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Artikel für das Frühjahrsheft Kunst & Therapie 2007 zum Thema Differenzen
Zwischen Diagnose und Intuition
Ergebnisse eines Forschungsprojektes der FH Ottersberg und des
Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke
Michael Ganß
Annika Niemann
Peter Sinapius
Korrespondenzanschrift:
Prof. Peter Sinapius
Institut für Kunsttherapie und Forschung an der Fachhochschule Ottersberg
Am Wiestebruch 68
28870 Ottersberg
Tel: 04205/ 3949-0
E-Mail: mail@kunsttherapieforschung.de
Zusammenfassung: Eine gemeinsame Studie der Fachhochschule Ottersberg und des
Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke mit dem Thema „Berufsfeldspezifische Bedingungen
der Kunsttherapie im klinischen Rahmen“ hatte die Schnittstellen und Brücken zwischen
Kunsttherapie und Medizin zum Gegenstand. Mit ihren unterschiedlichen Bezugssystemen
stehen sich hier zwei von ihrer Herkunft und ihrem Selbstverständnis her verschiedene
Kulturen gegenüber, deren Differenz auch in den Begriffen Kunst und Therapie aufscheint.
„Zwischen“ ihnen entsteht die Möglichkeit für eine um konstitutionelle und psychosoziale
Aspekte erweiterte Patientenwahrnehmung und Diagnosestellung. Sie eröffnet Perspektiven
für eine Therapie, die das eigentlich Gesunde pflegt und dem Patienten ermöglicht neue
Potentiale zu erschließen.
Schlüsselwörter: Kunsttherapie, Wahrnehmung, Diagnose, Intuition, Konstitution
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Between diagnosis and intuition
Summary: A joint study by the Fachhochschule Ottersberg and the
Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke titled: „The specific conditions of art therapy in a
clinical context“ put the focus on the interfaces and links between art therapy and medicine.
With its specific framework these turn out to be two cultures of different origin and self-
conception. This difference also shows up in the notion of art and therapy. Art therapy is not
simply following medical diagnosis nor does it refer mainly to the removal of medical
symptoms. The study reveals though that this space between allows for an opening which
contributes to enlarge the perception of the patient and the diagnosis with constitutional and
psychological aspects. Thus it is offering space for the individual development of the patient,
for the care of the actually healthy and the detection of new potentials.
Key words: art therapy, perception, diagnosis, intuition, constitution
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„Jede Malweise stellt eine Sehweise dar; jede trifft ihre
Auswahl, wählt ihre Betonungen; jede verwendet ihr eigenes
Vokabular von Konventionalisierungen. Und wir brauchen
nur hartnäckig genug die Bilder eines Künstlers anzusehen,
um die Welt ein bisschen auf seine Weise sehen zu lernen.
Denn Sehen ist eine Tätigkeit und, wie wir diese ausführen,
hängt zu einem beträchtlichen Teil von unserer Übung ab.“
„Gewissheit ist etwas ganz und gar Absurdes“
Nelson Goodman
Zwischen Diagnose und Intuition
Ergebnisse eines Forschungsprojektes der FH Ottersberg und des
Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke
Wenn zwei Kulturen aufeinander treffen, tritt auch ihre Differenz in Erscheinung und damit
das, was anders und fremd ist. Solche Zwischenräume zwischen dem einen und dem anderen,
zwischen dem Eigenen und dem Fremden, können „unheimlich“ sein, nicht greifbar, sie
können uns verunsichern oder ängstigen. Sie können aber auch „Spielräume“ öffnen, Räume
des Dialogs und der Beziehung, der Kommunikation und des Austauschs.
Beschäftigt man sich mit der Kunsttherapie, insbesondere mit der Kunsttherapie im klinischen
Rahmen, hat man es mit einem solchen „Zwischenraum“ zu tun. Hier stehen sich mit den
Bezugssystemen der Medizin und der Kunst zwei von ihrer Herkunft und ihrem
Selbstverständnis her verschiedene Kulturen gegenüber (Sinapius/ Ganß 2007). Ihre Differenz
ist nicht selten Ursprung von Vorurteilen, Mythen und Spekulationen, die die Bedingungen
kunsttherapeutischer Praxis verschleiern, anstatt sie transparent zu machen. Im Grundsatz
betreffen sie das Verhältnis von Kunst und Therapie und damit das Selbstverständnis
kunsttherapeutischer Berufspraxis.
Ein Forschungsprojekt der Fachhochschule Ottersberg in Kooperation mit dem
Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke unter dem Titel „Berufsfeldspezifische Bedingungen
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der Kunsttherapie im klinischen Rahmen“ (09/2005 – 09/2006), in dessen Verlauf Mediziner,
Psychiater, Psychologen und Kunsttherapeuten über ihr Verständnis von Kunsttherapie
befragt wurden, nahm eben diesen Zwischenraum in den Blick: Wir untersuchten die
Schnittstellen von Kunsttherapie und Medizin, und damit auch die Brücken und Übergänge,
die Grenzen, das Unterscheidende, das Verbindende oder auch das Gemeinsame zwischen
ihnen.
Die von der „Arbeitsgruppe Innovative Projekte“ (AGIP) beim Land Niedersachsen
geförderte, einjährige Studie begründete sich auf der Durchführung und Auswertung von
Leitfadeninterviews, der Evaluation mittels Fragebögen und der Literaturrecherche.
Methodisch handelte es sich dabei um eine kombinierte qualitative und quantitative Studie
mit einem qualitativen Schwerpunkt. Untersuchungsgegenstand waren die inhaltlichen und
strukturellen Schnittstellen von Kunsttherapie und Medizin am Gemeinschaftskrankenhaus
Herdecke, also die Momente, an denen die Berufsgruppen inhaltlich aufeinander Bezug
nehmen, sowie die Orte, an denen die Berufsgruppen im klinischen Alltag konkret in den
Austausch treten. Unser Augenmerk richteten wir auf die Punkte, an denen ein vermeintlicher
Widerspruch zwischen Kunsttherapie und Medizin Gestalt gewinnt. An diesen Schnittstellen,
den inhaltlichen wie den strukturellen, wollten wir Aufschluss gewinnen über die Rolle und
das Verständnis einer Kunsttherapie im klinischen Kontext.
Mit dem Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke wählten wir einen Kooperationspartner, der
zum einen über eine breite kunsttherapeutische Versorgung sowohl im psychiatrischen, als
auch im somatischen und psychosomatischen Bereich verfügt und der es uns außerdem
ermöglichte die Schnittstellen von Medizin und Kunsttherapie im Lichte einer gemeinsamen,
spezifischen Organisationskultur zu betrachten. Inwiefern sich die Ergebnisse unserer Studie
auf andere klinische Kontexte übertragen lassen, ist noch zu untersuchen. (Ganß/ Niemann/
Sinapius 2006)
Wenn wir über Kunsttherapie sprechen, werden mit den Begriffen „Kunst“ und „Therapie“
Vorstellungen wachgerufen, die mit diesen Begriffen einhergehen und natürlich auch unser
Verständnis von Kunsttherapie bestimmen.
Der Begriff „Therapie“ wird häufig synonym verwandt für klinische oder medizinische
Behandlungskonzepte, und bezeichnet dann eine „zielgerichtete Arbeit mit dem Patienten auf
der Grundlage einer sorgfältigen Diagnose und Indikationsstellung mit dem Ziel der Heilung
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und Linderung seiner Krankheit“ (Petzold/ Sieper 1990). Therapie ist so gesehen eine
intentionale und zweckbestimmte Handlung, die die Behandlung der Krankheitssymptomatik
zum Inhalt hat.
Die kunsttherapeutische Praxis scheint mit einer solchen Ausrichtung unvereinbar, wenn wir
sie als ein ergebnisoffenes, prozesshaftes Geschehen mit den Mitteln der Kunst verstehen.
Kunst folgt keinem Zweck, sie ist eben nicht zielgerichtet - ihr Sinn erfüllt sich in der
individuellen Erfahrung, die sie ermöglicht. Sie eröffnet einen Freiraum für eine spielerische
Anverwandlung künstlerischer Phänomene und der sinnlichen Erkenntnis.
Die Zusammenführung der beiden Begriffe „Kunst“ und „Therapie“ führt vor dem
Hintergrund dieser Begriffsbestimmungen zu einem Widerspruch, der sich nicht selten in
einer Polarisierung zwischen Kunst und Therapie zeigt: Während der Begriff „Therapie“ in
dem beschriebenen Sinne eine auf das aktuelle Krankheitsgeschehen gerichtete Behandlung
bezeichnet, eröffnet der Begriff „Kunst“ einen Raum für individuelle Sinngebungen, ohne
einem Zweck zu gehorchen, durch den sie sich legitimieren würde. Die Annahme, sie sei
selber auf spezifische Krankheitsbilder gerichtet und verfüge demzufolge über gezielte,
womöglich standardisierte Verfahren zur Behandlung bestimmter Krankheiten, steht dazu im
Widerspruch. Gegenstand kunsttherapeutischer Praxis sind nicht spezifische Krankheitsbilder
sondern bildnerische Phänomene (Tüpker 2002, Petersen 2007, Knill 2005, Knill 2007).
Eine zentrale Ausgangsthese für unser Forschungsprojekt war in diesem Sinne:
Kunsttherapie im Krankenhaus ist im Grundsatz keine andere als anderswo. Der
Kunsttherapeut behandelt keine Krankheiten, sondern öffnet einen Raum für künstlerische
Gestaltungen und für die individuelle Entwicklung des Patienten.
Hieraus ergaben sich eine ganze Reihe von Fragestellungen: Was haben künstlerische
Gestaltungen mit Krankheit zu tun? Wenn die Kunsttherapie nicht das Ziel hat, Krankheiten
zu behandeln, welche Rolle spielt die Kunsttherapie dann im Rahmen der medizinischen
Versorgung? Welches Verständnis von Therapie und Kunsttherapie liegt der
kunsttherapeutischen Praxis im klinischen Kontext zu Grunde?
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Und schließlich, wie und auf welcher Ebene verständigen sich Kunsttherapeuten und
Mediziner? Eine unreflektierte Übertragung von Begriffen aus der medizinischen
Terminologie auf kunsttherapeutische Fragestellungen ist vor dem Hintergrund, dass der
Gegenstand medizinischer und kunsttherapeutischer Praxis verschieden ist, fragwürdig. Es ist
eben nicht das gleiche in der Kunsttherapie in Bezug auf bildnerisches Gestalten von einer
„Diagnostik“, einem „Befund“ oder einer „Indikation“ zu sprechen, wie in der medizinischen
Behandlung, die sich unmittelbar am Krankheitsgeschehen orientiert.
Um es vorwegzunehmen: Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass der den Paradigmen
unseres Gesundheitssystems folgende Therapiebegriff durch die Kunsttherapie erweitert wird
und zu einem Behandlungskonzept führt, das Therapie als Entwicklungsprozess auffasst, der
mit der Entwicklung von Fähigkeiten und Potentialen (Möglichkeiten) einhergeht.
Eine erste inhaltliche Schnittstelle von Medizin und Kunsttherapie, die in unserer Studie
hierüber Aufschluss gibt, betrifft die Verordnungspraxis, also die Frage, wann und unter
welchen Voraussetzungen und Kriterien ein Patient Kunsttherapie bekommt. Angesprochen
ist damit die Indikation für Kunsttherapie und die hiermit verknüpften Erwartungen, mit
denen ein ganz bestimmtes Verständnis von Kunsttherapie verbunden ist.
Wir haben festgestellt, dass die Indikation für Kunsttherapie in der Regel nicht am
pathologischen Krankheitsbefund als solchem, etwa in Bezug auf die ICD10-Diagnose,
orientiert ist. Im Vordergrund steht vielmehr der Blick darauf wie ein Mensch spricht, wie er
sich äußert, sich bewegt, wie er sitzt und wie er mit dem lebt, was er denkt. Daraus erschließt
sich ein Bild von der Konstitution des Patienten, das sich aus individuellen Wahrnehmungen
in der Begegnung mit dem kranken Menschen ergibt. Über die unmittelbare
Krankheitssymptomatik hinaus wird damit der Blick auf die seelische Situation des Patienten
gerichtet, auf biografische Aspekte oder, vor dem Hintergrund einer menschenkundlich-
anthroposophischen Perspektive, auf das Wesensgliedergefüge des Menschen. Vom
pathologischen Befund ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede, wenngleich die
Mediziner die konstitutionellen Merkmale mit dem Krankheitsbild in Verbindung bringen.
Die Indikation für Kunsttherapie orientierte sich nach den Angaben der meisten Mediziner in
unserer Studie aber nicht an einem allgemeinen Krankheitstypus, sondern an der spezifischen
Ausprägung des Krankheitsbildes, am Individuellen, am konkreten Menschen mit seinem
ganz konkreten, konstitutionellen Hintergrund.
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Für eine gezielte, differenzierte und nachvollziehbare Indikation für ein kunsttherapeutisches
Verfahren fehlen dem verordnenden Mediziner häufig die Wahrnehmungsmöglichkeiten. Er
erlebt den Menschen ja nicht tätig, schaffend, sondern auf Visite, im Bett, im Gespräch. Einen
erweiterten Blick auf die konstitutionellen Bedingungen, die über den unmittelbaren
Krankheitsbefund, über die leibliche Physiologie und Pathologie hinausgehen, vermitteln
indes die Wahrnehmungen des Kunsttherapeuten im Bezug auf die verschiedenen Ebenen der
kunsttherapeutischen Praxis: Die Werke des Patienten, den Gestaltungsprozess und die
Beziehungsebene (vgl. Abb. 1)
Der Kunsttherapeut erlebt den Patienten, so ein Arzt, „im Umfänglichen seiner menschlichen
Ausdrucksmöglichkeiten und deren Einschränkungen“ und kann Qualitäten wahrnehmen, die
sich den Medizinern und Psychologen so zunächst nicht zeigen. Viele Mediziner betonten in
den Interviews explizit, was bei anderen implizit mitschwingt: Dass sich ihnen über die
Kunsttherapie ein neuer, ein erweiterter Blick auf den Patienten und seine Erkrankung ergebe.
Ein zentrales, für uns überraschendes Ergebnis unserer Untersuchungen ist damit der
erhebliche Einfluss der Kunsttherapie auf die medizinische Diagnostik. So liegt auch eine
vielfach formulierte Erwartung der Mediziner an die Kunsttherapie in ihrer Funktion als eine
diagnostische Hilfe. Ein Arzt formuliert sogar:
„Das ist sozusagen nicht Kunsttherapie, sondern Kunstdiagnose“.
Patient
Therapeut
Werk
Handlungs-
ebene
Reflexions-
ebene
Abb. 1: Die Ebenen kunsttherapeutischer Praxis
Beziehungsebene
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Mit dem Begriff „Diagnose“ wird hier ein Begriff aus der naturwissenschaftlich-
medizinischen Terminologie im Kontext der Kunst verwendet. Was können wir unter
„Kunstdiagnose“ verstehen?
Der Begriff „Diagnose“ meint zunächst die unterscheidende Beurteilung aufgrund genauer
Beobachtungen und Erkenntnis (griech. gnósi). Damit sind mit diesem Begriff zwei Ebenen
angesprochen: die Ebene des Beobachtens und Innewerdens, des Erfassens, der
Wahrnehmung, sowie die Ebene des Unterscheidens und Entscheidens, des Urteilens und
Zuordnens von Phänomenen zu einer Kategorie. Die Wahrnehmung selbst können wir bereits
als einen aktiven Prozess der sinnlichen Ausrichtung beschreiben, in dem wir uns intentional
etwa zuwenden und das, was wir nach Innen holen, zunächst trennen und filtern, und damit
auch ausschließen. Wir gestalten unsere Wahrnehmung.
Künstlern wird in der Regel ein besonders feines Wahrnehmungsorgan und ästhetische
Kompetenz zugesprochen. Eine „kunst-diagnostische“ Kompetenz würde voraussetzen, dass
sie neben einer sinnlichen Sensibilität über besonders differenzierte
Zuordnungsmöglichkeiten ihrer sinnlichen Eindrücke verfügen.
Für künstlerische Prozesse ist darüber hinaus ein unverstelltes, ein unvoreingenommenes
Sehen charakteristisch. „Etwas unverstellt und unvoreingenommen sehen, heißt sich
freimachen“, schreibt Jean-Christophe Ammann, und weiter: „Freimachen (...) zum Beispiel
von angelernten visuellen und normativen Verhaltensmustern; von einer perzeptiven
Unbeweglichkeit, die mehr aus- denn einschließt, die mehr ordnender Natur ist als
Unordnung zulässt.“ An die Stelle tritt ein Zugang, der von Intuition geleitet ist und damit
„das unmittelbare Gewahrwerden eines Sachverhaltes als wesentlich oder in seinem Wesen,
ohne dass die bewusste Reflexion lückenlos zu dieser Evidenz hingeführt hat.“ (Ammann
1998, S. 60f)
Der Gedanke eines unverstellten, intuitiven Blicks spiegelte sich in unserer Studie in
verschiedenen Aussagen der Kunsttherapeuten und wurde als ein wesentliches Moment in der
Anfangsphase einer Therapie eingestuft. Einige Kunsttherapeuten beschreiben ihn als
Versuch sich frei zu machen von ihrem Vorwissen über die medizinische Diagnose des
Patienten, um möglichst viel, ungefiltert und unbeeinflusst von dem aufzunehmen, was ihnen
durch die Person entgegen kommt. So sagt ein Kunsttherapeut: „Der ist ja erst mal Mensch
und nicht nur Diagnose“.
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Wenn im Kontext der Kunsttherapie nun von Kunstdiagnose, diagnostischer Hilfe oder
diagnostischem Instrument die Rede ist, muss der Kunsttherapeut offenbar nicht nur über eine
verfeinerte, intuitive Wahrnehmungskompetenz und differenzierte Einordnung dessen
verfügen, was er in seiner Praxis beobachten kann. Darüber hinaus nimmt er einen anderen
Blickwinkel auf das Geschehen ein, so dass sich ihm ganz neue Aspekte erschließen.
Diese kunsttherapeutische Perspektive lässt sich nach unseren Eindruck im Wesentlichen mit
den drei Wahrnehmungsebenen und ihren vielfältigen Beziehungen verknüpfen, wie sie sich
aus der kunsttherapeutischen Triade Therapeut – Werk – Patient ergeben: die
Beziehungsebene zwischen Patient und Therapeut, die Handlungsebene zwischen Patient und
Werk sowie die Reflexionsebene zwischen Therapeut und Werk.
Auf der Ebene des Beziehungsgeschehens beziehen sich die Wahrnehmung des Therapeuten
auf die Schwingungsfähigkeit des Patienten zwischen Innen und Außen, auf seine Fähigkeit
sich zu öffnen und zu verbinden, seine Fähigkeit zur Nähe und Distanz, aber auch auf die
Atmosphäre, die etwas mit der Haltung des Kunsttherapeuten gegenüber dem Patienten zu tun
hat, und auf die kunsttherapeutischen Interventionen, die sich auf den Gestaltungsprozess
beziehen.
Die individuelle Beziehungsgestaltung steht zu anderen Ebenen der kunsttherapeutischen
Praxis – den Vorgängen auf der Handlungs- und der Reflexionsebene – nicht im Widerspruch,
sondern ist deren Voraussetzung und steht mit ihnen in steter Wechselwirkung (vgl.
Abbildung 2). Ein Kunsttherapeut komprimiert die Bedeutung der Beziehungsgestaltung in
dem Satz: „Na ja, über die Beziehung transportiert sich ja letztlich alles…“
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Die Bedeutung der Beziehungsebene spiegelte sich in unserer Untersuchung auch in der
Verordnungspraxis der Mediziner wider, indem sie die Indikation für eine Kunsttherapie
häufig nicht auf das Medium beziehen, sondern die Persönlichkeit des Therapeuten in den
Vordergrund ihrer Entscheidung stellen.
Auf der Handlungsebene zwischen Patient und Werk kann sich der Blick zum einen auf den
gestalterischen Umgang des Patienten mit dem künstlerischen Material im Schaffensprozess
richten. Im Vordergrund steht hier nicht die Frage danach, „Was“ gestaltet wird, sondern die
Frage nach dem „Wie?“: „…wie hält jemand den Pinsel, wie ist der Duktus, wie ist die Art
dran zu gehen, wie gestaltet sich jemand sein Umfeld, wie geht er allein schon mit dem
Schwämmchen übers Blatt…“ Verborgene Entwicklungsdefizite können durch die
gestalterischen Handlungen des Patienten am Werk ebenso sichtbar werden, wie seine
Ressourcen.
Zum anderen richtet sich der Blick auf die Werkrezeption des Patienten: Wie verbindet dieser
sich mit dem künstlerischen Medium? Wie tritt er mit seinem Werk in Beziehung?
Auf der Ebene Therapeut – Werk schließlich vermitteln sich dem Therapeuten über die
Wahrnehmung des gestalteten Werkes Aspekte der individuellen Ausdrucksmöglichkeit des
Patienten. Im Werk äußert sich der Patient und es wird sichtbar, was vorher nicht sichtbar
war. Durch die Wahrnehmung bildnerischer Phänomene kann sich dem Therapeuten aber
auch erschließen, wie sich der Patient mit dem zu verbinden vermag, was ihm durch das
künstlerische Medium entgegen kommt – es trägt die Spuren seines künstlerischen Wirkens
und weist damit auf die Handlungsebene „Patient – Werk“. Die Phänomene können aber auch
Patient
Therapeut
Werk
Beziehungsebene
Handlungs-
ebene
Reflexions-
ebene
Abb. 2: Die Wechselwirkungen zwischen den Ebenen kunsttherapeutischer Praxis
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in Verbindung mit der Beziehungsebene „Therapeut – Patient“ stehen: Im Rahmen der
Beziehung „Therapeut – Patient“ gewinnt der Patient einen Freiraum für künstlerisches
Gestalten, seine künstlerischen Gestaltungen finden eine Resonanz in dieser Beziehung.
Was im Werk erscheint, gewinnt seine Bedeutung so erst in Verbindung mit den anderen
Ebenen der kunsttherapeutischen Praxis.
Je differenzierter die Wahrnehmung des Kunsttherapeuten auf diese drei dargestellten Ebenen
der kunsttherapeutischen Triade und ihre komplexen Beziehungen untereinander ist, desto
differenzierter können seine therapeutischen Interventionen sein und ein desto differenziertes
Bild des Patienten, seiner Potentiale und Stärken, seiner Ressourcen und Schwächen
vermittelt sich auch den Medizinern.
Als eine strukturelle Schnittstelle im Klinikkontext, in der diese Wahrnehmungen aus der
Kunsttherapie für die medizinische Diagnostik eine Bedeutung gewinnen, kristallisierte sich
in unserer Untersuchung die „Kunstbesprechung" heraus, einer gemeinsamen
Werkbetrachtung im behandelnden Team.
Die gemeinsame Wahrnehmung dessen, was in der Kunsttherapie geschieht, die gemeinsame
Rezeption der künstlerischen Werke und der Austausch über die Beobachtungen am
Gestaltungs- und Beziehungsgeschehen während der Kunsttherapie, bilden einen
wesentlichen Berührungspunkt zwischen Kunsttherapie und Medizin. Das Bild vom Patienten
wird hier um eine bildhafte, nicht kognitive Ebene erweitert und der medizinische Befund
insbesondere um die psychischen und konstitutionellen Aspekte der Krankheit ergänzt.
Hier zeigt sich aber auch ein strukturelles Problem in der Verordnungspraxis: Den Medizinern
stehen zu Beginn der Behandlung jene Wahrnehmungen noch gar nicht zur Verfügung, die sie
für eine differenzierte Indikationsstellung brauchen. Eine differenziertere Indikationsstellung,
die auch bewussten Bezug auf die drei Ebenen der kunsttherapeutischer Praxis nimmt, ließe
sich nach unserem Eindruck nur durch eine sinnvolle Einbindung der Kunsttherapeuten in die
Indikationsstellung für Kunsttherapie im Kontext eines diagnostisch – therapeutischen
Prozesses erreichen.
Die Wahrnehmungen aus der Kunsttherapie sind ein wichtiges Element im Regelkreis
Diagnose – Behandlung – Diagnose und damit Teil eines „diagnostisch – therapeutischen
Prozesses“. Aufgrund der erweiterten, ganzheitlichen Patientenwahrnehmung haben die
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Mediziner die Möglichkeit, ihre Diagnose zu überprüfen, zu ergänzen und bisweilen zu
korrigieren. Sie ermöglicht es den Medizinern noch einmal neu und anders auf den Patienten
zu schauen und dabei das eigene therapeutische Vorgehen zu reflektieren und ihr
Therapiekonzept unter Umständen zu modifizieren.
Der diagnostische Beitrag der Kunsttherapie fördert Tendenzen ans Licht und gibt mitunter
Anregungen für die weitere Medikation des Patienten. Vor allem trägt das erweiterte Bild
aber dazu bei, einen gemeinsamen Duktus der Behandlung zu entwickeln, eine gemeinsame
Ausrichtung dessen, „wo die Reise hingeht“.
Im Kontext der Gesamtbehandlung zielt die Kunsttherapie hier vornehmlich auf die
Ressourcenaktivierung und die Förderung der persönlichen Entwicklung und des seelischen
Erlebens des Patienten.
Erwartungen an eine auf das Krankheitssymptom bezogene Wirkung der Kunsttherapie
wurden von den Medizinern nur in wenigen Fällen formuliert und leiten sich dann aus einer
angenommenen Analogie der Dynamik des Krankheitsgeschehens und des
Gestaltungsprozesses ab. Eine solche Betrachtung hat Vorgänge, die mit der Krankheit in
Verbindung stehen, zu ihrem Gegenstand und geht stillschweigend davon aus, dass sie auch
im Fokus der kunsttherapeutischen Praxis stehen. Wenn sich in den bildnerischen
Gestaltungen Vorgänge, die etwa im Zusammenhang mit der rheumatischen Erkrankung als
eine Tendenz zur Auflösung oder Verflüssigung beschrieben werden, unmittelbar fortsetzen
würden, könnte die Kunsttherapie durch eine Veränderung der bildnerischen Gestaltungen
gezielt eine Veränderung der Krankheitssymptomatik herbeiführen. Dann wäre die
Kunsttherapie in der Tat die zielgerichtete Behandlung einer Krankheit. Eine solche
monokausale Wirkungsweise der Kunsttherapie lässt sich aus unserer Studie nicht ableiten.
Sie steht auch nicht im Einklang mit der Wirklichkeit kunsttherapeutischer Praxis, die
differenziert die verschiedenen Ebenen kunsttherapeutischen Wirkens anspricht, und mit ihren
Verflechtungen und Wechselwirkungen arbeitet. So kann das „Auflösende“ beispielsweise ein
künstlerisches Ausdrucksmittel sein, das im Werk seinen Ausdruck findet, hier als Ressource
erscheint und in ein Ganzes integriert wird.
In der Gesamtschau der Aussagen bezogen sich die Erwartungen der Mediziner an die
Kunsttherapie vornehmlich auf die seelische Erlebnisfähigkeit, die konstitutionellen
Bedingungen der Erkrankung und vor allem: deren Ausgleich und Stärkung. Man erhofft sich
durch die Kunsttherapie einen Zugang zu den emotionalen Bereichen des Patienten. Die
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kunsttherapeutische Arbeit soll es ihm ermöglichen sich und seine Umwelt wahrzunehmen,
sich zu öffnen und zu verbinden.
Der kunsttherapeutische Blick weist dabei über eine Defizitbeseitigung im Sinne einer
Wiederherstellung des Status Quo hinaus und spricht vielmehr die Ressourcen des Patienten
an: „wo kann ich ihn abholen?, wo kann er anknüpfen, was kann er?“ Diese Fähigkeiten
sollen durch die kunsttherapeutische Arbeit unterstützt, gestärkt und für die Gesundung
nutzbar gemacht werden. Kunsttherapie fördert so den Patienten in seiner persönlichen
Entwicklung. Damit verbunden ist ein Faktor, ohne den, wie ein Arzt formuliert „ein ganz
wesentlicher Teil dessen, was den Patienten ausmacht (…) in den Hintergrund treten“ würde:
„Wärme“. „Ohne Kunsttherapie würde es kalt und ausgedorrt im Krankenhaus…“ sagt dieser
Arzt und setzt hinzu: „ich spüre, dass es auch für uns Ärzte mitunter, wenn wir genügend Zeit
haben uns auf diese Kunsttherapien einzulassen, eine unglaubliche Rückernährung ist
dadurch, dass auch Menschen im Haus arbeiten, die das eigentlich Gesunde pflegen.“
Dabei geht das Verständnis von Gesundung über die Abwesenheit von Krankheit hinaus - es
geht um die Entdeckung und Erschließung neuer Möglichkeiten und Fähigkeiten, zu dem die
Kunsttherapie einen Beitrag leisten kann.
In der „Differenz“, in dem, was die medizinische und die kunsttherapeutische Praxis
unterscheidet, in ihren Brüchen und Spalten liegt damit der Raum, der einen Zugang zum
kranken Menschen eröffnet, der das Gesunde einschließt.
Literatur
Ammann, J.-C. (1998): Das Glück zu sehen - Kunst beginnt dort, wo Geschmack aufhört.
Regensburg: Lindinger + Schmid
Ganß, M./ Niemann, A./ Sinapius, P (2006): Abschlussbericht zum Forschungsprojekt
„Berufsfeldspezifische Bedingungen der Kunsttherapie im klinischen Rahmen“, als PDF unter
www.kunsttherapieforschung.de
14
Goodman, N. (1997): Sprachen der Kunst / Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt am Main:
Suhrkamp
Goodman, N. (1995): Gewißheit ist etwas ganz und gar Absurdes / Karlheinz Lüdeking im
Gespräch mit Nelson Goodman. Kunstforum international, Bd. 131 1995, S. 342
Knill, P. (2005): Principles and Practice of Expressive Arts Therapy/ Toward a Therapeutic
Aestetics. London: Jessica Kingsley Publishers
Knill, P. (2007): Was verändert die Kunst in der Therapie, und wie? In: Sinapius, P./ Ganß,
M. (Hg.) (2007): Grundlagen, Modelle und Beispiele kunsttherapeutischer Dokumentation,
Frankfurt am Main: Peter Lang
Petersen, P. (2007): Wie lässt sich künstlerisch-therapeutische Forschung gestalten? In:
Sinapius, P./ Ganß, M. (Hg.) (2007): Grundlagen, Modelle und Beispiele kunsttherapeutischer
Dokumentation, Frankfurt am Main: Peter Lang
Petzold, H./ Sieper, J. (1990): Kunst und Therapie, Kunsttherapie, Therapie und Kunst –
Überlegungen zu Begriffen, Tätigkeiten und Berufsbildern. In: Petzold, H./ orth, I. (Hg.): Die
neuen Kreativitätstherapien, Bd. I. Paderborn: Junfermann-Verlag
Sinapius, P./ Ganß, M. (Hg.) (2007): Grundlagen, Modelle und Beispiele kunsttherapeutischer
Dokumentation, Frankfurt am Main: Peter Lang
Tüpker, R. (2002): Forschen und Heilen. Kritische Betrachtungen zum herrschenden
Forschungsparadigma. In: Petersen, P. (Hg.): Forschungsmethoden künstlerischer Therapien.
Stuttgart/ Berlin: Mayer