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bb-thema: Social Media
berufsbildung Heft 173 (2018) 27
Social Media im Leben wie
im Unterricht?
Lernangebote in Social Media
Wer naiv über Medien nachdenkt,
stellt sie sich als Werkzeuge vor.
Wer die Schalen von Karotten oder Kar-
toffeln mit einem Sparschäler statt einem
Messer entfernt, merkt: Damit geht die
Arbeit schneller vonstatten. Der Spar-
schäler weist in Bezug auf denselben Ar-
beitsprozess gegenüber dem Messer ei-
nen Mehrwert auf.
Die Erwartung eines Mehrwerts gibt
es in Bildungskontexten auch an alle For-
men der digitalen Medien: Social Me-
dia, digitale Lernumgebungen, White-
boards oder Tablets sollen dann einen
Eingang in den Unterricht finden, wenn
sie erlauben, dieselben Ziele effizienter
zu erreichen. Doch die Vorstellung eines
Mehrwerts ist in diesem Zusammenhang
falsch. Dafür gibt es zwei wesentliche,
miteinander verbundene Gründe: Medi-
en sind erstens keine Werkzeuge, zwei-
tens verändern sie die Ziele, die es mit
Lernprozessen zu erreichen gilt.
»Informations- und Kommunikations-
Medien machen Gesellschaft.« Mit die-
sem Satz erklärt Lias Rosa (2017) einen
wesentlichen Zusammenhang: Das Zu-
sammenleben von Menschen ist medial
organisiert. Das zeigt sich deutlich im Ar-
beitskontext: Die Erwartungen an die Er-
reichbarkeit von Mitarbeitenden hat sich
in den letzten Jahren radikal gewandelt.
Gleichzeitig haben sich aber auch die
Vorstellungen in Bezug auf Präsenz am
Arbeitsplatz verändert: Innovative Un-
ternehmen erlauben ihren Angestellten
heute, im Home-Office-System von zu-
hause zu arbeiten. Viele Sitzungen und
Treffen werden obsolet, weil digitale For-
men des Austausches an ihre Stelle ge-
treten sind. Digitale Kommunikation hat
also nicht einen Mehrwert gegenüber
internen Post-Systemen, sondern sie ver-
ändert wesentliche Formen der Zusam-
menarbeit. Durch den Wechsel des Leit-
mediums vom Buch zum Internet stellen
sich ganz neue Fragen in einem neuen
Referenzrahmen.
Das gilt auch für Schule und Lernen.
Wie Menschen lernen, verändert sich
mit den Medien, die sie dazu verwen-
den. Diese Veränderung ist aber noch
nicht vollzogen: »Die von Bildungspro-
zessen erhofften mentalen Effekte wer-
den immer noch in den Kategorien einer
am Buchformat ausgerichteten Lektüre-
praxis gedacht und formuliert«, hat der
Medienhistoriker Heiko Christians (2018,
S. 497) kürzlich festgestellt. Das führt zu
einer Situation, in der informelle Lernpro-
zesse der Lernenden in einem Gegensatz
zu den formalen Lernvorgaben der Insti-
tutionen stehen.
Lernen in Netzwerken und
Communities
Auf verschiedenen Social-Media-Kanä-
len durch Interaktion Netzwerke auf-
zubauen, ist etwas, was Kinder und Ju-
gendliche heute privat und aus sozialen
Motiven lernen. Obwohl diese Prozesse
zuweilen als oberflächlich lächerlich ge-
macht werden, haben sie wichtige ent-
wicklungspsychologische Funktionen: Sie
erlauben etwa den Abgleich des Selbst-
bildes mit Fremdbildern und dokumen-
tieren den Aufbau eines eigenständigen
Beziehungsnetzwerkes, das von dem der
Eltern unabhängig ist.
Deshalb erstaunt es nicht, dass der
Leit-
begriff für das Lernen mit Social Media
der des Netzwerks ist. Genauer: »Perso-
nal Learning Network« oder PLN bezeich-
net diejenigen Verbindungen mit ande-
ren Menschen, die für die Beantwortung
von Lernfragen hilfreich sind. Der Social-Philippe Wampfler
Abstract:
Social Media sind als Lernumgebun-
gen heute vorwiegend in privaten
Kontexten anzutreffen. Wer sie in
schulischen oder beruflichen Kon-
texten nutzen will, muss sich auf ihre
Netzwerkstruktur abstützen: Ein auf
digitale Plattformen abgestütztes
Lernnetzwerk ist heute Vorausset-
zung für lebenslanges Lernen.
Lizenziert für phwampfler@gmail.com.
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bb-thema: Social Media
28 berufsbildung Heft 173 (2018)
Media-Pionier Howard Rheingold be-
schreibt eine einfache Übung, mit der
sich im Unterricht die Struktur von PLNs
nachvollziehen lässt (vgl. Wampfler 2013,
S. 101f.): In Partnerarbeit stellen Lernende
Fragen zum aktuellen Unterrichtsthema.
Einige Fragen können sie selbst beant-
worten. Die anderen schreiben sie auf
Karten, die im Schulzimmer ausliegen.
Nun wird die ganze Klasse aktiviert: Wer
eine Antwort weiß, schreibt sie auf die
Rückseite der Karte. Bei allen Fragen,
die nicht beantwortet werden können,
überlegt sich die Klasse, wer die Ant-
wort wissen könnte. Daraufhin schreibt
die Klasse diese Fachleute im Netz direkt
an und bittet sie um eine Antwort.
Lernen in Netzwerken findet in ver-
schiedenen Gemeinschaften statt, wie
Harold Jarche (2016) ausführlich darge-
stellt hat. Gerade in der beruflichen Bil-
dung unterhalten Lernende oft Netz-
werke mit drei verschiedenen Commu-
nities: Das erste am Arbeitsplatz, das
zweite mit anderen Menschen mit dem-
selben Beruf, aber einem anderen Ar-
beitsort und das dritte im privaten di-
gitalen Raum mit Bezugspersonen ohne
berufliche Verbindung. In all diesen Ge-
meinschaften findet informelles Lernen
heute statt. Informell ist es deshalb, weil
die Lernprozesse nicht von externen Im-
pulsen ausgehen und auch nicht nach
externen Kriterien evaluiert werden: Die
Lernenden entdecken Probleme selbst
und vernetzen sich, um Lösungen dafür
zu finden. Oft bemerken sie nicht ein-
mal selbst, dass es sich dabei um Lern-
prozesse handelt.
Social Media spielen dabei sehr un-
terschiedliche Rollen. Die Kultur der
Arbeitsorte und der Berufe bewerten
digitale Werkzeuge sehr unterschied-
lich. Unabhängig davon erlauben die
verschiedenen digitalen Plattformen
jedoch, die eigene Arbeit sichtbar zu
machen. »Working Out Loud«, so das
Konzept von John Stepper (2015), auf das
sich auch Jarche stützt, ist die Voraus-
setzung, um wirksame PLN zu unterhal-
ten. Sobald ich anderen erzähle, woran
ich arbeite, laufen in mir und um mich
herum ganz viele Prozesse ab, die mir
helfen, relevante Fragestellungen präzi-
ser zu erfassen und dadurch eine per-
sönliche Lernentwicklung zu durchlau-
fen.
Wie lernt man konkret mit
Social Media?
Die zentralen Konzeptionen von Medien-
kompetenz (vgl. Frederking, Krommer & Maiwald
2018, S. 70ff.) verstehen einen mündigen
Umgang mit Medien als ein Zusammen-
spiel von Medienhandeln, Medienwissen
und Medienreflexion. Damit Menschen
mit Social-Media-Plattformen kompetent
lernen können, müssen sie es also tat-
sächlich tun, etwas darüber wissen und
ihre Prozesse gezielt evaluieren. Die theo-
retischen Grundlagen liefern die vorherge-
henden Abschnitte dieses Artikels, Reflexi-
on kann unter pädagogischer Begleitung
problemlos erfolgen. Bleibt die Praxis.
Hier bieten sich folgende Schritte an:
1. Eine geeignete Plattform auswäh-
len und Vorabklärungen treffen, bei-
spielsweise zu juristischen und tech-
nischen Bedingungen der Nutzung.
Die Wahl der Plattform hängt dabei
auch davon ab, mit welchen Perso-
nen man zusammen lernen will und
welche Kanäle Lernende auch privat
gerne nutzen. Besonders der Grad
der Offenheit ist hier ein wichtiges
Kriterium – geschlossene Lernmana-
gementsysteme, die Organisationen
gerne einsetzen, um Datenschutz-
und Urheberrechtsprobleme vermei-
den zu können, eignen sich für Lern-
effekte weniger gut, die gerade da-
von abhängen, auch überraschende
Effekte durch den Einbezug von nicht
direkt am Lernprozess Beteiligten zu
erzielen.
2. Das Lernvorhaben plattformgemäß
aufbereiten. Das bedeutet, dass man
sich überlegt, mit welchen Bildern, Tex-
ten oder Videos sich zeigen lässt, wo-
ran man gerade arbeitet. Die Darstel-
lung der eigenen Ergebnisse ist Voraus-
setzung für eine gute Vernetzung – es
ist so für andere Lernende und Fach-
leute ersichtlich, worum es geht und
wie der Kenntnisstand aussieht.
3. Mit anderen Beiträgen und Konten in-
teragieren, die zum eigenen Lernfeld
passen. Lob aussprechen, Materiali-
en teilen, Fragen stellen und Fragen
beantworten sind zielführende Akti-
onen, die dem aufzubauenden Netz-
werk signalisieren, dass sich jemand
ernsthaft mit Themen auseinander-
setzt und bereit ist, in den eigenen
Lernprozess zu investieren.
4. Auch die Reflexion auf dem eigenen
Kanal abbilden. Kritik und Selbstkritik
stützen dabei Netzwerkprozesse. Es
wäre problematisch, nur Lernerfolge
auszustellen – weil alle, die ernsthaft
an einem Thema arbeiten, Rückschläge
und Misserfolge genau kennen. Fehler-
kultur ist gerade im digitalen Kontext
produktiv – die Darstellung von Miss-
glücktem ist ein Anlass für konstruk-
tive, unterstützende Rückmeldungen.
Das alles sind individuelle Strategi-
en. Was haben sie mit dem Unterricht
zu tun? Eine zeitgemäße Form von Un-
terricht, in der die wichtigen 4K-Kompe-
tenzen – Kreativität, kritisches Denken,
Kommunikation und Kollaboration – im
Vordergrund stehen, führt Lernende an
diese Verwendungsweisen von Social-
Media-Plattformen heran. Zum Beispiel,
indem Kurs- oder Klassenkonten die Ar-
beit der Klasse im Netz dokumentieren
und damit eine Vernetzung vorführen,
die Lernende für sich adaptieren können.
In die andere Richtung gehen Aus-
tauschprozesse im Präsenzunterricht, die
explizit dazu einladen, Ergebnisse aus
den PLN vorzustellen. Bei Berufsschulen
bietet sich besonders an, praktische Fra-
gen in den verschiedenen Communities
zu diskutieren und im Unterricht dann die
Ergebnisse zu diskutieren und eine Refle-
xion über sinnvolle Strategien im Um-
gang mit solchen Fragen anzustreben.
Verwendet man Social-Media-Platt-
formen in diesen beiden Szenarien über-
legt, so lassen sich die wesentlichen Pro-
bleme in Bezug auf Datenschutz einfach
umgehen, indem entweder im Unterricht
über Erfahrungen mit Lernprozessen in
privat genutzten sozialen Netzwerken
gesprochen wird oder anonyme Konten
für die Vernetzung verwendet werden,
auf denen keine persönlichen Daten vor-
kommen. (Rechtliche Abklärungen wer-
den deswegen nicht obsolet, sondern
gehören zur Verantwortung der Leh-
rer_innen.)
Fazit: PLN als Voraussetzung für
lebenslanges Lernen
Die kompetente Verwendung von PLNs
ist nicht eine nette Ergänzung eines ei-
gentlich zentralen Präsenzunterrichts:
Sie ist die primäre Form des Lernens
im 21. Jahrhundert. Selbstverständlich
Lizenziert für phwampfler@gmail.com.
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bb-thema: Social Media
berufsbildung Heft 173 (2018) 29
funktionieren Lernnetzwerke nicht aus-
schließlich über digitale Plattformen
– aber Social Media ist als Medium für
die Zusammenarbeit von Menschen ge-
macht, die gleichzeitig Inhalte produzie-
ren und konsumieren, die lernen und
andere beim Lernen unterstützen. Hier
zeigt sich diesbezüglich die Bedeutung
der einleitenden Bemerkungen: Digita-
le Medien führen zu einem veränderten
Verständnis von Lernen und anderen
Rollen beim Umgang mit Lernprozessen.
Diese sind deshalb von herausra-
gender Bedeutung, weil sich berufliche
Kompetenzen schnell wandeln. Wer
heute in Rente geht, hat während des
Berufslebens die Bedienung von Com-
putern für berufliche Zwecke gelernt.
Das scheint rückblickend ein großer
Schritt zu sein – in Zukunft dürften aber
weit komplexere Lernprozesse auf Ar-
beitnehmer_innen warten. Diese kön-
nen sie bewältigen, wenn sie den Auf-
bau von PLN gelernt haben und diese
so pflegen, dass sie darin verschiedene
Gemeinschaften erreichen können, mit
denen zusammen sie die für sie momen-
tan wichtigen Kompetenzen erwerben
können.
Literatur:
Christians, H. (2018). Gesamtgesellschaft-
licher Registerwechsel. In Forschung &
Lehre 6(18), S. 496-499.
Jarche, H. (2016). Implementing net-
work learning. Online: http://jarche.
com/2016/08/implementing-network-
learning/ (25.6.2018)
Frederking, V., Krommer, A. & Maiwald, K.
(2018). Mediendidaktik Deutsch. Eine
Einführung. 3. Auflage. Berlin: Erich
Schmidt Verlag.
Rosa, L. (2017). Lernen im digitalen
Zeitalter. Online: https://shiftingschool.
wordpress.com/2017/11/28/lernen-im-
digitalen-zeitalter/ (23.6.2018)
Stepper, J. (2015). Working Out Loud.
For a better career and life. New York:
Ikigai Press.
Wampfler, P. (2013). Facebook, Blogs
und Wikis in der Schule. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht, 2013.
Philippe Wampfler
Lehrer für Deutsch an der
Kantonsschule Enge;
Universität Zürich
Dozent für Fachdidaktik Deutsch
phwampfler@gmail.com
Materialien zu einer Frühgeschichte
des Leipziger kaufmännischen Unterrichtswesens
herausgegeben von Klaus Friedrich Pott
213 Seiten, ISBN 978-3-940625-85-4; Eusl-Verlag Detmold, erschienen 2018; 29,80 € (D)
In den in diesem Buch in Rede stehenden sechs Jahrzehnten des Übergangs ins industrielle Zeitalter, in de-
nen sich u. a. die Firma zunehmend aus der Familie „herauslöste“, wurde der Kaufmann des vorindustriellen
Zeitalters zum Unternehmer. Damit reichte das lernende Mitarbeiten der überkommenen betriebsgebun-
denen Kaufmannsausbildung nicht mehr aus. Zum Können musste das Wissen kommen, auch das Wissen,
wie man sich neues Wissen schnell aneignet. Führende Exponenten der Leipziger Kaufmannschaft haben
das früh erkannt (früher als andernorts) und Wege zur schulischen Berufsausbildung gesucht. Dieses Buch
beleuchtet diese Versuche.
Aufgrund der großen Rolle, die die Leipziger Kaufmannschaft in ökonomischer, geistiger und politischer
Hinsicht spielte, und dank der alljährlich drei Messen, zu denen zehntausende Besucher nach Leipzig ka-
men, wurde die erste die Zeiten überdauernde Schulgründung, die der Öffentlichen Handelslehranstalt,
schnell in ganz Europa bekannt. Bis in die Anfangsjahre der DDR ist sie ausschließlich von den „Nächst-
Interessierten“ (Wilhelm Roscher) getragen worden, zunächst von der Leipziger Kramer-Innung und nach
der Einführung der Gewerbefreiheit von der ihr dann nachfolgenden Handelskammer.
Lizenziert für phwampfler@gmail.com.
© 2018 berufsbildung - Eusl Verlag. Alle Rechte vorbehalten. Keine unerlaubte Weitergabe oder Vervielfältigung.
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