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Spurensicherung - Leben nach dem Glück

Authors:

Abstract

Vortrag am 2.5.2012 auf dem 18. Internationalen Seminar für körperbezogene Psychotherapie, Körpertherapie und Körperkunst in Bad Gleichenberg
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„Renn nur nach dem Glück,
doch renne nicht zu sehr,
denn alle rennen nach dem Glück,
das Glück rennt hinterher.“
Bertolt Brecht (1967, 465)
Spurensicherung
Leben nach dem Glück
Vortrag am 2.5.2012 auf dem 18. Internationalen Seminar für körperbezogene
Psychotherapie, Körpertherapie und Körperkunst in Bad Gleichenberg
In einer der letzten Ausgaben der Zeit schreibt Stefan Nink (2012) über seine erste Fahrt mit
der Straßenbahn in Lissabon:
Es war Februar, und eine Frau hatte mein Herz gebrochen, als ich zum ersten Mal in die
Stadt am Tejo reiste, von der es heißt, hier sei die Melancholie zu Hause. In Deutschland
regnete es seit Wochen, über Lissabon aber spannte sich ein unwirklich blauer Himmel. Ich
hatte keinen Reiseführer eingepackt, Sehenswürdigkeiten interessierten mich nicht.
Stattdessen schlenderte ich ziellos durch die Straßen und trank Portwein in Kneipen voller
traurig aussehender Männer. In die Straßenbahn bin ich nur gestiegen, weil mir irgendwann
am Abend die Füße weh taten.
Die Carreira 28 dos Eléctricos de Lisboa verbindet die Lissabonner Stadtteile Alfama, Baixa,
Lapa und Prazeres und zählt zu den berühmtesten Straßenbahnstrecken der Welt, aber das
wusste ich damals nicht. Ich hatte auch keine Ahnung von den legendären 13,5 Prozent
Steigung, die die Bahn auf ihrer Strecke überwindet. Ich wollte einfach sitzen, meinen
Gedanken nachhängen und mich in die Nacht bringen lassen…
Damals, beim ersten Mal, ruckelte die 28 an den Fenstern großer Wohnungen vorbei, in
denen Licht brannte, und in einer dieser Wohnungen saß eine junge Frau hinter ihrem
Computer. Sie schaute aus dem Fenster, als die Bahn in Zeitlupe vorbeizuckelte, und für ein
paar Sekunden trafen sich unsere Blicke. Dann lächelte sie, und sie lächelte alle Melancholie
weg, einfach so. In diesem Moment wusste ich, dass ich eigentlich nie mehr aussteigen wollte.
Von dem Moment, den Stefan Nink hier beschreibt, dem Lächeln, dem Glück, der
Absichtslosigkeit und der damit einhergehenden Wahrnehmung, soll im Folgenden die Rede
sein.
Glück ist nicht gleich Glück. Im Englischen haben wir für das, was damit gemeint sein kann,
die Begriffe „luck“ und „happiness“. „Luck“ ist das Glück, dass mich trifft, das Schicksal, das
mich aber nicht unbedingt „happy“, glücklich, machen muss. Glück kann sowohl ein Ereignis
sein als auch ein individueller Zustand. Zwischen beiden Formen des Glücks wird
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umgangssprachlich nicht immer differenziert, obgleich es möglich ist, das ich glücklich bin,
auch wenn ich kein Glück habe und umgekehrt.
Ich werde in meinem Vortrag das Wort Glück in seiner Doppeldeutigkeit gebrauchen, weil
damit gleichzeitig sein Spannungsfeld angedeutet ist, in dem es sich bewegt: Zwischen dem
Gefühl von Glück und dem Glück, das mir widerfährt. In diesem Spannungsfeld werde ich die
Spuren des Glücks verfolgen, die es hinterlässt und dabei jenen Momenten begegnen, in
denen das Glück, das ich empfinde, mit dem Glück, das mir widerfährt, zusammenfällt - oder
auch nicht.
Ich werde mich mit dem Glück aus der Perspektive der Philosophie der Ästhetik beschäftigen,
die sich im ursprünglichen Sinne des Wortes Aisthetik als Geschichte der Wahrnehmung
auffassen lässt und werde dabei die Begriffe Glück und Wahrnehmung in eine Beziehung
zueinander bringen. Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht daher die Wahrnehmung,
durch die uns Glück erscheint.
Nach einer kurzen Einleitung über die Suche nach den Spuren des Glücks, werde ich unter
den Stichworten Rausch, Rauschen, Tanz und Sprache verschiedene Aspekte der
Wahrnehmung aufsuchen, die sowohl Positionen der Philosophie der Ästhetik markieren als
auch mit unserem alltäglichen Leben verbunden sind. Ein kurzer, nicht unwesentlicher
Exkurs, gilt dem Lächeln.
Spuren des Glücks
Wenn ich auf der Suche nach dem Glück bin, begegnet mir nicht das Glück, sondern allenfalls
Spuren, die es bleibend hinterlassen hat: eine Erinnerung, ein Foto, ein Musikstück, ein
Geruch, ein Geschmack. Ich folge der Spur und werde von ihr geleitet in die Vergangenheit:
ich erinnere mich an einen Urlaub, eine Begegnung, ein Ereignis. Ich untersuche die Spur und
folge ihr. Ich mache mich auf den Weg in denselben Urlaubsort, ich suche einen Freund auf,
mit dem ich vor 20 Jahren glückliche Tage verlebt habe, ich höre ein Musikstück, das mich
vor langer Zeit bewegt hat: Die Erfahrung, die ich mache, wird nicht die gleiche sein, wie
beim ersten Mal. Der Freund ist in die Jahre gekommen und seine Geschichte hat ihn
verändert, die Urlaubslandschaft erinnert mich zwar an der Urlaub, der in meiner Erinnerung
lebendig ist, aber der Himmel ist nicht derselbe, die Sonne fühlt sich anders an auf der Haut,
die Landschaft erscheint mir nicht mehr verzaubert. Das Gefühl von Glück will sich nicht so
einstellen wie beim ersten Mal.
Ich kann von meinem Glück erzählen, dasselbe Glück gibt es jedoch kein zweites Mal. Das
Glück, dessen Spur ich folge, bleibt mit den Bildern der Vergangenheit verbunden und kommt
nicht wieder. Ich kann das Glück nicht aufsuchen, indem ich alten Spuren folge. Es hat keine
keinen Ort und kennt keine Vergangenheit. Die Suche nach dem Glück ist ein Leben nach
dem Glück.
Was ist das Glück, von dem ich etwas wissen will?
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Wer sich auf die Suche nach dem Glück begibt, kann verschiedenen Fährten folgen, um in
Erfahrung zu bringen, was sich darüber wissen lässt. Auf meiner Suche stöbere ich in
Büchern, suche das Glück unter den 130 Millionen Einträgen, die sich dazu bei Google im
Internet finden, ich gehe in den Park und beobachtete die Natur, ich beobachte andere
Menschen und versuche mir vorzustellen, ob sie glücklich sind oder nicht, ich beschäftige
mich mit den Vorgängen im Gehirn und erfahre etwas über neurophysiologische Vorgänge
von Verliebten, ich studiere die Geschichte des Heiligen Felix, der das Glück in seinem
Namen trägt – je mehr ich jedoch mit dem Glück befasse, desto weniger verstehe ich davon.
Die Informationsflut über das Glück verhält sich umgekehrt proportional zu meinem Wissen
über das Glück.
Ich fühle mich wie Siddhartha in dem gleichnamigen Roman von Hermann Hesse, der auf der
Suche nach dem Nirwana ist und auf seinem Weg zur Erleuchtung feststellt, dass gelehrtes
Wissen nichts und Erfahrung alles ist. So heißt es bei Hermann Hesse:
Einen Stein kann ich lieben, und auch einen Baum oder ein Stück Rinde. Das sind Dinge, und
Dinge kann man lieben. Worte aber kann ich nicht lieben. Darum sind Lehren nichts für mich,
sie haben keine Härte, keine Weiche, keine Farben, kein Kanten, keinen Geruch, keinen
Geschmack, sie haben nichts als Worte. Vielleicht ist es dies, was dich hindert, den Frieden zu
finden, vielleicht sind es die vielen Worte. Denn auch Erlösung und Tugend, auch Sansara
und Nirwana sind bloße Worte. Es gibt kein Ding, das Nirwana wäre; es gibt nur das Wort
Nirwana. (Hesse 2006, 127).
Wenn ich mich einem Stein, einem Baum oder einem Stück Rinde zuwende, ihre Oberfläche,
ihren Geruch, ihre Kälte oder Wärme spüre, spüre ich gleichzeitig mich. Indem ich sie
berühre, lasse ich sie zur Sprache kommen. Wenn das, was ich erfahre, zu mir spricht, ist das
so die von mir aus dem Textfragment gewonnene Hypothese Liebe und vielleicht die
Quelle von Glück.
Bevor ich mich philosophiegeschichtlich verschiedenen Formen der Wahrnehmung zuwenden
werde, nehme ich ausgehend von dieser Hypothese meine eigenen Erfahrungen mit dem
Glück in den Blick und untersuche sie anschließend unter dem Stichwort Lächeln als
besondere Form der Weltbegegnung. Ich stoße dabei auf einen Glücksmoment, der kürzlich
völlig unerwartet in einer eher unerfreulichen Lebensepisode wie aus dem Nichts auftauchte
um dann wieder zu verschwinden.
Rausch
Ich hatte einen beruflichen Konflikt auszustehen, der erheblichen Stress bei mir auslöste.
Mein Rücken reagierte mit heftigen Schmerzen. Mein Gesundheitszustand verschlechterte
sich binnen kurzer Zeit dramatisch und ich kam völlig bewegungsunfähig mit meinen
Rückenbeschwerden als Notfall in ein Krankenhaus. Die Rettungskräfte des Notarztwagens
hatten mich mit Morphinen außer Gefecht gesetzt um mich ins Krankenhaus befördern zu
können. Die Morphine lösten bei mir nicht nur Bewusstlosigkeit, sondern auch einen
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Dämmerzustand aus, den ich als seltsam entrückt und schwerelos empfand - einen Zustand,
den ich als glücklich bezeichnen würde. In der Klinik angelangt tauchte in meinem
Dämmerzustand über mir das Gesicht einer Schwester auf, die mich mit einem freundlichen
cheln ansprach, um meinen Bewusstseinszustand zu überprüfen: „Hallo, ich bin Schwester
Petra“. Ich antwortete offenherzig, dass ich Peter sei, ohne ein Bewusstsein über meine
Situation zu haben oder den Zusammenhang meiner Äußerung zu überblicken. Dann
dämmerte ich wieder weg. Aber ich war einen Moment so etwas wie glücklich gewesen.
Das Glück ist mir hier im Kontext einer Situation erinnerlich, die sich von anderen
Situationen dadurch unterscheidet, dass ich in ihr kein Bewusstsein für das Woher oder
Wohin, für die Zukunft oder Vergangenheit hatte, sondern mir die einfache Tatsache, da zu
sein und angesprochen zu werden, ausreichte, um glücklich zu sein. Ursächlich für diesen
Zustand war das Morphin, das mir verabreicht worden war, das nicht nur schmerzlindernd
und einschläfernd wirkt, sondern auch Bewusstseinsstörungen wie Zeitverlustempfinden,
Erinnerungslücken und Euphorie hervorrufen kann. Damit sind nicht nur die Wirkungen eines
Opiums beschrieben, sondern auch eine Wahrnehmung, die wir mit Glück in einen
Zusammenhang bringen können. Die Wirklichkeit erschien mir wie herausgelöst aus dem
zeitlichen Strom des Alltags und berührte mich in meinem gegenwärtigen In-der-Welt-Sein.
Glück ist mit einer Wahrnehmung verbunden, durch die uns die Wirklichkeit, die uns umgibt,
unmittelbar berührt.
Es lohnt sich, diese Wirklichkeit etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Sie hatte in der
vorgetragenen Episode nichts anderes zum Inhalt, als einen Augenblick, in dem ein anderer
Mensch mir sein Lächeln schenkte und mich ansprach. Mein Glück war mit dem Umstand
verbunden, dass mich jemand begrüßte. Dieses Begrüßen war rückbezüglich: „Ich bin
Schwester Petra!“ Jemand war für mich da, auch wenn nur für einen Moment. Und dieser
Moment machte mich meiner selbst bewusst.
Wenn wir uns begrüßen, nehmen wir eine Beziehung zueinander auf. Das Besondere daran ist
die damit verbundene Wahrnehmung, durch die wir Beziehung aufnehmen zu dem, der uns
begegnet. Ich spreche den Anderen an, und in dieser Ansprache findet der Andere einen
Resonanz, durch die er sich in der Welt seiend erlebt: „Wo Du bist, [ist] ein Raum für
mich…“ (Binswanger 1993, 21)
Das Verstehen des Nächsten, so schreibt Emmanuel Levinas, ist von seiner Anrufung („ich
grüße Dich!“) nicht zu trennen. Was hier als „Du“ benannt wird, wird gleichzeitig gerufen
(Levinas 1995, 17). Die Beziehung zu einem anderen Menschen beginnt mit dem Sprechen,
bevor ich etwas von ihm oder über ihn weiß oder verstanden habe: Ich rufe ihn an.
Der Moment, in dem ich angesprochen wurde, glich einem Auftauchen aus dem Dunkel der
Bewusstlosigkeit: Ich erwachte einen Moment aus meinem Dämmerzustand um kurz darauf
wieder in ihn zu versinken. Als dann die Wirkung des Morphins nachließ, war es auch dem
Rausch und mit meinem Glück vorbei. Ich fühlte mich der Realität, meinen
Rückenschmerzen, wieder ausgesetzt, die mir die vergangenen Konflikte in Erinnerung riefen.
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Ich hatte, um mit Michel Serres zu sprechen, das Paradies verlassen. Michel Serres (1998,
426) schreibt:
„Wir haben das Paradies um des Baumes der Erkenntnis willen verlassen…Warum nur haben
wir den Garten verlassen, in dem die Wasser rauschen?
Wir wachen auf im Bad der Haut und des Bettes, versunken in die gemeinsame Dichte der
Haut und des Leinens; das Laken ist der Fortsatz der Haut, der Körper breitet sich in seinen
sanften Falten und Taschen aus. Eine Spitze taucht auf aus dem Dunkel, der Wärme, der
Entfremdung hervor, der Gang unter Wasser ist zu Ende, wir stoßen an ein Ufer, an das uns
der Strom trägt….“
Dort, jenseits des Paradieses, von dem Michel Serres hier spricht, wo wir an ein Ufer stoßen,
liegt der Ort der Erkenntnis: Das Andere, dass wir berühren, das uns wärmt, das wir hören,
riechen oder schmecken: „Es ist nichts in der Erkenntnis, das nicht zuvor von den Sinnen
freigesetzt worden wäre“, sagt er (Serres (1998, 425). An diesem Tor war ich nun
angekommen. Das Glück aber war weit und breit nicht in Sicht.
Mein Glück, dass ich für einen Moment im Krankenhaus empfand, war weniger meinem
Sinnenbewusstsein als anderen Quellen zu verdanken: Ursächlich waren das Morphin, dass
mich in Bewusstlosigkeit versetzte und Schwester Petra, die für einen kurzen Augenblick in
meinem Bewusstsein vor mir auftauchte, bevor ich wieder in meinem Dämmerzustand verfiel.
Meine Wahrnehmung war getrübt durch das Morphin. Sobald seine Wirkung nachließ, war es
auch mit meinem Glück vorbei. Ich war nicht länger meiner euphorischen Stimmung
überlassen, die die mich umgebende Wirklichkeit verklärte, sondern war wieder im Griff
meiner körperlich desolaten Verfassung.
Vielleicht gibt es Mittel, die mich in einen Glückzustand versetzen und ich könnte süchtig
nach Ihnen werden. Morphin scheint nach meinen Erfahrungen potentiell dazu zu gehören.
Allerdings stand mein subjektives Glücksempfinden in einem Gegensatz zu meiner hilflosen,
körperlich angeschlagenen Konstitution. Auch wenn ich glücklich war, war das Glück nicht
auf meiner Seite. Was mich in einen Rausch versetzt, so schließe ich daraus, muss nicht mein
Glück sein.
Wenn wir uns also auf die Suche nach dem Glück begeben, das ich mein Glück nennen kann,
müssten wir Situationen aufsuchen, in denen wir etwas mit der uns umgebenden Wirklichkeit,
mit einem Stein, einem Baum, einem Stück Rinde, mit der untergehenden Sonne oder sogar
mit einem anderen Menschen teilen. Dazu bedarf es einer Zuneigung oder zumindest einer
Aufmerksamkeit, für das, dem wir begegnen. Wir haben das Glück dabei aber nie im Griff.
Wir können es nicht herbeiführen. So verspottete Heinrich Heine jene sentimental-
romantische Naturergriffenheit, die seine Zeit prägte, und schrieb das folgende Gedicht
(Heine 1973, 15):
Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
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Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein, sein sie munter
das ist ein altes Stück
hier vorne geht sie unter
und kehrt von hinten zurück
Heinrich Heine hatte mit seiner Ironie gegenüber seinen romantischen Zeitgenossen nicht
unrecht: Es ist ein Unterschied ob wir die Wirklichkeit romantisch verklären oder sie sich
zeigt, wie sie ist. Nicht selten kommt uns die Sonne zuvor: Wenn wir sie in einem
unerwarteten Moment als Feuerball am Horizont erblicken, vermag sie uns, ohne das wir es
darauf abgesehen haben, in ihren Bann zu ziehen. Wenn wir ein Foto davon machen,
verwandelt sie sich in das alte Stück, von dem Heine spricht. Glück entzieht sich nicht nur
eines diskursiven, sondern auch eines bildlichen Zugriffs: Es lässt sich nicht darstellen. Es
braucht ein Gegenüber, an dem ich das Glück erleben kann. Das Gegenüber kann nie das
Glück selber sein.
Tagtäglich versuchen wir zu unserer Umgebung in Resonanz zu gelangen, indem wir uns
unserem Gegenüber zuwenden. Diese Zuwendung erfolgt nicht einseitig: Nehmen wir das
Lächeln, das die Begrüßung von Schwester Petra begleitete. Das Lächeln ist, wenn es denn
echt ist, mehr als eine Haltung, die wir einer Begegnung vorausschicken. Es ist eine Handlung
und eine Widerfahrnis in einem.
Bitte lächeln!
Lächeln ist nicht nur Ausdruck von Wohlbefinden und Glück. Es ist eine alltägliche
Ausdrucksform nonverbaler Kommunikation, die einen Anderen glücklich machen kann –
aber nicht muss. Wenn jemand etwas von uns will, lächelt er mehr oder weniger gekonnt.
Wenn uns jemand zugeneigt ist, lächelt er auch. Die Frage ist, ob wir zwischen dem einen und
dem anderen Lächeln unterscheiden können.
Hermann Hesse vermochte offenbar zwischen diesen unterschiedlichen Arten des Lächelns zu
unterscheiden. In seiner Erzählung „Heumond“ beschreibt er differenziert das Lächeln von
Tante Grete, und nimmt damit voraus, was erst viel später in der Wissenschaft erforscht
wurde unter dem Begriff Facial Action Coding System, also ein Kodierungsverfahren zur
Beschreibung von Gesichtsausdrücken. Hermann Hesse beschreibt das Lächeln von Tante
Grete so: „Ihr Lächeln war von der echten Art. Es geschah weniger mit den Lippen als mit
den Augen; das ganze Gesicht, Stirn und Wangen glänzten innig mit, und es sah aus wie ein
tiefes Verstehen und Liebhaben.“ (Hesse 2000)
Es gibt unter 19 Arten zu Lächeln nur eine, so hat der amerikanische Forscher Paul Ekman
herausgefunden, die echt ist und Wohlgefühl ausdrückt. Paul Ekman hat das Minenspiel als
Zusammenwirken von 42 Muskeln erforscht und ihnen unterschiedliche Emotionen
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zugeordnet. Bei einem Lächeln, das Wohlgefühl oder Glücklichsein anzeigt, wandern die
Mundwinkel nach oben, der Augenringmuskel ist etwas zusammengezogen und die oberen
Hälften der Wangen heben sich (Klein 2003, 25). Der Augenbrauenmuskel dagegen, der
Schrecken und Entsetzen signalisiert, ist gelöst. Interessant ist, dass dieses Minenspiel sich in
der Regel unwillkürlich vollzieht und nicht ohne weiteres steuerbar ist.
Nicht nur die Gesichtsmuskeln sind beim Lächeln aktiv, sondern offenbar der gesamte
Körper. Das berühmteste Beispiel dafür ist die Mona Lisa.
Warum lächelt Mona Lisa? Seit Jahrhunderten gibt es darüber unterschiedliche Vermutungen
und Interpretationen. Irgendwann habe ich mehr zufällig die Mona Lisa auf den Kopf gedreht
und dabei festgestellt, dass sie aufhört zu Lächeln (Abb. 1 und 2). Das Geheimnisvolle liegt
darin, dass sie eigentlich gar nicht lächelt, sondern dass sie lediglich den Eindruck macht, als
lächele sie. Der Kommunikationswissenschaftler Siegfried Frey (1999) hat dieses Phänomen
untersucht und festgestellt, dass ihre Kopfhaltung den Eindruck vermittelt, als lächele sie -
wissenschaftlich ausgedrückt die Lateralflexion: Wir nehmen sie infolge ihrer leichten
Kopfneigung als uns zugeneigt wahr und interpretieren ihren Gesichtsausdruck als Lächeln.
Aus diesen Phänomenen ergab sich für Siegfried Frey die Frage: Geht die sinnstiftende
Wirkung vom Bild oder vom Betrachter aus?
Wenn ich lächele, gehe ich in Resonanz zu meinem Gegenüber – vorausgesetzt mein Lächeln
ist echt und nicht berechnend. Lächeln ist ein interaktives Geschehen, bei dem nicht klar ist,
ob die Sinnzuschreibung vom Betrachter oder Akteur ausgeht. Das Glück, dass wir dabei
empfinden können (oder auch nicht) spielt sich irgendwo dazwischen ab: Zwischen mir und
dem anderen. Lächeln ist Ausdruck und Wahrnehmen in einem. Was wir wahrnehmen hängt
nicht unwesentlich davon ab, wie wir unsere Wahrnehmung auf unser Gegenüber richten. Ein
wissendes Lächeln erschließt mir etwas anderes, als ein neugieriges, zuvorkommendes oder
gütiges. Wie wir einer Situation begegnen, ist nicht unwesentlich für das, was sich uns
mitteilt. Wahrnehmen ist nicht gleich Wahrnehmen.
Die mit einem echten Lächeln verbundene Wahrnehmung lässt sich als ästhetisches
Wahrnehmen beschreiben, das sich von anderen Formen der Wahrnehmung erheblich
unterscheidet. An dem Begriff „Rauschen“ will ich dieses Wahrnehmen etwas genauer in den
Blick nehmen.
Rauschen
Rauschen ist ein Begriff, den meines Wissens Martin Seel (2003, 223) in der jüngeren
Geschichte der Philosophie der Ästhetik eingeführt oder zumindest aktualisiert hat. Das
Rauschen ist das Gegenstück zu jenem Rausch, von dem eingangs die Rede war und in den
ich durch die Verabreichung von Morphinen gelangte. Ein Rauschen vernehmen wir, wenn
der Wind durch die Blätter einen Baumes fährt, bei einem Wasserfall, beim Flirren der Hitze
am Boden oder bei dem Tanzen der Wellen auf der Weite einer sonnenbeschienenen
Wasseroberfläche. Im Gegensatz zum Rausch ist das Rauschen objekthaft, d. h. es vollzieht
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sich nunmehr nicht mehr als Rausch in mir, sondern außer mir und charakterisiert einen
Zustand, in dem eine Fülle von Erscheinungen gestaltlos in meine Wahrnehmung tritt. Es
korrespondiert mit einer Wahrnehmung, die nicht diese oder jene Gestalt zu identifizieren
sucht, sondern sich einem komplexen Geschehen überlässt. Wenn ich meinen Blick
selbstvergessen über die Oberfläche der Meeresfläche wandern lasse, habe ich nichts anderes
im Sinn, als mich dem Glitzern der Bewegung des Wassers hinzugeben. Das Besondere einer
solchen Wahrnehmung ist, dass sie nicht auf etwas Bestimmtes hin ausgerichtet ist, sondern
sich der Gegenwart einer Ereignis-Fülle hingibt. Martin Seel beschreibt es als ein
Wahrnehmen an der Grenze des etwas Wahrnehmens, ein Hören an der Grenze des Hörens,
ein Sehen an der Grenze des Sehens, durch das das Subjekt in den Ausnahmezustand einer
differenzlosen Gegenwart gelangt einer Gegenwart, mit der der Wahrnehmende eins sein
kann (Seel 2003, 236) und die ihn, das füge ich hinzu, glücklich machen kann.
In der Kunst wird jenes Rauschen als Ausdruckmittel genutzt. Prominentes Beispiel für jenes
Rauschen als Gegenstand einer künstlerischen Inszenierung ist das Stück 4'33" von John
Cage. Hier tritt das Rauschen der Stille, das sonst nur den diffusen Hintergrund unserer
Wahrnehmung bildet, in den Vordergrund.
Am 29. August 1952 wurde das Stück 4'33" von dem amerikanischen Pianisten David Tudor
in New York uraufgeführt. Er nahm am Flügel Platz, schloss den Klavierdeckel, blieb 33
Sekunden an seinem Instrument sitzen und öffnete den Deckel wieder. Dieser Vorgang
wiederholte sich noch zweimal, insgesamt dauerte die Aufführung 4 Minuten und 33
Sekunden. 433 ist daher der Titel dieses Musikstücks, in dem kein Ton erklingt. Die
Komposition gliedert sich in drei Sätze. Die Partitur des Stückes ist bei der Edition Peters im
Druck erschienen und besteht aus einen weißen Blatt Papier, auf dem dreimal das Wort tacet
geschrieben steht.
Über die Reaktion des Publikums berichtete John Cage: „Das, was man (bei meinem Stück
4'33") als Stille empfand, war voller zufälliger Geräusche - was die Zuhörer nicht begriffen,
weil sie kein Gehör dafür hatten. Während des ersten Satzes (bei der Premiere) konnte man
draußen den Wind heulen hören. Im zweiten Satz prasselte der Regen aufs Dach, und
während des dritten machte das Publikum allerhand interessante Geräusche, indem sie sich
unterhielten oder hinausgingen.“ (Kostelanetz 1989, 63)
Das Werk von John Cage fordert also eine andere Wahrnehmung als ein gerichtetes Hören,
das das Werk als geschlossene Komposition zu identifizieren sucht. Das Unvorhersehbare,
Unbestimmte und Zweideutige, das gewöhnlich den Kontext unserer Wahrnehmung bildet,
tritt mit einem Mal in den Vordergrund.
Würden wir diese Art des Wahrnehmens in unseren Alltag einbeziehen, sähe die Welt anders
aus: „Wenn wir akzeptieren“, so sagt John Cage, “all das außer Acht zu lassen, was sich
>Musik< nennt, würde das ganze Leben zu Musik!“ (Mersch 2002, 283-284)
Unsere Wahrnehmung kann sich folglich in unterschiedlicher Weise auf die Dinge und
Ereignisse in unserer Umgebung richten. Sie kann an den Wirkungen interessiert sein, die sie
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auf uns ausüben und mit kalkulierbaren Ergebnissen rechnen. Wenn ich ein warmes Bad
nehme, fühle ich mich hernach entspannt. Wenn ich eine große Portion Nudeln esse, bin ich
danach satt. Viel weniger, als ich etwas über die Dinge oder Ereignisse erfahre, trachte ich
danach, mich selber in einen Zustand zu versetzen, den ich als angenehm empfinde.
Anders ist es, wenn ich an den Dingen selber interessiert bin. Wenn ich eine Speise
abschmecke, ziele ich nicht darauf, dass ich satt werde. Wenn ich vor einem tosenden
Wasserfall stehe, möchte ich nicht das Wasser nutzen um darin zu baden. Ich lasse mich von
den Dingen ergreifen und teile mit ihnen eine Wirklichkeit, die wir Atmosphäre nennen und
die einem Rauschen gleichkommt.
Ein ästhetisches Wahrnehmen ist nicht nur ein passives Geschehenlassen. Das Vernehmen
eines Rauschens verlangt eine Wahrnehmung, die mit dem Rauschen geht. Insofern ist sie
eine aktive Handlung: Indem ich berühre, werde ich berührt. Indem ich mich bewege, werde
ich bewegt. Und das hat etwas mit Tanz zu tun. Ich tanze mit dem Glück.
Tanzen mit dem Glück
Der Tanz gehört zu den anthropologischen Grundbedingungen unseres Daseins und
zweifellos auch des Glücks. Tanz und Spiel sind miteinander verwandt. Spiel ist Bewegung.
Der Körper, so schreibt Michel Serres, „verhält sich nicht im entferntesten wie ein passiver
Empfänger…Er übt und trainiert gleichsam von sich aus, er liebt die Bewegung, hat Freude
daran, tätig zu sein, zu springen, zu laufen und zu tanzen; er erkennt sich selbst unmittelbar
und ohne Sprache nur in seiner eigenen Tätigkeit, entdeckt seine Existenz im Feuer der
Muskeln, außer Atem, an den Grenzen zur Erschöpfung“. (Serres 1998, 427) „Der Tanz
regiert vor der Sprache, als Musik des Körpers. Der Körper ist noch gar nicht geboren,
solange er nicht getanzt hat.“ (ebenda, 435)
Tanz ist dabei nicht nur als unmittelbare körperliche Bewegung zu verstehen. Wie in einem
Tanz nehmen wir über alle unsere Sinne Beziehung auf zu dem, was sinnlich vernehmbar ist.
Unsere Wahrnehmung ist dabei bestimmt von Faktoren, die einer tänzerischen Bewegung
eigen sind: Nähe und Distanz, der Bewegungsrichtung, dem Kraftfluss der Bewegung, der
Berührung und dem Kontakt ebenso wie der Stille und dem Innehalten.
Ich möchte das an einem Beispiel zeigen. Als Maler gehört das Sehen zu meinen
Wahrnehmungskompetenzen. An der Art, wie wir etwas anschauen, lässt sich zeigen, dass das
Wahrnehmen nicht nur ein passiv empfangender Akt, sondern eine interaktive Tätigkeit ist
zwischen Betrachter und Bild. Je nachdem, wie wir ein Bild ansehen, so blickt es zurück.
Als Beispiel wähle ich ein Bild von Piet Mondrian aus dem Jahre 1944 mit dem Titel: Victory
Boogie-Woogie (Abb. 3).
Der Boogie-Woogie erlebte nach dem 2. Weltkrieg seinen Höhepunkt. Er stammt vom Swing
ab, war allerdings rhythmisch wesentlich schneller und ein Vorläufer des Rock ’n’ Roll. Nun
wird man sich zu Recht fragen, was an diesem Bild auf einen Tanz wie den Boogie-Woogie
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hindeutet. Man sieht keine Tänzer, die sich rauschhaft zur Musik bewegen und man hört keine
Musik, zu der man sich bewegen könnte. Man sieht unterschiedlich gefärbte Flächen, die sich
unregelmäßig über die Bildfläche verteilen. Auffallend ist dabei, dass uns das Gemälde als
Rhombus gegenüber steht. Wenn ich es um 45° drehe, hat das eine nicht unerhebliche
Wirkung auf die farbigen Flächen: Sie scheinen aus dem Bild zu streben oder – anders
ausgedrückt – unser Blick gleitet aus dem Bild heraus. Bringe ich das Bild wieder zurück in
seine ursprüngliche Lage, beginnt sich unser Auge rastlos über die Bildfläche zu bewegen.
Die Bewegung unserer Augen korrespondiert mit der rhythmischen, fast synkopischen
Abfolge der farbigen Flächen ohne einen Fokus zu finden. Wir selber erzeugen im Anblicken
des Gemäldes einen Rhythmus, wenn wir mit unserem Blick der kompositorischen
Anordnung der Farbflächen folgen. Das hat etwas Tänzerisches. Das Bild erschließt sich
keiner Wahrnehmung, die darauf ist, die Darstellung begrifflich zu identifizieren. Wir sehen
keinen Tanz, wir erzeugen ihn, wenn wir uns mit dem bewegen, was sich uns sinnlich
darbietet. Wir nehmen Beziehung zu dem Gemälde auf, indem wir uns darin bewegen. Wir
erzeugen im Ansehen des Bildes erst das, worauf sein Titel deutet: Einen bewegten Tanz.
Diese Art des Wahrnehmens bestimmt einen jeden Dialog, durch den wir Beziehung zu einem
Anderen aufnehmen. Sie ist ein Abstimmungs- und Wahrnehmungsverhalten, durch das wir
uns auf unser Gegenüber beziehen: Wir geben dem anderen in der einen oder anderen Weise
die Hand, wir suchen Abstand oder Nähe, wir blicken ihm in die Augen oder weichen seinen
Blicken aus, wir ziehen uns zurück oder übernehmen die Initiative, wir reagieren heftig oder
sanft, wir weichen aus oder greifen an. Diese Handlungen vollziehen sich durch alle Sinne
hindurch und lassen sich als ästhetische Figur beschreiben.
„Ich seh Dich so gern sprechen“ (Lucile in Georg Büchners „Dantons Tod“1)
Die Art und Weise, wie wir ästhetisch zueinander in Kontakt treten können (als
Vorraussetzung dafür, das Glück miteinander zu teilen), möchte ich am Beispiel aus der
therapeutischen Praxis erläutern. Ich verwende dazu ein Beispiel, dass mir ein Kollege, der
mit an Demenz erkrankten Menschen kunsttherapeutisch arbeitet, im Rahmen einer Studie
erzählte.
Der Therapeut D. erzählt von einer Frau, die an einer relativ weit fortgeschrittenen Demenz
erkrankt ist. Sie ist nicht mehr in der Lage sich verständlich auszudrücken und beteiligt sich
kaum noch an dem alltäglichen Geschehen in der Altenhilfeeinrichtung, obwohl sie in der
Lage ist auf Ansprache zu reagieren. Die Kunsttherapie soll ihre Aktivität und Offenheit im
Alltag fördern.
Im Atelier setzt sie sich hin, betrachtet das Malmaterial, das der Therapeut vorbereitet hat,
ohne dass es bei ihr einen Gestaltungsimpuls auslöst. Er nimmt einzelne Dinge in die Hand,
zeigt sie ihr, sie befühlt sie und sie sprechen darüber. Dann schauen sie wieder durch das
Fenster in den Garten und freuen sich über die schönen Blumen. Die sprachliche
1 vgl. Sinapius 2008
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Verständigung erfolgt weniger über die semantische als über die emotionale Bedeutung der
Sprache oder Laute. Der Kunsttherapeut, so erzählt er mir später, versteht zwar nicht, worüber
sie spricht, es tauchen in ihm aber Bilder auf, die sich an ihrem Redefluss entzünden und über
die er wiederum Bezug auf sie nehmen kann. Er empfindet sich als Vertrauter, der ihren
Geschichten auf einer emotionalen Ebene zu folgen vermag.
Nach einer viertel Stunde lässt ihr Interesse nach und der Therapeut begleitet sie zurück in ihr
Zimmer. Am nächsten Tag beginnt sie sich wieder mit dem bereitgelegten Malmaterial zu
beschäftigen, indem sie Pastellkreide auf ihrer Handfläche verreibt. Über die Spuren, die die
Kreide auf ihrer Handfläche hinterlässt, freut sie sich und der Kunsttherapeut teilt ihre Freude.
Vorsichtig beginnt er an ihrem Tun teilzunehmen, indem er auch auf ihrer Handfläche malt.
Es ist eine fast zärtliche Begegnung: ihre Hand wurde zu "unserem Objekt", erzählt mir der
Therapeut. Gleichzeitig aber "blieb es ihre Hand". Die körperliche Berührung zwischen ihr
und dem Therapeuten führt zu einer intensiven Wahrnehmung für das, was auf der
Handfläche entstand. Sie hätten gemeinsam über die Farbe gestaunt, so erzählt der Therapeut,
und ihr Staunen sei umso größer gewesen, als sich die Farben auf ihrer Hand und nicht auf
einem Stück des bereit liegenden Papiers vermischt hätten.
In einer der nächsten Stunden versinkt die Patientin mitten in einer Unterhaltung in sich und
beginnt zu beten. Nach einer Weile verspürt der Kunsttherapeut den Impuls sie dabei zu
begleiten und beginnt das Gebet laut mitzusprechen. Es entsteht, so erzählt er, eine große
Nähe zu der alten Frau. Nachdem sie das Gebet beendet haben, ergreift sie die Pastellkreiden
um mit ihnen das erste Mal zu zeichnen und zieht mit großer Bestimmtheit vertikale Linien
auf das vor ihr liegende Papier.
Über die Bedeutung der sich in dieser Episode abspielenden Interaktionen ließe sich
spekulieren. Weder das, was gesprochen wird, noch die imaginativen oder tatsächlichen
Bilder, die dabei entstehen, lassen sich als eindeutige Zeichen, Sinnbilder oder Metaphern
lesen. Die Ebene, über die der Kunsttherapeut zu der alten Dame Kontakt aufnimmt, vollzieht
sich nicht diskursiv, sondern ästhetisch. Ästhetisch bezeichnet dabei – zurückgehend auf die
ursprüngliche Bedeutung des griechischen Begriffes Aisthesis - lediglich eine besondere
Form des Wahrnehmens. Dieses Wahrnehmen unterscheidet sich deutlich von einem
Wahrnehmen, das darauf ist, etwas begrifflich zu identifizieren und zu verstehen. Ein
ästhetisches Wahrnehmen ist responsiv bestimmt, das heißt, im Durchleben eines Ereignisses
ist sogleich sein Begreifen enthalten. Die Antwort erschließt sich nicht in der Reflektion auf
eine Situation, sondern in ihrem Gewahrwerden: es berührt mich etwas, es kommt zwischen
mir und dem Anderen etwas zum Klingen. Martin Buber nennt das Antworten, das mit einer
solchen Wahrnehmung verbunden ist, auch „Innewerden“. Dabei, so schreibt er, „kommt [es]
nur darauf an, dass ich das Antworten auf mich nehme.“
Manchmal, so möchte ich ergänzen, ist es die Frage, die bereits ein Antworten ist.
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Findet mich das Glück? (Fischli und Weiss)
Es gibt Fragen, auf die gibt es eine Antwort. Ist die Antwort gegeben, ist die Sache erledigt
und vorbei. Das ist oftmals sinnvoll, aber nur selten macht es glücklich. Es gibt aber auch
Fragen, wie sie Kinder stellen und die mich beglücken, bevor eine definitive Antwort erfolgt
ist: „Warum ist der Himmel blau?“, „Warum sind die Spaghetti so lang?“ oder „Warum muss
ich ins Bett?“. Diese Fragen sind auf Erfahrungen aus, die mit dem Leben zu tun haben. Die
Fragen selber sind bereits sinnstiftend, bevor sie sich in Antworten erfüllen.
Wenn wir etwas verstehen wollen, versuchen wir uns in der Regel die Welt sprachlich
verfügbar zu machen. Wir entwickeln Theorien, Modelle und Konstruktionen über die Welt,
in der wir leben. Wir erstellen Enzyklopädien und Wissensdatenbanken, in denen wir unsere
Antworten verwalten. In ihnen haben wir ein abrufbares Wissen, das wir ihnen anvertraut
haben. Was aber ist mit dem, über das sich nicht verfügen lässt, weil es unser unmittelbares
Gewahrsein, unsere Teilnahme und unsere Verantwortung fordert? Was ist mit den
Wissensschätzen, über die wir keine Gewissheit gewinnen, weil sie nicht einfach
reproduzierbar sind: Dinge, die sich von selbst verstehen, Ereignisse, die der Einfühlung
bedürfen, Begegnungen, die sich in der Stille vollziehen oder sich nur in ihrem Klang, ihrem
Geruch, ihrer Erscheinung oder ihrer Bewegung vernehmen lassen?
Wenn wir uns auf die Sprache verlassen, sind es oftmals die Antworten, die uns interessieren
und die sie parat hält. Das verschafft uns Sicherheit. Aber nicht alle Fragen suchen eine
sprachliche Erlösung. Die Fragen sind oft viel interessanter als die Antworten, die uns keine
Option mehr offen halten.
Das Glück ist mehr an Fragen als an Antworten interessiert.
Literatur:
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Bild - Zur Präsenz des Bildes im kunsttherapeutischen Prozess. Dresden: Sandstein
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Ist die Antwort gegeben, ist die Sache erledigt und vorbei. Das ist oftmals sinnvoll, aber nur selten macht es glücklich. Es gibt aber auch Fragen, wie sie Kinder stellen und die mich beglücken, bevor eine definitive Antwort erfolgt ist
  • Es Gibt Fragen
  • Antwort Es Eine
Es gibt Fragen, auf die gibt es eine Antwort. Ist die Antwort gegeben, ist die Sache erledigt und vorbei. Das ist oftmals sinnvoll, aber nur selten macht es glücklich. Es gibt aber auch Fragen, wie sie Kinder stellen und die mich beglücken, bevor eine definitive Antwort erfolgt ist: "Warum ist der Himmel blau?", "Warum sind die Spaghetti so lang?" oder "Warum muss ich ins Bett?". Diese Fragen sind auf Erfahrungen aus, die mit dem Leben zu tun haben. Die Fragen selber sind bereits sinnstiftend, bevor sie sich in Antworten erfüllen.
Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. (hrsg. von Manfred Windfuhr). Bd. 2. Hoffmann und Campe
  • Heinrich Heine
Heine, Heinrich (1973): Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. (hrsg. von Manfred Windfuhr). Bd. 2. Hoffmann und Campe, Hamburg.
Die Glücksformel oder Wie die guten Gefühle entstehen
  • Stefan Klein
Klein, Stefan (2003): Die Glücksformel oder Wie die guten Gefühle entstehen. Hamburg: Rowohlt.
John Cage im Gespräch. Zu Musik, Kunst und geistigen Fragen unserer Zeit
  • Richard Kostelanetz
Kostelanetz, Richard (1993) : John Cage im Gespräch. Zu Musik, Kunst und geistigen Fragen unserer Zeit. Ostfildern: DuMont.
Ereignis und Aura -Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen
  • Dieter Mersch
Mersch, Dieter (2002): Ereignis und Aura -Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische
  • Martin Seel
Seel, Martin (2003): Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt am Main: Suhrkamp Serres, Michel (1998): Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt: Suhrkamp.
  • P Sinapius
Sinapius, P. (2011): "Ich ist ein Anderer"-Über die Ästhetik therapeutischer Beziehungen. In: Eirund, Wolfgang und Heil, Joachim (Hg.) (2011): Subjekt und Objekt. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik (IZPP). Ausgabe 1/2011.
  • P Sinapius
Sinapius, P. (2011): Gegenwartsmomente -Therapie als ästhetische Praxis. In: wissenschaftliche grundlagen der kunsttherapie, Band 4 (2011): Das Dritte in Kunst und Therapie. Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang. 91 -102
  • P Sinapius
Sinapius, P. (2011): "Ich ist ein Anderer" -Über die Ästhetik therapeutischer Beziehungen. In: Eirund, Wolfgang und Heil, Joachim (Hg.) (2011): Subjekt und Objekt.