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Wissen – Zufall – Resonanz
Im Gespräch mit Gisela Schmeer
Peter Sinapius
Zusammenfassung: ema dieses Beitrags ist die Polarität von Wissen und ästheti-
scher Erfahrung. Im Rückgri auf einen Austausch mit Gisela Schmeer befasst sich
der Autor mit der Frage: Wie kann eine Brücke geschlagen werden zwischen theore-
tischen Konzepten zur künstlerisch-therapeutischen Praxis und dieser Praxis selber?
Da es sich um unterschiedliche Arten von Wissen mit ihren je eigenen Quellen der
Erkenntnis handelt, rückt er als mögliche Brücke einen Begri in den Blick, der die
spezische Weise der Weltaneignung in der künstlerisch therapeutischen Praxis be-
zeichnet: die Resonanz.
Schlüsselwörter: Ästhetische Erfahrung – kunsttherapeutische Forschung – kunst-
basierte Kunsttherapie – Resonanz
Cognizance – Happenstance – Resonance
An exchange with Gisela Schmeer
Peter Sinapius
Summary: e contradistinction between cognizance and aesthetic experience is
the theme of this contribution. Drawing on an exchange with Gisela Schmeer, the
author puts forth the question: How can we build a bridge spanning the theoretical
concepts of art therapy practice and the practice itself? Given the varying types of
cognizance, each arising from a unique source of insight, the author suggests turning
towards a term describing the specic manner of world appropriation in art therapy
– resonance.
Key words: aesthetic experience – art therapy research – art-based art therapy – reso-
nance
Wissen – Zuf all – Resonanz – Petert Sinapius
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Ohne die Zeitschri „Kunst & erapie“ und vor allem ohne ihre Herausgeber sähe es
um die Kunsttherapie in Deutschland sicher anders aus. Die Zeitschri ist nach meinem
Eindruck vor allem ein Organ, das dem theoretischen Diskurs zwischen unterschiedlichen,
teils heterogenen Zugängen und Konzepten dient. Sie ermöglicht etwas, ohne das Wissen
nicht entstehen kann, nämlich den Bezug auf andere und anderes. Erst so können wir den
Versuch unternehmen, fremde Gedanken zu denken, was, wie Jens Wendland hervorhebt,
wiederum prägend auf den Gedanken einwirkt. „Das Nach-Denken einer Idee“, schreibt
er, „erzeugt notwendigerweise Veränderungen von Form und Inhalt allein durch den Pro-
zess der Einverleibung und des Durchschleusens eines fremden Gedanken durch das eigene
Denken“ (Wendland, 2016: 25). – Das will ich im Folgenden versuchen.
Wissen
Die Diskussion über Wissenscha und Forschung in den Künstlerischen erapien und
dabei vor allem über einen methodischen Zugri, der seinem Gegenstand gerecht wird, hat
inzwischen einige Tradition und in dieser Zeitschri immer wieder ihren Niederschlag
gefunden. Die Diskussion wird vor dem Hintergrund unterschiedlicher erkenntnistheo-
retischer Zugänge geführt, die dem interdisziplinären Charakter der künstlerisch thera-
peutischen Praxis geschuldet sind. Daran sind medizinische, psychotherapeutische und
tiefenpsychologische Perspektiven ebenso beteiligt wie medien- und bildwissenschaliche
oder philosophische. Das macht diesen Diskurs farbig und interessant, aber nicht immer
ganz einfach.
Seit einiger Zeit habe ich einen sporadischen Gedankenaustausch mit Gisela Schmeer,
der sich an dem Band über die Kunsttherapie-Tag ung 2016 in Leipzig entzündet hat
(Hamberger et al., 2017). Sie schrieb mir, nach der Lektüre des Bandes „tut sich wieder der
Graben zwischen den Disziplinen auf und ich kann ihn nicht auellen. Die ästhetischen
Kategorien werden – so scheint es mir – wie ein Prisma vor die Prozesse und die gestalteten
Werke der Patienten gehalten und verstellen die naive, unmittelbare sinnliche Kommu-
nikation mit dem Gegenüber und seinem Werk.“ Ich antwortete ihr: „… wenn Sie schrei-
ben, es zähle »die naive, unmittelbare sinnliche Kommunikation mit dem Gegenüber und
seinem Werk« haben Sie mich auf Ihrer Seite. Was als kunstbasierter Ansatz beschrieben
wird, ist gar keine Methode, sondern die Charakterisierung der erapie als künstleri-
scher oder kunstanaloger Prozess. Ich bin mir gar nicht sicher, ob diejenigen, die von einem
kunstbasierten Ansatz sprechen, alle dasselbe meinen.“
Wo also bendet sich der Graben, von dem Gisela Schmeer spricht?
Ich sehe einen Graben da, wo wir auf der einen Seite ästhetische Prozesse – wie durch ein
begriiches Prisma – theoretisch in den Blick nehmen und auf der anderen Seite den ästhe-
tischen Prozess selbst als einen Erkenntniszugang verstehen, der nicht analytisch struktu-
riert ist oder diskursiv operiert. Mir schien es, als ob wir uns in unserem Gespräch auf
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der Seite des Grabens befanden, auf der wir aus unterschiedlichen erkenntnistheoretischen
Perspektiven auf die gegenüberliegende Seite blickten, ohne eine wirkliche Brücke dorthin
bauen zu können.
Gisela Schmeer erzählte mir dann von einem Besuch bei Arno Stern: „Als ich dort -
sozusagen am Ort ihrer ‚Entdeckung’ – und nach meiner Rückkehr nach München – viel
über die URFORMEN nachdachte, die mir seit Jahrzehnten sehr vertraut sind, sah ich
auf einmal einen Zusammenhang der Urformen mit den Kriterien der Ausdrucks-Psy-
chologie und GRAPHOLOGIE, mit denen ich mich in den 1950er Jahren im Zusam-
menhang mit meinem Psychologie-Studium hier in München viel beschäigt hatte – bei
Prof. August Vetter: Die Bewegung wird verstanden als Ausdruck. Die Gestalt wird ver-
standen als Symbolik. Handschri als Inbegri der Ausdrucksspur. SCHRIFTBILDER
sind dann eigentlich Weiterentwicklungen der Ausdrucksspur – der URFORMEN. Und
dann kommt wieder meine Frage: Was hat die Ausdrucksspur, mit der ich sehr vertraut
bin, mit KUNST zu tun? Hat sie überhaupt etwas mit Kunst zu tun?“
Ich war überrascht über diesen Zusammenhang, der aber vermutlich gar nicht so fern
liegt und schrieb: „Ja, in Urformen oder Archetypen kennen Sie sich sicherlich besser aus
als ich. Diese Urformen sind vermutlich in unserem biograschen und kulturellen Selbst-
verständnis fest verankert. Was ich nicht glaube: Dass künstlerische Gestaltungen sich
darauf reduzieren lassen. Sie lassen sich nicht lesen wie ein Text, der sie in Sprache auöst.
Mich interessiert der Bedeutungsüberschuss, das, was über das hinausgeht, wofür wir Be-
grie haben. Die analytische Sprache ist anders organisiert wie der bildnerische Ausdruck.
Sie ist linear, sequentiell und deterministisch. Das ist ihre Stärke. Die Stärke der Kunst
liegt in dem Unbestimmten, Uneindeutigen – in dem, wofür uns abstrakte Begrie fehlen.
Ich bewundere Arno Stern und vor allem sein Bemühen, die künstlerische Praxis und die
sprachliche Reexion zu trennen. Ja, ich möchte nicht deuten, sondern verstehen. Verste-
hen ist nicht unbedingt eine Übersetzungsleistung. Wenn bei mir der Groschen fällt, ist
das nicht unbedingt einer kausalen Logik zu verdanken, sondern dem berühmten ‚Gegen-
wartsmoment’: Ich habe etwas verstanden und weiß nicht warum. Das alles ist sicher keine
Antwort. Aber in diesem Feld bin ich ein Suchender.“
Zufall
Der Zufall scheint mit dem erkenntnistheoretischen Diskurs und der Systematik wissen-
schalicher Prozesse zunächst nicht viel zu tun zu haben, auch wenn sich große Entdeck-
ungen dem Zufall verdanken mögen. In der künstlerischen Praxis gehört der Zufall da-
gegen zu jenen Strategien, die Spielräume önen und zu neuen Handlungsoptionen führen
können. In der Philosophie wird der Zufall kontrovers diskutiert. Er ist gewissermaßen der
Gegenspieler des Determinismus, der Annahme, dass alles, was passiert, vorbestimmt sei.
Autonome Entscheidungen gäbe es jedoch weder, wenn alles vorbestimmt noch wenn alles
zufällig wäre. In beiden Fällen hätten wir keine Entscheidungsfreiheit und Autonomie. Au-
tonomie setzt unterschiedliche Handlungsoptionen voraus, durch die wir uns als wirksam
erleben können. Versuchen wir die Bedeutung künstlerischer Arbeit in der Kunsttherapie
Wissen – Zuf all – Resonanz – Petert Sinapius
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sprachlich zu entschlüsseln, um sie nicht der Beliebigkeit des künstlerischen Ausdrucks
zu überlassen, führt uns diese Suche in die hier angesprochene Antinomie von Zufall und
Determinismus. Dann kommen Metaphern, Analogien, Symbole, Urformen oder Arche-
typen ins Spiel, die in der Lage sind, einen möglichen Bedeutungsgehalt des künstlerischen
Werks explizit zu machen. Je nach dem, was man will, kann das hilfreich sein. Bei diesem
Versuch bleiben wir aber paradoxerweise auf der Seite des Grabens, von dem keine Brücke
auf die andere Seite führt – wir bleiben auf der Seite der diskursiven Beschreibung, die die
ästhetische Erfahrung auf eine semantische Ebene überführen will.
Wir berühren hiermit die Grenze, die die Medienwissenscha zwischen Repräsentation
und ästhetischer Erfahrung gezogen hat. Im Gegensatz zur Repräsentation fasst sie die ästhe-
tische Erfahrung nicht als Einbahnstraße auf, die vom Werk zu seiner Bedeutung führt,
sondern als aktiven Prozess, als Handlung, die einen Adressaten hat und Sinn stiet. An
die Stelle der Repräsentation tritt ein interaktiver Vorgang. Dabei ist der Wahrnehmende
nicht mehr der passive Empfänger einer im Werk inkorporierten Botscha, sondern er wird
zum aktiv Beteiligten, der für das, was sich als Sinn einstellt, Mitverantwortung trägt.
„Den Sinn nden wir nicht in den Dingen vor, wir legen ihn auch nicht in die Dinge hinein,
aber zwischen uns und den Dingen kann er sich begeben.“
Martin Buber (1997: 192)
Resonanz
Es ist ein Verdienst von Gisela Schmeer (2006), lange vor der soziologischen Verankerung
des Begries Resonanz (2016) diesen Terminus in die Kunsttherapie eingeführt zu haben.
Er eignet sich in meinen Augen nicht nur als methodisches Werkzeug. Mit ihm gelangt
die Wahrnehmung als resonantes Geschehen in den Blick: Mit dem Begri Resonanz lässt
sich der ästhetische Prozess als Dialog auassen, der sich auf allen Ebenen der kunstthera-
peutischen Triade vollzieht und Wirklichkeit gestaltet. In jüngeren bildwissenschalichen
Konzeptionen wird so analog zur Sprechakttheorie Bildern nicht nur das Vermögen zu-
gesprochen, etwas auszusagen, sondern vor allem auch etwas zu bewirken (vgl. u.a. Brede-
kamp 2010).
Ich weiß, dass diese hier angedeutete Denkrichtung die kunsttherapeutische Praxis metho-
disch nicht absichern kann. Sie hat aber den Vorteil, dass sie den Wahrnehmungsakt selber
in das Bewusstsein bringt und die mit ihm verbundenen künstlerischen Strategien, durch
die wir uns auf die uns umgebende Wirklichkeit beziehen können. Der ästhetische Akt
bringt eben nicht nur Symbole hervor, er scha ein Stück gestaltete Wirklichkeit, die er
zum ‚Sprechen’ oder ‚Verstummen’ bringen kann. Es ist schon viel damit getan, wenn wir
ihn nicht nur als Aussage, sondern auch als Handlung verstehen, für die wir Verantwor-
tung tragen. Wir können die Welt verändern. Nicht nur wir sind es, die durch ein Werk zur
Erscheinung kommen: Durch uns kommt ein Stück Welt zur Erscheinung.
Wissen scha en – 35 Jahre Kunst & erapie
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Um einen Ton zum Klingen zu bringen, eine Farbe zum Leuchten, die Anmut einer
Bewegung zur Erscheinung, bedarf es vor allem der Fähigkeit, für das Klingen, das Leuch-
ten oder die Anmut einen Resonanzraum zu bilden. Ästhetisches Wahrnehmen ist nicht
spezisch hinsichtlich dessen, was sich über die Objekte oder Ereignisse begriich sagen
lässt, sondern hinsichtlich der Art und Weise wie sie zur Erscheinung kommen und der
Zuwendung, die ihnen in ihrem gegenwärtigen sinnlichen Erscheinen entgegengebracht
wird. In der Gegenwärtigkeit des ästhetischen Erlebens wird sich der Mensch nicht nur
des Phänomens, sondern auch seiner eigenen Gegenwärtigkeit bewusst (vgl. Sinapius 2010,
108).
Der Versuch, hiermit etwas über den Zusammenhang zwischen Wissen und ästhetischer
Erfahrung zu sagen, kann nur der Nachhall eines Ereignisses sein, das schon längst vorüber
ist. Gut, dass es eine Zeitschri wie „Kunst & erapie“ gibt, in der ein solcher Nachhall
erst vernehmbar wird. Walter Benjamin sagt darüber: „In den Gebieten, mit denen wir es
zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur blitzha. Der Text ist der langnachrollende Donner“
(Benjamin 2007: 262).
Literatur
Benjamin, Walter (2007). Kairos – Schrif ten zur Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bredekamp, Horst (2010). Theorie des Bildakts. Frankfu rter Adorno-Vorlesungen 2007. Frankfurt am Main:
Suhrkamp.
Buber, Martin (1997). Das dialogische Prinzip. Heidelberg: Lambert Schneider.
Hamberger, Christian; Kahle, Manuela; Strub, Friederike; Geist, Stephanie (Hrsg.) (2017). Bitte einsteigen!
Fahrpläne und Reisez iele der Kunsttherapie. Köln: Claus Richter Verlag.
Rosa, Hartmut (2016). Resonanz – Eine Soziol ogie der Weltbeziehung. Frankfur t am Main: Suhrkamp.
Schmeer, Gisela (2006). Die Resonanzbildmetho de – Visuelles Lernen in Gruppen. Stuttgart: Klett-Cotta.
Sinapius, Peter (2010). Ästhe tik therapeutischer Beziehungen – Th erapie als ästhetische Praxis. Aachen:
Shaker Verlag.
Wendland, Jens (2016). Was wir lieben / Umkreisungen. Berlin: Rippenberger & Kremers.
Kontakt: Peter Sinapius
peter.sinapius@medicalschool-hamburg.de
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