche Veränderung durch Erfahrung in einer Beziehung zustande kommt“
(Rogers, 1973, 46). Während in der klassischen analytischen Psychotherapie
die Arbeit an Übertragungsphänomenen eine zentrale Rolle einnimmt, wurden
diese Phänomene in der klientenzentrierten Gesprächstherapie nur am Rande
behandelt. Anstatt sich als Projektionsfläche für Übertragungen anzubieten und
seine eigenen Gefühle zurückzuhalten (Abstinenz), bringt sich der Therapeut in
der klientenzentrierten Gesprächstherapie als Mensch ein mit seinen Gefühlen
und Empfindungen (Self-disclosure).
Eine Reihe alternativer Modelle räumten in der Folgezeit der therapeutischen
Beziehung eine Zwischenstellung zwischen diesen Konzepten ein, indem sie
indikations- oder situationsspezifisch entweder die Nähe oder die Distanz in
der therapeutischen Beziehung für angemessen hielten. Sie plädierten für eine
„selektive Offenheit“ oder „partielle Teilnahme“ des Therapeuten: „Der
Analytiker muss sich dem Patienten nahe genug fühlen, so dass er fähig ist, mit
2 vgl. Freud 1912, „Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung“ GW 8, S.
380 f, in: Petzold 1996, 254
7
den intimsten Einzelheiten seines Gefühlslebens mitzufühlen; aber er muss
fähig werden, sich genug zu distanzieren, um ihn leidenschaftslos zu
verstehen.“ (Greenson, zitiert nach Petzold 1996, 253)
Der aktuelle Diskurs über die Bedeutung der Intersubjektivität in der
Psychotherapie knüpft an die hier skizzierte Entwicklung an. Neu ist allerdings
der mit diesem neuen Impuls verbundene Perspektivenwechsel in der
Psychotherapie, der vor allem durch die Säuglingsforschung ausgelöst worden
ist (Stern 1992, Dornes 1995, Lichtenberg 1991). Gegenüber der traditionellen
Annahme, der Säugling sei hilflos und passiv seiner Triebnatur ausgesetzt,
bestätigten phänomenologische Untersuchungen, dass der Säugling bereits sehr
früh in der Lage ist, Interaktionen mit seiner Mutter zu initiieren und deren
Reaktionsbereitschaft zu aktivieren. Damit wurden nicht nur zentrale
entwicklungspsychologische Grundannahmen der Psychoanalyse in Frage
gestellt. Die primäre Intersubjektivität wurde auch als ein Faktor in
menschlichen Beziehungen erkannt und auf die therapeutische Beziehung
übertragen. Im Lichte dieser Annahmen stellt der Analytiker in der
therapeutischen Beziehung nicht nur die „weiße Leinwand“ für die
Übertragungen des Patienten dar, sondern reagiert aktiv und einfühlend auf die
Bedürfnisse des Patienten. Damit tritt in der therapeutischen Beziehung zu der
intrasubjektiven die intersubjektive Perspektive hinzu (Altmeyer/ Thoma 2006,
23 f .).
Die neueren Strömungen in der Psychotherapie widmen sich so nicht nur dem
Vergangenen als Quelle innerer Bilder, die im Rahmen der therapeutischen
Beziehung exploriert werden, sondern auch der unmittelbaren, gegenwärtigen
Interaktion zwischen Patient und Therapeut, in deren Zusammenhang
intersubjektive Handlungen eine Bedeutung gewinnen (Streek 2005). Mit der
Einbeziehung des interaktiven, auch gestischen und körperlichen Geschehens
zwischen Therapeut und Patient wird die Therapie als Ort einer „szenischen
Darstellung“ (ebenda, 36) verstanden, die nicht nur innere Bilder des Patienten
repräsentiert oder symbolisiert, sondern die dialogische Beziehung zwischen
den beiden Akteuren reguliert (Geißler 2005, 45 f .).
Die damit einhergehenden Forschungsansätze beziehen sich auf
phänomenologische und philosophische Wissenschaftsdisziplinen (Stern 2005,
8
Orange 2004, Lichtenberg 2007) und stellen sie psychoanalytischen Theorien
an die Seite. So entwirft Orange (2004) eine psychoanalytische Epistemologie,
die interdisziplinär ausgerichtet ist. Ein Ausgangspunkt dieser Epistemologie,
die sich auf die philosophische Hermeneutik und Phänomenologie stützt, ist ein
„Fehlbarkeitsbewusstsein“ des Therapeuten und die Annahme, dass der
Wissende immer das zu Wissende beeinflusst. Damit wird der Subjektivität in
der Therapie ein entscheidender Stellenwert eingeräumt, die in der
psychoanalytischen Praxis als wechselseitige Suche nach Verständnis in
Erscheinung tritt (vgl. Orange 2004, 69). Orange fasst dieses Verständnis als
sozialen oder sozial artikulierten Prozess auf und bezeichnet ihn als
„perspektivischen Realismus“. So erfasst jeder Teilnehmer eines interaktiven
Geschehens einen bestimmten Teil oder Aspekt der Realität, der als subjektive
Organisation von Erfahrung verstanden wird. Erfahrung wird als Resultat des
Wechselspiels oder Dialogs zwischen dem Gegebenen und dem Interpretierten
aufgefasst und entsteht innerhalb eines intersubjektiven Feldes (ebenda 116).
Hier zeichnen sich mehrere Aspekte ab, die für ein phänomenologisches
Verständnis künstlerisch-therapeutischer Beziehungsprozesse hilfreich sein
können: Es wird die therapeutische Beziehung als Ort eines interaktiven
Geschehens aufgefasst, durch das Sinn konstituiert wird und es wird dabei dem
Wahrnehmen des sinnlich Gegebenen und der intentional darauf gerichteten
Handlung oder Reaktion eine Bedeutung zugesprochen.
Phänomenologie der therapeutischen Beziehung
Eine gewisse Schlüsselstellung in der Theoriebildung über die Phänomenologie
der psychotherapeutischen Beziehung hat die Säuglingsforschung in den
letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts. Stern u.a. (Stern 1992,
Dornes 1995, Lichtenberg 1991) stellten fest, dass es neben dem reflexiven
Bewusstsein auch ein gegenwartsgebundenes Gewahrsein gibt, dass es dem
Säugling z.B. gestattet, unmittelbar mit der Mutter zu interagieren, ohne dass er
in der Lage wäre, darauf zu reflektieren (Stern 2005, 133). Die Unterschiede
zwischen diesen Bewusstseinsarten, dem reflexiven Bewusstsein und dem
gegenwartsgebundenen Gewahrsein, entsprechen in etwa dem Unterschied, den
9
die Philosophie zwischen introspektivem und phänomenalem Bewusstsein
macht.
Anknüpfend an diese Erkenntnisse betrachtet Stern in seinen Untersuchungen
über die Interaktionen zwischen Therapeut und Patient die therapeutische
Beziehung unter der Prämisse, dass es auch hier verschiedene Formen von
Bewusstsein gibt, die mit Erfahrungen in der Therapie verbunden sein können.
Für Erfahrungen, die jenem gegenwartsgebundenen Gewahrsein entsprechen,
schlägt er den Begriff intersubjektives Bewusstsein vor (ebenda 134). Diese
Erfahrungen, die der Gegenwärtigkeit des Erlebens angehören, versteht er als
zentrale Momente von Entwicklung und Veränderung in Psychotherapie und
Alltag. In der Therapie werden diese Erfahrungen von Patient und Therapeut
geteilt. Sie sind als eine Geschichte zu verstehen, die gelebt wird, während sie
geschieht. An ihr haben Therapeut und Patient gleichermaßen Anteil.
Der gelebte Moment ist die kleinste Einheit dieser Geschichte. Stern
bezeichnet ihn als den Gegenwartsmoment. Der Gegenwartsmoment dauert
zwischen einer und zehn Sekunden. Er ist weder planbar noch voraussagbar. Er
geht einher mit Vitalitätsaffekten, die man mit Qualitäten wie beschleunigend,
aufwallend, verblassend, explosiv, instabil, zögerlich oder energisch
beschreiben kann und die verbunden sind mit einer Veränderung der
Bewegung, der Muskelspannung, der Körperhaltung, der Intentionalität des
Interesses usw. Alles, was wir von einem anderen Menschen wahrnehmen,
besitzt so eine durch diese Affekte bestimmte zeitliche Kontur, die wir
subjektiv als Dynamik verschiedener Gefühlszustände erleben.
Dieses Erleben umfasst die Zeit, die wir brauchen um verschiedene
Wahrnehmungsstimuli zu einer Gestalt zusammenzufügen, um ihrer gewahr
werden zu können. Die Gestalt ist vergleichbar mit einer musikalischen Phrase,
die eine zeitliche Ausdehnung hat. Mehrere dieser Phrasen können sich zu
größeren narrativen Strukturen zusammenschließen. Eine Phrase wird wirksam
als unmittelbare Erfahrung und nicht erst in dem, was später darüber gesagt
wird. Das heißt, eine Phrase wird nicht erst erfahren, wenn sie nachträglich
symbolisiert wird. Sie wird erfasst, während sie sich vollzieht und dem
intersubjektiven Bewusstsein zugänglich ist. Wenn dieser Moment nachträglich
geschildert wird, spielen zwei Gegenwartsmomente eine Rolle: der
10
ursprüngliche Gegenwartsmoment, über den berichtet wird und der, in dem
über den ursprünglichen berichtet wird.
Damit ordnet Stern Gegenwartsmomente in der Therapie ein in die
intersubjektive Erfahrungswelt zwischen Therapeut und Patient, die eine
gemeinsame Geschichte miteinander teilen. In diese Geschichte kann ein
besonderer Moment „hereinbrechen“. Er beinhaltet das Entstehen eines neuen
Sachverhalts und vollzieht sich in einem Moment des Gewahrseins. Damit
konstituiert dieser Moment einen neuen Erinnerungskontext. Die
Vergangenheit, so Stern, wird sozusagen durch eine neue ersetzt, indem sie
anders gruppiert wird (ebenda 226). Im Vordergrund steht dabei das implizite
Erleben und nicht das Explizieren von Bedeutungen.
Das Dritte in der therapeutischen Beziehung
Ästhetische Erfahrungen, die aus der gemeinsamen Interaktion von Patient und
Therapeut hervorgehen, gehören zu jenen Gegenwartsmomenten, die Stern
beschreibt. Ästhetisches Gestalten und Handeln erfordert ein Gewahrsein für
den Augenblick, in dem etwas zur Erscheinung kommen kann, was sich nur
einem ästhetischen Wahrnehmen zeigt. Um einen Ton zum Klingen zu bringen,
eine Farbe zum Leuchten, die Anmut einer Bewegung zur Erscheinung, bedarf
es vor allem der Fähigkeit, das Klingen, das Leuchten oder die Anmut in ihrer
unmittelbaren sinnlichen Präsenz zu vernehmen. Ästhetisches Wahrnehmen ist
nicht spezifisch hinsichtlich dessen, was sich über die Objekte oder Ereignisse
begrifflich sagen lässt, sondern hinsichtlich der Art und Weise, wie sie zur
Erscheinung kommen und der Zuwendung, die ihnen in ihrem gegenwärtigen
sinnlichen Erscheinen entgegengebracht wird.
Aus den Momenten des ästhetischen Gewahrseins entbirgt sich das „Dritte“,
was Knill das Unvermittelbare der therapeutischen Begegnung nennt: „Alle
jene Ereignisse im Dazwischen der beratenden oder therapeutischen
Beziehung, welche nicht vorhersehbar, nicht einsetzbar oder machbar, nicht
reproduzierbar sind und deshalb auch unvermittelbar bleiben, haben die
Charakteristik von etwas überraschend Eintreffendem. Dieses Eintreffende im
Zwei der Begegnung nennen wir das „Dritte“.“ (Eberhart/ Knill 2009, 55)
11
Das Dritte ist das, was im aristotelischen Sinne als Poiesis gilt, als ein „Etwas-
Herbeischaffen“ und „Etwas-Hervorbringen“. Es ist ein Erzeugen von etwas,
was es vorher - „von sich selbst“ oder „von der Natur aus“ nicht gab; es besteht
aus einer künstlichen Welt der Artefakte. (Siemek 1999, 16)
Das „Dritte“ in der therapeutischen Beziehung lässt sich aber nicht dingfest
machen in einem künstlerischen Gebilde, da es als Ereignis der
Gegenwärtigkeit gemeinsamer ästhetischer Erfahrungen angehört. Wie in
einem Gedicht, entbirgt sich es sich erst, wenn das letzte Wort gesprochen, der
letzte Ton verklungen ist. Es ist vielleicht mit dem vergleichbar, was man
landläufig den „Aha-Effekt“ nennt: Man hat etwas verstanden, ohne genau zu
wissen, wie es dazu gekommen ist.
In wissenschaftlichen Theorien über dieses Dritte taucht immer wieder der
Begriff Kairos auf (Stern 2005, Petersen 1987, Gadamer 1989, Schmid 1994,
Benjamin 2007). Er geht auf die griechische Mythologie und hierin auf den
Gott des rechten Augenblicks und des richtigen Zeitpunktes Kairos zurück.
Kairos wurde mit dem Bild eines schönen Jünglings verehrt, um zu zeigen,
dass alles Rechtzeitige schön ist und dass Rechtzeitigkeit und Schönheit
zusammengehören. Heraklit beschreibt den Kairos- Moment so: „Alles, was
man tun kann, hat seinen Kairos, seinen richtigen Moment. Dieser Moment ist
ein Einschnitt im Fließen des Chronos. Er teilt die Zeit, rhythmisiert sie und
macht sie so zur Harmonie: Zusammenstimmung des Gegenstrebigen.“
(Heraklit, Fragment B 51, zitiert nach Lange 1999) Im Unterschied zur
linearen Zeit (chronos) werden im Kairos die Zeiten unterschieden. Der Pfeil
des Pandaros unterscheidet Friedenszeit und Kriegszeit und teilt damit die Zeit
(chronos) in zwei Hälften, eine davor und eine danach. Kairos ist etymologisch
mit Krisis verwandt: die Trennung, der Einschnitt, die Entscheidung (Lange
1999). Der Kairos, als Krise des Chronos, ist das Maß der Zeit: Er misst die
Zeitspanne, ist das Maß und daher selbst nicht messbar.
Der Kairosmoment tritt nur dann ein, wenn nichts gewünscht, erhofft oder
beabsichtigt wird. Zum Kairos gehört, so der Medienwissenschaftler Mersch,
„eine Kunst der Ankunft und des Begegnenlassen, die allerdings noch eine
Umwendung der Haltung erfordert: Übergang vom Willen zum Nichtwollen,
von der Absicht zur Absichtslosigkeit…Nichts anderes beinhaltet auch das
Horazsche carpe diem. Statt der geläufigen Übersetzung „Nutze den Tag“, die
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es utilitaristisch verkürzt, müsste es treffender lauten: „Pflücke den Tag“,
wiederum mit dem Bild einer aufspringenden Blüte, die eine unerwartete
Schönheit offenbart, wie sie ebenso augenfällig wie unscheinbar am Wegrand
stehen kann. Sie geht auf durch die Achtung, die Gewahrung dessen, was – wie
gering auch immer – sich schenkt, ohne angesprochen oder gewollt zu sein.
Das Glück des Kairos ist weder aussagbar noch das Ziel irgendeines
Verlangens: es geschieht.“ (Mersch 2000)
In der Erforschung der wirksamen Momente der therapeutischen Beziehung ist
das so genannte „analytische Dritte“, das von Therapeut und Patient unbewusst
und gemeinschaftlich erzeugt wird, mit Odgen (2006, 35 f ) zu einem zentralen
Gesichtspunkt im Diskurs über die Intersubjektivität in der Psychotherapie
geworden. Dieses Dritte taucht bei Knill (1990) und Petersen (1987) in der
Theoriebildung über die künstlerische Therapiepraxis als das unvermittelbare
Dritte in verwandelter Form wieder auf und wird hier verknüpft mit dem
Kairosbegriff. Das unvermittelbare Dritte bezieht sich auf jene entscheidenden
Ereignisse in der Therapie, die unvorhersehbar und daher auch nicht planbar
sind. Eine Brücke zwischen diesen beiden Begriffsbildungen über das sog.
„Dritte“ scheint der „Gegenwartsmoment“ zu sein, den Stern (2005) in Bezug
auf neuere Forschungsergebnisse aus neurobiologischer Sicht in die Diskussion
über die Intersubjektivität in der Psychotherapie einführt.
Der Gegenwartsmoment ist gewissermaßen als Scharnier in der
therapeutischen Begegnung zwischen Therapeut und Patient zu verstehen.
Stern differenziert dabei zwischen Begegnungs- und Jetzt-Momenten. Der
Moment, in dem Entscheidendes in der therapeutischen Begegnung passiert,
nennt er Begegnungsmoment (ebenda 225). Der gemeinsame Weg, den
Therapeut und Patient gehen, ist unvorhersagbar und verläuft dynamisch. Auf
diesem Weg gibt es Jetzt-Momente, die dem Kairos entsprechen und die den
Status quo der Beziehung erschüttern. Sie bilden, so Stern, das Milieu für das
„Hereinbrechen“ emergenter Eigenschaften. Die Lösung der dadurch
hervorgerufenen Krise erfolgt durch Begegnungsmomente. In ihnen erfolgt eine
authentische und aufeinander abgestimmte Reaktion auf die Krise, die durch
den Jetzt-Moment hervorgerufen worden ist. Durch sie können neue
Erfahrungen gemacht und in das eigene Erleben integriert werden.
13
Das Besondere in der therapeutischen Arbeit mit diesen Gegenwartsmomenten
ist, dass sie es nicht nötig haben, nachträglich sprachlich enkodiert zu werden,
um ihre Wirksamkeit zu entfalten. Die nachträgliche sprachliche
Rekonstruktion von Erfahrungen würde aus einem Bewusstsein für das
gegenwärtige, sinnliche Erleben herausführen und an die Stelle der
Phänomene, die dieses Erleben begleiten, den Blick auf die Vergangenheit
setzen.
Offenbar reicht es für den Therapeuten nicht, möglichst viel über den Patienten
in Erfahrung zu bringen, um ihm helfen zu können3: Hilfe „geschieht“, so sagt
Rogers, wenn der Therapeut dem Patienten „begegnet“. Rogers spricht von
einem „Augenblick“, einem Berührungspunkt, in dem Entscheidendes passiert
und in dem sich zwischen Therapeut und Patient ein gegenseitiges „Verstehen“
einstellt. Verstehen ist, so betont Orange (2004, 63 f ), eine gemeinsame
Leistung, die innerhalb einer individuellen Patient- Therapeut- Beziehung erst
erbracht wird. Sie erschließt immer nur jene Aspekte, die innerhalb dieser
konkreten Beziehung Bedeutung erlangen und die dabei sowohl aus der
Perspektive des Therapeuten und als auch der des Patienten erfasst werden
können.
Die ästhetische Phänomenologie als Bezugspunkt der Forschung
künstlerischer Therapien
Für die Erforschung der wirksamen Momente in der therapeutischen
Beziehung einer künstlerischen Therapie braucht es angemessene
Forschungsmethoden. Sie müssen geeignet sein, den Bereich interaktiver
Handlungen in der Therapie zu erschließen, der in seiner phänomenalen
3 Lichtenberg führt dazu in Bezug auf die psychotherapeutische Praxis aus: „In der
Vergangenheit hieß es von den Patienten, sie bezahlten einen Fachmann für psychische
Prozesse, damit dieser ihre Probleme bewusst mache und löse. Selbst wenn ein allwissender
Experte dieses Kunststück fertig brächte, hätte er sie dennoch gleichsam übers Ohr gehauen.
Patienten, ja in der Tat alle Menschen, die eine innige Beziehung zueinander eingehen, wollen
nicht, dass man sie als bloße Ansammlung von Psychopathologien kennt, sondern als die
Personen, die sie sind mit ihren vergangenen und gegenwärtigen Motiven, Absichten,
Gefühlen, Einstellungen, Plänen, Zielen, Leistungen, ihrem Versagen, ihren
Wertvorstellungen, mit allem, was sie lieben oder hassen, und mitsamt dem undefinierbaren
Funken, der all dies übersteigt.“ (Lichtenberg 2007, 34)
14
Präsenz unserer Wahrnehmung zugänglich ist. Während klassische
psychoanalytische Theorien sich ein Bild über die Situation des Patienten
aufgrund von Rückschlüssen und Interpretationen machen, indem sie
Erinnerungen oder Reinszenierungen in aktuellen Übertragungssituationen und
Deutungen heranziehen, erschließen sich Phänomene der Interaktion nur, wenn
der Forscher als aktiver Beobachter mit seinen Wahrnehmungen in das
Geschehen einbezogen wird (Merleau-Ponty 2003, 48).
Eine phänomenologische Forschung zielt in diesem Sinne nicht auf eine
Abbildung der Wirklichkeit, in ihr wird die Wirklichkeit theoriebildend
gestaltet. Forschung ist dann eine Interaktion zwischen dem Forscher und dem
Forschungsgegenstand und ist auf die Geistesgegenwart und die Intuition des
Forschers angewiesen. „Der Wissenschaftler wird“, so Strauss (1998, 35),
„wenn er mehr als nur sachkundig ist, - mit seinen Gefühlen und seinem
Intellekt – „in seiner Arbeit“ sein und von Erfahrungen, die er im
Forschungsprozess gemacht hat, tief beeinflusst werden.“
Ihre Begründung finden phänomenologische Forschungsansätze für die
künstlerischen Therapien in der ästhetischen Phänomenologie. Sie hat ihre
Ursprünge bei Husserl und in seiner Nachfolge Merleau-Ponty (1965). Für sie
sind die „Dinge selbst“ Ausgangspunkt für die Erfassung ihres Wesens. Im
Erleben selbst, im Für-Wahr-Nehmen der Welt kann der Mensch schließlich
zur Essenz einer Erfahrung vordringen und vom Dasein auf das Wesen
gelangen: Verstehen heißt „ […] nicht allein das, was etwas in der Vorstellung
ist, die „Eigenschaften“ der wahrgenommenen Dinge […], sondern die
einzigartige Weise des Seins, die je sich ausdrückt in den Beschaffenheiten des
Kiesels, des Glases oder des Wachsstücks […]“ (Merleau-Ponty 1966, 15). Die
Phänomenologie betrifft dabei den Übergangsbereich zwischen subjektiver und
objektiver Wirklichkeit. Für sie ist weder die Empfindung und noch das
objektiv Gegebene der primäre Tatbestand, sondern die komplexe
Wahrnehmung, bei der das ästhetische Objekt nicht Endpunkt, sondern
Ausgangspunkt erkennenden Betrachtens ist. Damit rückt die ästhetische
Erfahrung als Wahrnehmungsakt in den Vordergrund, die sich intersubjektiv
vermittelt.
Die Phänomenologie führt die Philosophie der Ästhetik so zurück auf den
aristotelischen Wortsinn von Aisthesis: Wahrnehmung, die an den sinnlich
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gegeben Phänomenen ansetzt. Das Wort „Phänomen“ weist seinerseits in eine
ähnliche Richtung wie der Begriff Aisthesis. Es leitet sich von dem
griechischen phainόmenon ab: „Das, was sich zeigt“. Was sich zeigt, zeigt sich
im Bewusstsein desjenigen, der sich einem Phänomen intentional zuwendet.
Das eidos, das Wesen des Phänomens, ist in diesem Akt der intentionalen
Zuwendung bereits enthalten. Das was sich zeigt, weist dabei allerdings
vielfältig über sich hinaus: Es ist mehr gemeint als gegeben. „Das Hier und
Jetzt enthält…die Welt in einer Nussschale, doch dies in Form einer positiven
Unbestimmtheit…“ (Wadenfels 1992, 32)
Eine Theorie über die Phänomenologie therapeutischer Beziehungen in den
künstlerischen Therapien kann sich nicht nur mit der Beschreibung der
Interaktionsverhältnisse begnügen, sondern besteht in einer dauernden
Auseinandersetzung zwischen Determination und Emergenz. Sie bewegt sich
dabei, wie Tüpker (1996, 20) betont, nicht entlang einer Achse von Objektivität
unter Einbeziehung subjektiver Einflüsse, sondern entlang „der kritischen
Reflexion dessen, was wir im Zuge der wissenschaftlichen Forschung an
Wirklichkeit zugleich herstellen“ (20, 21). Tüpker setzt daher an die Stelle
einer „Scheinobjektivität“ die „kontrollierte Subjektivität“ (20).
Studien aus dem Bereich der künstlerischen Therapien nutzen häufig das
Inventar der qualitativen Sozialforschung, das geeignet ist, ihre komplexen
Interaktionsverhältnisse zu erfassen und theoretisch zu erschließen. In dieser
Tradition stehen Forschungsinstrumente, die für verschiedene Bereiche der
künstlerischen Therapie entwickelt worden sind wie die „systematische
Bildanalyse“ nach Gruber (Gruber et. al. 2000, 187 – 199; Gruber et. al. 2002,
138 – 146), die „Beschreibung und Rekonstruktion als Methodik der
wissenschaftlichen Aufarbeitung musikalischer Improvisation“ nach Tüpker
(Tüpker 1996) oder die in Anlehnung daran entwickelte „vierstufige Methode
zur Betrachtung bildnerischer Phänomene“ (Sinapius 2009).
Diesen Methoden ist gemein, dass sich die Forscher auf die phänomenale Welt
des Klienten einlassen. Sie sind herausgefordert ihren Forschungsgegenstand
nicht nur deskriptiv erfassen, sondern jene komplexen Sinngehalte
wahrzunehmen, die durch seine phänomenale Erscheinung zum Ausdruck
kommen.
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Presentation
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Vortrag auf dem Symposion “Therapeutische Allianzen” auf Kampnagel in Hamburg am 02. November 2014 im Zusammenhang mit dem Ausstellungsprojekt “Krankheit als Metapher – Das Irre im Garten der Arten”.
Chapter
Im folgenden Aufsatz soll versucht werden, das Spezifische und Besondere der kunsttherapeutischen Begegnung zu erfassen. Zur Abgrenzung von anderen Beziehungsgefügen, die der Mensch eingeht, wird die Unterscheidung von mittelbaren, unmittelbaren und unvermittelbaren Anteilen der Begegnung vorgeschlagen. Aus dieser Unterscheidung wird ein Modell entwickelt, welches helfen soll, das „Dazwischen“ in der „Situation zu zweit“, das Phänomen des „Dritten“ und kritische Fragen über den Therapeuten als Künstler, die Therapie als Kunst oder Kunst als Therapie besser zu verstehen. Um den Begriff des unvermittelbaren Dritten zu klären, werden Kunstanalogien herangezogen. Der darin differenzierten „künstlerischen Haltung“ wird eine wichtige Bedeutung zukommen. Damit im Zusammenhang steht die Frage nach dem kunsttherapeutischen Ethos. Sie wird uns beim Begriff des Heilmittels beschäftigen. Eine Schwierigkeit der vorliegenden Studie liegt darin, eine adäquate Forschungsmethode zu finden. Diese Schwierigkeit wird im letzten Abschnitt zum Thema gemacht, und dem in den USA heute in diesem Zusammenhang geprägten Begriff „theory and research indigenous to the arts“ wird ein besonderes Gewicht beigemessen werden.
Article
Summary Art Therapy: Development and Evaluation of an Instrument to Analyze Paintings of Patients in Oncology and Rheumatology Systematically Introduction: Art therapies have been established methods in oncology for many years. To what extent patients’ pictures can be systematically described, and what connections to various illnesses are possibly thereby revealed, has been discussed in various specialized medical fields for over a hundred years. The following paper first presents insight into the present stand of research and then presents the results of the study. Question: Are systematic analyses of pictures possible with the use of the instrument we have developed? Are pictorial differences evident within the researched group? Method: A previously developed instrument was submitted for expert questioning for the purpose of the study. The instrument that had been modified on the basis of these results could then be used in the study to interpret 162 pictures. Four different raters, three of whom were acquainted with neither the patients nor the pictures, interpreted these pictures independently of one another. Results: The evaluation of the expert interpretations shows that this newly developed instrument is suitable for the differentiated description of patients‘ pictures. First important indications were drawn in regard to the pictorial differences between the two examined groups of cancer patients and patients with chronic polyarthritis. Conclusion: Systematic picture analyses are possible. A further analysis of the expert interpretations is necessary to clarify questions raised by the pictorial differences found in the various diagnostic groups.
Die vernetzte SeeleDie intersubjektive Wende in der Psychoanalyse
  • A Honneth
Honneth, A. (2006): Facetten des vorsozialen Selbst. Eine Erwiderung auf Joel Whitebook. In: Altmeyer, M.; Thomä, H. (Hrsg.) (2006): Die vernetzte SeeleDie intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Stuttgart, 314-333
Kairos-Schriften zur Philosophie
  • W Benjamin
Benjamin, W. (2007): Kairos-Schriften zur Philosophie. Frankfurt.
Von der Lust am Dialog. Auditorium Netzwerk Original Vorträge
  • H.-G Gadamer
Gadamer H.-G. (2008): Von der Lust am Dialog. Auditorium Netzwerk Original Vorträge, Jokers Hörsaal, CD 2. Müllheim-Baden.
Alles hat seine Zeit. Zur Geschichte des Begriffs kairos
  • C Lange
Lange, C. (1999): Alles hat seine Zeit. Zur Geschichte des Begriffs kairos.
Kunst und Technik psychoanalytischer Therapien
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